1977 - Butz Peters - E-Book
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Butz Peters

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Beschreibung

1977 erreichte der Linksterrorrismus der Roten Armee Fraktion in der Bundesrepublik eine bislang unbekannte Dimension. Mit den Morden an Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto, Generalbundesanwalt Siegfried Buback und Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer sowie der Entführung des Passagierflugzeugs »Landshut« tritt eine zweite, zu äußerster Brutalität entschlossene Generation der RAF auf den Plan. Zugleich setzt mit den Selbstmorden von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim die erste Generation einen die Republik erschütternden Schlusspunkt. Vor dem Hintergrund der Entstehung der Terrororganisiation und mit Blick auf die weiteren Anschläge bis zur Selbstauflösung erzählt Butz Peters die dramatischen Ereignisse des Schlüsseljahres 1977. Die packende Geschichte, die Butz Peters in diesem Buch erzählt, endet nicht mit dem Jahr 1977, sondern reicht bis in unsere Zeit hinein: Erst im Lauf der Jahrzehnte stellte sich heraus, was damals tatsächlich geschah. Die juristische Aufarbeitung des komplexen Tatgeschehens beschäftigt seit vierzig Jahren die Justiz, und noch nie war die Quellenlage so gut wie heute. Grundlage für dieses Buch sind Gespräche mit Zeitzeugen und Dokumente: Gerichtsurteile, Erklärungen von RAF-Mitgliedern und –Aussteigern, Vernehmungsprotokolle, polizeiliche Ermittlungsberichte, Anklageschriften, Erklärungen in Prozessen von Angeklagten und Zeugen sowie Publikationen. Auch die RAF-Stasi-Verbindung ab Ende Juli 1980 wird durchleuchtet. Aus vielen Mosaiksteinen ergibt sich so ein genaues Bild der Ereignisse von 1977, die die Geschichte der Bundesrepublik bis heute prägen.

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Butz Peters

1977

RAF gegen Bundesrepublik

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

VorwortFrühlingErster Abschnitt. Buback1. Gründonnerstag2. Margarine3. Karfreitag4. Sonnenberg5. Klar6. Folkerts7. Erkenntnisse8. Staatsbegräbnis9. Selbstbezichtigung10. Singen11. Überraschungen12. Becker13. Lorenz14. Heißler15. Haag16. Wüstencamp17. Harz18. Überlegungen19. Urteile20. Meldungen21. Ermittlungen22. Zauber23. Mehrzweckgebäude24. Fünfundfünfzig25. Schweigen26. Verfassungsschutz27. Zornesröte28. Verkündung29. WahrheitssucheZweiter Abschnitt. Stammheim30. Kommas31. Grenzen32. Befürchtungen33. Vorbereitungen34. Verhandlung35. Aktenaffäre36. Anrufaffäre37. Abhöraffäre38. Befreiungsmodelle39. Mohnhaupt40. GeneralbevollmächtigteSommerDritter Abschnitt. Ponto41. Susi42. Komitees43. Handlangerdienste44. Freunde45. Vorbereitungen46. Heckenrosen47. Geheimnis48. Selbstbezichtigung49. Paulskirche50. Opfer51. Rezeption52. UrteileVierter Abschnitt. Bundesanwaltschaft53. Stalinorgel54. Boock55. Selbstbezichtigung56. ErkenntnisseHerbstFünfter Abschnitt. Schleyer57. Herbstanfang58. »Doppelpräsident«59. Kanzleramt60. Sicherheitsnetz61. Weltwirtschaftsarchiv62. Lagen63. Herold64. Doppelstrategie65. Payot66. Meinungsumschwung67. Zeitspiele68. Gedankenspiele69. Versuche70. Nachrichtenpolitik71. Angst72. Routenabweichung73. Geldkoffer74. Bundesverfassungsgericht75. Zuspitzung76. Spindy77. Verstärkung78. Vorbereitungen79. Mendocino80. Erftstadt-Liblar81. Den Haag82. Brüssel83. Fluchtlinien84. Bagdad85. »Landshut«86. Adenauerallee87. Mythen88. Kontaktsperre89. Waffen90. Todesnacht91. Hinrichtung92. PannenberichtWinterSechster Abschnitt. Bilanzen93. Ergreifungsdefizit94. ScherbenhaufenSpäterSiebter Abschnitt. Rückschau95. Karriereende96. Staatssicherheit97. GesamtschauQuellenBücher und AufsätzeZeitungen, Zeitschriften, sonstige Druckwerke und onlineFilmeAnmerkungen
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Vorwort

Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist nicht eine Geschichte von vor vierzig Jahren, sondern eine Geschichte von vierzig Jahren: Erst im Laufe dieser Zeit stellte sich heraus, was 1977 tatsächlich passierte. Die juristische Aufarbeitung des komplexen Tatgeschehens beschäftigt seit vier Jahrzehnten die Justiz. Allein zwischen 2012 und dem Abschluss des Manuskripts im August 2016 liefen ein Dutzend Ermittlungs- und Gerichtsverfahren wegen des RAF-Geschehens 1977 – das letzte Gerichtsverfahren ist noch immer nicht abgeschlossen (28. und 91. Kapitel).

Aber warum gerade jetzt ein Werk über dieses große deutsche Thema »1977«? Ausgerechnet jetzt? Weil die Quellenlage noch nie so gut war wie heute – und sie in der Zukunft nicht besser sein wird, falls nicht alle Anzeichen trügen. Also der optimale Zeitpunkt für eine Betrachtung des komplexen Geschehens.

Zehn Jahre nach der »Offensive 77« lag vieles noch völlig im Dunkeln. Beispielsweise, wer zu dem Kommando gehörte, das die vier Begleiter von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer in Köln erschoss. So ging das Oberlandesgericht Stuttgart 1985 in seinem für das RAF-Jahr 1977 grundlegenden Urteil gegen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar davon aus, dass es sich um »mindestens fünf ›RAF‹-Mitglieder« gehandelt hätte, »darunter möglicherweise eine Frau«. Heute wissen wir, dass es vier Attentäter waren – und wie sie heißen (79. Kapitel). Ähnliches gilt für den Mord an Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto. Das Oberlandesgericht Stuttgart urteilte 1985, dass dem Entführungskommando Susanne Albrecht, Brigitte Mohnhaupt, Willy Peter Stoll und ein weiteres, namentlich unbekanntes, männliches RAF-Mitglied angehörten. Heute wissen wir, dass es insgesamt fünf Täter waren, Christian Klar und Peter-Jürgen Boock gehörten dazu, ebenso, was die RAF im Einzelnen mit Ponto vorhatte und warum die »Türöffnerin« Susanne Albrecht für die gesamte RAF anschließend zu einem erheblichen Sicherheitsrisiko wurde (45.–47. Kapitel).

 

© picture-alliance/dpa/Bundeskriminalamt

 

Zwanzig Jahre später, 1997, waren Erkenntnisse über das Terrorjahr schon wesentlich konturreicher: Fast alle RAF-Aussteiger, die 1990 in der DDR gefasst worden waren, hatten umfassend ausgepackt – vor Augen einen erheblichen Strafrabatt durch die Kronzeugenregelung. Erst ein Jahr zuvor war sie in Kraft getreten. Und schließlich bestätigte erst im Dezember 2000 das Bundesverfassungsgericht die Schlüsselentscheidung zu der Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut« vom Oberlandesgericht Frankfurt aus dem Jahr 1998. Die Entführung der Boeing mit Mallorca-Urlaubern durch ein Palästinenserkommando, beauftragt von der RAF, brachte den dramatischen Höhepunkt des Deutschen Herbstes. Einundzwanzig Jahre nach der Tat bereiteten die Frankfurter Richter in einem 220-Seiten-Urteil den Sachverhalt akribisch auf.

Dreißig Jahre nach 1977, 2007, fehlte noch immer eine präzise Ausleuchtung der »Vorgeschichte« der »Offensive 77«. Die lieferte 2012 das Oberlandesgericht Stuttgart; 2013 bestätigte der Bundesgerichtshof die Entscheidung: Die Vorgeschichte des Blutjahrs 1977 beginnt Anfang 1976 am Rande der jemenitischen Wüste, zwei Autostunden von Aden entfernt, in einem früheren britischen Militärcamp. Die filigrane Betrachtung der Kausalitäten reicht weiter: Sie ergibt, dass die Dinge ihren Lauf exakt zwei Tage vor Ende der Lorenz-Entführung in Berlin 1975 nahmen: An diesem Montag ließ die Bundesregierung den Untersuchungshäftling Verena Becker in den Südjemen ausfliegen: Dort bildete sie einige Monate später mit Baaders Ex-Anwalt Siegfried Haag den Nukleus der Gruppe, die die »Offensive 77« konzipierte – fünftausend Kilometer von Deutschland entfernt (16. Kapitel).

Der Betrachtungszeitpunkt für das Gesamtgeschehen ist jetzt aber auch deswegen ideal, weil es mittlerweile nicht mehr sehr wahrscheinlich ist, dass die Bundesanwaltschaft wegen 1977 noch ein neues Ermittlungsverfahren einleitet. Hinzu kommt, dass die Dreißig-Jahres-Verschlussfrist der Archivgesetze verstrichen ist. So sind nun auch Akten zugänglich, die nach 1977 zu dem Geschehen seinerzeit gefertigt wurden. Beispielsweise aus einem jahrelangen Rechtsstreit zwischen RAF-Anwalt Klaus Croissant und dem Land Baden-Württemberg, nachdem 1977 Lauschangriffe in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim bekannt geworden waren. So lässt sich nun – pars pro toto – im Hauptstaatsarchiv Stuttgart anhand der freigegebenen Akten des Landeskriminalamtes, des Innen- und Justizministeriums in Baden-Württemberg nachvollziehen, in welchem Umfang Häftlinge in Stammheim abgehört wurden (37. Kapitel).

Auch tendiert mittlerweile die Wahrscheinlichkeit gegen null, dass durch menschliche Quellen die derzeitige Erkenntnislage noch nennenswert verbessert wird. Für die einstigen RAF-Mitglieder gilt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nach wie vor das Motto: »Von uns keine Aussagen« (25. Kapitel). Viele der Akteure des Jahres 1977 sind mittlerweile verstorben. So Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, BKA-Abteilungsleiter Gerhard Boeden, Herold-Berater Willy Terstiege und der RAF-Analytiker Alfred Klaus – mit allen führte ich Interviews in den 80er-, teilweise 90er-Jahren. Und dass das menschliche Gedächtnis nicht dafür geschaffen wurde, Einzelheiten über mehr als drei Jahrzehnte verlässlich zu speichern, zeigten Ermittlungs- und Gerichtsverfahren ebenso wie Interviews in jüngerer Zeit (29. Kapitel).

Sehr erhellend für das Gesamtbild der Konfrontation RAF–Bundesrepublik sind natürlich auch wissenschaftliche Aufarbeitungen aus den vergangenen Jahren. Beispielsweise die 62 primär monothematischen Analysen in dem 1400-Seiten-Monumentalwerk Die RAF und der linke Terrorismus, herausgegeben vom Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar 2006. Ein Meilenstein, der exemplarisch zeigt, welche Konsequenzen das Handeln eines RAF-Täters für die Familie des Opfers und auch seine eigene Familie hat, ist der 2011 veröffentlichte Dialog zwischen Julia Albrecht, der Schwester der Ponto-Mörderin Susanne Albrecht, und der Ponto-Tochter Corinna. Patentöchter – ein nachdenklich machender Gedankenaustausch, der zeigt, dass auch die Familien von RAF-Mördern zu den Opfern der RAF gehören können (50. Kapitel).

Wenn man das Jahr 1977 heute Revue passieren lässt, erscheint als – nur eine Facette – verrückt an ihm: Fortlaufend passierten Dinge, die kaum jemand für möglich gehalten hatte und deren Dimension schlicht das Vorstellungsvermögen der Bundesbürger damals sprengte. Am Gründonnerstag erschoss ein RAF-Kommando Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei Begleiter, als sie in seinem Dienst-Mercedes vor einer roten Ampel in Karlsruhe warteten. Ende Juli führt Susanne Albrecht, Tochter aus hanseatisch-großbürgerlichem Elternhaus, dem Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto die beiden RAF-Köpfe Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar in seine Villa in Oberursel. Weil Ponto nicht bereit ist, sich entführen zu lassen, erschießen sie ihn. Im August versucht die RAF mit einer Stalinorgel das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Schutt und Asche zu legen. Und dann beginnt der Deutsche Herbst, Anfang September: Ein RAF-Mordkommando erschießt in Köln drei Leibwächter und den Fahrer von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und verschleppt ihn. Die größte Polizeiaktion der Bundesrepublik läuft an. Aber der Arbeitgeberpräsident bleibt verschwunden. Vierundvierzig Tage lang. Um den Druck auf die Bonner Regierung zu erhöhen, entführen Palästinenser das Flugzeug mit den Mallorca-Touristen. In Mogadischu befreit die GSG 9 die Geiseln zehn Minuten nach Mitternacht. Am Morgen sind die drei RAF-Köpfe im Hochsicherheitstrakt in Stammheim tot: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Unfassbar für die Republik, weil für diese Häftlinge, so hatten es Politiker verkündet, seit über sechs Wochen eine absolute Kontaktsperre bestand. Die RAF ermordet Schleyer. Seine Leiche steckt eingepfercht im Kofferraum eines Audi 100 im Elsass.

Insgesamt orten die Strafverfolger 20 Akteure des Deutschen Herbstes. Am Jahresende 1977 ist nur ein einziger von ihnen gefasst – nicht von der deutschen Polizei, sondern von ihren Kollegen in den Niederlanden. Die RAF, die die Republik in Furcht und Schrecken versetzte, ist wie vom Erdboden verschwunden. Nicht zu fassen! Die Republik ist sprachlos.

Die Auseinandersetzung RAF – Bundesrepublik 1977 ist eine komplexe Geschichte – mit den Komponenten »revolutionäres« Bewusstsein gekreuzt mit krimineller Energie auf hohem Niveau sowie extremer Brutalität auf der einen Seite, und auf der anderen: Schockstarre, kriminalistische Strategien und staatspolitische Räson. Entscheidend geht es um die Machtfrage. Die RAF hatte sie gestellt, weil sie glaubte, dass es ihr gelingen wird, dem Staat elf ihrer Mitglieder aus den Gefängnissen abzupressen.

Woher stammt all das, was Sie auf den nächsten 561 Seiten lesen werden? Grundlage sind Gespräche mit Zeitzeugen und Dokumente – Gerichtsurteile, Erklärungen von RAF-Mitgliedern und Aussteigern, Vernehmungsprotokolle, polizeiliche Ermittlungsberichte, Anklageschriften, Erklärungen in Prozessen von Angeklagten und Zeugen. Aber auch Informationen von RAF-Mitgliedern gehören dazu, die nicht bekannt werden sollten, wie von der Polizei entdeckte Kassiber oder von ihr mitgeschnittene Telefonate. Erkenntnisquellen sind schließlich auch Publikationen, wie beispielsweise Interviews mit ehemaligen RAF-Mitgliedern im Spiegel, Stern, in der ARD oder im ZDF.

Nicht als Erkenntnisquelle zur Verfügung standen mir Gespräche mit den beiden RAF-Köpfen der 77er-Geschehnisse Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar, auch nicht mit den Protagonisten Verena Becker und Susanne Albrecht. Meine Versuche, mit ihnen in Kontakt zu treten, blieben erfolglos. Das ist bedauerlich. Aber nicht gravierend. Denn von allen gibt es Stellungnahmen zu dem 77er-Geschehen in ihren Prozessen, teilweise auch anderswo.

Die Recherchen für dieses Buch dauerten über zwei Jahre – mein viertes Buch zum Thema RAF. Das erste erschien 1991. Wie viele Seiten ich für dieses Werk zu den Geschehnissen 1977 gesichtet habe, kann ich präzise nicht sagen. Mit Sicherheit waren es über eine halbe Million – darunter natürlich bergeweise ungeordnetes Material in Archiven, lose abgelegt in Pappkartons, numerisch erfasst nach »Büscheln«. Seit fast dreißig Jahren forsche und berichte ich nun über die RAF. Es begann 1987, kurz nachdem ich beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg die Leitung des Ressorts »Rechtspolitik« übernommen hatte.

Bevor es losgeht, noch zwei Hinweise: Wer, wie ich, Geschichte anhand von Dokumenten und Zeugeninterviews rekonstruiert, stößt auf zahlreiche Personen, die zufällig ins Geschehen geraten sind. Beispielsweise als Zeuge bei einem RAF-Mord. Um die Persönlichkeitsrechte dieser Menschen zu wahren, habe ich ihren Namen geändert und kursiv geschrieben. Und bitte wundern Sie sich nicht über die Rechtschreibung in Erklärungen der RAF und einzelner Mitglieder. Sie werden orthografisch unverändert wiedergegeben.

Die Geschichte des Terrorjahrs 1977. Ein Mosaik – zusammengefügt aus Tausenden Teilen aus vier Jahrzehnten. Sie werden sehen: Auch wenn die RAF ihren Kampf gegen die Bundesrepublik 1998 für beendet erklärt hat, so hat die Auseinandersetzung um die Geschichte dieses Kampfes noch kein Ende gefunden.

 

Dresden, im Oktober 2016

Butz Peters

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Frühling

Erster Abschnitt. Buback

1. Gründonnerstag

Die Ouvertüre zum Deutschen Herbst beginnt im Frühjahr 1977, Gründonnerstag. Ein diesig-trüber Tag.

Ein Tankwart wundert sich – kurz nach halb neun in Karlsruhe: Heinrich Wagner steht hinter seiner Kasse und beobachtet durch die Fensterscheibe seines Verkaufsraumes Merkwürdiges neben einer Zapfsäule. Dort stehen zwei Männer mit einer Suzuki GS 750. Die Maschine ist die Rakete schlechthin – wir sind im Jahr 1977: die schnellste Serienmaschine der Welt. Aus dem Stand auf hundert in weniger als fünf Sekunden … Mit einem Schraubenzieher fummelt der Sozius am Motor herum. Fummelt! Das ist das, was den Tankwart stutzig macht: Denn er tut so, als ob er schraubt. Aber er schraubt gar nicht. Und dann wischt er auch noch über die rote Schlussleuchte der Maschine. Eine halbe Ewigkeit lang, rauf und runter, runter und rauf – obwohl sie tipptopp sauber ist. Während der sinnfreien Aktionen schauen die beiden Männer immer und immer wieder nach links zur Linkenheimer Landstraße: eine breite Einfallstraße zum Zentrum. So als ob sie auf jemand warten.

Wenige Minuten zuvor war an diesem 7. April 1977 das schwere Motorrad mit dem leuchtend blauen Tank auf das Grundstück der Esso-Tankstelle Hardtwald gerollt. Die Fahrer tragen dunkle Overalls und olivgrüne Integralhelme. Per Handzeichen signalisieren sie dem Tankwart, nicht tanken zu wollen. Er beobachtet, wie der Beifahrer absteigt, in einer braunen Ledertasche kramt und einen Schraubenzieher hervorzieht. Dabei fällt ihm auf, dass die Tasche »irgendwie gespannt« wirkt – durch einen Gegenstand in ihr. »Kfz-Kennzeichen«, vermutet Tankwart Wagner.

Nach gut zehn Minuten ist das eigentümliche Schauspiel vorbei: Heinrich Wagner verfolgt, wie die Rakete mit den beiden Männern »extrem langsam« von seinem Grundstück rollt und sich in den Berufsverkehr einfädelt. Vom Kennzeichen seiner Nicht-Kunden merkt er sich »LU« – Ludwigsburg.

Eine halbe Stunde später, vier Kilometer weiter Richtung Stadtmitte. Gegen 9.15 Uhr kommen zwei Polizeibeamte der Einsatzhundertschaft Karlsruhe in einem grünen Mercedes-Mannschaftswagen an die Kreuzung Linkenheimer Landstraße, Ecke Moltkestraße. Sie sehen einen dunkelblauen Mercedes, der mit den Vorderrädern eigentümlich schräg auf dem Bürgersteig steht. Die Fahrertür ist offen. Ein Mann liegt leblos auf der Fahrbahn. Für sie ist der Fall klar. Über Funk melden sie: »Verkehrsunfall mit Unfallflucht« und fordern Verstärkung an. Kurz darauf trifft ein Streifenwagen ein: Die beiden Schutzpolizisten erkennen, was passiert ist. Kein Verkehrsunfall. Auch keine Unfallflucht. Aber eine Flucht mit historischer Dimension. Das ahnt damals keiner, natürlich nicht: Über fünf Jahrzehnte wird diese Flucht die deutsche Justiz beschäftigen, zumindest bis ins Jahr 2016.

 

»Verkehrsunfall mit Unfallflucht«: rechts Bubacks Leiche, links die seines Fahrers Göbel

© picture-alliance/dpa/Heinz Wieseler

Um 9.58 Uhr rattert eine Eilmeldung der Deutschen Presse-Agentur aus den Fernschreibern in den Redaktionen, Pressestellen und Ministerien Deutschlands:

»eil eil

buback

buback tot

Karlsruhe, 7. april 77 dpa – generalbundesanwalt buback ist nach offizieller Mitteilung in Karlsruhe bei dem Anschlag getoetet worden.«

 

Wie eine Bombe schlägt die Nachricht im Regierungsviertel in Bonn ein. Ein Schock in der vorösterlich gestimmten Bundeshauptstadt – für die, die noch am Schreibtisch sitzen. Viele Ministerialbeamte und Regierungsangestellte sind bereits im Osterurlaub, ebenso Minister und Staatssekretäre. Bundeskanzler Helmut Schmidt segelt auf dem Brahmsee. Bundesinnenminister Werner Maihofer fährt Ski in den Schweizer Alpen. Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel urlaubt am Mittelmeer. Er ist der Dienstherr des Ermordeten. Stallwache am Rhein hält Hans-Dietrich Genscher, Vizekanzler und Bundesaußenminister. Außer ihm sitzt in einem der 15 Ministerbüros nur noch Marie Schlei. Die Entwicklungshilfeministerin.

»Alle waren wachsbleich«, blickt Eckart Werthebach zurück. Ihn erreicht die Todesnachricht eine Etage unter Genschers Büro, er sitzt im zehnten Stock des Hochhauses – auf der »Staatssekretärsebene«: Seit wenigen Monaten ist er persönlicher Referent des »Sicherheitsstaatssekretärs« Siegfried Fröhlich, 20 Jahre später ist er dort selbst Staatssekretär: »Ein Riesenschock für uns alle«, erinnert sich Werthebach, »wir hätten es nicht für möglich gehalten, dass die den Chefankläger ›hinrichten‹.«

Helles Entsetzen macht sich in der Bundeshauptstadt breit – in den Regierungsgebäuden zwischen dem lang gestreckten Bundesinnenministerium in der Graurheindorfer Straße und dem Bundesjustizministerium in der Heinemannstraße. Verstört sprechen Regierungsbeamte von einem »Anschlag auf den Rechtsstaat«. Alle Sicherheitsexperten sind geschockt:[1] Buback war der Hoffnungsträger gegen den Terrorismus. Seit sieben Jahren beschäftigt das Thema die Republik, seit der Baader-Befreiung im Mai 1970 in Berlin. Keine acht Monate ist es her, da hatte der Gesetzgeber dem Generalbundesanwalt die zentrale Zuständigkeit für die Verfolgung terroristischer Straftaten übertragen: die seinerzeit viel diskutierte »Zentralkompetenz«.

Tief sitzt auch der Schock im Bundesjustizministerium: Auf den 14 Etagen des Betonneubaus der »Kreuzbauten« Heinemannstraße, Ecke Godesberger Allee kennen viele Buback persönlich. Häufig war er im Ministerium, um Bericht zu erstatten – schon lange bevor er Generalbundesanwalt geworden war: als Oberstaatsanwalt bei der Bundesanwaltschaft Anfang der 60er-Jahre, später als Bundesanwalt. Stets kam er mit Fliege. Lebensfroh, rundlich, umgänglich. So schätzten die Ministerialbeamten den gemütlichen Sachsen – er stammt aus Wilsdruff bei Meißen. Er lächelte oft. Entweder vergnügt oder verschmitzt. Der agile Praktiker galt als Mann für schwierige Fälle: Er führte die Ermittlungen gegen den Spiegel 1962, nach dem Diebstahl der Sidewinder-Rakete 1967 und dem Überfall auf das Munitionsdepot in Lebach 1969 – für die Überführung der beiden vierfachen Soldatenmörder von Lebach erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Befasst war Buback auch mit den beiden großen »Bonner Fällen« in den 70er-Jahren: den Ermittlungen gegen den ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Steiner und gegen Kanzleramtsspion Günter Guillaume.

Drei Jahre vor seiner Ermordung, 1974, war Buback oberster Ankläger der Nation geworden. Anschließend hatte er in Interviews mehrfach davor gewarnt, dass das Kapitel »Terrorismus in Deutschland« noch nicht abgeschlossen sei. Etwas mehr als ein Jahr ist es her, da hatte er im Spiegel erklärt, Februar 1976, die Republik müsse auf Attentate »vorbereitet sein: Man wird versuchen, die Stammheimer herauszukriegen.« Billige Staatsschutz-Panikmache witterte mancher in diesen Worten.

Die Nation ist über den brutalen Anschlag schockiert. Für die meisten Bundesbürger war die RAF im Frühjahr 1977 Vergangenheit. Bundesinnenminister Maihofer und Bundesjustizminister Vogel brechen ihren Urlaub ab, fliegen zurück nach Bonn.

2. Margarine

Im Bonner Stadtbezirk Bad Godesberg erreicht die Todesnachricht Alfred Klaus: Der 58-Jährige ist der beste RAF-Kenner auf Staatsschutzseite. Der Erste Kriminalhauptkommissar sitzt in seinem Büro in der Dependance der Terrorismusabteilung des Bundeskriminalamtes, schräg gegenüber dem Bahnhof von Bad Godesberg, Friedrich-Ebert-Straße 1. Fassungslos blickt er aus seinem Fenster auf die Baumkronen des Kurparks.

Auf einmal schießt ihm durch den Kopf: »Margarine!« Wie Schuppen fällt es ihm von den Augen: »SB!« Die Initialen von Siegfried Buback – der Name einer bekannten Margarinemarke: »Warum, verflucht noch mal, bin ich nicht darauf gekommen!«, hämmert es in seinem Hirn. Erschüttert läuft er über den langen Gang zu seinem Abteilungsleiter Karl Schütz: »Man hätte sein Leben retten können …«, sprudelt es aus Klaus heraus: »Ihm Begleitschutz aufzwingen müssen, ein sicheres Auto …«

»Chefideologe der RAF« nennen ihn seine Kollegen liebevoll-ironisch. Alfred Klaus ist der Chronist der Gruppe im Bundeskriminalamt. Er analysiert ihre Erklärungen und Taten, wertet alle Erkenntnisse über Akteure, Gehilfen und Unterstützer aus. Er verfasste Dutzende Berichte. Tausende Seiten Papier. Er ist ein begnadeter Berichteschreiber. Alle Informationen über die RAF laufen bei ihm zusammen, im Referat TE 13.

 

Alfred Klaus

© Privatarchiv Alfred Klaus

 

Seit sechs Jahren sitzt Klaus an dieser Schlüsselposition. Alles begann mit drei Umzugskartons voller Akten aus Berlin im Februar 1971: Der Berliner Staatsschutz schickte sie ihm – heilfroh, sie los zu sein – in die Dienststelle. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher hatte angeordnet, dass das Bundeskriminalamt die Ermittlungen gegen die RAF zentral übernimmt, weil sie nicht zu fassen war: Bundesweit operierte sie über Ländergrenzen hinweg. Die Polizei, in Deutschland Ländersache, kam ihr nicht hinterher.

Deshalb wurde die »Sonderkommission Baader/Meinhof« – »Soko B/M« – im Januar 1971 bei der »Sicherungsgruppe« des Bundeskriminalamtes in Bad Godesberg eingerichtet: Zuvor waren Klaus und seine Kollegen von der »SG« für die Aufklärung von Staatsschutzdelikten und den Schutz der »Verfassungsorgane« zuständig. Als Leibwächter begleiten die Beamten Bundeskanzler und Minister. Einige Jahre gehörte Alfred Klaus zur Leibwache des Bundespräsidenten. Im Hochverratsreferat ist er Anfang der 70er der älteste und erfahrenste Staatsschutzbeamte. So erhält er die Aufgabe, die Soko B/M aufzubauen. Die Erkenntnisse über die Ziele der Gruppe aus den Berliner Akten fasst er in seinem »Vorbericht« am 19. Februar 1971 zusammen – ganz überwiegend stammten sie aus dem Berliner »Ermittlungsverfahren gegen Horst Mahler u.a.«:

»Ihre Angehörigen streben den radikalen Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung an, in der sie ein ›System der Klassenherrschaft und der Unterdrückung‹ erblicken. Sie sind davon überzeugt, dass auch die gültige Rechtsordnung – über die sie sich bedenkenlos hinwegsetzen – nur Ausdruck der ›volksfeindlichen Gewaltverhältnisse‹ in der Bundesrepublik Deutschland sei. Zur Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele haben sich die Mitglieder der Gruppe in den Untergrund begeben. Ihre illegale Tätigkeit und ihren Lebensunterhalt finanzieren sie aus dem Erlös der von ihnen begangenen Straftaten insbesondere aus Raubüberfällen auf Geldinstitute.«

Schon bald lernt Alfred Klaus die Familienangehörigen der per Steckbrief Gesuchten kennen: Als im Frühjahr 1971 die Fahndung nach Baader, Meinhof & Co. bundesweit auf Hochtouren läuft, reist der damalige Kriminaloberkommissar zu ihren Eltern, Geschwistern und ehemaligen Partnern, um möglichst viel über die RAF-Köpfe herauszufinden, aber auch, um die Möglichkeit einer »Selbstgestellung« zu ventilieren: Für diesen Fall sagt er den Angehörigen zu, für einen reibungslosen, unblutigen Ablauf zu sorgen. So besucht er Baaders Mutter Anneliese und Großmutter Hermine in ihrem Häuschen am Chiemsee, spricht mit der Mutter und der Schwester von Gudrun Ensslin, dem Vater von Holger Meins und mit Klaus Rainer Röhl, dem Ex-Ehemann von Ulrike Meinhof. Der Verleger empfängt den Kriminaloberkommissar in seiner Villa Ferdinands Höh 10 im feinen Hamburger Elbvorort Blankenese. »K zwei R«, wie er in der linken Szene genannt wird, der Verleger der Zeitschrift konkret, trägt Reiterstiefel und Sportsachen, lässt Tee im Wohnzimmer servieren, gibt sich jovial und nimmt kein Blatt vor den Mund: »Wenn er die Möglichkeit hätte«, so hält Alfred Klaus die Äußerungen des Verlegers bei Tee und Plätzchen fest, »würde er die ganze Gruppe Baader-Ensslin auffliegen lassen. Insoweit stimme er mit anderen politisch linksstehenden Freunden überein. Man sei sich einig darin, dass diese anarchistische Gruppe mit ihrer kriminellen Tätigkeit der gesamten Linken in den Rücken falle. Anarchismus führe nach seiner Meinung zum Faschismus.«

Alle Angehörigen sprechen, so wie sich heute Klaus’ Berichte lesen, weitgehend offen mit dem Bonner BKA-Mann: Alfred Klaus besitzt ein gewinnendes Wesen. Seine Augen strahlen freundlich. Er hat ein gutmütiges Gesicht und eine sonore Stimme, ist schlank und hoch gewachsen – kurzum: sieht blendend aus. Und kann zuhören. Mit seiner bedächtigen, zurückgenommenen norddeutschen Art – von der Kripo Lübeck kam er 1953 ins Bundeskriminalamt – bringt er Menschen zum Reden. Typ Hausarzt des Vertrauens.

Alle Köpfe der ersten RAF-Generation kennt er persönlich. Neben Andreas Baader hockte er im Hubschrauber, als der nach seiner Verhaftung im Juni 1972 – festgeschnallt auf einer Liege – von der Frankfurter Uniklinik ins Düsseldorfer Gefängniskrankenhaus geflogen wurde. Er sitzt neben Baaders Bett im Gefängniskrankenhaus und kauft für ihn einen Stapel Zeitungen, weil Baader wissen will, was über ihn die Presse schreibt. Den Vater von Holger Meins chauffiert er zu dem ersten Gespräch mit seinem Sohn nach dessen Verhaftung in die Haftanstalt Koblenz: Vater und Sohn sprechen sich aus, als ob der Staatsschützer nicht neben ihnen in der Besucherzelle säße.

Die Meinhof erlebt Klaus in der Haftanstalt Köln-Ossendorf bei Angehörigenbesuchen, die er zu überwachen hat. Für Ulrike Meinhof beschafft er zwei Brillen von einem Optiker in Hamburg, um die die 38-Jährige gebeten hatte. Als er ihr die Brillen in die Besucherzelle mitbringt, sagt er, väterlich-freundlich, wie es nun eben seine Art ist, dass es doch besser sei, miteinander zu reden, als aufeinander zu schießen. Deshalb, fährt er fort, hätte er auch im vergangenen Jahr mit vielen Angehörigen der Gruppenmitglieder gesprochen, um ein weiteres Blutvergießen zu verhindern. »Ach«, antwortet die Meinhof und lächelt, »dann sind Sie also der Familienbulle.« Unter den RAF-Mitgliedern hatte sich herumgesprochen, dass ein »freundlicher Herr vom BKA« den Familienangehörigen Hausbesuche abstattet.

Auf seinem Schreibtisch in Bad Godesberg landen seit sechs Jahren alle Papiere, die seinen Kollegen in die Hände fallen: von der RAF, ihrem Umfeld und den RAF-Häftlingen – Prozesserklärungen, Kassiber, Zellenzirkulare, Häftlingskorrespondenz, Schreiben aus den RAF-Freundeskreisen. So weiß Kommissar Klaus über die RAF mehr als das einzelne Mitglied.

Vier Monate bevor Klaus die Todesnachricht von Buback erreichte, lag auf seinem Schreibtisch ein Papierstapel mit 132 Seiten – sichergestellt in einem grauen Opel Admiral. Die Autobahnpolizei hatte den Straßenschlitten mit Falschkennzeichen am 30. November 1976 auf der A 5 bei Butzbach zwischen Kassel und Frankfurt gestoppt: In ihm saßen, ausgestattet mit Falschpapieren und schussbereiten Waffen, Siegfried Haag (31) und Roland Mayer (22). Beide ließen sich widerstandslos festnehmen. Haag, getarnt mit einem dunkelblonden Toupet, war Andreas Baaders Anwalt gewesen und vor anderthalb Jahren in den Untergrund abgetaucht. Mayer, hinterm Steuer mit hell gefärbten, ins Rötliche gehenden Haaren, war so etwas wie der Adlatus des Ex-Strafverteidigers: Der Sohn eines Bankkaufmanns hatte das Wirtschaftsgymnasium geschmissen und war den Ermittlern durch sein militantes Engagement gegen die »Folterhaft der RAF-Gefangenen« aufgefallen.

Die kryptischen Notizen in den »Haag-Mayer-Papieren« sind für den Auswerter Alfred Klaus eine harte Nuss. Auf den Seiten aus einem Gohrsmühle-Schreibblock mit Mayers Handschrift stößt er mehrfach auf das Wort »Margarine«:

»Margarine

Planung – Personaldebatte

Rückzug (Wer wohin?)«

 

»Perspektive nach Margarine

Big Money (Vorbereitung schon jetzt)

Big Raussohle – Rache!«

 

»Verhältnis u. Zusammenarbeit

mit Bündnispartnern

P’s

ML

2.6.

 

Aufarbeitung d. letzten Woche

Kritik an einzelnen Geno.

Kritik Anton (vögeln mit leg. Braut)

Anton redet nur wenn besoffen + mit Tim

Vorbereitung d. Margarine → alles klar

Begriff d. Politik/Terminierung

 

Margarine

1. a) allgemeine politische Diskussion

b) operationelle Planung

c) spontane Operation möglich? beim Checken?

2. Muni-Diskussion

 

Filialen

a) F 1 → besetzt, Anton + Käthe →

Tendenz bessere F 1, neuer Klotz

Docu-Center, Amt vorbereiten

b) F 2 → besetz, Inge → Bank vorbereiten

+ Crisenzeit, 3 Leute machen Bank

c) F 3 → mit Gen. zusammenarbeiten → weiter-

entwickeln + Stoffprobleme lösen

 

Commandwohnung

Appartement – Bungalow – 30 km Radius

Dobel-Gebiet → keine Luxusgegend

Einladungen – Was muss rein? Med. Koffer,

Autos. H. G.’s, Kleider, Bewaffnung,

Connections – Communikation

 

fortlaufende Arbeit

a) Big Money → H. M. auschecken

mit Marie diskutieren, wo den Typ bunkern → vorbereiten a

b) Raushole : mit W + P diskutieren

Druck machen, mehr drin, Mandat

B. H. irgendwo drin, wenn nicht

Möglichkeit reinzukommen«.

 

»Haags Matrix«: Arbeitsplan aus dem Opel Admiral

© Privatarchiv des Autors

 

Die Papiere enthalten auch einen Arbeitsplan, eine Art Disposition, für elf Personen – alle mit Decknamen: von »Anton« bis »Tim« – für drei Wochen. Von Samstag, dem 20. November, bis Samstag, 4. Dezember 1976. Es ist Haags Handschrift. Kurz vor Ende der Planungen, am 30. November, hatte die Autobahnpolizei ihn aus dem Verkehr gezogen.

Kriminalhauptkommissar Klaus schwant schon lange, dass Andreas Baader »Unrat ausbrütet« und dafür auch »draußen« Personen instruiert. Aber dass da bereits fast ein Dutzend Personen tagaus, tagein unterwegs sind, wie Haags Matrix zeigt, um »Aktionen« vorzubereiten – damit hätte der Beamte nicht gerechnet.

Er ist überrascht. Um die »Aufschriebe« zu entschlüsseln, brütet er tage- und nächtelang über ihnen in seinem Dienstzimmer am Bad Godesberger Stadtpark. Am dritten Advent ist er fertig.

»In ihrer Gesamtheit lassen Papiere erkennen, dass ein illegaler Apparat nach dem Muster der 1972 zerschlagenen RAF-Kadergruppe aufgebaut worden ist«, lautet das Fazit seiner Analyse: »Politisch-propagandistische Interessen scheinen nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Vielmehr spricht alles dafür, dass es sich um ein auf Zeit angelegtes Untergrundnetz zum Zwecke einer bewaffneten Aktion zur Befreiung der RAF-Gefangenen handelt. Die hierfür erforderlichen logistischen Voraussetzungen – Geld, Wohnungen, Depots, Autos, Waffen, Sprengstoff, falsche Papiere – standen offenbar kurz vor dem Abschluss.«

Neben den »mit Decknamen bezeichneten 11 Kadermitgliedern« entdeckte Klaus in den »Haag-Mayer-Papieren« »ca. 25 weitere noch nicht identifizierte Personen … die den Sympathisanten bzw. Gehilfen zuzurechnen« seien. Aus den Notizen ergeben sich für ihn »Hinweise auf den Besitz von 3 ›Filialen‹ (möglicherweise KW’s[2]), ca. 12 ›Depots‹ und 2 ›Lager‹ sowie einer ›Centrale‹ und einer ›Commando-Wohnung‹ im Nordschwarzwald. Allem Anschein nach war die Bande im Begriff, den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten in den Raum Baden zu verlegen. Es gibt konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Positionswechsel mit dem Plan einer bewaffneten Operation in Zusammenhang steht.«

Für fünf »operative Planungen« findet Alfred Klaus in den Aufzeichnungen Anhaltspunkte, und zwar:

»1. ein unmittelbar bevorstehendes ›Kommando‹-Unternehmen, Deckname

›Margarine‹,

2. eine in Vorbereitung befindliche bewaffnete Aktion zur Beschaffung einer

großen Geldsumme, Stichwort ›Big Money‹,

3. eine geplante ›Rache‹-Aktion zur Befreiung einer größeren Anzahl von Gefangenen, Stichwort »Big Raushole«, sowie die

4. Vorbereitung eines Bankraubes durch die ›Filiale 2‹ und

5. einen Einbruch in eine Passbehörde (›Amt‹) durch die ›Filiale 1‹ zur Beschaffung von Dokumenten für die Herstellung von Falschpapieren.«

Von den fünf geplanten Operationen ist bereits die erste gelaufen: Am 12. November 1976 hatte ein RAF-Trupp die Bezirkshauptmannschaft in Landeck/Tirol überfallen. Stapelweise erbeutete er Reisepässe, Personalausweise, Waffen- und Führerscheine sowie Stempel. Papiere für die Zukunft.

Einen Tag nachdem Klaus seinen Bericht abgeschlossen hat, wird klar, was »Vorbereitung eines Bankraubs« bedeutete: Am 13. Dezember 1976 überfallen drei RAF-Mitglieder, zwei Männer und eine Frau, die Filiale des »Creditanstalt-Bankverein« in Wien, in der Kärntnerstraße 53. Aus weniger als drei Metern Entfernung richtet die Frau ihren Smith & Wesson-Revolver auf den Kassierer, wirft ihm einen Sack zu und verlangt: »Alles da rein.« Ihr Wunsch ist dem Mann Befehl. Das Trio flüchtet mit 3,4 Millionen Schilling und Valuten Richtung Opernring.

Aufmerksam auf die Flüchtenden wird ein Polizist, der das Gebäude einer türkischen Fluggesellschaft bewacht. Mehrfach feuert die Frau auf den Beamten, trifft ihn aber nicht. Die Schaufensterscheibe der Fluggesellschaft geht zu Bruch. An der Operngasse versuchen die Täter, ein Taxi zu kapern. Es misslingt, weil dem Fahrer die Flucht mit dem Zündschlüssel gelingt. Die Frau wird gefasst: Es ist Waltraud Boock.[3] Die beiden Männer entkommen unerkannt.

Alfred Klaus ist von der Planungstreue der Akteure überrascht: Obwohl die Planungsunterlagen der Polizei in die Hände gefallen waren, schritten sie zur Tat. Durch den Raub weiß Alfred Klaus, dass »Inge« der Tarnname von Waltraud Boock ist: Nach den »Haag-Mayer-Papieren« sollte sie von der »Filiale 2« aus die »Bank vorbereiten«, die dann »3 Leute machen« sollten. Dass »Egon« Siegfried Haag und »Michael« Roland Mayer ist, steht für Klaus außer Frage, weil beide nach den Papieren am 30. November – dem Tag ihrer Festnahme – als einzige dieselben Aufgaben zu erledigen hatten: »C-Wohnung, Loch, Patz, Karre«.

Drei von elf: Mehr nicht. Bei den anderen acht Tarnnamen – Bodo, Ede, Hans, Tim, Karl, Olga, Paula und Anton, hat der Chefanalytiker des BKA keine Idee, wer dahinterstecken könnte – von einer Ausnahme abgesehen. Er vermutet, dass »Anton« für Günter Sonnenberg steht.[4]

Das größte Rätsel auf den 132 Seiten ist für Klaus der Codename »Margarine«. Aus dem, was er in den Papieren gelesen hat, schließt er, dass es sich um »eine spektakuläre Aktion mit politischer Brisanz« handelt, deren Vorbereitungen »nahezu abgeschlossen« sind. Der erste große Schlag einer neuen RAF-Formation – mit Akribie vorbereitet: »Ihrer Planung ging eine politische Diskussion voraus«, entnahm Klaus den Notizen aus dem Admiral: »Die Täter wurden besonders gründlich ausgewählt, ihre Flucht (›Rückzug‹) bis ins Detail (›wer wohin/wann‹) vorbereitet, einschließlich der vermutlich legal in Karlsruhe lebenden Helfershelfer ›W/P‹ (2 Personen?). Das ›Operationskonzept‹ schloss eine begleitende ›Propaganda‹ (d.h. Vermittlung des politischen Inhalts der Aktion durch ›Kdo.-Meldungen‹ bzw. Erklärungen für die Medien) ein.« Klaus verwundert, dass er in den Papieren keinen Hinweis darauf entdeckt, »ob und welche Forderungen damit verknüpft werden sollten«. Auch vermag er aus den rätselhaften Notizen nicht die strategische Verortung von »Margarine« zu entschlüsseln: »Die Operation ›Margarine‹ kann jedenfalls mit den … genannten Aktionen (›Big Money‹ und ›Big Raushole‹) nicht in Zusammenhang stehen, weil diese nach dem Inhalt der Notizen unter ›Perspektive nach Margarine‹ bzw. unter ›fortlaufende Arbeit‹ rubriziert worden sind.«

 

Siegfried Buback

© picture-alliance/Sven Simon

 

Kurz vor Weihnachten 1976 fährt Hauptkommissar Klaus nach Karlsruhe und spricht mit Generalbundesanwalt Siegfried Buback über seine Auswertungen; vor allem über das, was ihn noch immer beschäftigt: »Margarine« und »Big Money«. Der Chefanalytiker des Bundeskriminalamtes ist mit sich selbst unzufrieden.

»Machen Sie sich nicht verrückt«, erwidert Buback – er lächelt und lehnt sich entspannt zurück in der Sitzecke seines Dienstzimmers. »Ich tue das auch nicht – obwohl ich weiß, dass ich für die RAF eine prima Zielscheibe abgäbe.« Angst könne er sich nicht leisten, gibt der Generalbundesanwalt zu bedenken: »Für mich funktioniert das nicht, mein Leben so einzurichten, dass ein Attentat auf mich unmöglich ist.«

Klaus hält dagegen: »Sie brauchen einen besseren Personenschutz, ausgebildete Leibwächter …« Der Generalbundesanwalt winkt ab und lächelt verschmitzt, wie so oft. Alfred Klaus gibt sich damit nicht zufrieden, weil er aus Kassibern von RAF-Häftlingen weiß, dass Buback für Andreas Baader zum Feind Nummer eins geworden ist – noch vor BKA-Chef Horst Herold. Für Baader ist Buback der »General« der Gegenseite. Und deshalb ist es sein Herzenswunsch, dass er aus der Welt geschafft wird.

So setzt Alfred Klaus nach, nennt Buback auf der Couch einen »Fatalisten« und erinnert ihn daran, dass er nach seinem Amtsantritt im Mai 1974 vor weiteren Anschlägen gewarnt hatte. Auch erinnert er ihn daran, dass ihn Baader und die drei anderen Stammheimer Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Spiegel öffentlich attackiert hatten: Sie hatten von einer »Vernichtungsstrategie der Bundesanwaltschaft« gesprochen und auch davon, dass Buback glaube, sie »durch Mord und Zwangspsychiatrisierung« vernichten zu können. »Sie sind die Galionsfigur!«, ruft Klaus: »Der verhasste Chef einer verhassten Behörde, der die Anklageschrift gegen Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe unterschrieben hat!« – Mehr als zwei Jahre zuvor, am 26. September 1974, hatte Buback die 354-Seiten-Anklageschrift unterzeichnet und beantragt, »das Hauptverfahren vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart zu eröffnen«.

Buback wiegelt ab: Ihm sei klar, dass ihn Baader & Co. hassten. Aber in Spekulationen über ein Attentat auf sich wolle er sich nicht ergehen. Er lächelt verschmitzt und kommt zu einem anderen Thema: dem Ruhestand. Noch sieben Dienstjahre hat er vor sich, er ist Jahrgang 1920. Die beiden sind fast gleich alt, Klaus ist ein Jahr älter. Buback freut sich auf mehr Zeit für die Arbeit im Garten. Er züchtet Lilien. Bis dahin, bis zu seinem Ruhestand, sagt er zuversichtlich, sei die RAF »hoffentlich Geschichte«. Am Ende des Gesprächs kommt der Generalbundesanwalt noch einmal auf Alfred Klaus’ Auswertungsbericht zu sprechen: »Sie haben ganze Arbeit geleistet«, sagt er dem BKA-Kommissar. »Aber nun vergessen Sie mal Margarine und Big Money für ein Weilchen. Genießen Sie die Festtage. Frohe Weihnachten.« Der Sachse Buback lächelt. So endet das letzte Gespräch der beiden Männer.

Nachdem Klaus am 7. April 1977 vom Tod des Generalbundesanwalts erfahren hat, steht für ihn außer Zweifel, dass die RAF ihr Programm, das er vor vier Monaten auf seinen Schreibtisch bekam, gnadenlos durchzieht: Das Margarine-Rätsel ist keines mehr. Von den fünf Projekten, die er in den »Aufschrieben« identifizierte, sind drei realisiert – offen nur noch Nummer 2 und Nummer 3: »Big Money« und »Big Raushole«. Das ist der Erkenntnisstand des BKA-Chefanalysten am Gründonnerstag 1977. High Noon im Bundeskriminalamt.

Die »Haag-Mayer-Papiere« sind das Treatment des Terrors: der Fahrplan für das Jahr 1977, um Baader & Co. aus den Gefängnissen zu befreien.

3. Karfreitag

Die Tagesschau-Fanfare erklingt. »Hier ist das Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Guten Abend, meine Damen und Herren«, begrüßt Nachrichtensprecher Werner Veigel die Fernsehnation um 20 Uhr am Karfreitag 1977 – anderthalb Tage sind seit dem Anschlag in Karlsruhe vergangen: »Bei der Fahndung nach den Mördern von Generalbundesanwalt Buback und seines Fahrers Göbel gibt es möglicherweise eine erste heiße Spur. Das Bundeskriminalamt in Wiesbaden sucht aufgrund von Zeugenaussagen den der Tat dringend verdächtigen terroristischen Gewalttäter Günter Sonnenberg. Sonnenberg ist 22 Jahre alt. Außer ihm wird nach dem 24-jährigen Christian Klar und dem 25-jährigen Knut Folkerts gefahndet.«

Fotos der drei Gesuchten erscheinen auf der Mattscheibe.

Ihnen folgt ein grauhaariger Herr: Gerhard Boeden, Leiter der »Abteilung Terrorismus« im Bundeskriminalamt. Schräg vor ihm steht ein junger Reporter, Hansjürgen Rosenbauer, der spätere ORB-Intendant, und fragt: »Wie dringend sind die jetzt Gesuchten der Tat verdächtig?«

»Die Ermittlungen zu dem schweren Verbrechen gegen die beiden Mitarbeiter des Bundesgerichtshofes und den Generalbundesanwalt sind so weit gediehen, dass der Tatverdacht gegen Sonnenberg sich so verstärkt hat, dass der Generalbundesanwalt sich entschlossen hat, einen Haftbefehl wegen dieser Tatbeteiligung beim Bundesgerichtshof zu beantragen.« Rosenbauer hakt nach: »Und was ist mit der angeblichen Frau, die auf dem Soziussitz gesessen haben soll?« »Wenn Sie sich die Fahndungsfotos, die wir heute veröffentlicht haben, ansehen«, erwidert Boeden, »dann kann man nicht ausschließen, dass einer dieser drei Beteiligten so aussieht, wie auch eine Frau aussehen kann.«

Für die deutsche Fernsehnation sind die drei Gesuchten unbeschriebene Blätter – Günter Sonnenberg, Christian Klar und Knut Folkerts. Auf ihre Spur brachte die Ermittler das Motorrad, von dem aus der Todesschütze feuerte, die Suzuki GS 750 mit dem leuchtend blauen Tank. Seit der Tat, in den vergangenen 35 Stunden, haben Gerhard Boeden und seine Kollegen herausgefunden:

Gestoppt hatte das Motorrad auf der Linkenheimer Landstraße an der roten Ampel – rechts hinter Bubacks dunkelblauem Dienst-Mercedes 230 E: Wie üblich sitzt der Generalbundesanwalt auf dem Beifahrersitz. Am Lenkrad ist heute Aushilfsfahrer Wolfgang Göbel (30), Cheffahrer Bernd Jakobi hat an diesem Tag frei. Hinten auf der Rückbank ist der Chef der Fahrbereitschaft Georg Wurster (43). Als die Ampel auf Grün springt, reißt der Sozius auf dem Motorrad aus einer braunen Reisetasche ein Gewehr und feuert, feuert, feuert – mindestens 26 Mal durch die beiden Scheiben auf der rechten Seite des Dienstwagens.

 

Spurensicherung im Bundeskriminalamt: Flucht-Suzuki, Bubacks Dienstwagen

© picture-alliance/dpa/Manfred Rehm

 

Fahrer Göbel erhält einen Lungendurchschuss, sechs weitere Projektile treffen ihn. Ihm gelingt es noch, die Fahrertür aufzureißen – es sind die letzten Sekunden seines Lebens: Er stürzt auf die Straße und bleibt liegen. So rollt der Wagen führerlos über die Kreuzung – Göbel hatte an der Ampel bereits einen Gang eingelegt und die Kupplung getreten.[5] Ganz langsam fährt das Motorrad an, zieht links am Mercedes vorbei. Die beiden Täter schauen in den Wagen. Triumphierend reißen sie die Arme hoch. Der Hintermann schiebt die Waffe zurück in die Reisetasche; der Vordermann gibt Gas. Das Motorrad jagt davon, Richtung Innenstadt, über den Zirkel.

Bubacks letzte Dienstfahrt endet auf dem Gehweg. Dort kommt der Wagen an einem Metallpfosten zum Stehen. Passanten hieven den Generalbundesanwalt vorsichtig aus dem Fahrzeug. Für ihn kommt jede Hilfe zu spät: Er stirbt an inneren Blutungen. Sein Sakko hat 16 Einschussspuren.[6]

Als das Trommelfeuer begann, hatte sich Georg Wurster auf der Rückbank nach links abgeduckt – ohne Erfolg. Zwei Projektile haben ihn schwer verletzt. Ein Rettungshubschrauber fliegt ihn ins Städtische Krankenhaus.

Gegen Mittag wird das Motorrad in einer Brückenkammer unter der Bundesautobahn von Karlsruhe nach Stuttgart gefunden: wenige Meter neben der Landstraße 623, in der Nähe der Ortschaft Wolfartsweier.

Sein Kennzeichen LU–NL 8 entpuppt sich als Dublette: Mit diesem Kennzeichen besitzt ein Ludwigsburger Kunstschlosser eine Suzuki GS 750 – die Täter hatten sich ein Kennzeichen mit derselben Nummer prägen lassen und an dem Motorrad angeschraubt. Die Fahrgestellnummer – 020002 – führte die Ermittler schnell zum Eigentümer, der Firma Hein Gericke in Düsseldorf. Der Geschäftsführer berichtet ihnen: Sechs Tage zuvor hätte er die Maschine an einen Mann vermietet. Ausgewiesen hätte er sich mit einem Führerschein als »Hans Georg Schäfer, geboren 2. August 1950, 4000 Düsseldorf, Rather Straße 82«. Tatsächlich aber gibt es diese Person nicht. Weil der Mann die Maschine nicht zurückgebracht hatte, erstattete der Geschäftsführer Anzeige, einen Tag vor dem Karlsruher Anschlag. Auf Fotos erkennen er und sein Verkäufer Günter Sonnenberg als den Mieter der Maschine. Die Handschrift auf dem Mietvertrag mit dem Passus »Der Mieter haftet für alle Polizeistrafen während seiner Mietzeit« sieht aus wie die von Sonnenberg.

Mit dieser Erkenntnis ist es für die Ermittler gedanklich weniger als ein Katzensprung zu Klar und Folkerts: Die Staatsschützer hatten das Trio schon länger im Blick. Als militant aufgefallen waren sie ihnen bei der Besetzung der Räume von Amnesty International in Hamburg am 30. Oktober 1974. Ein Stelldichein der Nachwuchskräfte der RAF, der jungen Garde: 32 Demonstranten hatten das Gebäude in der Beselerstraße 8 in Groß Flottbek gestürmt. Sie protestierten gegen die »Folterhaft« der RAF-Häftlinge. Lautstark und auf Transparenten forderten sie, dass die Menschenrechtsorganisation öffentlich eintritt für die »Abschaffung der Sonderbehandlung und Vernichtungshaft« bei Baader, Meinhof & Co.

In Groß Flottbek waren außer Günter Sonnenberg, Christian Klar und Knut Folkerts mehrere Aktivisten mit dabei, die zwei, drei Jahre später im Terrorjahr 1977 eine wichtige Rolle spielen sollten: Roland Mayer, Adelheid Schulz, Willy Peter Stoll, Stefan Wisniewski, Monika Helbing und Ralf Friedrich.[7] Sogar Wolfgang Grams war schon mit von der Partie: einer der Frontmänner der dritten Generation, die, nachdem die zweite Generation 1982 gefasst war, 1984 in den Untergrund ging und noch einmal das Experiment des »bewaffneten Kampfes in der BRD« startete. Wolfgang Grams kommt 1993 ums Leben, nachdem er den zehnten Mord seiner RAF-Generation verübt hatte. Von den Amnesty-Besetzern 1974 in Hamburg schloss sich über ein Drittel der RAF an – in den Jahren 1975 bis 1984.

Für die Karlsruher Staatsschützer sind die drei »alte WG-Freunde«: Ab November 1973 lebten sie in einer Wohngemeinschaft in Karlsruhe im Stadtteil Grünwinkel, Haselweg 17. Zwei Jahre später, August 1975, zieht die Wohngemeinschaft in die Südstadt um, in die Luisenstraße 2a. Zwei Zimmer, Dachgeschoss. Wohnküche, Matratzen auf dem Boden. Die drei Karlsruher treten häufig gemeinsam auf, kämpfen für selbst verwaltete Jugendzentren und gegen die »Isolationsfolter« an RAF-Häftlingen. Sie gelten als Macher der spontan-frivol-brutalen Art.

4. Sonnenberg

Der Jüngste im Bunde ist Günter Friedrich Wilhelm Gustav Sonnenberg. Geboren am 21. Juli 1954 in Karlsruhe, wächst er in bürgerlich-geordneten Verhältnissen auf: Seine Schwester ist drei Jahre älter und sein Vater Wilhelm Bundesbahnoberamtsrat, A 13. 1964 kommt Günter auf das Helmholtz-Gymnasium in Karlsruhe, ein wilhelminisches Gebäude mit dem Flair der Kaiserzeit – tatsächlich: in der Kaiserallee. Mitschüler beschreiben ihn als zurückhaltend, wortkarg und bescheiden. Seine Noten sind gut. Mit sechzehn darf er für das Schuljahr 1970/71 als Austauschschüler nach Detroit. Den High-School-Abschluss macht er mit leichter Hand, Durchschnittsnote 1,5. Aber in der zweiten Hälfte des Jahres in Michigan verändert er sich. Der bislang angepasste und motivierte Schüler verwandelt sich, wie sein Vater berichtet, in einen »wortkargen, meditierenden, sehr genügsamen« und betont selbstständigen jungen Mann. Die Gegensätze dieser Welt, die er in Michigan erlebt hätte, vor allem zwischen Arm und Reich und den Rassen, hätten ihn dazu gebracht, selbst die Welt verändern zu wollen.

 

Günter Sonnenberg

© picture-alliance/dpa

 

In Detroit erlebte der junge Badener den Protest der jungen Amerikaner gegen Vietnam und die Diskriminierung im eigenen Land. Die »Motor City« steht noch immer ganz im Zeichen der Rassenunruhen, die dort 1967 ausgebrochen waren, die schlimmsten, die die Vereinigten Staaten bis dahin erlebt hatten: fünf Tage brutaler Straßenkampf – 43 Tote, über eintausend Verletzte und über siebentausend Verhaftete.

Erst wird Günter kritisch gegenüber den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in den Vereinigten Staaten. Dann lehnt er sie ab, spricht von den »Widersprüchen des Imperialismus‹«. Mit siebzehn kehrt er an das Helmholtz-Gymnasium zurück. Die Lage in der Bundesrepublik sieht er ähnlich kritisch wie die in den Vereinigten Staaten. Begeistert ist er von Che Guevara und Hermann Hesse. Er ist rebellisch, legt sich mit Lehrern an, berichtet ein Mitschüler. Sein Interesse am Unterricht schwindet, er lebt, wie er es formuliert, »nur noch von meinen Vorkenntnissen«.

Im Sommer 1973 besteht er das Abitur am Helmholtz-Gymnasium, Notendurchschnitt: 2,2. Im Wintersemester 1973/74, am 18. Oktober 1973, beginnt er das Studium an der Universität Heidelberg: Philosophie, Geschichte und Politik. Einen Monat später – November 1973 – zieht er in die Wohngemeinschaft im Haselweg 17. Dort leben auch Christian Klar, Knut Folkerts und »Heidi«, Adelheid Schulz, Klars Freundin.

Mit dem »System« in der Bundesrepublik kann sich Günter Sonnenberg nicht arrangieren: Er engagiert sich im »Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD«. Weil er in öffentlichen Verkehrsmitteln keinen Fahrschein löste, verurteilt ihn das Jugendgericht Karlsruhe im März 1974 wegen »Beförderungserschleichung« zu »20 unentgeltlichen Arbeitsstunden im gemeinnützigen Bereich«.

Vier Monate später muss er abermals vor demselben Jugendrichter antreten. Zusammen mit der späteren RAF-Führungsfrau Adelheid Schulz und Hans Pester hatte er im Amtsgericht Karlsruhe das Dienstzimmer des Haftrichters gestürmt: Die drei forderten die Erlaubnis zum Besuch des Häftlings Lutz Buhr. Der Richter lehnt das ab. Daraufhin beschimpfen sie ihn als »Folterknecht« und »Schwein«. Der Jurist fordert sie auf, sein Zimmer zu verlassen. Das tun sie nicht.

Deshalb muss Sonnenberg wieder auf der Anklagebank vor dem Jugendgericht Karlsruhe Platz nehmen. Sein Verteidiger ist Siegfried Haag. Der 28-jährige Junganwalt erklärt das Verhalten der Angeklagten mit »der Ausweglosigkeit für ihr politisches Anliegen«. Den Jugendrichter überzeugt er nicht. Diesmal kommt Sonnenberg, gerade 20 geworden, nicht mit einem blauen Auge davon: Der Richter verurteilt ihn wegen »gemeinschaftlichen Hausfriedensbruchs in Tateinheit mit versuchter Nötigung« zu einer Woche Jugenddauerarrest.

Ein Jahr später taucht Günter Sonnenberg ab, nach dem Sommersemester 1976. Auch seine Eltern haben keine Ahnung, wo er steckt. Im November 1976 bekommen sie einen Brief von ihm – abgeschickt in Mülhausen/Frankreich. Abgestempelt am 23. November 1976. Er habe ein Urlaubssemester eingelegt, schreibt er ihnen, nun werde er mit Freunden auf eine »Weltreise« gehen. Das war’s. Die letzte Nachricht des abgetauchten Sohnes an seine Eltern.

5. Klar

Auch Christian Klar entstammt dem badischen Bildungsbürgertum, ebenfalls einer Beamtenfamilie. Sein Vater ist Vizepräsident des Oberschulamtes Nordbaden in Karlsruhe; seine Mutter Christa Gymnasiallehrerin.

Als Christian Georg Alfred Klar am 20. Mai 1952 in Freiburg/Breisgau auf die Welt kommt, ist sein Vater Alfred noch Studienreferendar. Seine Mutter Christa studiert Mathematik fürs höhere Lehramt. Christians Kindheit verläuft behütet – er hat einen älteren Bruder, zwei jüngere Brüder und eine jüngere Schwester.

Im April 1964 kommt er auf das Hans-Thoma-Gymnasium in Lörrach. Der Direktor ist sein Vater Alfred. Typ: Minenräumer – das hatte er im Krieg gelernt. Kollegen schätzen den Ex-Wehrmachtsoffizier, Jahrgang 1921, wegen seines burschikos-brachialen Durchsetzungsvermögens. Andere fürchten den gebürtigen Berliner, weil, wenn er jemanden als seinen »Gegner« identifiziert hat, er mit ihm den »Kampf« sucht. Ein Machtmensch, nicht ernsthaft dialogbereit. Der Weltkrieg-II-Marineoffizier liebt die Zuspitzung und ganz besonders die verbale Attacke. Ein Draufgänger, unkonventionell, frei Schnauze, mitunter auch provozierend – aber auch ein Karrierist.

Nach Lörrach ist die Familie gezogen, weil Christians Vater hier 1961 eine Schulleiterstelle bekommen hatte. Die 30000-Einwohner-Stadt liegt im südwestlichsten Zipfel der Bundesrepublik. Tiefste Provinz, damals, Mitte der 60er-Jahre – und »konservativ bis ins Mark«, erinnert sich Nikolaus Cybinski. 1965 kam er als »Oberreferendar« an das Hans-Thoma-Gymnasium. Er »staunte nicht schlecht, in welch konservativ eingespieltes ›pädagogisches Ensemble‹ ich da geraten war: überwiegend ältere Herren, CDU-freundlich gesinnt, meistens Hausbesitzer, plus einiger älterer unverheirateter Kolleginnen, die routiniert-solide ihrem Job nachgingen.« Über pädagogische Probleme sei nicht diskutiert worden: »Alles lief reibungslos seinen biedermeierlich-pädagogischen Gang, nach außen badisch gemütlich«, erinnert sich Cybinski: »Thema Krieg und Soldatsein – es betraf die meisten Kollegen – war tabu. Neues Lernen, neue Schule? Bloß nicht! Wie wir das machen, Tag für Tag, isch scho rächt!«[8]

Mit einem Jahr Verspätung, 1968, schwappte das, was bundesweit eine neue Zeitrechung begründete – junge Menschen fordern Diskussion, Einfluss und Beteiligung –, nach Lörrach über, auf das Hans-Thoma-Gymnasium. »Nun wurde es heftig«, blickt Nikolaus Cybinski auf seine Anfangsjahre als Lehrer am Klar-Gymnasium zurück: »Schüler begehrten auf, kritisierten Lehrer, sprachen eine Sprache, die meine Kollegen schockierte, forderten Transparenz, nicht nur bei den Noten, Mitsprache im Schulalltag. Kurzum: Sie stellten die alte Herrschaftsordnung infrage.« Der Ton der Schüler verschärft sich.

Wie fast überall in dieser Zeit sind die Schüler am HTG gegen den Mief der Obrigkeit und für Mitbestimmung. Ihre Themen sind die Themen der Zeit: Notstandsgesetze, Vietnam, der tödliche Polizeischuss auf Benno Ohnesorg in Berlin, die erste Große Koalition der Republik und vor allem das Fehlen einer parlamentarischen Opposition. Die Koalitionäre von CDU und SPD verfügen über mehr als 90 Prozent der Stimmen im Bundestag. Von den insgesamt 518 Bundestagsabgeordneten gehören ganze 50 der FDP-Fraktion an. Allein sie ist parlamentarische Opposition. »Wir fühlten uns in einem Strom des Aufbruchs weltweit«, beschreibt Kurt Seifert die Stimmung damals, 1969 macht er am Hans-Thoma-Gymnasium Abitur. Aber über Verbalradikalismus kommen die Schüler nicht hinaus.

Auf dem Prüfstand stehen die »hierarchischen Strukturen«. Aber die werden »von Oberstudiendirektor Alfred Klar in idealtypischer Weise verkörpert«, resümiert Kurt Seifert, der damals mit an der Spitze der Bewegung stand: »Gegenüber jenen Jugendlichen, die zunehmend kritischer auf die herrschenden Verhältnisse reagierten, betonte er die Notwendigkeit von ›Autorität‹ – und für deren Aufrechterhaltung sorgte er auch.« So warnt im wilden Mai 1968 der Schulleiter bei einer Schulversammlung seine Schüler – alle: Sollte er feststellen, dass »radikale Elemente« an seinem Gymnasium auftreten, werde er sich mit allem Nachdruck dafür einsetzen, sie von der Schule zu entfernen. Für »Rabatz« hat er nichts übrig. Einige Monate später fordern Schüler in einer Resolution »Anhörungsrechte«. Die Stellungnahme von Direx Klar ist eindeutig: Er warnt vor einer »Machtübernahme der Schüler in der Schule«.

Als ein Schüler zur Abiturfeier im Rollkragenpullover erscheint, gibt er ihm demonstrativ nicht die Hand. Ignoriert ihn. Direktor Klar und viele seiner älteren Kollegen wollen Protest nicht hören, blickt Kurt Seifert zurück, damals einer der »Rädelsführer« der rebellischen Pennäler: »Sie sagten uns, wir sollten nach drüben gehen, wenn’s uns nicht passt.« Die Analyse des »Rädelsführers« in der Rückschau: Die Rolle des Direktors sei »wichtig für die Radikalisierung« in der Schülerschaft gewesen.

Sein Sohn Christian ist in Lörrach zunächst ein blasser Schüler. Unauffällig. Das ändert sich mit seinem 15. Lebensjahr. Anfang 1968 engagiert er sich in der Redaktion der Schülerzeitung Echo, unter anderem als Grafiker. Sein Pseudonym ist »Kaki«. Die Zeitschrift macht auf mit der Schlagzeile »Kill the teachers«, Disziplinarkonferenzen folgen. Auch Christian ist vorgeladen; seinen Vater redet er mit »Sie« an. Die Lehrer sprechen Schulstrafen aus. Die Mehrheit im Kollegium will demonstrieren, wer die Macht in der Schule hat.

Zoff in der Schule gibt es auch nach dem Vorwurf an den Schulleiter Alfred Klar, er habe bei der Wahl des neuen Schulsprechers manipuliert. Die Schüleropposition greift ihn in einem Flugblatt an, fragt: »Wie hältst Du es mit der Demokratie, Alfred Klar?« Seine Antwort ist ein Flugblattverbot auf dem Schulgelände. Schüler erwidern mit einem Flugblatt: eine Todesanzeige für die Pressefreiheit am HTG. Einer der zehn Unterzeichner ist Christian Klar. Der Direktor verhängt Hausverbote für die Unterzeichner, auch für seinen Sohn. Die zehn Flugblattunterzeichner müssen vor der Gesamtlehrerkonferenz antreten. Christian siezt wieder seinen Vater; das Kollegium folgt dessen Vorschlag: drei Tage Ausschluss vom Unterricht. »Faschismus im Lehrerzimmer?« titelt Echo aktuell und erklärt, diese Methode von Konferenz sei schon »in der Zeit des Faschismus praktiziert« worden.

Diese Konferenzen waren ein »gravierender Fehler«, blickt der ehemalige Deutsch- und Geschichtslehrer Cybinski zurück: »Statt auf die Schüler einzugehen, sie wenigstens in Ruhe anzuhören und damit die Situation zu entschärfen, wurden diese Disziplinarkonferenzen zu pädagogischen Tribunalen.« Dass in ihnen »wir Lehrer als Ankläger und Richter auftraten«, diese Doppelfunktion, nennt Cybinski rückblickend »einen unserer schlimmsten Fehler«.

Nikolaus Cybinski lernt Christian Klar »als sensiblen Burschen« kennen, »mochte ihn – auch wenn er einmal meine Aufsatzbenotung ›robust‹ angriff«. Im Laufe der Zeit werden Christians Haare länger und seine Noten schlechter, er entwickelt sich immer mehr zum »schwarzen Schaf« der Pädagogenfamilie: Seine beiden älteren Brüder sind Überflieger, Musterschüler und sahnen Schulpreise ab. Christians kleine Schwester vergöttert der Vater. Und Christian bleibt sitzen, 1970.

Der Vater ist autoritär, der Filius fürs Antiautoritäre. Die Wortgefechte nehmen zu: daheim und in der Schule. Christian hält seinen Vater für einen Opportunisten, weil er 1968 die SPD verlassen hatte mit der Erklärung, die Partei sei ihm zu links geworden. Schon bald tritt er in die CDU ein. Nicht nachteilig für seine Karriere im Ländle, in der Schulverwaltung. Für seine Mutter Christa war Christian »immer der Sensibelste von den fünf Geschwistern«. Christian spielt gut Gitarre und malt talentiert. Der Pädagogin gefällt an ihrem zweiten Sohn der »Gerechtigkeitssinn«, ähnlich ihrem eigenen, sagt sie. Für sie ist Christian im Grunde »ein Weltverbesserer, ein Junge mit Sozialtick«.

Die Reibungen zwischen Christian, Jahrgang 1952, und seinem Vater Alfred, Jahrgang 1921, gehen weit über den klassischen Vater-Sohn-Konflikt jener Zeit hinaus. Nicht nur, weil Alfred Klar ein besonders autoritär-brachialer Pädagoge alten Offiziersschlages ist; sondern vor allem wegen seiner Doppelrolle im Leben von Christian: als Vater und Schulleiter. In der Schule ist Alfred der Buhmann für die rebellischen Schüler. An deren Spitze steht Christian.

Mit 18 beantragte Christian Klar, als Wehrdienstverweigerer anerkannt zu werden, September 1970. Seinen Antrag begründet er damit, dass er eine »zutiefst lebensbejahende Haltung« teile, die ihn veranlasse, »das menschliche Leben selbst … zu verehren, zu lieben und zu verabsolutieren«. Deshalb könne ihn eine »unter Umständen eingebildete Freiheit, Sehnsucht oder menschliche Bestimmung nicht veranlassen, einen Menschen zu verletzen oder gar zu töten«. Es würde ihn »zerstören«, schreibt er an das Kreiswehrersatzamt, wenn er »die Vernichtung menschlichen Lebens organisiert fördern, üben und letztlich praktizieren müsste«. Fünfzehn Jahre später verurteilt ihn das Oberlandesgericht Stuttgart[9] wegen neun Morden und elf Mordversuchen. Die Prüfungskammer des Kreiswehrersatzamtes überzeugt er nicht: Sie lehnt ihn als Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen ab. Aber antreten muss er nicht.

1971 wird Vater Alfred Vizepräsident des Oberschulamtes Karlsruhe. Die Familie zieht von Lörrach nach Karlsbad-Ittersbach – 200 Kilometer Richtung Norden. Eine beschauliche Gemeinde zwischen Karlsruhe und dem Nordrand des Schwarzwaldes. So kommt Christian Klar mit 18 in die 12. Klasse des Eichendorff-Gymnasiums in Ettlingen, keine anderthalb Jahre vor dem Abitur. »An ihm war alles anders«, erinnert sich an den neuen Mitschüler Stefan Löffler: »Er hatte einen eigenen Stil, und man sah sofort, dass er seine Außenwirkung kalkulierte. Er war groß, lässig, geschliffene Sprache. Der war nicht brav, nichts an ihm war brav. Christian war die absolute Provokation.« Lehrer sind für ihn natürliche Feinde.

Klar stößt zu Löfflers Clique. Die fünf Zwölftklässler nennen sich »Basisgruppe«. In Mode sind Parkas mit großem Peace-Zeichen auf dem Rücken. In der Pause treffen sie sich neben den Fahrradständern. Einige rauchen, Christian pafft. Sie sprechen über die Schule und Vietnam, die brennenden Napalmopfer, über Selbstentfremdung und Selbstentfaltung, über Lehrer und Väter. Seinen Mitschülern sagt Christian, »dass er seinen Vater hasst«, erinnert sich »Basisgruppen«-Genosse Löffler, und dass Christian ihnen »vermittelt hat, wie sehr hassenswert die ganze Kriegsgeneration ist«.

 

Christian Klar

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Die Jungs auf dem Schulhof empfinden sich schon als die »neuen Menschen«, blickt Löffler zurück: »Wir hielten die Nasen hoch, liefen da rum mit dieser ganz normalen Primanerarroganz, die halt mit einer revolutionären Attitüde geschmückt war. Lächerlich eigentlich.« Im Sommer 1971 organisieren sie einen Schulstreik und demonstrieren in der Karlsruher Kaiserstraße. Die Polizei setzt Gummiknüppel, Tränengas und Wasserwerfer ein. Christian ist immer in der ersten Reihe. Kneifen gibt es für ihn nicht. In einer Schülerzeitung, eng beschriebene DIN-A3-Blätter, mit Matrizen auf einer »Nudelmaschine« hektografiert, erscheint eine Karikatur aus der Feder von Christian Klar: Ein Polizist tritt einen Demonstranten mit seinem Stiefel.

Das Abi macht Christian Klar mit 20 im Juni 1972 an dem Gymnasium in Ettlingen. Notendurchschnitt 2,75.

Zum Wintersemester 1972/73 schreibt er sich an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg für Philosophie und Geschichte ein: »Abschlussziel ›Magister‹«. Prüfungen legt er keine ab. Auch keine Zwischenprüfungen.

»Ich bin ein paar Mal hingegangen, habe auch die Bibliothek benutzt, war aber desillusioniert von Nährwert und Zurichtung«, sagt Christian Klar später über seine »Studentenzeit«: »Das Elfenbeinturmmäßige habe ich als so krass empfunden, dass ich keine Energie gehabt habe, das fortzusetzen.« Die Rückmeldung zum Wintersemester 1975/76 erledigt für ihn Günter Sonnenberg. Die Namen Adorno und Marcuse sind für ihn kein Begriff – damals, wie er in der Rückschau berichtet. Seine Erklärung: »So weit war ich zu der Zeit theoretisch noch nicht vorgedrungen.«

Gleichwohl spielte die Universität eine wichtige Rolle für Christian Klars politische Sozialisation: »Politisch aktive Gruppen« hätten »sich öfter kurzerhand Räume an der Universität geschnappt, sie genutzt und ein bisschen in Besitz genommen«, blickt er zurück. Nicht nur Studenten seien dort zusammengekommen, sondern auch »Leute aus Jugendzentren, Straßenbewegungen, verschiedenen Mobilisierungen«. Sie hätten »wirtschaftliche Themen« und »Proteste zum öffentlichen Nahverkehr« diskutiert und Aktionen und Demonstrationen vorbereitet. Die Uni hätte ihnen »auch einen gewissen Schutz« geboten: »Damals war es eine recht hohe Hürde, ehe die Universität die Polizei reingelassen hat.«

Die Zeit ist unruhig. Bewegt. Die Außerparlamentarische Opposition – APO – ist zerfallen. Revolutionäre Grüppchen allerorten: Sie diskutieren über die richtige Strategie für die Revolution. Meistens streiten sie sich. Zanken. In Vietnam ist Krieg, in Chile Klassenkampf, in Frankfurt Häuserkampf – das Wort »Kampf« ist der zentrale Begriff in diesen Tagen.

Nazizeit, Radikalenerlass, Vietnamkrieg, Imperialismus und »Folterhaft in BRD-Gefängnissen« – das sind die Themen, über die der Philosophiestudent Anfang 20 nachdenkt und diskutiert: In seinem Umfeld, berichtet er später, interessierte sich damals jeder für »die Zeit des deutschen Faschismus«. Klars Befund: »Das faschistische Personal war wieder in seinen Posten drin.«

Der Vietnamkrieg ist für ihn ein »beispielhafter Befreiungskampf« des vietnamesischen Volkes. Für ihn hat er deshalb etwas »sehr Mobilisierendes, Ermutigendes« – einerseits; andererseits aber auch »etwas sehr Ernstes und Grundsätzliches«, da man »die moderne Menschenverachtung von Kolonialherrn« kennenlerne.

Den Putsch in Chile im September 1973 empfindet Christian Klar als »eine ganz ungeheuerliche Sache«, weil »in einem brutalen, direkten Vorgehen kurzerhand Interessen von imperialistischen Hauptmächten delegiert worden« seien: »Von einem Tag auf den anderen war die Fassade von Wahlprozessen, also der ideologische Rahmen, der im Westen ja doch lange Zeit eine immense Rolle gespielt hat, außer Kraft gesetzt.«

Als er und einige seiner Bekannten hören, dass in der Stadthalle in Karlsruhe »die regionale High Society« und »Geschäftsleute« das Ende des Allende-Regimes feiern wollen, trommeln sie Gesinnungsgenossen zum Protest vor den Hallentüren zusammen: Sie wollten, so formuliert es Klar später, »unsere Wut zum Ausdruck« bringen. Für Klar ist das »Lernen im Alltag« – im »Unterschied zu Geschichtsverständnis aus der Zeitung, nämlich zu erkennen, wie so ein Putsch bestimmte Geschäftsbereiche nach vorne bringt, wer davon profitiert«. Der Protest vor der Karlsruher Stadthalle ist ein Schlüsselerlebnis für ihn: So habe er, bemerkt er Jahrzehnte später, »gelernt, politisch zu denken«.

Der wichtigste Satz aus dieser Zeit ist für ihn, sagt er, »ein Ausspruch von Sartre, dass der Vietnamkrieg den Bereich des Möglichen erweitert hat«. In diesen Jahren fühlt sich Klar »beflügelt«, weil »im Vordergrund die Mobilisierungsfähigkeit gestanden hat, die Horizonte, die sich geöffnet haben«.

Im Laufe der Zeit werden für ihn zum wichtigsten politischen Thema die »Haftbedingungen der politischen Gefangenen in der BRD«. Christian Klar spricht von »Folter«. Beim Verkehrsamt der Stadt Karlsruhe beantragt er am 29. Mai 1973 die Genehmigung eines »Sitz- und Hungerstreiks« vor dem Gebäude des Bundesgerichtshofs in der Herrenstraße. »Thema« der Veranstaltung: »Die Isolation der politischen Gefangenen in den Gefängnissen der BRD«.

Anderthalb Jahre später, Oktober 1974, ist Christian Klar bei der Amnesty-Besetzung in Hamburg dabei. Die endgültige militante Radikalisierung scheint in dieser Zeit bei ihm erfolgt zu sein: 1973, 1974 – vor allem beim dritten und mit Abstand heftigsten Hungerstreik der RAF im Herbst 1974. Trauriger Höhepunkt ist der Hungertod von Holger Meins am 9. November.

In dieser – in seinem sozialen Umfeld – brodelnden Zeit besitzt die RAF für Christian Klar eine historische Funktion: Für ihre Gründung sei »authentischer Grund« gewesen, erläutert er später sein Verständnis, »dass sich geschichtlich eine Möglichkeit gezeigt hat, revolutionäre Entwicklungen in Gang zu setzen«. Seine Sicht sei »einzig eine Betrachtungsweise aus der Perspektive einer Befreiung der besitzlosen Klassen«.

Seine Dauerfreundin ist »Heidi«: Adelheid Schulz. Vor sich hat sie eine fünfjährige Karriere in der RAF. Sie ist drei Jahre jünger als Klar, hat dunkle Haare und einen verträumten Blick. Er weckt Beschützerinstinkte. Die beiden kennen sich aus Lörrach, wo Heidi 1955 geboren wurde und Christian das Hans-Thoma-Gymnasium besuchte – infolge der Karriere seines Vaters. »Die beiden verstanden sich ausgezeichnet«, sagt Klars Mutter im Mai 1977, als die Hochfahndung nach ihrem Sohn angelaufen ist. Die Dauerfreundin ihres Sohnes findet sie »angenehm«: »Andere junge Männer wechseln die Frauen wie die Hemden. Aber Christian war ihr echt treu.«

Christian Klar bereitet seinen Abgang aus der bürgerlichen Welt vor: Das Sommersemester 1976 ist sein achtes und letztes Semester. Ein letztes Mal besucht er seine Eltern am 7. Oktober 1976 in Karlsbad-Ittersbach, in ihrem Haus in der Eichgasse 34. Drei Tage später kommt Klars Mutter Christa nach Karlsruhe in die Wohngemeinschaft in der Luisenstraße 2a – in der Wohnung unterm Dach lebt Christian Klar seit etwas mehr als einem Jahr. Sein Vater war nie hier. Für ihren Sohn hat die 50-Jährige frische Wäsche mitgebracht; für alle kocht sie Nudeln mit Hackfleisch – Sonnenberg und Folkerts sitzen in der Wohnküche. Christians Mutter wundert sich, dass die drei nicht rauchen und an dem Wein, den sie mitgebracht hat, nur nippen. »Ihr wollt euch wohl fit halten für den Kommunismus«, frotzelt die Mathelehrerin. Alle lachen.

Der Nudelabend ist der letzte Kontakt zwischen Mutter und Sohn vor seinem Abgang in den Untergrund. In den Wochen danach versucht sie mehrfach, Kontakt zu ihm zu bekommen: Sie klingelt an der Wohnungstür im Dachgeschoss. Keiner öffnet. Sie legt Zettel vor die Tür: Bitte melde dich! Aber ihr Sohn meldet sich nicht mehr.

Später stellt sich heraus, dass Christian Klar die letzte Miete am 1. Oktober 1976 von seinem Konto bei der Sparkasse Karlsruhe überwies. Mieter aus dem Mehrfamilienhaus berichten Kripobeamten, dass sie die Bewohner unterm Dach zum letzten Mal in der ersten Novemberhälfte gesehen hätten. So verliert sich die Spur von Christian Klar im Herbst 1976.[10]

Nachdem die »Haag-Mayer-Papiere« im November 1976 entdeckt wurden und ihre Analyse vorangeschritten war, erlässt der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs am 5. Januar 1977 Haftbefehl gegen Christian Klar[11] »wegen des Verdachts seiner mitgliedschaftlichen Beteiligung« in der RAF,[12] ebenso gegen Sonnenberg und Folkerts. Ein sogenannter Abtauchhaftbefehl: Er erging, wenn jemand aus dem RAF-Umfeld verschwand und es gravierende Anhaltspunkte dafür gab, dass er abgetaucht war. Die Ermittler hatten festgestellt, dass die drei mit unbekanntem Ziel verschwunden waren.

6. Folkerts