213. Liebe kennt keine Grenzen - Barbara Cartland - E-Book

213. Liebe kennt keine Grenzen E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Norman Melton hat sich aus armen Verhältnissen zum Besitzer der Melton Motor Company hochgearbeitet und ist nun ein Millionär, der ehrgeizig an weiteren Projekten arbeitet. Er wurde in den Adelsstand erhoben und war in erster Ehe mit einer Adligen verheiratet. Diese Ehe war sehr unglücklich, da Lady Evelyn Cleeve, die verwitwete Tochter des Earl of Brora, ihrem ersten Gatten nachtrauerte, der verunglückt war und Norman nur aus finanziellen Gründen geheiratet hatte. Sogar ihre Tochter Skye aus erster Ehe hatte sie vernachlässigt. Norman hat ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Stieftochter, die mittlerweile erwachsen ist. Norman verliebt sich in die junge und sehre hübsche Schauspielerin Carlotta Lenshovski. Sie ist russischer Herkunft und stammt aus der Romanoff Familie. Während sie mit Norman liiert ist, trifft sie auch den Arzt Hector McCleod und verliebt sich in ihn. Dieser jedoch stammt aus derselben Gegend wie Skye und als er diese wieder trifft, beschließen sie zu heiraten, was dem Earl of Brora sehr missfällt, da Hector der Sohn eines sein Pächter ist. Hector steckt noch in seiner Ausbildung. Um den Earl umzustimmen, ziehen Skye und Hector zusammen, und hoffen somit eine Zustimmung zu erzwingen. Carlotta entschließt sich gegen ihrer Gefühle und aus finanziellen Gründen, Norman zu heiraten. Werden Hector und Skye den Earl of Brora umstimmen können und den Bund der Ehe schließen, so dass sie unbeschwert zusammenleben können? Werden Norman und Carlotta zusammenfinden und sich besser kennenlernen, so dass sie das Glück des Familienlebens finden, nach dem sie sich sehnen?

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1 ~ 1938

Norman Melton saß an seinem Schreibtisch und spielte mit den Seiten des Vertrages, der vor ihm lag und auf seine Unterschrift wartete.

Abrupt, ohne aufzublicken, erklärte er:

»Nun, wir haben es geschafft, Johnson.«

»Jawohl, Sir Norman.«

»Ich nehme an, Sie haben das hier gelesen?«

»Ja, Sir Norman.«

»Sie haben alle Korrekturen vorgenommen, die wir mit Miller abgesprochen haben?«

»Jawohl, Sir Norman.«

Er griff nach seinem Füllhalter.

»Wir sollten diesen Tag in unserem Kalender rot anstreichen. Es ist der beste Abschluss, den die Melton Motor Company jemals zuwege gebracht hat oder je zuwege bringen wird.«

»Ja, Sir Norman.«

Sir Norman legte seinen Stift mit einer Geste der Verzweiflung nieder.

»Verdammt nochmal, Johnson! Können Sie denn niemals etwas anderes sagen als ‚Ja‘? Schicken Sie mir Miller her. Nein, warten Sie, ich werde nach ihm läuten, wenn ich ihn brauche.«

Johnson verließ mit bekümmertem Gesicht das Zimmer.

Sobald er allein war, sprang Sir Norman auf und trat ans Fenster. Er war nervös und fragte sich, warum ihn Johnsons übliche einsilbige Art heute so besonders wütend machte.

Er war es gewöhnt, seine Ungeduld vor seinen Untergebenen zu zügeln. Er konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie er selbst es gehasst hatte, wenn seine Vorgesetzten losgebrüllt hatten.

Trotz seiner Tüchtigkeit gehörte Johnson zu der Art von Sekretär, die er nicht mochte. Er galt als unersetzlich, doch die mangelnde Persönlichkeit und Eigenständigkeit des Mannes erweckten in seinem Arbeitgeber den Wunsch, ihn aus seiner Erstarrung aufzuschrecken.

»Ich brauche Urlaub«, sagte sich Sir Norman, als er auf den geschäftigen Hof unter seinem Bürofenster hinabschaute.

Gerade hatte die Sirene geheult, die die Männer zur Mittagspause rief. Die Arbeiter strömten aus den Werkshallen, schlüpften in ihre Mäntel, zogen Päckchen mit Butterbroten aus den Taschen oder zündeten sich erleichtert nach langen Stunden der Enthaltsamkeit wieder eine Zigarette an.

Hoch über den Gebäuden befand sich das große Schild ‚The Melton Motor Companys‘.

Der Hof war vier Stockwerke unter ihm, und Sir Norman hatte für einen Augenblick das Gefühl, als wäre er, der Direktor und Vorstandsvorsitzende der großen Fabrik, auch zuständig für das Schicksal jedes einzelnen Mannes, der für ihn arbeitete.

»Ich bin ein Teil von ihnen, einer von ihnen«, versuchte sich Sir Norman einzureden.

Aber er wusste, dass das eine Illusion war. Er hatte sich von ihnen entfernt, war jetzt vollkommen anders als die Männer, die einst seine Kameraden gewesen waren, so, wie er sich auch von dem Leben entfernt hatte, das sie führten, und von der Arbeit, die sie verrichteten.

Er war der Boss.

Er erinnerte sich noch gut daran, wie er als junger Mann in die Fabrik gekommen war - damals noch ein kleines, düsteres Gebäude-, und die schwarzgekleidete Gestalt Edward Bullers mit dem schweren Schnauzbart zum ersten Mal gesehen hatte.

Damals hatte er bestimmt nicht damit gerechnet, dass er neunundzwanzig Jahre später Bullers Platz einnehmen und dass die Fabrik seinen Namen tragen würde als äußeres Zeichen seines Erfolges.

Heute erlebte er seinen größten Triumph.

Er hatte kaum zu glauben gewagt, dass er für seine eigene Firma den Vertrag mit der Regierung an Land ziehen könnte, aber es war ihm gelungen!

Sobald der Vertrag auf seinem Schreibtisch unterzeichnet war, würde er neue Gebäude, neue Maschinen und mindestens noch fünftausend weitere Arbeiter brauchen. Es war ein Triumph, für den er annähernd drei Monate gearbeitet hatte.

Seine Fabrik war klein im Vergleich zu den anderen, großen Firmen, die ihren Teil zum Wiederaufrüstungsprogramm beitrugen.

Es gab ein Dutzend anderer Firmen derselben Größe überall im Land. Es gab keinen Grund, warum gerade die Melton Motor Company ausgewählt worden war, außer, dass ihr Direktor den Antrieb, die Originalität und die nötigen Perspektiven besaß, um die in Angriff genommene Arbeit erfolgreich zu beenden.

Die Melton Motor Company hatte im Laufe der letzten fünf Jahre sensationelle Erfolge erzielt.

Die Aktien waren gestiegen, bis die Aktionärsversammlungen eine einzige Feier waren, ein Beweis vollkommenen Vertrauens, ein Austausch von Gratulationen und guten Wünschen.

Aber der Vorsitzende hatte an seinem zweiundvierzigsten Geburtstag festgestellt, dass er jetzt auch zu den gelangweilten Millionären gehörte.

Erst jetzt, als die Verträge verabschiedet waren, begriff Sir Norman, wie sehr er sich diese neue Arbeit gewünscht hatte, wie sehr er sich danach gesehnt hatte, sich in etwas Neues zu verbeißen, eine Möglichkeit zu finden, seine Aktivitäten auszuleben, die er bislang im alltäglichen Trott verschwendet hatte.

Seine Nerven waren in dieser letzten Woche bis zum Zerreißen gespannt gewesen.

Zum ersten Mal bedrückte ihn ein Gefühl von Verantwortlichkeit. Er hatte fast Angst vor dem, was er da in Angriff genommen hatte. Es war so groß - größer als alles, was er je zuvor versucht hatte.

Er wandte sich vom Fenster ab und zündete sich eine Zigarette an. Uber dem Kaminsims befand sich ein kleines, schlampig gezeichnetes Bild von Bullers Motor Company.

Er betrachtete es eine Weile, ehe er zu seinem Schreibtisch zurückkehrte und läutete.

Erst zwei Stunden später verließ er das Werk. Er hatte nicht zu Mittag gegessen und es abgelehnt, dass man ihm etwas in sein Büro brachte.

»Meine Schwester wird mich daheim erwarten«, hatte er zu Miller gesagt. »Ich werde gehen, sobald wir hier fertig sind, und ich komme heute auch nicht mehr. Sagen Sie dem Architekten, er soll so schnell wie möglich mit diesen Plänen weitermachen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Er hatte bereits jetzt das Gefühl, dass die Zeit drängte. Der bloße Gedanke, ‚so viel zu tun, und so wenig Zeit, um es zu tun‘ ließ ihn zu seinem Chauffeur sagen, als er das Werk verließ:

»So schnell Sie können, Davis.«

Norman Melton wohnte etwa drei Meilen außerhalb von Melchester. Sein Haus, das er erst seit fünf Jahren besaß, hatte einst einer alteingesessenen Landadelsfamilie gehört. Steinerne Löwen flankierten den Eingang, die ein Wappenschild zwischen ihren Pranken hielten.

Das schmiedeeiserne Tor stand offen, und der Wagen fuhr eine von Eichen gesäumte Allee hinauf. Das Haus war ein georgianischer Bau, obwohl die ersten Fundamente schon vor mehreren Jahrhunderten gelegt worden waren.

Als der Wagen vor dem Eingang hielt, wurde die Tür geöffnet. Eine Klingel im Torhäuschen war mit dem Herrenhaus verbunden, so dass man dort genau wusste, wann der Hausherr oder seine Gäste eintrafen.

»Wo ist Miss Melton?« fragte Sir Norman den Butler.

»Im Morgenzimmer, Sir Norman.«

Er durchquerte die große Halle und öffnete die Tür am anderen Ende. Seine Schwester saß an ihrem Schreibtisch und schrieb Briefe. Sie blickte auf, als er eintrat, und erhob sich.

»Du kommst sehr spät, Norman«, erklärte sie streng.

»Ich konnte nicht früher fort.«

»Hast du zu Mittag gegessen?«

»Nein. Ich hätte gern etwas.«

Sie drückte auf die Klingel, und als der Butler erschien, erteilte sie die notwendigen Anweisungen.

»Wann hast du London heute früh verlassen?« erkundigte sie sich.

»Ich bin mit dem Zug um 7.30 gekommen.«

Alice Melton wartete. Sie wusste, wie wichtig dieser Besuch in London für ihn gewesen war, dass dort die endgültige Entscheidung darüber gefallen war, ob die Melton Motor Company den Vertrag mit der Regierung bekam, aber sie stellte keine Fragen.

Sie wartete, bis ihr Bruder ihr die Neuigkeiten von selbst erzählte.

Sie hatte Norman gern, aber sie fand es schwer, ihn zu verstehen. Sie war fast zehn Jahre älter als er.

Sie waren ein ungleiches Geschwisterpaar, denn Alice hatte nichts von Normans Feuer, seiner Originalität, und es mangelte ihr absolut an Selbstvertrauen.

Norman war ein gutaussehender Mann. Er war Millionär, besaß eine starke Persönlichkeit.

‚Er sollte wieder heiraten‘ dachte Alice bei sich und sah ihn an.

Dann fragte sie sich, warum ihr diese Idee so plötzlich gekommen war.

»Wir haben den Vertrag erhalten«, bemerkte er gleichgültig, als spräche er von etwas vollkommen Unwichtigem.

»Das freut mich«, bemerkte Alice langsam. »Aber das bedeutet eine Menge zusätzliche Arbeit für dich, nicht wahr?«

»Allerdings, und ich bin froh darüber«, antwortete Norman. »Ich werde schon langweilig... vielleicht auch alt.«

Ehe seine Schwester etwas erwidern konnte, verkündete der Butler, dass das Essen angerichtet wäre. Ohne ein weiteres Wort verließ Norman das Morgenzimmer und ließ seine Schwester allein zurück.

Alice machte nicht den Versuch, ihm zu folgen. Sie wusste, dass er lieber allein aß, und wenn er sich weiter mit ihr unterhalten wollte, dann würde er zurückkommen, sobald er fertig war.

Stattdessen sah sie also aus dem Fenster dorthin, wo sich die ersten Blumen unter den Bäumen auf dem Rasen zeigten. Sie machten ihr nur wenig Freude.

Nachdem seine Frau gestorben war, hatte er Alice gebeten, zu ihm zurückzukommen. Er hatte keine Ahnung, wie bitterlich sie weinte, als sie den Ort verlassen musste, der ihr solange ein Heim gewesen war, den einzigen Ort, der ihr in ihrem Leben etwas bedeutete.

Normans Frau hatte immer in London gelebt. Nach ihrem Tod hatte er das Londoner Haus geschlossen und sich entschieden, wieder in der Nähe des Werkes zu wohnen, wo er all seine Zeit verbrachte, genauso wie vor seiner Ehe.

Er hatte keine Ahnung, wie einsam Alice es hier fand. Beide hatten sich nur wenig zu sagen, hatten abgesehen von ihrer Blutsverwandtschaft nichts gemein.

Alice war eine bewundernswerte Haushälterin, und wenn er überhaupt einmal einen Gedanken an sie verschwendete, dann sagte er sich, dass es nur gut für sie war, bei ihm leben zu dürfen.

Langsam betrat er das Zimmer, eine brennende Zigarre zwischen den Fingern, ein Glas Brandy in der anderen Hand.

Er machte es sich am Feuer bequem, ehe er sprach. Er streckte seine langen Beine aus, nippte nachdenklich an dem Brandy und sagte dann, als wäre es eine ernste Ankündigung:

»Ich habe beschlossen, das Haus in London wieder zu öffnen.«

2

Es regnete in Strömen, und die Kanäle in der Shaftesbury Avenue waren voll.

Ein paar Theaterbesucher standen noch trostlos unter dem Portiko des Theaters herum und warteten auf ihre Wagen oder hofften auf ein Taxi.

Unfreundlich schlossen die Portiers die Türen hinter ihnen. Sie hatten es eilig, heim zum Essen zu kommen.

Aus dem Bühneneingang in einer der Seitenstraßen trat langsam ein Mädchen. Im Vorbeigehen rief sie dem Türsteher ein freundliches »Gute Nacht« zu.

»Oh, es regnet!« stieß sie dann hervor.

»Das tut es schon seit fast zwei Stunden, Miss, und es sieht nicht so aus, als wollte es so bald wieder aufhören.«

Sie öffnete ihren Schirm und eilte in den Regen hinaus. Sie überquerte die Straße und wartete auf den Bus. Eine größere Gruppe wartete schon, alle duckten sich unter ihre Schirme, standen stumm da, die Gesichter in dieselbe Richtung gewandt.

Nach ein paar Minuten kam ein Bus. Sofort drängte sich alles zur Tür. Carlotta hastete vorwärts, schloss ihren Schirm, spürte, wie ihr der Regen ins Gesicht schlug.

Sie trat vom Bürgersteig; dann - sie war sich nicht sicher, wie es passiert war - vielleicht war sie ausgerutscht, oder jemand hatte sie gestoßen - stürzte sie vorwärts unter die Beine derjenigen, die in den Bus kletterten.

Einen Moment lang war sie zu überrascht, um irgendetwas zu tun. Sie fühlte sich hilflos, erschreckt, und drohte von den Menschen um sich herum erstickt zu werden. Sie versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, spürte die kalte, nasse Straße unter den Händen.

»Sind Sie verletzt?« erkundigte sich eine Stimme.

»Nein, überhaupt nicht«, wollte Carlotta sagen, aber als sie den Mund öffnete, gab ihr Knöchel unter ihr nach, und sie schrie vor Schmerz auf.

»Mein Knöchel!« erklärte sie auf einem Bein stehend, noch immer von der festen Hand gestützt.

Der Bus war bereits davongefahren, und die paar enttäuschten Menschen, die nicht mehr hatten einsteigen können, warteten jetzt auf den nächsten und beobachteten sie.

»Da ist ein Taxi. Ich helfe Ihnen hinein.«

Der Mann, der ihr aufgeholfen hatte, winkte ein Taxi herbei. Er öffnete die Tür und hob und schob sie hinein.

»Wo wohnen Sie?« fragte er dann.

Carlotta erzählte es ihm und fügte dann hinzu:

»Aber machen Sie sich bitte nicht die Mühe, mitzukommen. Es geht schon.«

Der Mann antwortete nicht. Stattdessen stieg er neben ihr ins Taxi und warf die Tür zu.

»Sie sind in einem schrecklichen Zustand!« erklärte er und betrachtete den nassen Fleck auf einer Seite von Carlottas rotem Mantel und die verschmutzten Strümpfe und dünnen Lederschuhe.

»Ich weiß nicht, wie ich mich so dumm anstellen konnte«, bemerkte sie traurig.

»Erlauben Sie, dass ich Ihren Knöchel abtaste? Ich bin Arzt.«

Sie sah sich ihren Begleiter genauer an. Er war groß, breitschultrig und glattrasiert. Und er hatte eine besonders nette Stimme, fand sie.

Aber er sprach mit einem ganz leichten Akzent, den sie nicht einordnen konnte; sie überlegte, woher er kommen könnte, während sie mühsam ihr Bein ein wenig bewegte, so dass er ihren Knöchel erreichen konnte.

Er kniete auf dem Boden des Taxis und betastete den Fuß mit geübten Fingern.

»Ich hoffe, es ist nur eine leichte Zerrung«, sagte er. »Tut es weh?«

»Ja«, gab sie zu, »da - wo Ihre Finger jetzt sind.«

»Eine Sehnenzerrung«, erklärte er. »Sie müssen sofort einen kalten Umschlag auflegen. Es hätte aber schlimmer kommen können, zumindest sind keine Knochen gebrochen-«

»Ich weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte«, meinte sie. »Wie ich Busse hasse!«

»Ich auch«, stimmte er ihr zu. »Aber nicht so sehr wie Regen.«

Er nahm den Hut ab, der triefnass war, und warf ihn vor sich auf den Boden. Erst jetzt sah sie, dass er noch jung war - jünger, als sie gedacht hatte.

»Ich habe wirklich Glück, dass mir ausgerechnet ein Arzt zu Hilfe gekommen ist«, sagte sie ein wenig verlegen. »Für gewöhnlich findet man in solchen Augenblicken meilenweit keinen.«

»Sie haben Pech gehabt«, sagte er. Etwas an der Art, wie er die Worte aussprach, ließ sie ausrufen:

»Sie sind Schotte, nicht wahr?«

»Mein Name ist Hector McCleod«, antwortete er, und sie lachten beide, als wäre es ein Witz.

»Ich heiße Carlotta Lenshovski«, stellte sie sich dann vor.

»Russin!« rief er aus, und sie lachten wieder.

Das Taxi hielt mit einem Ruck.

»Ist das hier richtig?« erkundigte sich der Fahrer zweifelnd, nachdem er die Trennscheibe zurückgeschoben hatte.

»Ja, das ist richtig«, antwortete Carlotta und fügte, zu ihrem Begleiter gewandt, hinzu: »Nachts sieht es immer ein wenig merkwürdig aus.«

Sie befanden sich vor einem riesigen, steinernen und von gemeißelten Figuren umgebenen Portal mit einer imitierten, mittelalterlichen Eichentür. Aus keinem der Fenster zu beiden Seiten oder darüber drang Licht.

Carlotta förderte einen Yale-Schlüssel zutage, und Hector McCleod stieg aus dem Taxi und öffnete die Haustür, ehe er zurückkehrte, um ihr zu helfen.

»Kommen Sie jetzt allein zurecht?« fragte er, als sie im Schutz des Portals stand.

»Möchten Sie nicht noch hereinkommen und etwas trinken?« fragte sie.

Er zögerte einen Moment.

»Sind Sie ganz sicher, dass das keine Umstände macht?«

»Überhaupt nicht«, versicherte sie ihm. »Und Sie waren so freundlich zu mir.« Sie hielt ihm ihre Geldbörse hin. »Würden Sie bitte das Taxi für mich bezahlen?«

»Das mache ich.«

»Aber Sie müssen mich bezahlen lassen«, beharrte Carlotta.

Er entlohnte den Mann, und der Regen strömte auf ihn herab, während er auf sein Wechselgeld wartete.

»Bitte, seien Sie vernünftig und lassen Sie sich das Fahrgeld von mir geben«, bat Carlotta, als er zu ihr zurückkehrte.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich denke nicht daran. Ich habe nicht oft Gelegenheit, einer Dame in Not zu helfen.«

»Aber ich bestehe darauf.«

»Mit nur einem Bein können Sie nicht darauf bestehen«, erklärte er grinsend. »Lassen Sie mich Ihnen die Treppe hinaufhelfen - wenn wir nach oben müssen.«

Er blickte sich verwirrt um.

Sie befanden sich in einem hohen, schmalen Gang. Im schwachen Licht konnte er an den Wänden etwas sehen, das aussah wie Ritterrüstungen. Carlotta humpelte an seinem Arm bis zu dem Schalter, mit dem sie das Licht einschaltete.

»Schauen Sie doch nicht so überrascht«, meinte sie, als das Licht nicht nur die Ritterrüstungen, sondern auch zwei große Vitrinen erkennen ließ, die mit Theaterjuwelen, Perücken, Federn und aller Art von Schmuck gefüllt waren. »Sie haben doch sicher von diesem Ort gehört, selbst wenn Sie noch nie hier gewesen sind?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich komme aus dem Norden«, entschuldigte er sich.

»Das ist Lenshovski’s«, erklärte Carlotta. »Theaterkostüme. Ich fürchte, Sie werden mir die Treppe hinaufhelfen müssen - unsere Zimmer sind ganz oben.«

Langsam stiegen sie die Treppe hinauf. Als sie oben angekommen waren, befanden sie sich in einem riesigen Raum, in dem reihenweise Kleider an Ständern hingen. Die Luft war erfüllt von dem schwachen, verschwitzten Geruch getragener Kleider.

Sie durchquerten den Raum bis zu einer Tapetentür am anderen Ende. Carlotta stützte sich schwer auf Hectors Arm. Ihr Knöchel pochte in beängstigender Weise.

»Sind Sie ganz sicher, dass es gehen wird?« erkundigte er sich. »Oder soll ich Sie lieber tragen?«

»Es geht schon«, antwortete sie. »Würden Sie bitte die Tür öffnen?«

Er tat es, und augenblicklich rief Carlotta:

»Magda! Magda! Wo bist du?«

Eine tiefe, volle Stimme antwortete:

»Bist du zurück, Schätzchen? Das Essen ist fertig.«

Sie gingen durch einen kleinen Flur und öffneten noch eine Tür, gelangten so in einen Raum, der im Gegensatz zu den anderen hell erleuchtet war. An einem Esstisch saß die größte Frau, die Hector in seinem ganzen Leben gesehen hatte, und wartete auf sie.

Es dauerte einige Zeit, bis er alle Einzelheiten in sich aufnehmen konnte, denn das, was er sah, war so unerwartet, dass es ihm den Atem verschlug. Es war nur ein kleiner Raum, der von oben bis unten mit einer bunten Ansammlung verschiedenster Gegenstände vollgehängt war.

Da gab es Fotos, Stickereien, kostbare persische Teppiche, russische Ikonen, Schwerter mit juwelenbesetzten Griffen und verschiedene Trophäen, die nur sentimentalen Wert haben konnten.

Im Kamin prasselte ein Feuer. Davor lagen auf zwei riesigen Lehnsesseln mehrere Katzen. Es gab drei blaue Perserkatzen, eine junge Siamkatze, die sich damit beschäftigte, eines der Kissen zu zerstören, und eine rote Tabby.

Doch die Besitzerin dieses Zimmers war noch erstaunlicher als das Zimmer selbst.

Magda Lenshovski musste annähernd zweihundertfünfzig Pfund wiegen. Sie war ein riesiger Fleischberg; es war erstaunlich, dass sie sich überhaupt bewegen konnte; dass sie sich geschickt und sogar schnell bewegen konnte, war unfassbar.

Hector starrte sie fasziniert an, fragte sich, welche Drüsen in ihrem monströsen Körper zu schnell oder zu langsam arbeiteten.

Sie hatte dunkles Haar, in der Mitte gescheitelt und über die Ohren gekämmt, an denen riesige Ohrringe aus Rubinen, in gehämmertes Gold gefasst, baumelten.

Über den Schultern trug sie ein prachtvolles Tuch, das mit grellbunten Farben bestickt war. Sie war keine hässliche Frau. Ihre Augen mussten einst schön gewesen sein, und sie waren noch immer dunkel und lebhaft unter den schmalen, geraden Brauen.

Als Carlotta eintrat, erhob sie sich.

»Mein Täubchen, mein Engel - du bist verletzt!«

»Ich habe mir den Knöchel verrenkt«, erklärte Carlotta. »Aber es ist nichts Ernstes.«

Sie hielt sich an Hectors Arm fest. Er schaute auf sie hinab und begriff plötzlich, dass sie schön war.

Sie hatte ihren Hut abgenommen, und ihr dunkles, in die Stirn fallendes Haar hinter die ungeschmückten Ohren gestrichen, wo es eine Masse dicker Locken bildete. Ihre Haut war weiß, und ihre dunklen Augen blitzten, wenn sie sprach.

Ihr Körper war schlank und schön, und er erkannte, dass sie eine fremdartige, sonderbare Sinnlichkeit umgab.

‚Sie ist exotisch‘, sagte er sich, ‚und die bezauberndste Person, die ich je kennengelernt habe.‘

Ehe sie sich setzte, zog sie den Mantel aus.

Sie trug nur ein einfaches schwarzes Kleid, ohne einen Funken von Farbe. Hector hatte das Gefühl, dass sie in Seide gehüllt sein sollte, von Zobel umgeben und geschmückt mit Brillanten.

Carlotta strahlte etwas Reiches aus, und in ihrem Ausdruck lag eine Eleganz, die er spürte, als er sie ansah.

‚Sie ist reizend‘, dachte er, und hätte es fast laut gesagt.

Die riesige Frau, Magda, rief immer wieder etwas in ihrer tiefen Stimme, während Carlotta fröhlich von dem Unfall erzählte, eine Geschichte daraus machte, wie Hector sie davor gerettet hatte, zu Tode getrampelt zu werden! Sie erzählte lebendig und ausdrucksstark.

Carlotta gab Hector das Gefühl, an einem Abenteuer teilgenommen zu haben.

Er verband Carlottas Fuß, nachdem er sie von der Notwendigkeit überzeugt hatte. Als er fertig war, lud Magda ihn ein, mit ihnen zu Abend zu essen, eine Einladung, die er nur zu gern annahm.

Er brauchte nur den Duft der köstlichen Gerichte schnuppern, die auf den Tisch kamen, um zu wissen, dass Magda gerne aß, und dass sie wusste, was gut war. Die russische Vorliebe für Sahne, Butter, Teigwaren zeigte sich selbst bei diesem kurzen Mahl.

Es fiel Hector schwer zu begreifen, wie Carlotta so schlank bleiben konnte, wenn sie öfter so speiste.

»War das Publikum heute Abend gut?« wollte Magda wissen.

Jetzt verstand Hector, dass Carlotta Schauspielerin war.

»Welche Rolle spielen Sie?« erkundigte er sich.

»Ach, ich wirke bei einem schrecklichen Stück mit«, erwiderte sie. »Es heißt ‚The Starry Staircase‘ und ist von einem dieser ernsten jungen Autoren, die glauben, in ihrem Leben eine Mission erfüllen zu müssen, und denen niemand zuhören will. Ich fürchte, es wird nicht lange laufen.«

»Heutzutage bleibt kein Stück lange auf der Bühne«, erklärte Magda. »Kaum habe ich eine Show ausgestattet, da wird sie auch schon abgesetzt. Naja, wenigstens ist das gut fürs Geschäft - solange wir bezahlt werden!«

»Und da kann man sich ganz auf Magda verlassen!« warf Carlotta ein. »Geld im Voraus oder keine Kostüme, das ist das Motto des Hauses.«

Magda lachte ein tiefes, kehliges Lachen.

»Und warum sollte ich umsonst arbeiten?« wollte sie wissen.

»Oh, da hast du natürlich ganz recht. Ich erzähle es ja auch nur Mr. McCleod, oder sollte ich Doktor sagen?«

»Haben Sie eine Praxis?«

»Ich bemühe mich um eine Zulassung in London. In Schottland habe ich sie bereits erhalten. Ich bin erst vor einem Monat aus Edinburgh hierhergekommen. Ich bin im St. Anthony Krankenhaus.«

»Das ist ein sehr großes Krankenhaus, nicht wahr?« warf Carlotta ein.

»Eines der größten«, stimmte er zu.

»Und die Arbeit gefällt Ihnen?« erkundigte sich Magda.

»Ich habe immer Arzt werden wollen, schon als kleiner Junge«, antwortete er. »Ich kann es noch kaum fassen, dass es nicht nur alles ein Traum ist.«

»Auf diese Weise wird man glücklich«, sagte Magda. »Träumen und seine Träume erfüllen. Ich habe auch einmal einen Traum gehabt - aber das ist lange her.«

»Magda war im Ballett«, erzählte Carlotta.

Sie wies auf das Kaminsims, in dessen Mitte ein Paar rosa Ballettschuhe lagen - sie waren abgetragen und wirkten müde und pathetisch in ihrem gläsernen Gefängnis.

»Ich habe mir das Bein gebrochen«, berichtete Magda. »Danach konnte ich nicht mehr tanzen.«

Hector wusste nicht, was er sagen sollte. In diesen wenigen Worten lag eine ganze Tragödie.

Es war außergewöhnlich, so fand er, wie diese beiden Frauen allein mit ihren Augen, mit dem Ausdruck ihres Gesichtes eine Atmosphäre schufen, der er sich nicht entziehen konnte.

Er spürte die Wunde, die tiefer reichte als jede körperliche Verletzung, doch er fand keine Worte des Trostes, konnte nur zuhören und hoffen, dass man ihm das Mitgefühl ansah, das er empfand.

Sie wurden unterbrochen, als die Tür geöffnet wurde und eine andere Frau eintrat. Sie war groß und dünn, mit lockigem Haar von einer Farbe, die verblichenes Gold oder schmutziges Weiß sein konnte.

»Hallo, Leolia«, sagte Carlotta. »Das ist Dr. McCleod, der mich heimgebracht hat.«

»Warum? Was ist passiert?« erkundigte sich die Dazugekommene.

Wieder wurde die Geschichte von Carlottas Abenteuer erzählt. Leolia setzte sich an den Tisch. Hector schätzte sie auf fast sechzig. Auch sie schien eine ungewöhnliche Frau zu sein. Sie war Engländerin, aber kein alltäglicher Typ.

Wenn sie sprach, dann mit der Stimme einer gebildeten Frau, und sie besaß einen Charme, der ihre Erscheinung Lügen strafte.

»Mrs. Payne wohnt hier bei mir«, erklärte Magda.

»Hilft sie Ihnen im Geschäft?« fragte Hector.

Leolia Payne lachte.

»Wenn ich das täte, wäre bald nichts mehr vom Geschäft übrig! Nein, das macht Magda alles allein. Ich wohne nur hier und kümmere mich um sie, wenn Carlotta auf dem Land spielt oder sich mit einem ihrer jungen Männer amüsiert.«

Carlotta lachte.

»Das hört sich vielleicht an! Ich versichere Ihnen, Dr. McCleod, dass ich für gewöhnlich direkt nach dem Theater nach Hause komme.«

»Das halte ich auch für sehr klug«, stimmte ihr Hector zu. »Wenn Sie Karriere machen wollen.«

»Nun ja, einerseits ja, andererseits...« seufzte Carlotta.

»Die Mädchen heutzutage haben keinen Ehrgeiz«, erklärte Magda. »Ich dagegen habe mich von ihm auffressen lassen. Das Tanzen war das Einzige, was mir wirklich am Herzen lag. Wir mussten üben, bis unsere Zehen bluteten, und glauben Sie etwa, wir hätten etwas dagegen gehabt...?«

»Erzähl uns nichts davon«, unterbrach Carlotta sie. »Du weißt, dass diese Zeiten vorüber sind. Heutzutage ist niemand mehr so ehrgeizig.«

»Außer vielleicht Norman Melton«, warf Leolia Payne leise ein.

»Ja, Norman schon«, stimmte Magda ihr zu.

Eine Uhr schlug. Hector erhob sich, um sich zu verabschieden. Er war überrascht, wie spät es schon war. Carlotta streckte ihm ihre Hand entgegen.

»Möchten Sie mich nicht morgen besuchen kommen?« fragte sie. »Ich habe keine Matinee, und ich möchte gern, dass mein Bein bis zur Abendvorstellung wieder ganz in Ordnung ist.«

 

 

 

3

Carlotta wachte auf, weil das Telefon neben ihrem Bett klingelte. Verschlafen streckte sie die Hand aus und nahm ab.

»Hallo«, sagte sie.

»Ein privates Gespräch für Sie, Miss, aus Melchester«, hörte sie die Stimme des Jungen, der im Laden die Anrufe entgegennahm.

Carlotta lehnte sich bequem in die Kissen zurück und wartete. Sie wusste, wer es war.

»Spricht dort Miss Carlotta Lenshovski?« fragte jemand.

»Ja, am Apparat«, antwortete sie.

»Einen Augenblick bitte, Sir Norman Melton möchte Sie sprechen.«

Kurz darauf hörte sie Normans Stimme.

»Guten Morgen!« sagte sie. »Ich dachte schon, du hättest mich ganz vergessen.«

»Ich konnte gestern Abend nicht anrufen«, entschuldigte er sich. »Ich hatte eine Konferenz, die fast bis Mitternacht dauerte.«

»Dann hast du den Vertrag bekommen?« fragte sie.

»Hab ich.«

In seiner Stimme klang Jubel mit.

»Glückwunsch«, sagte Carlotta nur. »Aber ich habe nie auch nur für einen Augenblick daran gezweifelt, dass du ihn bekommen würdest. Wenn du dich einmal entschlossen hast, Norman, dann bekommst du immer, was du willst, nicht wahr?«

»Ich könnte dich bitten, deinen Glauben an mich zu beweisen«, sagte er. Dann fügte er abrupt hinzu: »Essen wir heute Abend nach der Vorstellung zusammen?«

»Gerne« antwortete Carlotta, »das heißt, wenn ich überhaupt ins Theater gehe.«

»Wieso? Was meinst du?«

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie faszinierend mein junger schottischer Arzt ist«, sagte sie. »Er hat versprochen, noch einmal zu kommen und mich zu untersuchen, heute noch.«

»Solchen Unsinn habe ich noch nie gehört«, erklärte Sir Norman. »Geh zu Sir Harry Andrews - er ist der einzige Mann, der es wert ist, konsultiert zu werden. Er ist mein Arzt.«

»Ich habe vollkommenes Vertrauen in meinen Schotten«, erwiderte Carlotta.

Sie lachte, als Norman protestierte.

»Keine Sorge«, sagte sie. »Und wenn man dir nicht mitteilt, dass ich im Krankenhaus bin, dann warte um 11.35 auf mich.«

»Das werde ich«, versprach er. »Und pass auf dich auf, mein Kind.«

»Ich werde mein Möglichstes tun«, antwortete sie und legte auf.

Lange lag sie ganz still da und betrachtete die Sonnenstrahlen, die durch die Vorhänge fielen. Sie dachte an Norman.

Sie hatten sich vor ungefähr drei Monaten auf einer Cocktailparty kennengelernt. Irgendwann im Laufe des Abends war sie Norman Melton vorgestellt worden.

Die Gastgeberin hatte seinen Namen so leise gemurmelt, dass Carlotta keine Ahnung hatte, wer er war.

Dann fand sie sich wieder, wie sie einem großen, ernst wirkenden Mann die Hand schüttelte. Irgendwie schien er inmitten der lachenden, plappernden, trinkenden Menge fehl am Platz.

»Erzählen Sie mir von sich«, hatte sie gesagt. »Wahrscheinlich sollte ich alles über Sie wissen, aber ich muss einfach die Unwissende spielen.«

»Was glauben Sie denn, wer ich bin?« hatte er gefragt.

Carlotta musterte ihn genau, versuchte es zu erraten.

»Sie könnten Politiker sein. Auf jeden Fall sind Sie kein Schauspieler, und ich finde, Sie sehen nicht weltgewandt genug aus, um Diplomat zu sein. Ja, Sie sind entweder Politiker oder ein großer Geschäftsmann oder vielleicht auch beides.«

Norman lachte.

»Sie können entweder gut raten«, erklärte er, »oder Sie sind eine Schmeichlerin.«

»Dann habe ich also recht?« fragte Carlotta.

»Nicht, was die Politik angeht, aber im Geschäft, ja. Sind Sie nun enttäuscht, dass ich kein zukünftiger Premierminister bin?«

Für gewöhnlich fühlte sich Norman bei dieser Art von Einladungen unwohl.

Er war so sehr an intensive Konzentration gewöhnt, daran, all seine Energie in das einzubringen, was er in Angriff nahm, dass es ihm schwerfiel, Trivialitäten ernst, aber doch mit jener Leichtigkeit zu diskutieren, die ihrer Unwichtigkeit entsprach.

Bei einer Dinnerparty oder einem Essen konnte Norman sicher sein, früher oder später in einen Streit verwickelt zu werden.

Doch mit Carlotta traf er zum ersten Mal jemanden, mit dem er es leicht fand, sich zu unterhalten.

Er beobachtete ihr Gesicht, das so lebhaft und ausdrucksvoll war; ihm gefielen ihre Stimme und die Gesten, die sie machte, um ihre Bemerkungen zu unterstreichen.

Sie sprach mit den Händen ebenso wie mit den Lippen. Es war offensichtlich, dass sie keine Engländerin war, obwohl sie ihm gestand, dass sie keine andere Sprache sprach.

Sie erzählte Norman, wo sie spielte, und er versprach zu kommen und sich das Stück anzusehen, wenn sie anschließend mit ihm essen ginge.

»Ich habe nur eine winzig kleine Rolle«, erzählte sie, »aber es ist schon eine große Sache, im West End zu sein - die Manager und Agenten sind beeindruckt, wenn auch nicht das Publikum.«

»Warum sind Sie zum Theater gegangen?« wollte er wissen.

Sie zuckte mit den Schultern.

»Nicht, weil ich mich besonders dazu berufen gefühlt hätte«, erklärte sie. »Aber ich bin einfach so erzogen worden. Meine Mutter - meine Adoptivmutter - ist Magda Lenshovski, die Ausstatterin des Theaters.

Der Geruch an Schminkfarben ist mir lebhafter in Erinnerung als alles andere aus meiner Kindheit. Ich habe schon vor meinem fünften Geburtstag jeden kennengelernt, der einen Namen auf der Bühne hatte, denn ich ging immer mit, wenn Magda die Kostüme anprobieren musste.

Mein erster Unterricht bestand darin, die Rollen auswendig zu lernen, die ich wieder und wieder hörte, während ich in den leeren Garderoben saß und darauf wartete, dass Magda zurückkam.

Ich konnte nicht nein sagen, als Christian Holden mir eine Rolle in seiner Gruppe anbot. Ich war erst siebzehn, und ich hielt ihn für den bestaussehendsten Mann, den ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Natürlich habe ich sein Angebot angenommen - wer hätte das nicht getan?«

»Gibt es etwas, das Sie lieber getan hätten?« erkundigte sich Norman.

»Ach, nichts Besonderes. Ich glaube, ich bin einfach nur faul. Ich will eigentlich im Leben nichts weiter tun als mich amüsieren. Das können Sie bestimmt nicht verstehen, oder?«

Zu dieser Zeit wusste sie schon, wer er war, und erinnerte sich, in der Zeitung von ihm gelesen zu haben, von seinem sensationellen Aufstieg zum Direktor und Besitzer der Fabrik, in der er als Junge gearbeitet hatte.

»Mein Ehrgeiz hat mich mein Leben lang angetrieben«, gestand Norman. »Das klingt fast wie aus einem Zeitungsinterview, aber merkwürdigerweise ist es wahr.«

»Und sind Sie jetzt zufrieden?« erkundigte sich Carlotta.

Er lachte abrupt auf.

»Ich habe noch nicht einmal angefangen«, erwiderte er.

Am folgenden Abend aßen sie zusammen, und Carlotta entschied, dass sie ihn mochte.

Seine Intelligenz sprach sie an, und sein abruptes, manchmal fast grobes Verhalten, mit dem er offensichtlich seine Schüchternheit zu überspielen versuchte, amüsierte sie.

Sie konnte recht gut verstehen, warum manche Menschen ihn nicht mochten oder falsch verstanden, aber sie selbst hatte zu lange inmitten aller Arten von Menschen gelebt, um sie nach Äußerlichkeiten zu beurteilen.

»Komisch« sagte sie später zu Magda, »aber in gewisser Weise habe ich das Gefühl, älter zu sein als er. Er ist so ungeschickt, wenn es um etwas anderes geht als um seine Motoren.«

Sie saß auf Magdas Bett, als sie das sagte, einem riesigen Himmelbett. Sie trug ein weißes Tüllkleid mit silbernen Trägern und sah sehr jung und reizend aus. Magda verstand, was sie meinte.

»Du bist Russin!« erklärte sie. »Wir sind so alt wie Gott.«

»Nur halb«, widersprach Carlotta. »Du vergisst meinen Vater.«

»Ich habe ihn nie kennengelernt«, bemerkte Magda augenzwinkernd.

»Ich frage mich, wie er wohl gewesen ist.«

Carlotta stand vom Bett auf und ging zu dem großen Spiegel hinüber.

»Ich nehme an, er war groß und blond und dumm«, antwortete Magda, »wie die meisten Engländer.«

»War der, den du geliebt hast, auch so?« wollte Carlotta wissen.

Magda antwortete nicht sofort. Sie lehnte sich gegen ihre Kissen. Ihr massiger Körper lag unter den Bettdecken wie ein Berg vor ihr. Mit dunklen, misstrauischen Augen schaute sie Carlotta an.

»Wie meinst du das?«

»Tu doch nicht so! Leolia hat es mir erzählt! Ach, das muss Jahre her sein! Du darfst ihr nicht böse sein. Ich habe ihr die Geschichte aus der Nase gezogen!«

»Ich denke nie an ihn«, antwortete Magda.

»Das ist eine Lüge. Aber egal, reden wir also weiter von mir, wenn dir das lieber ist. Bin ich so wie meine Mutter?«

»Das bist du.«

»Dann muss sie sehr schön gewesen sein.«

»Nicht, als ich sie zum ersten Mal sah. Da hatte sie zwei Tage lang nichts gegessen. Sie war bleich und ausgemergelt, und ihre Augen lagen wie dunkle Höhlen in ihrem Kopf.«

»Und doch war sie hübsch«, widersprach Carlotta. »Ich weiß, dass sie hübsch war - sag es mir.«

»Sie muss eine sehr schöne Frau gewesen sein«, erklärte Magda knapp.

»Und sie war eine Romanoff«, betonte Carlotta triumphierend. »Eine Romanoff! Glaubst du, ich bin ihrer wert?«

»Es geht.« Magdas Stimme klang mürrisch, aber dahinter verbarg sich die Zuneigung, die sie für das Kind empfand, das sie aufgezogen hatte. »Geh jetzt ins Bett; sonst bist du morgen früh müde. Wann kommt dieser feine junge Mann, um dich wieder auszuführen?«

»Vielleicht morgen Abend. Ich glaube, er mag mich.«

»Er wäre ein Narr, wenn er das nicht täte. Bring ihn zu mir, damit ich ihn kennenlerne und dir sagen kann, was ich von ihm halte.«

»Solange du ihm nicht verrätst, was du denkst, werde ich ihn bringen. Aber nur, wenn du mir das versprichst.«

Carlotta sagte es halb lachend, halb ernst, denn sie hatte schon öfter unter Magdas Offenheit gelitten.

Die alte Frau hatte keine Hemmungen, ihre Meinung zu sagen, ob sie nun unangenehm zu hören war oder nicht.

Magda war ein besonderer Charakter; die gesamte Theaterwelt wusste das. Einige liebten, andere hassten sie, aber alle in diesem Beruf waren gezwungen, sie zu akzeptieren.

Die Designer beteten sie an, denn sie hatte einen ausgeprägten Sinn für Schönheit und hätte es niemals erlaubt, dass etwas Hässliches oder Unpassendes ihre Werkstatt verließ.

Sie hatte nichts dagegen, wenn die Leute über sie lachten, und als ein wütender Jugendlicher ihr den Spitznamen ‚Die Hässliche Herzogin‘ verlieh, war sie ihm deshalb nicht einmal böse.

Der Name war hängengeblieben, und für die Theaterwelt blieb Magda ‚Die Hässliche Herzogin‘. Sie gewöhnte sich daran, dass die Menschen sie so nannten, und gelegentlich benutzte sie den Spitznamen sogar selbst.

Vielleicht war es Magdas enormer Körper, den sie immer vor sich hatte, der in Carlotta die Sehnsucht nach Schönheit erweckte. Schon als sie noch ein winziges Kind war, wollte sie immer schön sein.

Sie hasste alles, was nicht attraktiv war, und hasste Spielzeug, das nicht hübsch aussah.

Als sie älter wurde, weigerte sie sich, Kleider zu tragen, die ihrem künstlerischen Sinn nicht gefielen oder ihrem Geschmack nicht entsprachen.

»Wenn ich erwachsen bin«, erzählte sie Magda, als sie fünf war, »dann werde ich so schön sein wie ein Engel.«

Magda hatte über die Bemerkung des Kindes gelacht, aber für Carlotta war es ein Schwur, den sie in all den folgenden Jahren nicht vergessen sollte.

So wuchs das Kind heran.

Sie erblühte zu einer reizenden Person, so hübsch, dass Magda sie manchmal verwundert anstaunte.

Carlotta war nervös gewesen, als sie Norman Melton, nachdem sie fast ein Dutzend Mal von ihm eingeladen worden war, endlich zu sich nach Hause bat, damit er Magda kennenlernen konnte.

»Sie ist eine merkwürdige Frau«, warnte sie ihn. »Wenn sie Sie nicht mag, kann es sein, dass sie das rundheraus sagt! Auf jeden Fall wird sie ihre Gefühle bestimmt ganz offen zeigen.«