33 Mythen des Systems - Darren Allen - E-Book

33 Mythen des Systems E-Book

Darren Allen

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Beschreibung

Mit "33 Mythen des Systems" legt der britische Autor Darren Allen eine Zivilisationskritik vor, die an die Wurzel der menschlichen Gemeinschaft geht. Denn diese, so meint Allen, hat schon vor 12.000 Jahren mit der neolithischen Revolution einen zerstörerischen Charakter angenommen. "33 Mythen des Systems" stellt die Erfindungen des Kapitalismus und des Sozialismus, der Linken und der Rechten, des Theismus und des Atheismus auf den Prüfstand. Wenn man bereit ist, sich nicht nur der Welt da draußen zu stellen, sondern auch den Ängsten und Sehnsüchten im Inneren, wird "33 Mythen des Systems" eine befreiende Lektüre sein. "33 Mythen des Systems" beginnt mit einer kurzen Geschichte der Welt und der Entwicklung ihrer verschiedenen Erscheinungsformen – Feudalismus, Kapitalismus, Imperialismus, Kommunismus, Spätkapitalismus –, bevor sich der Autor mit all den Fiktionen auseinandersetzt, die sich selbst rechtfertigen, um ihr wahres Wesen zu verschleiern. Dazu gehören der Deckmantel der Kultur, die inhärente Unordnung und Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz, Wissenschaft versus Religion, die infantile Sinnlosigkeit der Technophilie und die Verantwortungslosigkeit einer autoritär erstarrten Demokratie. Schließlich wirft Allen einen Blick auf die Zukunft des Systems, seinen unvermeidlichen Untergang und, mit einer direkten und zugänglichen Darstellung des Anarchismus, auf die einzige lebensfähige Alternative. "33 Mythen des Systems" richtet sich an die vielen Menschen, die nach einem radikalen und integrierten Verständnis des Weltgeschehens suchen. "Ein sehr witziger, brillanter, begabter und ernsthaft gestörter Autor." Terry Gilliam (Drehbuchautor und Mitbegründer der Gruppe "Monty Python")

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Seitenzahl: 321

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Prolog
Einleitung: Kurze Geschichte des Systems
1 Der Mythos der Wirtschaft
2 Der Mythos des Geldes
3 Der Mythos der Knappheit
4 Der Mythos der (Klassen-)Gleichheit
5 Der Mythos der Leistungsgesellschaft
6 Der Mythos des Wettbewerbs
7 Der Mythos der Wahlfreiheit
8 Der Mythos der Freiheit
9 Der Mythos der Wahrheit
10 Der Mythos der Natur
11 Der Mythos des Trickle-down
12 Der Mythos des Fortschritts
13 Der Mythos des Friedens
14 Der Mythos des Gesetzes
15 Der Mythos des Nettseins
16 Der Mythos der Demokratie
17 Der Mythos der Bildung
18 Der Mythos der Autorität
19 Der Mythos der Kultur
20 Der Mythos vom Spaß
21 Der Mythos der Arbeit/Erwerbsarbeit
22 Der Mythos der Einzigartigkeit
23 Der Mythos der Wissenschaft
24 Der Mythos des Relativismus
25 Der Mythos der Religion
26 Der Mythos der Geisteskrankheit
27 Der Mythos der Psychologie
28 Der Mythos der Professionalität
29 Die Mythen von Pseudogender und Monogender
30 Der Mythos der katastrophalen Beleidigung
31 Der Mythos der Reform
32 Der Mythos vom Sinn
33 Der Mythos der ewigen Notwendigkeit

Darren Allen33 Mythen des Systems

  

Ein radikaler Leitfaden durch die Welt und uns selbst

© 2023 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-913-8(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-523-9)

Coverfoto : Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Der Autor

Darren Allen, geboren 1973 in Canterbury, ist ein radikaler britischer Autor und Philosoph. Sein Werk widmet sich dem Wesen der Realität, dem Ursprung der Zivilisation, dem Schrecken von Arbeit, Tod, Gender, mentaler „Krankheit“, bedingungsloser Liebe und Leben jenseits des Spektakels.

Der Übersetzer

Max Stadler, geboren 1981 in Burglengenfeld (Oberpfalz). Studium der Geschichte, Sinologie und Skandinavistik. Er lebt in Berlin und übersetzt unter anderem aus dem Englischen und dem Schwedischen in die deutsche Sprache.

Vorwort

Im Januar 2020 fing China an, radikale Maßnahmen zu ergreifen, um ein scheinbar sehr gefährliches Virus an seiner Ausbreitung zu hindern. Ganze Städte wurden abgeriegelt, die Menschen durften kaum noch ihre Wohnungen verlassen, mussten sich einem neuartigen Testverfahren unterziehen und sich wochenlang isolieren, wenn dieser Test positiv ausfiel. Masken, Schutzanzüge, leer gefegte Straßen, Nahaufnahmen von Krankenhäusern, Beatmungsschläuchen und müden Ärzten: Die Bilder waren verstörend, die Nachrichten schockierend und beunruhigend.

In Europa und gerade auch in Deutschland beobachtete man das Geschehen mit einem überlegenen Achselzucken. Der Fasching stand vor der Tür und wurde ausgiebig gefeiert. Satiriker im Fernsehen machten sich lustig über Rechtsextreme, die ein Virus aus Asien als Vorwand nähmen, um der Bevölkerung Angst zu machen.

Ich bin mit einer Chinesin verheiratet. Mir war es im Januar und Februar 2020 absolut unverständlich, mit welch einer Arroganz und Nonchalance man hierzulande die Nachrichten aus China behandelte. Die Schwiegerfamilie schickte Hunderte von Masken, die ich im Haus an die älteren Nachbarn verteilte. Diese lachten mich aus oder schüttelten den Kopf.

Mir ist noch gut in Erinnerung, wie in Bayern Mitte März 2020 Kommunalwahlen stattfanden und mein Vater als Wahlhelfer zahllosen Leuten die Hand schüttelte, sich anhusten ließ und stundenlang in einem stickigen Raum saß, um die Zettel entgegenzunehmen und auszuzählen.

Am Folgetag dann die plötzliche Kehrtwende. Alles sei viel schlimmer als erwartet. Drastische, nie gewesene Maßnahmen seien notwendig. »Es ist ernst«, so die Kanzlerin in einer Botschaft ans Volk. Und ab da war alles mit einem Mal anders. Die S-Bahnen in der Stadt waren verwaist. Die Straßen verlassen. Die Spielplätze abgesperrt.

Für ganz viele in Deutschland wirkte es logisch, aber ich selbst fand mich in der absurden Lage wieder, über Wochen hinweg die totale Sorglosigkeit im Land gesehen zu haben, die jedoch im Gegensatz zu meinen Befürchtungen keine schlimmen Folgen gehabt hatte. Der Fasching im Februar war gefeiert worden. Die Wahlen hatten stattgefunden. Eine Massenveranstaltung nach der anderen. Es war nichts passiert. Und jetzt auf einmal, Mitte März, sollte ein Lockdown nötig sein? Es ergab schlichtweg keinen Sinn.

Und so landete ich erneut auf der Seite der Verrückten, diesmal, weil ich Entwarnung geben wollte. Auch jetzt hörte niemand zu, wie zuvor niemand zugehört hatte. Mit den Wochen wuchs meine Verzweiflung, da deutlich zu spüren war, dass die Gesellschaft, Politik und Medien in eine völlig irrationale Hysterie abdrifteten. Sämtliche Gewissheiten waren dahin, weil intellektuelle Größen, an deren Ansichten ich mich in den Jahren zuvor orientiert hatte, sich ebenfalls von der Panik anstecken ließen. »Bleiben Sie gesund« wurde zu einer Phrase, die mir einen Schauer der Abneigung über den Rücken laufen ließ. In keinem Medium, das ich bislang konsumiert hatte, fand ich auch nur ansatzweise etwas, womit ich mich noch identifizieren konnte.

Zeitungsberichte, Schlagzeilen, Politiker-Statements und Fernsehnachrichten waren in den Jahren vor dem März 2020 für viele in Deutschland und Österreich ein steter Fluss im Hintergrund des eigenen Daseins gewesen, ruhig dahinplätschernd, mit wenig bis keiner Auswirkung auf den Alltag.

Dies änderte sich brachial, als die Regierungen in Europa und in weiten Teilen der Welt beschlossen, die Bewegungsfreiheit, Berufsfreiheit, Versammlungsfreiheit und letztlich auch die Meinungsfreiheit ihrer Bevölkerungen massiv einzuschränken. Wer es wagte, gegen die staatlichen Verordnungen zur Bekämpfung eines Virus aufzumucken, wurde niedergebügelt und fertiggemacht, nicht zuletzt von einer wütenden Meute ängstlicher, im Homeoffice bibbernder Mainstream-Journalisten.

Und auch die sogenannte Linke entwickelte sich zu einer radikalen Kraft dessen, was Andersdenkende als Staatsterror empfanden: Sie befürwortete die Maske als Symbol des Schutzes und der Rücksichtnahme, das Abstandsgebot, die Schulschließungen und alsbald das angebliche Licht am Ende des Tunnels, die herbeigesehnte Erlösung: Die »Impfung«.

Verblüfft stellte ich fest, der ich mich bis dahin als links oder auch unpolitisch betrachtet hatte, dass meine Sicht auf die Dinge nunmehr plötzlich auf Blogs, in alternativen Medien und von Personen geäußert wurde, die vorher stets als rechte oder rechtspopulistische Schmuddelkinder galten. Sozialdemokratische oder gar linke Maßnahmenkritiker waren eine seltene, rasch vom Aussterben bedrohte Spezies, denn jeder, der entsprechend Stellung bezog, war kurz darauf den Status eines Linken los und landete in der Sparte »rechts«.

Bei der Suche nach Intellektuellen, die einen Standpunkt vertraten, in dem ich noch einen Funken Vernunft erkennen konnte, stieß ich auf einen Artikel von Darren Allen.

Darren war eine dieser wenigen mutigen Stimmen, die sich von Beginn an sehr kritisch über den um sich greifenden Wahnsinn äußerten. In seiner ironischen, sarkastischen und sehr originellen Art hinterfragte er die Haltung früherer Idole wie Noam Chomsky, als diese etwa eine komplette Ausgrenzung Ungeimpfter forderten. Darren zeigte in der Stunde, in der so viele versagten, verzagten und sich aus Angst, Angepasstheit oder schlicht Feigheit nicht trauten, zu ihren Idealen wie Freiheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmtheit zu stehen, dass seine Texte und Worte nicht nur leere Worthülsen waren, die im entscheidenden Augenblick nicht mehr zählten.

Und so gewinnt sein Meisterwerk – 33 Mythen des Systems – vor diesem Hintergrund umso mehr an Bedeutung. Er legt hier eindrucksvoll dar, welch ein Sumpf aus Verdorbenheit sich unter dem scheinbar heilen Lack unserer gegenwärtigen Zivilisation herausgebildet hat. Für jede Leserin und jeden Leser ist etwas dabei: Historische Zusammenhänge, feine Beobachtungen zum Zeitgeist und zum Ende hin auch die Skizze eines möglichen Auswegs aus dem herrschenden Desaster.

Max Stadler, ÜbersetzerBerlin, im September 2023

Prolog

Das System ist seit zehntausend Jahren im Entstehen begriffen. In dieser Zeit hat es viele Formen angenommen – autokratisch, demokratisch, sozialistisch, kapitalistisch – aber trotz oberflächlicher Unterschiede in Struktur und Prioritäten ist es vom Wesen her dasselbe geblieben. Inzwischen ist es so raffiniert, so allgegenwärtig und so invasiv, dass es fast unmöglich ist, es wahrzunehmen. Wir wissen vielleicht, dass in der Welt, die wir geschaffen haben, etwas völlig schiefläuft. Aber das System ist so tief in unserer Erfahrung verankert, dass wir es, wenn es radikal kritisiert wird, als Erweiterung unseres eigenen Selbst verteidigen und entschuldigen. Die Mythen der Welt sind unsere eigenen und sie zu entlarven, bedeutet uns selbst zu entlarven. Bereits das Lesen der Worte »das System« kann Unbehagen auslösen, das Gefühl, angegriffen zu werden, oder den Eindruck, dass die Person, die diesen Begriff verwendet, ein wütender Außenseiter ist.

Aber vielleicht ist Ihnen bewusst, dass etwas schrecklich falsch läuft, dass die Welt immer mehr der Hölle auf Erden gleicht, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch steht und dass wir eine revolutionäre Alternative brauchen. Dieses Buch ist ein Versuch, diese Einsicht zu festigen und zu vertiefen. Es soll zeigen, dass das Problem viel gravierender (und damit auch die Lösung viel radikaler) ist, als derzeit und allgemein angenommen wird.

In aller Kürze habe ich versucht, das gesamte System zu skizzieren, von links bis rechts, vom Szientismus bis zur Postmoderne, von der Demokratie bis zum Faschismus. Das bedeutet, dass einiges von dem, was folgt, offensichtlich und richtig erscheinen mag, während anderes überhaupt nicht offensichtlich ist oder völlig falsch. Viele Menschen neigen dazu, sich über den erbärmlichen Zustand der Welt zu beklagen, aber den Teil, der sie am meisten betrifft, gegen Kritik immun zu halten. Das ist der Teil, den ich Ihnen dringend ans Herz lege, den Sie sich ansehen und noch einmal ansehen sollten. Und haben Sie Geduld mit den Kapiteln, die Ihnen sympathisch sind oder mit denen Sie vertraut sind.

Ein letzter Hinweis. Diese deutsche Ausgabe, die ohne die unermüdliche Arbeit und die außerordentliche Großzügigkeit von Max Stadler nicht möglich gewesen wäre, ist eine überarbeitete Fassung des Originals. Leserinnen und Leser, die sich fragen, was wir gegen das Grauen, das ich hier beschreibe, tun können, seien auf den abschließenden Originalaufsatz »Anarchismus am Ende der Welt« verwiesen, der in deutscher Übersetzung kostenlos online verfügbar ist.

Im Juli 2023, Darren Allen

Einleitung: Kurze Geschichte des Systems

Hunderttausende von Jahren lebten die Menschen in friedlichen, egalitären, gesunden Gesellschaften, zumindest im Vergleich zu dem, was danach kam. Wir arbeiteten nicht besonders hart, und die Arbeit selbst (sofern man überhaupt von Arbeit sprechen kann; vorzivilisierte Gesellschaften unterscheiden nicht zwischen Arbeit und Spiel) war angenehm, sinnvoll und nicht entfremdend.

Entfremdend ist eine Tätigkeit dann, wenn sie dazu führt, dass man sich als Fremder oder Feind fühlt – ganz gegen die eigene bessere Natur; wenn man zum Beispiel gezwungen wird, für den Profit eines anderen zu arbeiten, oder wenn man ohne guten Grund arbeiten muss, oder wenn die Ergebnisse nicht befriedigend sind. Für den größten Teil der Menschheitsgeschichte (eigentlich der Vorgeschichte, denn die Geschichte beginnt mit der Zivilisation und der Schrift) war die Entfremdung von Arbeit und Leben unbekannt; Zwang und Zwecklosigkeit waren ebenso unvorstellbar wie Eigentum, Religion, Gesetzgebung, Krieg, großer Aberglaube und das, was wir »Geisteskrankheit« zu nennen pflegen.

Die Angst vor der Unmittelbarkeit, wenn sich die Sinne schärfen, um den Gefahren des Gegenwärtigen zu begegnen, gehörte zum Leben – denn Gefahr hat es immer gegeben –, aber die Angst vor dem Kommenden, diese tiefe und weit verbreitete Ungewissheit, Angst und Sorge, die moderne Frauen und Männer plagen, war unbekannt.

Objektiv gesehen ist es unmöglich, all dies unmittelbar zu wissen – aber es ist auch unmöglich, durch Lernen irgendetwas direkt zu wissen. Dennoch können wir einigermaßen verlässliche Aussagen über unsere prähistorische Vergangenheit machen, ebenso wie über die Oberfläche der Sonne oder die Folgen der Auslöschung von Leben auf der Erde. Anthropologen können anhand von Bodenproben, Knochen, Werkzeugen und anderen archäologischen Funden objektiv beurteilen, wie die Urvölker gelebt haben, wie gewalttätig sie waren, wie gesund, wie sozial strukturiert – und sogar, wie sie das Universum um sich herum wahrnahmen.1

Anthropologen können objektiv, zumindest annähernd, die früheste Entwicklungsstufe der Menschheit bestimmen, indem sie sich anschauen, wie Jäger und Sammler heute leben. Niemand denkt, dass die Sammler von heute die gleichen sind wie die vor 20.000 Jahren. Gruppen, die nie mit der modernen industriellen Welt oder der vormodernen Landwirtschaft in Berührung gekommen sind, existieren nicht mehr und können nicht mehr erforscht werden. Aber diejenigen, die – zumindest bis vor Kurzem – relativ autark überlebt haben, weisen alle mehr oder weniger die oben genannten Merkmale auf. Natürlich gibt es bei den Jäger- und Sammlergemeinschaften eine enorme Variationsbreite – weit mehr als in jeder anderen Gesellschaftsform. Aber im Allgemeinen gilt: je größer die zeitliche oder räumliche Distanz zur Zivilisation, desto größer Gleichheit, Freiheit und Wohlbefinden – sowohl psychologisch als auch sozial.2

Natürlich klafft im Herzen unseres objektiven Wissens über die ferne Vergangenheit eine riesige, unergründliche Lücke. Wir werden nie objektiv wissen, wie die Menschen in den unzähligen dunklen Jahrtausenden lebten, fühlten und wahrnahmen, bevor die Zivilisation blendend hell erschien. Selbst wenn objektives Wissen in Fragen, die die menschliche Natur betreffen, notorisch begrenzt und unzuverlässig ist, woher sonst sollten wir Erkenntnisse gewinnen? Subjektives Wissen ist noch unzuverlässiger – es ist schlichtweg trügerisch; oft läuft es auf bloßes Wunschdenken und emotionales Raten hinaus.

Dass es noch eine andere, eine radikal andere Art von Erfahrungsmodus gibt, ein Bewusstsein des Lebens, das weder objektiv – basierend auf Dingen »da draußen« – noch subjektiv – basierend auf Ideen und Emotionen »hier drinnen« – sein kann, wird von der Wissenschaft, der Psychologie, der Geschichte, der Religion und der Kunst des Systems ausgeblendet und lässt sich mit der Ausdrucksweise, die unweigerlich seine und unsere Anliegen widerspiegelt, kaum in gewöhnlichen Worten ausdrücken. Der panjektive Erfahrungsmodus (panjektiv: weder objektiv noch subjektiv; Anmerkung des Übersetzers) ist Gegenstand des Komplementärbands zu diesem Buch, »SelfandUnself«.3

An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass es eine Möglichkeit gibt, die menschliche Natur zu durchdringen, ohne auf rationale Analysen oder Vermutungen zurückzugreifen. Aber diese Art von Bewusstsein ist weder Wunschdenkern noch den Hyperrationalisten zugänglich.

Die fundamentale Vernunft der frühzeitlichen Gesellschaft darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch Probleme gab: Schmerz, Frustration, Not, Gefahr und (zunehmend) Gewalt. Wir sollten auch nicht unsere Ansprüche aufgeben und auf Bäume zurückkehren. Aber das, was wir »Fortschritt« nennen, war ein tausendjähriger Niedergang in Bezug auf Lebensqualität, Seelenfrieden, kollektive Freude und so weiter war.

Einige wenige Dinge haben sich sicherlich verbessert – vor allem im technischen Bereich –, aber das sind fast ausschließlich Lösungen für Probleme, die durch den »Fortschritt« überhaupt erst geschaffen wurden.

Dieser »Fortschritt« begann vor etwa 12.000 Jahren, als es zu einer Entfremdung im menschlichen Bewusstsein und damit auch in der menschlichen Gesellschaft kam.

Nochmals: Die Art dieser Katastrophe oder des Niedergangs wird ebenfalls in »Self and Unself« beschrieben. Hier beschränken wir uns auf die nachweisbaren sozialen Auswirkungen: Strukturierung, Gewalt gegen Frauen und Kinder, extreme Naturfeindlichkeit, Kriegstreiberei, Angst vor dem Tod, Aberglaube, Scham, sexuelle Unterdrückung und eine äußerst mittelmäßige Kultur. All dies begann zur gleichen Zeit (circa 10.000 v. u. Z.) und am gleichen Ort (Vorderer Orient/Westasien) mit dem Prozess, den wir Geschichte, Zivilisation oder das System nennen.

Das zivilisierte System begann mit einem intensiven Aberglauben, dem Glauben, dass Ideen – insbesondere Götter und Ahnen – realer seien als die Wirklichkeit. Vor der abergläubischen Weltsicht wurde das Universum als gütig, lebendig und geheimnisvoll angesehen. Diese Lebendigkeit war bestimmten Dingen – Bäumen, Wolken, Flüssen, Tieren und so weiter – in Form von Eigenschaften und Charakteren inhärent, die dann in die Mythen einflossen. In diesen Geschichten spiegelte sich das seelische Erleben eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen ähnlich wie in Träumen wider: indirekt, bildhaft und verfremdet.

Mit dem Beginn des »proto-zivilisierten« abergläubischen Zeitalters wurden diese Lebensqualitäten und die über sie verbreiteten Mythen objektiviert, d. h. von der fließenden, kontextuellen Erfahrung abgeschnitten und in ein abstraktes mystisches System oder eine (Proto-)Religion integriert. Sie wurden mit äußerst vulgären Emotionen gesättigt, die sich um Sex, Gewalt und – die Grundlage des Aberglaubens – Existenzangst drehten. Männer und Frauen hatten schon immer Angst vor den gefährlichen Dingen, die existierten. Aber jetzt fürchteten sie sich vor der Existenz selbst, die in zwei Sphären aufgeteilt wurde: das beruhigende und kontrollierbare Bekannte (die Vorstellungen und Gefühle des Selbst, »ich und mein«) und sein Gegenteil: ein beunruhigendes und furchterregendes Spektrum, das vom Unbekannten (Fremde, neue Situationen usw.) bis zum Unerkannten (Tod, Bewusstlosigkeit, Natur usw.) reichte.

Die tiefgreifende Existenzangst des Aberglaubens führte über die erzwungenen Absurditäten des abergläubischen Schamanismus zur intensiven Abstraktion der Priester und frühen (Proto-)Wissenschaftler. 12.000 Jahre v. u. Z. hatte der Mensch gedacht und argumentiert; nun aber begannen seine Gedanken ein Eigenleben zu führen, erschienen realer und wichtiger als die Wirklichkeit, die nunmehr von der Struktur des Denkens geformt wurde.

Etwa zu jener Zeit begannen mehrere miteinander verbundene Entwicklungen, die die Zukunft der Welt bestimmen sollten:

Im Vorderen Orient wurde Getreide gezüchtet, so entstand die Ernährungsgrundlage der neuen Agrargesellschaften. Die Landwirtschaft erfordert einen hohen Arbeitsaufwand und erwirtschaftet einen Überschuss, der professionell verwaltet werden muss. Außerdem führt sie schnell zur Auslaugung der Böden und damit zu einer Mangelernährung der Bevölkerung sowie – und das ist entscheidend – zu immer geringeren Erträgen. Wachsende Populationen, deren Ernten unsicher sind und deren Nahrungsqualität sich verschlechtert, erfordern eine stete Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzflächen und folglich eine ständige Waldrodung und Eroberung benachbarter Ackerflächen. Im Gegensatz zur Nahrungssuche benötigt die Landwirtschaft auch einen permanenten Energieaufwand, sei es in Form von Brennstoffen oder in Form der Arbeitskraft von Tieren oder Sklaven. Doch ein immer größer werdender Energieaufwand beschleunigt nur den unausweichlichen Niedergang des mittlerweile überaus komplex gewordenen Agrarstaates.Wird die Gewinnung von Energie zu kostspielig, kann die Komplexität nicht mehr aufrechterhalten werden und der Staat bricht zusammen. Die unmittelbare Ursache kann der ökologische Zusammenbruch durch Abholzung oder Versteppung sein (wie z. B. durch die intensive Landwirtschaft im »Fruchtbaren Halbmond«), oder die Eroberung eines benachbarten Staates. Aber die eigentliche Ursache ist immer die Überkomplexität, die all die verschiedenen Staaten der klassischen Zivilisation kennzeichnete.4Die Anforderungen des Ackerbaus führten zur Domestizierung verschiedener Pflanzen und Tiere, zur Erfindung der Schrift, deren Hauptanwendung über Jahrtausende hinweg die landwirtschaftliche Buchführung war (Aufzeichnung von Steuern und Schulden). Sie führten aber auch zum Elend der Arbeitswelt: hoch spezialisiert, eintönig und verwaltet. Krankheiten (wie Grippe, Tuberkulose, Diphtherie, Pocken, Pest und Typhus) verbreiteten sich durch schlechte Ernährung und den Kontakt mit domestizierten Tieren. Die Lebenserwartung sank drastisch, ebenso die Körpergröße und der allgemeine Gesundheitszustand.Schließlich tauchten in den Pantheons des Vorderen Orients aggressive männliche »Sonnengötter« auf, die die neue Welt rechtfertigten und den Menschen den Auftrag erteilten, die Natur und sich gegenseitig zu zähmen. Diese Götter wurden als Herrscher oder Könige über die anderen Götter verehrt, die aus dem Himmel vertrieben wurden, so wie sie aus den Wäldern vertrieben worden waren, bis nur noch der eine, der »wahre« Gott übrig blieb.

Diese Ereignisse brauchten Jahrtausende, um sich zu entwickeln, zu verbreiten und gegenseitig zu integrieren. Doch etwa ab dem 3. Jahrtausend v. u. Z. ähnelte der bronzezeitliche Vordere Orient in vielerlei Hinsicht der heutigen modernen Welt.

Mesopotamien beispielsweise war ein Ort weitverbreiteten Elends, ständiger Kriege, aberwitzigen Aberglaubens, mittelmäßiger Kunst, nützlicher Wissenschaft, verschwenderischer Überproduktion, künstlicher Verknappung, massiver Ungleichheit (das »ursprüngliche 1 Prozent«), der Ausbeutung von Gesellschaft und Natur, der Überbevölkerung, der Zwangsrituale, der Kapitalinvestitionen, der Standardisierung, der Arbeitsteilung, des Zeitdrucks, des Wuchers und der Verschuldung, der Besteuerung, der Prostitution, Krankheit, der Plackerei, korrupter Hierarchien, der Entfremdung, spezialisierter Experten, der Sklaverei, zerstörerischer Abholzung, der Bodenerosion, der Unterdrückung von Minderheiten, der gewaltsamen Unterwerfung von Frauen, Kindern und Außenseitern sowie von Hierarchiewahn.

Das nennen wir die »Geburt der Zivilisation«: äußerst unangenehme Zustände, die alle anderen Menschen auf der Erde – die als Barbaren bezeichneten Menschen – verzweifelt zu vermeiden suchten.

Die nächste Epoche der Verelendung der Menschheit umfasst zwei komplementäre, noch nicht antagonistische Entwicklungsprozesse: den Aufstieg Judäas – der ersten Gesellschaft, die einen einzigen »wahren« Gott anerkannte – und den Aufstieg Griechenlands – der ersten rationalen Gesellschaft und einer der ersten, in der Skepsis gegenüber dem Göttlichen aufkam. Diese beiden Entwicklungen scheinen auf den ersten Blick ziemlich gegensätzlich,5 aber die Mythen und Philosophien der antiken griechischen Denker und die des psychopathischen alten Mannes, der über Judäa herrschte, waren – in allen wichtigen Punkten – identisch.

Jahwe und seine Patriarchen, Platon, Aristoteles und die meisten Gelehrten, die von der klassischen griechischen und jüdischen Gesellschaft gefeiert wurden, hassten Frauen, die Natur, Fremde und das einfache Volk. Sie erklärten, dass die reale Welt – also die Erde – frei von jenem lebenden Mysterium sei, das früher die »rückständigen« Menschen verehrten.

Sowohl die griechischen als auch die jüdischen Mythen handeln von durchgeknallten männlichen Kindsköpfen, die unter den fadenscheinigsten Vorwänden durch die Welt ziehen, vergewaltigen und morden. Wir nennen diese Geschichten »Klassiker«.

Die griechischen und jüdischen Gesellschaften waren auch zutiefst von einer Rechtsbesessenheit geprägt, die den königlichen – und oft despotischen – Willen als Herrschaftsprinzip in der Gesellschaft und folglich auch im gesamten wissenschaftlichen Universum ablöste. Durch die stark abstrahierte Realität der Griechen und Juden – ein abstraktes rationales System, eine abstrakte Gottheit in einem fernen abstrakten Himmel und ein abstraktes, völlig unpersönliches Gesetz, dem alle gleichermaßen unterworfen sind – konnte das, was wir »Wissenschaft« nennen, den Aberglauben überwinden und später verhöhnen, und das, was wir »Demokratie« nennen, die Monarchie ersetzen. Die Tatsache, dass ein Albtraum durch einen anderen, im Wesentlichen identischen Albtraum ersetzt wurde, war damals ebenso schwer zu begreifen wie heute.

Das unheilvolle Universum der Griechen und der Hebräer, das in beiden Fällen als ein Universum der trostlosen Arbeit und ohne Zugang zum Paradies konzipiert wurde, beruhte auf der Fähigkeit, die Realität von der primären Technik der systemischen Abstraktion zu trennen. Dies ging Hand in Hand mit der Schaffung beziehungsweise der Entwicklung von drei sekundären Techniken der Kontrolle, des Austauschs und der Kommunikation, die die Art und Weise, wie Menschen miteinander und mit dem Universum in Beziehung treten, von Grund auf veränderten.

Die erste Technik war die Wucherschuld – zuerst erfunden von mesopotamischen Königen und Priestern im 3. Jahrtausend v. u. Z., um ihr Volk zu verarmen und zu versklaven –, die aber von fast allen nachfolgenden »Zivilisationen« begeistert übernommen wurde. Die Verschuldung war so tief in der sozialen Struktur verwurzelt, dass die Religionen des Vorderen Orients begannen, die Realität selbst in einer Schuldner-Gläubiger-Beziehung zu definieren, in der wir die Schuldner – oder Sünder – sind und der Gläubiger die Bank Gottes ist, die hier auf Erden von seinen professionellen Dienern, Buchhaltern, Managern und Priestern verwaltet wird.

Die zweite Technik der Kontrolle, eine Erfindung der Griechen, war das Geld – ein unpersönliches, unzerstörbares Abstraktum, das Menschen, Gegenstände und schließlich das gesamte Universum in eine Ansammlung homogener Mengen verwandelte, in Dinge, die man kaufen und verkaufen konnte.

Die griechischen Philosophen begannen, dank der durch das Geld hervorgerufenen Denkweise, das gesamte Universum als eine Ansammlung einzelner, rational erfassbarer Teilchen (auch Atome genannt) und Ideen (oder »platonische Körper«) zu betrachten, allen voran das tragische Atom – abgeschnitten, isoliert, allein –, das wir »Mensch« nennen.

Die dritte revolutionäre Technik der Zivilisation war die alphabetische Schrift, die zuerst von den Phöniziern entwickelt und dann von den Griechen und Hebräern perfektioniert und hoch geschätzt wurde. Trotz ihres potenziellen Nutzens und ihrer Möglichkeiten und ihrer Schönheit bewirkte diese Technik eine verheerende Veränderung des Bewusstseins derer, die Zugang zu ihr hatten: Diejenigen begannen die Inspiration nicht als eine direkte Erfahrung oder etwas geheimnisvoll Fließendes, sondern als eine Funktion des Gedächtnisses zu betrachten; die Sinne nicht als inhärente Qualität, sondern als eine Anzahl von Worten; und die Gesellschaft nicht als etwas, zu dem der Mensch einen direkten kontextuellen Zugang hat, sondern als etwas, das sich ihm durch das Lesen erschließt.

Und wieder – wie bei jeder anderen epochalen Technik, die folgte – sah kaum jemand, dass der Zugewinn an Macht auf Kosten eines Verlustes an Fähigkeiten ging, in diesem Fall auf Kosten der sinnlichen Inspiration, der Klarheit, die sich aus dem Kontext ergibt, und der unbeschreiblichen Musik der Sprache.

Diese drei Techniken hatten drei kombinierte Effekte. Erstens vergrößerten sie radikal die Distanz des Individuums zu seiner Umwelt, denn die Macht des Geldes braucht keinerlei Beziehungen, um sich aufrechtzuhalten. Zweitens verstärkten sie die isolierende und isolierte Macht des individuellen Besitzes, da mein Besitz nicht mehr durch Tradition oder Gegenseitigkeit mit anderen gebunden ist. Und drittens schufen sie bei allen, die in den Bann von Schulden, Schrifttum und Geld geraten waren, den Glauben, dass die Wirklichkeit letztlich etwas sei, das man mit dem Verstand erkennen und besitzen könne.

Und so waren zu der Zeit, als Griechenland seine Macht an Rom verlor (das dann mit der Christianisierung die klassische griechische Kultur mit dem Judentum zu einem Weltbild verschmolz), alle grundlegenden Komponenten für eine brutal unterdrückende, mechanische Zivilisation vorhanden: eine klare soziale Schichtung, Feindseligkeit gegenüber dem Unbekannten, ein abstraktes Bild des Universums, das als real angenommen wurde, und das Bewusstsein, dass Geld, Verstand, Sprache und Kosmos ähnlich strukturierte – und gleichermaßen bedeutsame – Entitäten waren.

Alle Konsequenzen solcher Grundhaltungen waren ebenfalls vorhanden: Gesetz und Verbrechen, bewaffnete Armeen und Krieg, Spektakel und Langeweile, Religion und (Proto-)Wissenschaftlichkeit, weit verbreitetes Leid, Einsamkeit, Entfremdung, Wahnsinn und ökologischer Ruin. Diese Elemente – in verschiedenen Variationen und Kombinationen – bestimmten das Leben von Männern und Frauen in Europa, Asien, großen Teilen Afrikas und schließlich auch in Südamerika für die nächsten tausend Jahre.

Manchmal gingen Zivilisationen unter, wie zum Beispiel Rom, ein Ereignis, das mit Erleichterung begrüßt wurde und die Lebensqualität der einfachen Menschen verbesserte.

Manchmal konnten sie eingedämmt werden, wie z. B. in der langen Geschichte der erfolgreichen Unabhängigkeit Japans, und weniger unzivilisierte Gesellschaftssysteme konnten sich behaupten. Diese Feudalsysteme, obwohl sie Ausbeutung – und mitunter furchtbares Leid – mit sich brachten, stellten insgesamt eine Verbesserung der Lebensbedingungen der einfachen Menschen dar. Der europäische Bauer des Mittelalters zum Beispiel war Selbstversorger, hatte freien Zugang zu Gemeindeland, ging einer Arbeit auf hohem Niveau nach, die ihn nicht entfremdete, und das in der Regel in einem sehr angenehmen Tempo, mit einer hohen Anzahl freier Tage, und pflegte einigermaßen gesunde soziale Beziehungen zu seinen Mitmenschen, auch zu denen außerhalb seines Standes.

Die Abhängigkeit von der Uhr war außerhalb der Klöster unbekannt, der Tod galt als lebenslanger Begleiter und nicht als ein von der Zeit besessener »Sensenmann«, Verrücktsein war selten ein Vorwand für Ausgrenzung, und selbst die Beziehungen zwischen den Geschlechtern waren – trotz vieler schrecklicher Ausnahmen – relativ gleichberechtigt. Die Männer und Frauen des Mittelalters waren, insbesondere im Spätmittelalter, auch eine inspirierende, ketzerische und anarchische Herausforderung für den Feudaladel.

Natürlich gab es Krankheiten, Kriege und religiöses Leid, vor allem gegen Ende der Epoche, als so etwas wie die Hölle über die feudale Welt Westeuropas hereinbrach. Aber Ausbeutung, wie sie beispielsweise im kaiserlichen Rom oder im viktorianischen England praktiziert wurde, war relativ gering; Armut, wie zum Beispiel bei den heutigen indigenen Völkern, war relativ selten, und radikale Rebellionen, von denen die spanischen Anarchisten des 20. Jahrhunderts und die europäischen Hippies nur träumen konnten, waren relativ häufig.

All das sollte sich ändern. Im 15. und 16. Jahrhundert entstand eine neue Form des Systems: der Kapitalismus. In allen seinen wesentlichen Aspekten erwies sich der Kapitalismus als eine Weiterentwicklung und Verfeinerung des Zivilisationsprojekts, das in der Morgendämmerung des Aberglaubens konzipiert worden war, sich zunächst in Mesopotamien und Ägypten manifestierte – den ersten Gesellschaften, die so funktionierten, als wären die Menschen, die sie bildeten, Teile eines Mechanismus – und sich dann in Judäa, Griechenland, Rom, China, bei den Abbasiden, den Mongolen, den Osmanen, den Spaniern, den Holländern, den Briten und in den USA weiterentwickelte.

Mit jeder nachfolgenden Zivilisation wurde der Gesellschaftsmechanismus verfeinert und verbessert. Der Aufbau der klassischen Armeen, das Wachstum und die reglementierte Verwaltung der Stadtstaaten, die repressive Institutionalisierung und das Zeitmanagement der mittelalterlichen Klöster, das Bankwesen der Renaissance – jede neue Technik der Gesellschaftskontrolle trug dazu bei, ein autonomes, mechanisches und später digitales Regierungssystem aufzubauen.

Ab dem 17. Jahrhundert war jeder Schritt der europäischen Führungsschicht (insbesondere der neuen Klasse der Kaufleute und Handwerker) auf die Errichtung dieses sich selbst regulierenden Systems ausgerichtet.

Die industrielle Revolution, die Steuerung einer »freien« Industriearbeiterschaft, die Hyperrationalisierung der Arbeitsabläufe, die Umwandlung von Zeit in Geld, die Ausbreitung und Weiterentwicklung von Schulen, Arbeitsstätten, Krankenhäusern, Fabriken, Banken, Armeen und des modernen Nationalstaates mit ihren Zwangstechniken der Überwachung und Kontrolle (durch die Einführung allgemeiner, standardisierter, einheitlicher Bezeichnungen, Maßeinheiten, Währungen, Religionen, Rechtssysteme, Stadtpläne usw.) dienten und dienen nur diesem einem Zweck.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich ab, dass die Schaffung eines »perfekten« globalen Systems innerhalb kürzester Zeit zur völligen Zerstörung der Gesellschaft führen würde. Und so wurden Maßnahmen ergriffen, um einerseits die Arbeitskräfte vor dem (globalen) Zugriff zu schützen und andrerseits die zahlreichen revolutionären Gruppierungen zu befrieden, um sich ihrem schweren Los zu widersetzen.

Die Vielzahl von Reformen, die sich über das Jahrhundert zwischen 1860 und 1960 erstreckten, konnte das Leben vieler Menschen erfolgreich verbessern. Aber da die tieferen Grundlagen des Systems ignoriert und seine Gemeinsamkeiten völlig übersehen wurden, rollte der Moloch der Zivilisation unbeirrt und unvermindert weiter – sogar in vielerlei Hinsicht durch die Reformen gestärkt –, bis auch die wenigen Bremsen, die Männer und Frauen zu installieren vermochten, am Ende des 20. Jahrhunderts »zurückgerollt« waren, so dass das System seine Aufgabe vollenden konnte: die Verschmelzung von Menschen, Ideen, Emotionen, Techniken, Werkzeugen, Objekten, Verhaltensweisen und »natürlichen Ressourcen« (d. h. naturnahen Lebens), aus denen sich die Zivilisation zusammensetzt, zu einem einzigen, gigantischen und sich völlig selbst regulierenden Mechanismus.

Bis zum Ende der zivilisatorischen Fortschrittsphase des Kapitalismus, die etwa von 1600 bis 1900 dauerte, waren die einzelnen Komponenten des Systems mehr oder weniger noch mit der Natur, dem Wesen des Menschen und der Kultur, die Menschen in Gemeinschaften auf natürliche Weise schaffen, verbunden.

Mit dem Aufstieg des Kapitalismus wurden Boden, Arbeit, Energie und Zeit zur Ware und zusammen mit allen anderen Komponenten der Zivilisation in einer Vielzahl rationaler, wissenschaftlich-technologischer Prozesse assimiliert, deren Zweck darin bestand, noch mehr Ertrag (Gewinn, Produktion, Leistung usw.) zu erzielen. Diese Prozesse verzerrten, degradierten und zerstörten zwangsläufig alles, womit sie in Berührung kamen, indem sie alles, was für die jeweilige Aufgabe nicht relevant war, eliminierten oder ignorierten.

Die Baumwollspinnereien produzierten billigere Baumwolle, während sie die lokalen Gemeinschaften zerstörten; die Schulen brachten konformere Arbeiter hervor, indem sie ihre Initiative und ihr Einfühlungsvermögen korrumpierten; die Farmen produzierten mehr Nahrungsmittel, während sie dem Boden Nährstoffe entzogen und die Wildnis zerstörten; Fabriken produzierten mehr abstrakten Wohlstand, während sie das tatsächliche Leben ihrer Arbeiter chronisch verarmten; Geräte brachten mehr »Zeitersparnis«, vervielfachten aber gleichzeitig die zu ihrer Herstellung (und Bezahlung) erforderliche Arbeit und so weiter.

Jede technologische Innovation hat eine Reihe von Einzelproblemen gelöst und gleichzeitig eine Reihe neuer Probleme geschaffen, für deren Lösung wiederum neue technische Verfahren entwickelt werden mussten.

Jede neue Entwicklung – Kunststoff, Kernspaltung, Hochgeschwindigkeitsverkehr, Genforschung, Internet – oder jede neue zukunftsweisende Lösung – Smart Drugs, virtuelle Realität, Kybernetik, Nanotechnologie, Kernfusion, gigantische Spiegel im Weltraum – wird mit großem Tamtam gefeiert, während die katastrophale Umweltverschmutzung, die Langeweile, die Krankheit oder der Wahn, die sie verursachen, entschuldigt, ignoriert oder als Chance für weiteren technischen Fortschritt genutzt werden.

Gegen Ende der kapitalistischen Ära hatte sich die Technisierung6 von der menschlichen Kultur abgekoppelt und dominierte das materielle Leben auf der Erde. Im Laufe des 20. Jahrhunderts dehnte sich diese Dominanz auf alle Aspekte menschlicher und natürlicher Erfahrung aus, denn die Technisierung beschränkte sich nicht nur auf die Konstruktion leistungsfähiger Maschinen, die Nutzung neuer Energien, die Verfeinerung von Steuerungsmethoden oder die Herstellung von Waren, sondern wurde auf das gesamte Spektrum natürlichen und menschlichen Lebens angewandt. Ja, sie musste auf alles angewandt werden, denn alles, was nicht der rationalen Umstrukturierung unterlag, behinderte oder bedrohte die Produktivität.

Eine Hightech-Fabrik kann nur entstehen, wenn es Hightechprodukte gibt, die mit Hightech-Geschwindigkeit angeliefert und von Hightech-Angestellten verarbeitet werden. Diese Angestellten dürfen nicht länger ihren eigenen Arbeitsstil entwickeln, sich selbst weiterbilden oder das Leben führen, das sie wollen, sondern sie müssen vollständig in wissenschaftliche Programmiertechniken integriert sein, die nachweislich die höchste Geschwindigkeit, Leistung, Effizienz, Genauigkeit – oder was auch immer das gewünschte Ergebnis sein mag – liefern.

Derselbe Druck wird buchstäblich auf jede menschliche Tätigkeit ausgeübt. Ob man nun Sportler, Töpfer, Programmierer, Sänger, Straßenkehrer oder Polizist ist, es ist einem nicht erlaubt, in seinem eigenen Tempo zu arbeiten, seinen eigenen Weg zu wählen, aus eigener Erfahrung oder Inspiration heraus zu gestalten, zu tun, was man will, wann man will, oder – Gott bewahre – sich zu fragen, warum man so arbeitet, wie man es tut, und zu welchem Zweck. Eine Unabhängigkeit des Denkens, des Handelns oder auch nur des Fühlens ist keine Option; da die entfernten oder langfristigen Auswirkungen des eigenen Tuns keine Option sind, ist jede Praxis oder Realität, die nicht mit den Techniken maximaler Kontrolle, Produktivität und Effizienz in Einklang gebracht werden kann, keine Option.

Das ist einer der Gründe, warum es sinnlos ist, einzelne Aspekte des Systems zu reformieren, abzulehnen oder auch nur zu versuchen, sie isoliert vom Ganzen zu verstehen. Politik, Kommunikation, Verkehr, Medizin, Wirtschaft, Wissenschaft, Wohnen, Ernährung, Unterhaltung, Management und jede Form von Arbeit sind in ein einziges System von ineinandergreifenden Prozessen integriert.

Es ist letztlich bedeutungslos, darüber zu spekulieren, wie das Internet das Leben der Menschen verändert hat, den Einfluss von Big Pharma zu analysieren oder zu versuchen, die Probleme »unseres Bildungssystems« zu diagnostizieren; wie es völlig sinnlos ist, Gefängnisse zu reformieren, Plastiktüten zu verbieten oder Petitionen zu unterschreiben; so wie es völlig zwecklos ist, sich gegen den Zugriff von Energiekonzernen, Ärzten oder staatlicher Bürokratie auf das menschliche Leben zu wehren, indem man sein Haus mit einem Holzofen heizt, sich selbst medizinisch versorgt oder seinen Facebook-Account löscht und seinen Reisepass zerreißt.

Das heißt nicht, dass es bedeutungslos, sinnlos oder zwecklos ist, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen oder zu versuchen, sie zu lösen oder zu umgehen, ganz und gar nicht. Schließlich werden wir uns hier mit 33 Aspekten des Systems befassen, die alle einzeln behandelt werden. Bedeutungslos, sinnlos, und zwecklos ist es allerdings, diese Aspekte ohne Bezug auf das System als Ganzes anzugehen, in dem jedes Element untrennbar integriert ist, und diejenigen, die das System verteidigen, wissen das.

Sie wissen es oder verstehen intuitiv, dass dem System am besten gedient ist, wenn man sich auf seine isolierten Elemente konzentriert, was sie ihr ganzes Leben lang tun. Solche Leute nennen wir normalerweise »Spezialisten«.

Das System zwingt mehr oder weniger jeden dazu, ein Spezialist zu werden und einzelne Teile des Universums als Objekte technischer Manipulation zu betrachten. Der Lehrer zum Beispiel muss das Kind von seinem Zuhause, seiner Familie, seiner natürlichen Umgebung und der außerordentlichen Komplexität und Subtilität seines eigenen Lebens und Charakters trennen; er muss die Aufmerksamkeit des Kindes mit festen Vorgaben binden (zahlreiche Bücher, Tests und Projekte, die dem Lehrplan entsprechen, ergänzt durch alle möglichen Spiele, Schulausflüge und »Erfahrungen«, die die Schule oder der Lehrer offiziell oder freiwillig hinzufügen kann), um das gewünschte Ergebnis zu erzielen: die Integration in das System. Ärzte arbeiten auf die gleiche Weise wie auch die Wissenschaftler, Anwälte, Sozialarbeiter, Politiker, Manager, Designer, Klempner, Bauern, Küchenhilfen … jeder.

Eine Welt, in der ausschließlich solche rationalen Spezialisten agieren, bewirkt unweigerlich, dass niemand die Folgen seines Handelns kennt oder die Verantwortung dafür übernimmt. Sie sind dafür nicht ausgebildet, und wenn sie einmal über die ihnen zugewiesene Rolle hinausgehen, treten sie unweigerlich jemandem (anderen) auf die Füße, dessen ganzes Leben von der Macht abhängt, die sie über ihre spezialisierte Aufgabe ausüben. Dies führt zur Entstehung einer nahezu unendlichen Anzahl von sinnlosen Jobs, die geschaffen werden, um mikroskopische Details zu verwalten oder spezialisierte Macht zu schützen, ohne dass jemand eingreift, der vielleicht weiß, was er tut.

Das System wird nicht – und kann niemals – von Männern und Frauen regiert werden, die wissen, was sie tun, die die Zusammenhänge erkennen oder die bereit sind, ihre systemfremden Vorstellungen über die Verteilung der Mittel durch das System zu stellen. In diesem Sinne ist das System völlig autonom und selbstgesteuert; seine oberste Direktive ist die Einzige, die sich eine autonome Maschine vorstellen kann: wachsen, sich ausbreiten, sich reproduzieren. Sterben niemals.

Männer und Frauen besitzen oder verwalten viele Teile des Systems, aber die einzigen Aktivitäten, die das System ihnen erlaubt, sind solche, die sein unaufhörliches Wachstum fördern. Ebenso erhalten nur diejenigen eine Position, in der sie »frei« sind, die richtigen Entscheidungen treffen zu können, die instinktiv diese Aktivitäten fördern und die seit ihrer Kindheit an die systemische Lebensweise gewöhnt sind.

Das System installiert automatische Filter, um »Störenfrieden« den Weg in Positionen mit Einfluss zu versperren. Wenn jemand, der freundlich, wohlmeinend oder intelligent ist, Macht erlangt, fühlt er sich völlig machtlos gegenüber dem System, das entweder alles tun wird, um sich seiner ungewollten Anwesenheit zu entledigen, oder ihm erlaubt, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, bis seine Anhänger enttäuscht sind und ihn aufgeben.

Kennzeichnend für die vormoderne Phase des Systems war also die abstrakte Kommodifizierung von Raum, Zeit und Energie. Geometer teilten das Land ein, Uhren teilten den Tag ein und der Staat teilte die Menschen ein; und alle drei wurden in den Verkehr gebracht, um sie in immer ausgefeiltere Technologien der Produktion (oder Herstellung) und Techniken der Reproduktion (oder »Dienstleistungen«) zu integrieren, die wir normalerweise Kapitalismus nennen.

Diese vormoderne Phase entwickelte sich dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu dem modernen oder postmodernen System, wie wir es kennen, das versucht, Wissen (oder Daten), Schulden (durch den Prozess der sogenannten Finanzialisierung, in dem die kommerzialisierte Zukunft mit Hypergeschwindigkeit manipuliert und gehandelt wird); Wahrnehmung und Emotionen (durch die Virtualisierung jeder Art von sozialer Interaktion), Materie (künstliche Materialien, urheberrechtlich geschützte Moleküle, patentierte Gene und so weiter) und neue Formen von Hyperenergie (petrochemische und nukleare Energie) zu kommodifizieren. Kurz gesagt: Alle Barrieren zwischen dem System und den letzten Nischen der Realität werden beseitigt.

Letztendlich wird sogar das bewusste Erleben des eigenen Körpers in den globalen Mechanismus integriert (oder privatisiert) und gezwungen, sich seinen Rhythmen und Gesetzen anzupassen.

Ein weiteres erwähnenswertes Merkmal der postkapitalistischen Welt ist, dass sie zunehmend Züge anderer Formen des Systems wie Feudalismus, Sozialismus und Faschismus annimmt. Die Finanzialisierung hat dazu geführt, dass auf den höheren Ebenen des Systems riesige Geldmengen zirkulieren, was wiederum zu einem feudalen Netzwerk von Gefälligkeiten, Schmiergeldern und Pfründen geführt hat; Mittel, um Freunde, Familie und andere Vertraute gut zu bezahlen, während sie im Grunde nichts tun: Große Konzerne sind seit Langem von staatlicher Unterstützung (durch Militärausgaben oder staatlich geförderte Forschung und Entwicklung) und Rettungsaktionen (in Zeiten von Depression und Rezession) abhängig – was im Grunde eine Form des staatlich geförderten Sozialismus (für die Reichen) darstellt. Und das System erfordert oft extreme Formen von Autoritarismus, die – insbesondere unter Zwang – nicht von Faschismus oder Totalitarismus zu unterscheiden sind.

Der Begriff »Kapitalismus« mag eine nützliche Formulierung sein, aber er ist weit davon entfernt, zutreffend zu sein. Der heutige »Kapitalismus« unterscheidet sich radikal von dem, den Marx sezierte, weshalb einige seiner wichtigsten Prognosen nicht eingetroffen sind. Er konnte nicht vorhersehen, dass die ganze Welt, einschließlich der Psyche jedes Einzelnen, zu einem »Produktionsmittel« werden würde, und auch nicht, dass infolgedessen die Arbeiterklasse fast vollständig unterworfen und domestiziert werden würde.

Aus diesem Grund wird der heutige Kapitalismus oft als Spätstadium oder manchmal als neoliberal bezeichnet. Aber wenn wir akzeptieren, dass sich diese Begriffe auf die letzte und wichtigste Phase eines Projekts beziehen, das seit mindestens zehn Jahrtausenden andauert – wenn wir den gesamten Prozess verstehen wollen, einschließlich seiner entschieden nicht-kapitalistischen Elemente –, dann brauchen wir einen Begriff, der das alles umfasst. Obwohl dies, wie wir sehen werden, auch problematisch ist, gibt es kein besseres Instrument für diese Aufgabe als »DASSYSTEM« – ein Begriff, der sich sowohl auf die Zivilisation als Ganzes als auch auf die vorherrschende, allumfassende, hyperentwickelte, postkapitalistische Weltordnung, in der wir uns heute befinden, und auf die Mythen bezieht, mit denen sie ihre Existenz rechtfertigt; Mythen, die bei näherer Betrachtung sowohl das Wesen des Systems offenbaren als auch, in dieser Offenbarung, die Mittel, mit denen wir uns von ihm befreien können und werden.

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