60 x Wien, wo es Geschichte schrieb - Georg Hamann - E-Book

60 x Wien, wo es Geschichte schrieb E-Book

Georg Hamann

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Beschreibung

Eine Stadt – sechzig Geschichten Adressen mit Geschichte: In zahlreichen Ecken Wiens erinnern Orte, Straßen und Plätze an Menschen und Geschehnisse, die die Stadt geprägt haben. Doch viele dieser Spuren gilt es erst wiederzuentdecken. In sechzig historischen Miniaturen, deren Geschichten selten in Touristenführern zu finden sind, reist Georg Hamann zurück in die Zeit des Altertums bis ins 20. Jahrhundert und schreibt gleichzeitig das faszinierende Porträt einer Stadt und ihrer Bewohner. Aus dem Inhalt: Von Kaiser Probus bis zum Heurigen: Wien und der Wein Ungeheuer, Magie und Teufelswerk – Wiener Sagen und ihre Hintergründe Der »Lateinische Krieg« – ein blutiges Kapitel der Wiener Universitätsgeschichte Anna von Tirol und der Orden der Kapuziner Paganini – Der »Teufelsgeiger« in Wien Karoline von Perin und die Frauen der Revolution 1848 Baron Rothschild und die Anfänge des Wiener Fußballs »Sodom und Gomorrha« auf dem Laaer Berg Die Weiße Rose von Wien – ein Gymnasiast gegen Adolf Hitler und vieles mehr Mit zahlreichen Abbildungen

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Seitenzahl: 364

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Georg Hamann

60 X Wien

wo es Geschichte schrieb

MenschenMächteMomente

Mit 67 Abbildungen

Gefördert von der Stadt Wien Kultur

Der Umwelt zuliebe #ohnefolie

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2022 by Amalthea Signum Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Johanna Uhrmann

Umschlagmotiv: © Sammlung Hubmann/brandstaetter images/picturedesk.com

Karten im Vorsatz: © arbeitsgemeinschaft kartographie

Lektorat: Christine Kanzler

ISBN 978-3-99050-235-8

eISBN 978-3-903441-04-0

Inhalt

Vorwort

1Von Kaiser Probus bis zum Heurigen – Wien und der Wein

19., Probusgasse 14–16

2Das Werden einer Hauptstadt – die große Stadterweiterung unter den Babenbergern

1., Denkmal Heinrich II. Jasomirgott, Schottenstift, Freyung

3Der Heiltumstuhl – Reliquienverehrung im Mittelalter

1., Rotenturmstraße

4Straßennamen der Innenstadt als Fenster in die Vergangenheit

1., Bäckerstraße u. a.

5Ungeheuer, Magie und Teufelswerk – Wiener Sagen und ihre Hintergründe

4., Rechte Wienzeile 1

6Von der Elle zum Meter

1., Stephansdom, Riesentor

7Helene Kottannerin und der Raub der heiligen Stephanskrone

1., Kurrentgasse 2

8Die Siechenhäuser Wiens – Krankenfürsorge im Mittelalter

3., Landstraßer Hauptstraße/Rennweg

9Der »Lateinische Krieg« – ein blutiges Kapitel der Wiener Universitätsgeschichte

1., Akademie der Wissenschaften/Alte Universität, Dr.-Ignaz-Seipel-Platz

10Die Täuferbewegung und das Ende des Balthasar Hubmaier

1., Stubentor

11Anna von Tirol und der Orden der Kapuziner

1., Kapuzinerkloster, Neuer Markt

12Feinde als friedliche Gäste – die osmanischen Gesandten in Wien

2., Praterstraße 7/Taborstraße 6

13Graf Nádasdy und die Magnatenverschwörung

1., Altes Rathaus, Wipplingerstraße

14Kleiderordnungen und Luxusverbote

1., Tuchmacherbrunnen, Tuchlauben

15Der Sturm auf das Haus Oppenheimer

1., Freisingergasse 6

16Jacob Bock und der »Lakaientumult«

1., Naglergasse

17Stadtguardia und Rumorwache – die Anfänge der Wiener Polizei

1., Petersplatz

18Der Schädel der heiligen Elisabeth und der Orden der Elisabethinen

3., Elisabethinen, Landstraßer Hauptstraße 4

19Das weiße Gold – Claudius du Paquier und die Gründung der Wiener Porzellanmanufaktur

9., Porzellangasse 51

20Graf und Gräfin Althann – in der Gunst des Kaisers

4., Favoritenstraße 38–40

21Antonio Vivaldis letzte Reise

9., Vivaldi-Denkmal, Rooseveltplatz

22Der »Goldmacher« von Rodaun und andere Alchemisten

23., Ketzergasse 372

23Die frühen Jahre des Joseph Haydn

1., Großes Michaelerhaus, Kohlmarkt 11

24Fiaker, Sessel, Lehenwagen – die Vorläufer der Wiener Verkehrsbetriebe

1., Dorotheergasse

25Hausschilder und Hauszeichen erzählen Geschichte

4., Wien Museum, Karlsplatz

26Die ersten Pockenimpfungen – eine Erfolgsgeschichte

3., Rennweg

27Die Karriere des Johann Thomas Trattner

1., Graben/Trattnerhof

28Die süße Seite Wiens

1., Innerer Burghof, Zuckerbäckerstiege

29Der »Hanswurst-Streit«

6., Mollardgasse 30

30Emanuel Schikaneders Aufstieg und Fall

8., Florianigasse 10

31Jakob Degen – der Erfinder, der in den Himmel stieg

14., Technisches Museum, Mariahilfer Straße 212

32Feuerwerke zwischen Barock und Biedermeier

2., Stuwerstraße

33Wien »à la Giraffe«

13., Tiergarten Schönbrunn

34Paganini – der »Teufelsgeiger« in Wien

1., Hofburg, Redoutensäle, Josefsplatz

35Die Cholera – Seuchenbekämpfung anno 1831

19., Cholerakreuz, Sievering

36Die griechischen Kaufleute Wiens und die Freiherren von Sina

1., Hoher Markt 8

37Der Künstlerbund der Nazarener – »Theologen« mit dem Pinsel

2., Johannes-Nepomuk-Kirche, Praterstraße

38Karoline von Perin und die Frauen der Revolution 1848

1., Volksgarten-Kaffeehaus

39Albert Lortzings Wiener Jahre

4., Wiedner Hauptstraße 50

40Heinrich Laube und das »Theater-Duell«

1., Ronacher, Seilerstätte

41Die orthodoxe Schiffschul und der »Kultusstreit«

2., Große Schiffgasse 8

42Hermann Stellmacher und Anton Kammerer – Anarchisten vor Gericht

2., Kriminalmuseum, Große Sperlgasse 24

43Der »Kassenbaron« Franz von Wertheim

1., Palais Wertheim, Schwarzenbergplatz

44Jaromir von Mundy und die Gründung der Wiener Rettungsgesellschaft

3., Radetzkystraße 1

45Erzherzog Otto, Kronprinz Rudolf und die Affäre Pernerstorfer

18., Anton-Frank-Gasse 20

46Oskar Marmorek – Architekt und Zionist

2., Nestroyhof, Praterstraße 34

47Sigmund Friedl und der »Zinnoberrote Merkur«

1., Plankengasse 1

48Baron Rothschild und die Anfänge des Wiener Fußballs

19., Hohe Warte

49Die Wiener Unterwelt – Sozialreportagen um 1900

1., Urania

50Friedrich Julius Bieber und der letzte Gottkönig von Kaffa

13., Bezirksmuseum Hietzing, Am Platz 2

51Auguste Rodin und die Büste Gustav Mahlers

1., Staatsoper, Schwindfoyer

52Bertha von Suttner und Heinrich Lammasch – zwei gegensätzliche Kämpfer für den Frieden

1., Universität, Arkadenhof

53Der Deutsche Orden und das Wiener Hausregiment – die »Hoch- und Deutschmeister«

1., Deutschmeister-Denkmal, Deutschmeisterplatz

54Der lange Weg zur letzten Ruhe – ein Bourbonenkönig in der Karmeliterkirche

19., Karmeliterkirche, Silbergasse 35

55Clemens von Pirquet, der verhinderte Nobelpreisträger

22., Hirschstettner Straße 91

56Der Kampf um die Feuerbestattung

11., Feuerhalle Simmering, Simmeringer Hauptstraße 337

57»Sodom und Gomorrha« auf dem Laaer Berg

10., Filmteichstraße, Oberlaa

58Rosa Mayreder und die Wiener Frauenakademie

12., Schloss Hetzendorf, Hetzendorfer Straße 79

59Das Lessing-Denkmal im Wandel der Zeit

1., Judenplatz

60Die Weiße Rose von Wien – ein Gymnasiast gegen Adolf Hitler

3., Gymnasium Kundmanngasse, Kundmanngasse 20–22

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Namenregister

Vorwort

Im Jahr 2016 erschien mein Buch 50 x Wien, wo es Geschichte schrieb. Das Konzept war denkbar einfach: 50 Orte der Stadt dienten als »Aufhänger« für Geschichten, die nicht in jedem Touristenführer erwähnt werden und somit eher unbekannte Aspekte der Wiener Stadthistorie abdeckten. Angesichts der überreichen Fülle, die sich anbot, fiel die Auswahl freilich schwer. Es gab einfach so vieles, das wert gewesen wäre, erzählt zu werden. Als der Amalthea Verlag mir vorschlug, einen Folgeband mit 60 neuen Geschichten zu verfassen, nahm ich daher gerne an.

Das Konzept bleibt unverändert: Ein Gebäude, ein Straßenname, ein Denkmal oder ein Exponat in einem Museum – vieles eignet sich als Ausgangspunkt für die erzählten Geschichten. Dabei wird ein möglichst weiter chronologischer Bogen gespannt, von der römischen Spätantike bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Auch thematisch ist dieses Buch um Vielfalt bemüht, die Palette der Themen ist breit gefächert. Das Spektrum reicht von Alltags- und Sozialgeschichte über Theater- und Musikgeschichte bis hin zu biografischen Miniaturen, die den Werdegang bedeutender Persönlichkeiten schildern, deren Namen heute oft – zu Unrecht – nicht mehr geläufig sind. Über mittelalterliche Siechenhäuser wird berichtet und über einst bedeutende Wirtschaftseinrichtungen wie Wiens erste Porzellanmanufaktur, über fromme Kaiserinnen und anarchistische Terroristen ebenso wie über Straßenkämpfe in der Barockzeit und Österreichs berühmteste Briefmarke.

Die meisten der 60 Kapitel sind zur Gänze in Wien angesiedelt, manche führen uns zuweilen auch weit jenseits der Stadtgrenzen, auf die ungarische Plintenburg etwa, in die Täufergemeinden Mährens, in Auguste Rodins Pariser Atelier oder gar ins Abessinische Hochland. Zur Orientierung findet sich am Anfang und am Ende des Buches eine Wien-Karte mit den entsprechenden Kapitelnummern.

»Pflanzung der Weinreben durch Kaiser Probus«. Kelten und Römer legten die Basis zum Weinbau, der Wiens Wirtschaft jahrhundertelang prägte.

1Von Kaiser Probus bis zum Heurigen – Wien und der Wein

19., Probusgasse 14–16

Zwar verfügen wir heute nur über verhältnismäßig wenige verlässliche Quellen über seine kurze Regierungszeit, dennoch ist Kaiser Marcus Aurelius Probus nördlich der Alpen immer noch ziemlich populär. Man errichtete ihm zu Ehren Denkmäler, benannte Straßen und Lokale nach ihm, und sowohl deutsche Volkslieder (Der Römeradler hielt den Rhein) als auch Wiener Heurigenlieder (Es steht ein alter Nussbaum …) nehmen auf ihn Bezug. Stets wird sein Name mit dem Wein in Verbindung gebracht. Probus sei es nämlich gewesen, so hieß es, der den Weinbau in den äußeren Provinzen des Römischen Reiches einführte.

Hier muss man allerdings präzisieren: Schon lange bevor die Römer ihre Herrschaft bis an die Donau vorschoben, wurde dort von den Kelten Wein kultiviert. Kaiser Domitian suchte im ausgehenden 1. Jahrhundert n. Chr. aber nach Möglichkeiten, die Exportwirtschaft des italischen Mutterlandes zu stützen und verbot daher den Anbau. Der Wein, den man ab nun in Provinzen wie Noricum oder Pannonien trank, musste mühsam über die Alpen herangeschafft werden. Es muss sich um große Mengen gehandelt haben, bedenkt man, dass den hier stationierten Legionären täglich ein gewisses Quantum zustand. Kaiser Probus war es nun, der dieses Anbauverbot im späten 3. Jahrhundert wieder aufhob und gleichzeitig edle Weinreben aus Italien im Donauraum anpflanzen ließ.

Überhaupt war er, der einst in vielen Schlachten erprobte Feldherr, während seiner Regierungszeit als Friedensfreund bekannt, der sich vor allem um die Kultivierung bislang vernachlässigter Landschaften bemühte. Seine Legionäre wurden zunehmend für zivile Aufgaben abkommandiert, mussten Sümpfe trockenlegen, Flüsse regulieren, Straßen, Brücken und Tempel errichten, ja man spekulierte, Probus denke sogar an die Abschaffung des stehenden Heeres. Die Soldaten, die ihn einst zum Kaiser ausgerufen hatten, wurden dieser Arbeiten schließlich überdrüssig, meuterten und töteten Probus im Jahr 282.

Wie es um den Weinbau nach dem Abzug der Römer, zur Zeit der Völkerwanderung, bestellt war, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen, dazu fehlen verlässliche Quellen. Durch die bayerisch-fränkische Kolonisation im 8. und 9. Jahrhundert dürfte er aber wieder eine wichtige Rolle gespielt haben und wurde unter den Babenbergern bald ein unverzichtbarer Zweig der Wirtschaft im Wiener Raum. Die Bedeutung ihrer neuen Residenz stieg im Hochmittelalter rasant – immerhin lag Wien am Kreuzungspunkt wichtiger Verkehrsrouten, und wo Menschen zusammentrafen, wuchs der Bedarf an Herbergen und Gaststätten. Bis nahe an die Stadtmauern zogen sich die Weinberge hin und bedeckten somit auch Teile der heutigen inneren Bezirke.

Der überregionale Weinhandel entwickelte sich zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige Wiens und sollte es bis weit in die Barockzeit bleiben. Der Export nach Böhmen, Polen oder gar Russland versprach guten Gewinn und fast alle, ob Bauern oder Bürger, Klöster oder Adel, besaßen im späten Mittelalter Weinberge im Umland. Um das Jahr 1400 produzierte man rund um Wien die gewaltige Menge von 100 000 bis 140 000 Hektolitern pro Jahr (zum Vergleich: 2020 waren es rund 25 000 Hektoliter). Angesichts solcher Dimensionen blickte man verständlicherweise stets ängstlich in den Himmel, denn dauerhaft schlechte Witterung oder heftige Hagelschauer konnten existenzbedrohend für einen großen Teil der Bevölkerung werden. Auch trachtete man danach, Konkurrenz aus dem Ausland möglichst zu unterbinden. Es war insbesondere der Wein aus Ungarn, den man fernhalten wollte und dessen Einfuhr deshalb bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts verboten war (und selbst danach noch mit hohem Zoll belegt). Nur in Ausnahmefällen – bei wohlhabenden Familien und am landesfürstlichen Hof – kredenzte man auswärtigen Wein, etwa aus Südtirol oder Italien. In Wien gab es mit der Stadttaverne zwischen Bäckerstraße und Sonnenfelsgasse nur eine einzige privilegierte Gaststätte, die solche importierten, »welschen« Produkte zu entsprechenden Preisen ausschenken durfte.

Der heimische Wein war hingegen eine Art Grundnahrungsmittel. Berechnungen zufolge lag der tägliche Pro-Kopf-Verbrauch bei 1,3 Litern – zweifellos eine große Menge, doch war der Genuss von Wein in einer mittelalterlichen Stadt sicherlich gesünder als das Trinken von Wasser aus den oft keimverseuchten Hausbrunnen. Auch war der Alkoholgehalt in früheren Zeiten weit niedriger als heute; überhaupt ähnelte der Wein nur bedingt dem, den wir heute kennen. Er dürfte viel mehr Säure enthalten haben, weshalb man ihn kräftig mit Honig, Safran, Kräutern oder Ähnlichem vermischte, ebenso wie man Speisen, je nach seinen finanziellen Möglichkeiten, gerne kräftig würzte.

Außer den von Klöstern betriebenen Gastkellern gab es in der Stadt unzählige Trinkstuben – immerhin besaßen alle Bürger Wiens grundsätzlich das Recht des »Leitgebens«, also eine Schanklizenz. Ausdrücklich hieß es in der 1403 erlassenen Verordnung: »es sol jedermann in sein selbs haus schenken und sol nicht mer darauf geben als prat und zvival und schleich.« Zum Wein durfte man demnach nichts anderes servieren als Brot, Zwiebel und Knoblauch. Der Grund: Die Trinkstuben sollten den Wirtshäusern keine Konkurrenz machen. Schon damals war es üblich, mit Tannenreisig »auszustecken«, also die potenzielle Kundschaft auf seine Ausschank aufmerksam zu machen (hier liegen die Ursprünge des Heurigen, nicht erst in der Zeit Kaiser Josephs II.). Neben diesen erlaubten Lokalen gab es freilich auch die illegalen »Winkeltavernen«, in denen sich oft zwielichtige Kundschaft aufhielt und die zum Ärger der Konkurrenz keine Steuern abführten.

Die große Zeit des Wiener Weinbaus dauerte bis um 1700, danach nahmen sowohl Anbau als auch Konsum kontinuierlich ab. Damals, als die direkte Bedrohung durch die Osmanen endgültig vorbei war, entstanden außerhalb der Stadtmauern all die prächtigen Sommerpalais des Adels mit ihren großzügig angelegten Gärten. Die Weinberge schwanden dementsprechend, auch weil man mehr Ackerflächen für die immer weiter anwachsende Stadt benötigte. Weiters trat jetzt vermehrt ein Getränk als Konkurrent auf, das bislang eine eindeutig untergeordnete Rolle gespielt hatte: das Bier. Je besser und somit teurer der Wein wurde, desto mehr stellte es vor allem für ärmere Gesellschaftsschichten eine Alternative dar. Um 1730 betrug der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch noch 160 Liter Wein und 65 Liter Bier, im Jahr 1780 war das Verhältnis 140 : 127, und im 19. Jahrhundert löste das Bier endgültig den Wein als Hauptgetränk der einfachen Bevölkerung ab.

Zu jener Zeit galten bereits die von Kaiser Joseph II. in den frühen 1780er-Jahren erlassenen Regeln: Er gestattete »jedermann die Freyheit, die von ihm selbst erzeugten Lebensmittel, Wein und Obstmost, zu allen Zeiten des Jahrs, wie, wann und in welchem Preise er will, zu verkaufen oder auszuschenken«. Das galt für alle Kronländer der Monarchie und bildete die rechtliche Grundlage der Heurigen und Buschenschanken, wie wir sie heute kennen.

So wie es heute beim Schloss Schönbrunn einen Heurigen mit dem Namen »Joseph II.« gibt, erinnert in Heiligenstadt, einem der alten Weinorte Döblings, seit 1894 die Probusgasse an den eingangs erwähnten Kaiser. Das in den späten 1950ern erbaute Haus Nummer 14–16 ist mit einem Mosaik geschmückt, das neben Romulus und Remus mit der Wölfin auch Probus zeigt – ihm zu Füßen steht eine Amphore und in Händen hält er eine Weintraube.

2Das Werden einer Hauptstadt – die große Stadterweiterung unter den Babenbergern

1., Denkmal Heinrich II. Jasomirgott, Schottenstift, Freyung

Ist von der Stadterweiterung Wiens die Rede, denken wir zuerst an das 19. Jahrhundert, als man auf Befehl Kaiser Franz Josephs die alten Basteien, Mauern und Tore abtrug, um an ihrer Stelle den prächtigen Boulevard der Ringstraße anzulegen. Wien wurde nun mit den alten Vorstädten vereinigt und entwickelte sich zur modernen europäischen Metropole. So bedeutsam dieser Schritt auch war, es gab bereits lange zuvor eine erste große Erweiterung Wiens, die – für damalige Verhältnisse – noch viel bedeutendere Veränderungen mit sich brachte. Durch sie setzte im 12. Jahrhundert, in der Regierungszeit der Babenberger-Herzöge, die eigentliche Stadtwerdung erst ein.

Bis dahin bestand Wien bloß aus einer wehrhaften Siedlung auf dem Areal des einstigen römischen Kastells Vindobona, machte also nur einen kleinen Teil des heutigen 1. Bezirks aus. Umschlossen war sie von einer Mauer, die in etwa den heutigen Straßenzügen Graben, Naglergasse, Tiefer Graben, Salzgries und Rotenturmstraße folgte. Innerhalb dieser Umfriedung fanden sich um 1100 bereits zwei Marktplätze und zwei Kirchen (St. Peter und St. Ruprecht), und außerhalb gab es einige durch Zäune und Gräben geschützte »Vororte«, wie etwa im Bereich zwischen Bäckerstraße und Sonnenfelsgasse oder rund um die alte Michaeler-kirche. Aus dieser doch noch sehr überschaubaren Siedlung machten die Babenberger in den kommenden Jahrzehnten eine echte Stadt, die ihre erste große Blütezeit erlebte, ja in die erste Riege des Heiligen Römischen Reiches aufstieg.

Den Anfang machte Heinrich II. Jasomirgott, der 1156 durch das berühmte »Privilegium minus« zum ersten Herzog Österreichs aufstieg. Statt Klosterneuburg, der alten Residenz, erkor er Wien zu seiner neuen Hauptstadt. Am Hof ließ er seinen Herzogssitz errichten, ganz in der Nähe zu jenem Benediktinerkloster, das er kurz zuvor gegründet hatte, dem Schottenstift. Dieses älteste (und seither durchgehend bestehende) Kloster Wiens wurde rasch zur Keimzelle eines neuen Viertels mit Wohnhäusern, Wirtschaftshöfen und Stallungen. Allerdings befand es sich damals noch außerhalb der alten Mauern, so wie auch jenes Viertel, das sich zur gleichen Zeit auf der anderen, der östlichen Seite Wiens entwickelte. Dort war 1147 eine kleine romanische Kirche geweiht worden, St. Stephan, der spätere Dom.

Die Residenzstadt der Babenberger Mitte des 12. Jahrhunderts. Schottenstift und St. Stephan wurden später durch die neue Stadtmauer umschlossen.

Je dichter das Areal in und um Wien verbaut wurde, desto dringender wurde die Notwendigkeit einer neuen Stadtmauer, hinter der alle Bürger ein geschütztes Leben führen konnten. Ab den 1180er-Jahren begann man, dieses Großbauprojekt durchzuführen. Die alte Mauer riss man nieder und füllte gleichzeitig auch den davor liegenden Graben auf, der seit römischen Zeiten bestanden hatte. Weit außerhalb zog man jetzt einen neuen Befestigungsgürtel um die Stadt: Dort, wo sich heute die Ringstraße befindet, umschloss er Wien, dessen Fläche sich somit auf einen Schlag fast verfünffachte.

Dass all die dafür notwendigen Arbeiten viel Geld verschlangen, liegt auf der Hand, doch Heinrich Jasomirgotts Sohn, Leopold V., sorgte dafür, dass die Kassen gut gefüllt waren. Das Lösegeld für den englischen König Richard Löwenherz, das er sich mit dem Kaiser teilen durfte, betrug nicht weniger als 100 000 Mark, das hieß, Leopold erhielt über elf Tonnen Silber! Höchstwahrscheinlich ging damit auch die Gründung der Wiener Münzstätte einher, wo ab nun der »Wiener Pfennig« geprägt wurde, der zur Leitwährung des Herzogtums Österreich wurde.

Die neue Ringmauer hatte eine Länge von dreieinhalb Kilometern, verfügte über sieben Tore sowie 19 Türme, nutzte aber freilich nur dann etwas, wenn sie auch bewacht und verteidigt werden konnte. Das Gebiet der nunmehr vergrößerten Stadt teilte man daher in vier Viertel ein und verpflichtete deren Bewohner für den Notfall zum Waffendienst in ihrem jeweiligen Abschnitt. Erst ab dem 15. Jahrhundert wurde diese Aufgabe an Spezialisten, also an Söldner, ausgelagert.

Auch nach 1200 ging der musterhafte Ausbau der Stadt weiter, unter der Regierung Herzog Leopolds VI. So wie sein Vater und sein Großvater zeigte er sich Wien stets eng verbunden und führte konsequent fort, was diese begonnen hatten. Letzte Arbeiten an der neuen Befestigung wurden abgeschlossen und gleichzeitig wichtige Impulse für das Wirtschaftsleben gegeben, das sich damals rasant entwickelte. Leopold förderte gezielt die Zünfte, immer mehr traten nun die Handwerker als selbstbewusste Bürger auf. Besonderes Augenmerk legte man auch auf den Handel, das Rückgrat einer funktionierenden, florierenden mittelalterlichen Gemeinde.

Während man die beiden kleinen alten Marktplätze sukzessive verbaute, legte man planmäßig neue an. An erster Stelle ist hier der Hohe Markt zu nennen, der Jahrhunderte hindurch der wichtigste und größte der Stadt bleiben sollte (das Gerichtsgebäude, die »Schranne«, errichtete man hier allerdings erst später). Die Nähe zum stadtnahen südlichen Donauarm, wo die Handelswaren aus dem Westen angeliefert wurden, gab ihm zusätzliche Bedeutung. Hier war auch der Fischmarkt angesiedelt, den es zwar – ebenso wie den einst dazugehörenden großen Brunnen – längst nicht mehr gibt, an den aber das kleine Gässchen mit dem Namen »Fischhof« noch erinnert. Wenig später entstand auf bislang unverbautem Areal der Neue Markt, auch er sehr verkehrsgünstig gelegen, an jener Strecke, die in Richtung Süden führte, der Kärntner Straße. Deren Wichtigkeit stieg enorm durch die Tatsache, dass mittlerweile (seit 1192) die im Süden liegende Steiermark ebenfalls zum Herrschaftsgebiet der Babenberger gehörte.

Im Wirtschaftsleben spielten auch die zahlreichen Niederlassungen von Klöstern eine große Rolle, die nicht nur als eine Art diplomatischer Vertretungen in Wien fungierten, sondern wo man auch deren landwirtschaftliche Produkte feilbot, allem voran Wein. Der Hof des von den Babenbergern gegründeten Stifts Heiligenkreuz entstand um 1200 und existiert noch heute (wenngleich im Barock komplett umgebaut). Aus jener Zeit stammte der große Freisingerhof am Graben, der aber im 18. Jahrhundert abgerissen wurde. Auch die Höfe von Göttweig, Melk, Zwettl und anderen Klöstern sind nicht mehr erhalten.

Unter den Babenbergern erlebte aber auch Wien selbst eine wahre »Klosteroffensive«. In die anwachsende Stadt zogen etwa die Dominikaner sowie der damals ganz neue Bettelorden der Minoriten. Leopold VI. hatte sich persönlich an deren Gründer Franz von Assisi mit der Bitte gewandt, einige seiner »minderen Brüder« nach Wien zu senden, wo ihnen nahe der neuen Stadtmauer ein (bis heute bestehendes) Kloster gestiftet wurde.

Mit seinem Plan, St. Stephan zum Sitz eines eigenen Bistums zu machen, hatte Herzog Leopold allerdings keinen Erfolg, denn der Widerstand des Passauer Bischofs, der auf seinen Einfluss im Wiener Raum nicht verzichten wollte, war zu groß. Mit der Verleihung des Stadtrechts von 1221 aber schuf Leopold einen wahren Meilenstein in der Wiener Geschichte. In diesem Dokument war nämlich das »Stapelrecht« enthalten, das den eigentlichen Aufstieg der Wiener Kaufmannschaft begründete. Hatten bislang Handelsherren aus Regensburg, Passau oder Schwaben die hiesige Wirtschaft dominiert, so wurde den Wienern nun das höchst einträgliche Monopol für den Zwischenhandel (speziell mit Ungarn) garantiert.

In wenigen Jahrzehnten hatten die Babenberger-Herzöge also Gewaltiges für die Entwicklung Wiens verwirklicht. Sichtbare Zeugnisse ihrer Tätigkeit sind jedoch kaum vorhanden, denn ihre Residenz am Hof steht nicht mehr, ebenso wenig wie die alte Stadtmauer. Das Denkmal für Herzog Heinrich Jasomirgott an der Schottenkirche erinnert allerdings an jene Zeit, in der Wien zur Hauptstadt Österreichs wurde.

3Der Heiltumstuhl – Reliquienverehrung im Mittelalter

1., Rotenturmstraße

Gemessen daran, was die spanischen Habsburger im Laufe der Zeit zusammentrugen, nahmen sich die Hunderten Wiener Reliquien geradezu bescheiden aus. König Philipp II. hatte im Escorial nicht weniger als 9000 untergebracht, darunter Arm- und Beinknochen, Zähne, Haarlocken und Fingernägel, über 100 Schädel, mehrere Wirbelsäulen sowie sechs vollständige Skelette von Heiligen. Auch wenn diese Reliquienverehrung heute vor allem viele Nichtkatholiken als unverständliches, makabres Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten anmutet, sollte man sie dennoch nicht vorschnell als abergläubischen »Kram« abtun (wie Luther es getan hatte): Die Beschäftigung mit Reliquien ermöglicht einen hochinteressanten Blick in unsere Kulturgeschichte.

Natürlich: Mit aufklärerischer Logik allein kommt man auf diesem Feld nicht weit. Dass die »heilige Vorhaut« Christi im Mittelalter gleich mehrfach auftauchte und verehrt wurde und auch dessen vermeintliche Nabelschnur und seine Milchzähne in Kirchen zu sehen waren, löst verständlicherweise skeptisches Kopfschütteln aus – selbst der Vatikan erklärte solche »Reliquien« für unseriös und unecht. Auf eine plausible Erklärung kam es aber gar nicht an, ihre Bedeutung erwuchs vielmehr einzig und allein aus dem Glauben. In einer Welt, in der man sich von Krieg und Hunger, Krankheiten, Überschwemmungen und nicht zuletzt vom stets präsenten Teufel bedroht sah, suchte man Trost und Hoffnung, und alles, was einen die Gegenwart Gottes spüren ließ, war höchst willkommen. Heiliggesprochene Männer und Frauen, so die mittelalterliche Denkart, waren zu ihren Lebzeiten gleichsam Werkzeuge Gottes gewesen. Die körperliche Nähe zu Heiligen brachte die Gläubigen somit ebenfalls näher an Gott heran, und selbst deren Überreste schufen noch eine sichtbare, »begreifbare« Verbindung zur himmlischen Sphäre. Jedes noch so kleine Fingerknöchelchen hatte das Potenzial, zur Kraftquelle der Lebenden zu werden.

Besonders hoch im Kurs stand naturgemäß alles, was einst in direkten Kontakt zu Jesus Christus gekommen war (oder gekommen sein soll): So werden etwa in Aachen seine Windeln aufbewahrt, in Paris die Dornenkrone, in Prüm seine Sandalen und in Wien die weltberühmte Heilige Lanze. Solche Objekte stellten einen enormen Wert dar, sowohl in spirituellem als auch in ganz profanem Sinn. Die immer aufwendiger und kostbarer gestalteten Reliquiare aus Gold, Silber, Kristall, häufig über und über mit Edelsteinen besetzt, standen in Kontrast zu ihrem Inhalt, oft kleinen, wenig ansehnlichen Knochen oder auch nur Knochensplittern.

Für Fürsten und Monarchen des Mittelalters steigerte der Besitz einer möglichst großen Zahl an Reliquien ihr Prestige und verlieh ihnen, den Herrschern »von Gottes Gnaden«, zusätzliche Legitimität. Neben dem eingangs erwähnten Philipp II. von Spanien gab es auch in Österreich berühmte Reliquiensammler, wie etwa Herzog Rudolf IV. (»der Stifter«). Nicht zuletzt war der Handel mit Reliquien ein einträgliches Geschäft. Streng genommen verbot die Kirche zwar deren Verkauf (nur das Verschenken war offiziell gestattet), dennoch verdienten spezialisierte Händler hervorragend damit. Oft waren es schlicht Grabräuber, die in Grüfte einbrachen, um Knochen zu plündern. Besonders nach der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204 überschwemmten die aus den dortigen Kirchen geraubten Reliquien Europa. Wer so etwas verwerflich fand, bekam von den Dieben eine schlichte Antwort: Hätten die toten Heiligen etwas dagegen gehabt, ihren Gräbern entrissen zu werden, dann hätten sie sich schon bemerkbar gemacht.

Während die Reliquiensammlung der österreichischen Herzöge in der Burgkapelle (später in der Schatzkammer der Hofburg) aufbewahrt wurde, verfügte auch St. Stephan über eine ansehnliche Zahl an »Heiltümern«. Diese bildeten gemeinsam mit wertvollen Monstranzen, Kelchen und goldbestickten liturgischen Gewändern den Kirchenschatz. Dieser sollte freilich nicht versteckt von der Öffentlichkeit existieren, im Gegenteil: So wie es in vielen anderen Städten des Heiligen Römischen Reiches üblich war, beschloss man, einmal im Jahr sämtliche Reliquien den frommen Schaulustigen zu präsentieren. Während man anderswo mit hölzernen Tribünen vorliebnahm, die man bald wieder abbauen konnte, verfügte Wien sogar über ein eigenes, gemauertes Gebäude, das einzig zu diesem Zweck errichtet wurde. Zwischen 1483 und 1485 erbaute man diesen »Heiltumstuhl« ungefähr dort, wo die Rotenturmstraße in den Stephansplatz mündet. Auf zeitgenössischen Abbildungen ist er gut zu erkennen: ein großer Torbogen mit aufgesetztem ersten Stock und einer Reihe offener, spitzbögiger Arkaden. Hier fand nun alljährlich die »Heiltumsweisung« statt, eingebunden in ein großes Volksfest.

Der große Tag war mit dem ersten Sonntag nach Ostern festgelegt: In der Stephanskirche, die erst kurz zuvor (1469) zum Dom des Wiener Bistums geworden war, zelebrierte man zunächst eine Festmesse in Anwesenheit des Landesherrn, des Adels, des Bischofs und vieler anderer geistlicher und weltlicher Würdenträger. Anschließend trug man die im Dom aufbewahrten Reliquien in feierlicher Prozession durch das Riesentor hinaus zum Heiltumstuhl. Vor diesem wartete bereits die Menschenmenge. Abertausende kamen an einem solchen Tag zusammen, viele waren eigens von weit her angereist, um die Präsentation der Reliquien miterleben zu können – immerhin versprach die Kirche dafür den Ablass von Sünden. Jetzt trat ein Priester an eines der offenen Fenster und hielt jedes einzelne Objekt gut sichtbar in die Höhe. Neben ihm stand ein weiterer, der über eine besonders laute Stimme verfügen musste, der sogenannte Vocalissimus. Seine Aufgabe war es, die Zuschauer darüber zu informieren, welche Reliquie sie gerade zu sehen bekamen. Unter dem Absingen geistlicher Lieder brachte man danach alles wieder in den Dom, um es sicher für das kommende Jahr zu verwahren.

Auch zu Weihnachten spielte der Heiltumstuhl eine Rolle, genauer gesagt, frühmorgens nach der Christmette. Da wurde der »Wolfssegen« erteilt, indem der Priester den Anfang des Matthäus-Evangeliums sang (»Stammbaum Christi«). Diesen Worten schrieb man eine abschreckende Wirkung auf Wölfe zu, die in harten Wintern bis an den Rand der Stadt vordrangen und die Menschen in Unruhe versetzten.

Der Heiltumstuhl, von dessen Fenstern alljährlich der Reliquienschatz von St. Stephan öffentlich präsentiert wurde

Bis in die 1520er-Jahre hielt die große Bedeutung des Heiltumstuhls an, so lange, bis ein großer Teil des Domschatzes während der Türkenkriege eingeschmolzen wurde. Mit den Tausenden Goldgulden, die man dadurch lukrierte, finanzierte man die Bevorratung der Stadt während der Ersten Türkenbelagerung sowie die Verstärkung der Stadtmauern. Gleichzeitig begann das Zeitalter der Reformation, die auch in Wien auf fruchtbaren Boden fiel und den einst blühenden Reliquienkult zurückdrängte. Den Heiltumstuhl verwendete man nun für andere Zwecke, bis er als überflüssig gewordenes Verkehrshindernis vermutlich im Jahr 1699 abgerissen wurde.

So wie die Geistliche Schatzkammer der Hofburg verfügt auch der Stephansdom heute noch über eine große Zahl sehenswerter Reliquien. Seit über 100 Jahren werden sie in der einstigen Valentinskapelle aufbewahrt, darunter ein Teil des Tischtuchs vom Letzten Abendmahl – sofern man daran glaubt.

4Straßennamen der Innenstadt als Fenster in die Vergangenheit

1., Bäckerstraße u. a.

Keine Straße, kein Platz, keine noch so kleine Gasse des Mittelalters ist unverändert erhalten geblieben. Die meisten Häuser wurden im Laufe der Jahrhunderte abgerissen, brannten nieder, wichen Neubauten aus Renaissance, Barock oder Gründerzeit, und mit ihnen verschwanden auch Stadttore, Kirchen und Klöster, die einst das Bild der Stadt prägten. Die Namen jener Straßen sind aber erhalten geblieben. Durch sie wird an das Vergangene erinnert, an Häuser, die nicht mehr stehen, an Menschen, die darin wohnten, an Berufe, die längst ausgestorben sind. Sie konservieren somit ein Stückchen der Wiener Kulturgeschichte und fungieren gewissermaßen als Fenster in die Vergangenheit.

Verkehrsflächen zu benennen war spätestens seit dem Hochmittelalter üblich. Noch waren es keine offiziellen, amtlichen Bezeichnungen, sondern sie spiegelten bloß den alltäglichen Sprachgebrauch der Bevölkerung wider. Dementsprechend bezogen sie sich meist auf markante Gebäude oder spezielle Berufsgruppen, die es eben nur (oder hauptsächlich) dort gab. Bei einem Spaziergang durch die Innere Stadt lässt sich also unschwer herausfinden, wo Bäcker, Goldschmiede, Bogner, Riemer, Färber, Seiler, Hafner und Essighändler ihre Betriebe hatten, gaben sie doch alle den entsprechenden Adressen ihren Namen. Diese Liste ließe sich noch länger fortsetzen, und in früheren Jahrhunderten gab es sogar noch viel mehr Berufe, nach denen Verkehrsflächen benannt waren. Manchmal muss man allerdings die Fantasie anstrengen, um sie zu identifizieren, denn manche Begriffe wurden im Laufe der Zeit stark verballhornt. Die Wipplingerstraße etwa hieß ursprünglich Wildwerkerstraße, nach den hier ansässigen Kürschnern, die Schultergasse nach den Schiltern (den Schildermalern, s. Kapitel 25) und im Haarhof boten die Händler von Flachs (Haar genannt) ihre Ware an.

Dass zahlreiche Gassen und Plätze nach den heute noch dort stehenden Kirchen und Klöstern benannt sind, überrascht nicht, doch verbergen sich hinter manchen Adressen auch solche, die es längst nicht mehr gibt. Die Reformen Kaiser Josephs II. gingen an Wien nicht spurlos vorüber, zahlreiche Klöster wurden damals aufgelöst. Namen wie Laurenzerberg, Dorotheergasse, Jakobergasse oder Nikolaigasse blieben jedoch erhalten und verweisen bis heute auf sie, beziehungsweise auf jene Heiligen, denen sie geweiht waren. An dieser Stelle sei die Himmelpfortgasse erwähnt, in der sich bis in die josephinische Zeit das Chorfrauenkloster »Zur Maria, der Himmelspförtnerin« befand.

Eine zum Glück noch bestehende Kirche ist Maria am Gestade. Sie hieß ursprünglich »Maria auf der Gstetten«, was sich auf die Böschung bezog, die sich von dort hinunter zum südlichen Donauarm, dem heutigen Donaukanal, der früher viel näher an der Stadt vorbeifloss, erstreckte. Der Terrainunterschied ist auch heute noch deutlich zu erkennen, und steigt man die Fischerstiege (ein weiterer Hinweis auf das einst nahe Wasser) hinab, gelangt man zum Salzgries. Gries ist ein altes Wort für den grobkörnigen Sand des Donauufers, wo die Salzschiffer ihre Fracht abluden und ins Salzamt bei der Ruprechtskirche brachten. Die nahe Salzgasse und die Salztorbrücke erinnern ebenfalls noch an dieses wichtige Handelsgut.

Wasserläufe bestimmten in früheren Zeiten auch an anderen Stellen das Aussehen der Stadt. Bis ins 15. Jahrhundert floss der Ottakringer Bach offen durch Wien, bevor er hinter dem Tiefen Graben in die Donau mündete. An seinem Ufer wuchs Buschwerk, das der Strauchgasse ihren Namen gab. Am anderen Ende des 1. Bezirks ist heute noch die Adresse An der Hülben zu finden, ein Hinweis auf den dortigen Wasserreichtum: Als Hülben bezeichnete man einst Tümpel, das Gelände dürfte also recht sumpfig gewesen sein. Der Auwinkel hingegen hat nichts mit einem Auwald zu tun, obwohl man das aufgrund seiner Nähe zum Donaukanal vermuten könnte. Er hieß spätestens im 16. Jahrhundert Sauwinkel, denn hier stand – in unmittelbarer Nachbarschaft zum Fleischmarkt – das große Schweineschlachthaus.

So wie dieses verschwanden im Laufe der Zeit auch andere profane Gebäude, wenngleich manche weitaus repräsentativer waren: An erster Stelle sei hier der Platz Am Hof genannt, wo sich die Residenz der Babenberger befand, also der herzogliche Hof (die herzogliche Badestube gab wiederum der Neubadgasse den Namen). Auch die Freyung erinnert an die Babenberger und an das Benediktinerkloster, das Herzog Heinrich II. dort stiftete: Es war »frei«, das heißt ausdrücklich von der städtischen Gerichtsbarkeit ausgenommen.

Der Name »Strauchgasse« bezieht sich auf das Buschwerk am Ufer des Ottakringer Baches. Später floss hier der Alsbach zur Donau.

Häufig finden sich Hinweise auf ehemalige Befestigungsbauten. Berühmtestes Beispiel ist der Graben, der vor der ältesten Stadtmauer Wiens lag, die nur die Fläche des römischen Vindobona umschloss. Er wurde um 1200 zwar zugeschüttet, sein Name blieb jedoch erhalten. Auch von den neuzeitlichen Festungswerken ist so gut wie nichts mehr übrig geblieben, fielen sie doch der großen Stadterweiterung und der Anlage der Ringstraße im 19. Jahrhundert zum Opfer. Rotenturmstraße, Werdertor- oder Neutorgasse seien in diesem Zusammenhang ebenso erwähnt wie das Stubentor und die Dominikanerbastei.

In Letztere mündet die Rosenbursenstraße, die uns einen deutlichen Hinweis darauf gibt, dass wir uns hier am Rand des mittelalterlichen Universitätsviertels befinden. Die Studenten lebten in Wohnheimen, den sogenannten Bursen (nach denen man die jungen Männer »Burschen« nannte). Auf ein noch viel bedeutenderes Bauwerk jener Zeit bezieht sich der Schulhof, nämlich auf die Synagoge des benachbarten Judenplatzes, also die »Judenschule«, die 1420 im Zuge der berüchtigten »Geserah« zerstört wurde. Auf diese brutale Vernichtung der mittelalterlichen Judengemeinde, auf die Verbrennung Hunderter Menschen auf den Scheiterhaufen, bezieht sich das spätgotische Relief am Judenplatz 2, das die Taufe Jesu im Jordan gleichsetzt mit der »Reinigung« Wiens von den Juden. Es wurde 1497 vom damaligen Hausbesitzer Jörg Jordan angebracht (nach dem die gleichnamige Gasse um die Ecke benannt ist) und diente somit als »sprechendes«, also auf dessen Namen verweisendes Hauszeichen.

Auf solche Zeichen oder Hausschilder (s. Kapitel 25) gehen viele weitere Straßennamen der Innenstadt zurück, wie zum Beispiel Blumenstock-, Jungfern-, Kleeblatt-, Walfisch- oder Kühfußgasse. Die Parisergasse hat nichts mit der französischen Metropole zu tun, sondern heißt nach einem alten Hausschild, auf dem das Urteil des Paris zu sehen war.

Ob Triest, Linz, Ungarn oder Brünn: Die alten Hauptverkehrsrouten, die in Richtung dieser Destinationen führten, sind heute noch nach ihnen benannt. In der Innenstadt ist die Kärntner Straße das einzige Beispiel. Umgekehrt bezog man sich aber auch auf Personengruppen, die von außerhalb nach Wien zugezogen waren. Die Köllnerhofgasse verweist auf Kölner Kaufleute, die Singerstraße hat nichts mit Sängern zu tun, sondern geht (höchstwahrscheinlich) auf eine Familie zurück, die ursprünglich aus dem oberpfälzischen Städtchen Sünching kam und sich hier ansiedelte. Auch die Wallnerstraße könnte auf Zuwanderer im Mittelalter schließen lassen: »Walche« oder »Welsche«, also Italiener. Ganz sicher kann man sich da allerdings nicht sein, manche Geheimnisse gibt es noch zu entschlüsseln.

Lohnend ist es aber allemal, mit offenen Augen durch die alten Straßen zu gehen und sich zu fragen, welche Geschichten hinter ihren Namen stehen. Dass Letztere an allen Hausecken angebracht sind, geht übrigens auf Kaiser Joseph II. zurück. Ab 1782 wurden auf seine Anordnung die Verkehrsflächen der Stadt und der Vorstädte beschriftet, mit schwarzer Farbe direkt auf die Hausmauer.

5Ungeheuer, Magie und Teufelswerk – Wiener Sagen und ihre Hintergründe

4., Rechte Wienzeile 1

Sagen waren stets mehr als Gutenachtgeschichten für kleine Kinder. Durch sie gelang es in früheren Zeiten, die bedrohliche Welt, in der man lebte, verständlich zu machen. Wenn es keine rationalen Erklärungen für seltsame Phänomene des Alltags gab, so behalf man sich mit Antworten, die in eine andere, überirdische, oft unheimliche Sphäre führten. In dieser waren dunkle Mächte tätig, die die Menschen bedrohten. Das waren Basilisken (s. Kapitel 25), Geister und böse Wassermännlein, der personifizierte Tod oder der Teufel, der besonders häufig in Wiener Sagen auftritt: Konnte er nicht hinter dem plötzlichen Reichtum eines Nachbarn stehen? Hatte er nicht seine Finger im Spiel, wenn der Bau des Nordturms von St. Stephan so zügig voranschritt? Sollte ihm der Baumeister etwa dafür seine Seele verpfändet haben?

Durch ihre deutlichen Warnungen, den Verlockungen des Teufels nachzugeben, bestärkten solche Sagen die Zuhörer darin, ein gottgefälliges Leben zu führen. Auch vermittelten sie den Trost, dass durch Mut, Glauben oder Schlauheit das Böse überwunden werden könne, und wer sich als würdig erwies, durfte auf die Hilfe guter Mächte bauen, seien es Feen, Donauweibchen oder gar die Jungfrau Maria.

All diese Geschichten rund um unerklärliche Geschehnisse übten eine große Faszination auf die Menschen aus. Ab dem 16. Jahrhundert begann man deshalb, die bislang nur mündlich überlieferten Sagen aufzuzeichnen. Neue kamen hinzu, wobei vieles schlichtweg erfunden wurde, also keinen Anspruch erheben durfte, sich auf tatsächliche Begebenheiten des Wiener Mittelalters zu beziehen. Auch wurden Erzählungen aus anderen Ländern einfach auf hiesige Verhältnisse übertragen: Den berühmten Rattenfänger etwa gab es nicht nur im niedersächsischen Hameln, sondern er tauchte auch bald am Wiener Magdalenengrund und in Korneuburg auf, und der Bärenhäuter aus der Grimm’schen Märchensammlung bekam ein Pendant in der Wiener Sagenwelt.

Lohnender als all diese in unzähligen Versionen verbreiteten literarischen Bearbeitungen mit ihren frei erfundenen Ausschmückungen ist es, den jeweiligen Kern der Sagen zu untersuchen, was einen höchst aufschlussreichen Blick in den Volksaberglauben früherer Zeiten erlaubt. Um den »Stock im Eisen« etwa rankt sich eine der bekanntesten Wiener Sagen, die, wie so oft, von einem schlauen Handwerksburschen und dem Teufel erzählt. Sie spielt zwar im Mittelalter, ist aber höchstwahrscheinlich eine Erfindung aus späterer Zeit. Der Kern der Sage, der über und über mit Eisennägeln gespickte Fichtenstamm, stammt jedoch tatsächlich aus dem frühen 15. Jahrhundert. Bis 1832 war es für wandernde Gesellen, insbesondere Schlosser, üblich, hier einen Nagel einzuschlagen, wovon sie sich Glück auf ihrer weiteren Reise versprachen. Sie ließen also freiwillig etwas von geringem Wert zurück und erhofften sich dadurch Gutes für die Zukunft. Diesem uralten abergläubischen Prinzip folgen – mehr oder weniger bewusst – auch heute noch all die Tausenden Menschen, die in die römische Fontana di Trevi oder einen anderen Brunnen eine Münze werfen. Hinzu kommt die magische Kraft, die man früher dem Eisen zuschrieb: Wer einen kleinen Nagel in die Hörner seiner Kühe schlug, versuchte sie damit vor Schadenszauber zu schützen, ein Nagel in der Türschwelle sollte Hexen bannen, und dem Hufeisen, das man an Stall oder Scheune anbrachte, schrieb man die Macht zu, den Teufel fernzuhalten.

Auch anderen Metallen wurden besondere Kräfte zugeschrieben – denken wir nur an die Silberkugeln, denen man nachsagte, sie könnten Werwölfe töten, oder an Kupfergegenstände, mit denen man Geschwüre, Ausschläge, ja sogar Cholera zu behandeln versuchte. Wer an Spätsommertagen Kupfermünzen gegen Wespen auf dem Gartentisch auslegt, bezieht sich, vermutlich ohne es zu wissen, ebenfalls auf diesen alten Aberglauben, denn wissenschaftlich kann eine Wirkung nicht untermauert werden.

Metall spielt auch in einer anderen Wiener Sage eine Rolle, jener vom »Küss den Pfennig«. Der berühmte Paracelsus kommt darin vor, der in den 1530er-Jahren eine Weile in Wien verbrachte. Wem, wenn nicht ihm, dem Alchemisten und »Wunderdoktor«, wäre es gelungen, eine fast wertlose kleine Münze in massives Gold zu verwandeln? Die Geschichte ist natürlich eine reine Erfindung aus dem 18. Jahrhundert und diente bloß dazu, den merkwürdigen Namen »Chüssenphennich«, der seit den 1360er-Jahren in Wien, aber auch in Böhmen und Mähren nachzuweisen ist, unterhaltsam zu erklären. Der erste Träger dieses Namens dürfte ein besonders sparsamer, vielleicht geiziger Mensch gewesen sein, einer, der am liebsten jeden Pfennig küsste.

Auch um zwei weitere ungewöhnliche Familiennamen rankten sich später Wiener Sagen, wie jene von der eitlen Frau, die in ihrer übergroßen Gier nach schönen Kleidern auf Bescheidenheit und Mildtätigkeit vergisst und dafür beinahe vom Teufel geholt wird. In letzter Sekunde bereut sie und bekommt einen »Stoß in den Himmel«, und damit göttliche Vergebung. In der kleinen Gasse beim Alten Rathaus, die heute noch Stoß im Himmel heißt, stand ein Haus, das seit 1522 einem gewissen Hans Stosanhiml gehörte. Bis ins späte 18. Jahrhundert war die Familie in Wien nachweisbar. Ihr Name ging vermutlich auf einen besonders groß gewachsenen Vorfahren zurück, der gleichsam mit dem Kopf an den Himmel stieß.

Um den eigenartigen Nachnamen des Michael Schabnruessl, der 1536 das Haus Rabensteig/Ecke Franz-Josefs-Kai kaufte, rankt sich schließlich jene Sage, in der der Teufel einem Bettler eine magische Feile schenkt, die diesem ermöglicht, unbegrenzte Mengen an Goldmünzen herbeizuzaubern. Dafür muss er sich allerdings damit die Lippen blutig raspeln, sich also den »Rüssel schaben«. Woher der Name des Hausbesitzers tatsächlich stammte, ist bis heute nicht eindeutig geklärt, mit einer teuflischen Feile hat er aber sicherlich nichts zu tun.

Wiener Sagen drehen sich häufig auch um Tiere. In der Josefstadt soll einmal ein hartherziger Grundherr mitsamt seinem Pferd von Heuschrecken bis auf die Knochen abgenagt worden sein – ein deutlicher Hinweis auf die Angst, die solche Insektenschwärme im Mittelalter verbreiteten. Motive waren auch Löwen (»Die Löwenbraut«), eine Gespensterkatze und immer wieder Bären, die sich in früheren Jahrhunderten bis in die Vorstädte wagten. Entlang des Mühlbachs im 4. Bezirk (heute: Mühlgasse), der in den Wienfluss mündete, standen einst mehrere Mühlen. Die Sage erzählt, dass ein Müller dort von einem Bären angegriffen wurde und sein Leben nur dem mutigen Einsatz seines Knechts verdankte – ein Relief am Haus Rechte Wienzeile 1 sowie der Bärenmühldurchgang erinnern noch daran. In alten Akten der Stadt Wien findet sich ein Hinweis auf den möglichen historischen Kern dieser Sage: Im April 1654 langte bei den Behörden ein Bittgesuch eines gewissen Leopold Grundner ein, der darin die offizielle Erlaubnis erbat, sich durch Betteln sein Geld zu verdienen. Ohne eigenes Verschulden war er erwerbsunfähig, sei er doch »vor 8 Jahren von einem peern auf der Mollartischen Mühl (Mollardmühle am Mühlbach, Anm.) alda zerrissen und zertruckt worden, dass ihme die Därm ausgangen, kann also nit mehr arbeiten«.

Die populäre Sage vom mutigen Müllerburschen und seinem Kampf gegen den Bären. Darstellung aus dem 19. Jahrhundert

Dass die Bevölkerung der Vorstadt über ein solch dramatisches Zusammentreffen zwischen Mensch und Bär sprach, liegt auf der Hand, bloß veränderte sich die Geschichte im Laufe der Zeit: In der Realität war es nicht der kühne Held, der das wilde Tier bezwang, sondern der Bär tötete beinahe den Mann, der durch seine schweren Verletzungen zum Bettler wurde.

6Von der Elle zum Meter

1., Stephansdom, Riesentor

Mitten in die blutigste Phase der Französischen Revolution fiel in Paris ein Ereignis, dessen Folgen auch heute noch in aller Welt nachwirken. Auf Initiative der französischen Akademie der Wissenschaften führte der Nationalkonvent am 1. August 1793 ein bislang ungekanntes Längenmaß ein. Dieses sollte, ganz im Sinne des neuen, revolutionären Weltbildes, wissenschaftlich nachvollziehbar sein, also mathematisch zu berechnen und somit jederzeit überprüfbar. An den Dimensionen des Planeten Erde hatte es sich zu orientieren und nicht mehr länger am menschlichen Körper, wie es seit der Antike üblich gewesen war. Ein Team aus Astronomen und Geografen hatte sich bereits an die Arbeit gemacht, mithilfe der Triangulationsmethode ausgiebige Vermessungen anzustellen, um den zehnmillionsten Teil jenes Meridians zu ermitteln, der den Nordpol mit dem Äquator verbindet. Im Jahr 1799 konnte das Ergebnis präsentiert werden: der »Ur-Meter« aus Platin.

Man zeigte sich zuversichtlich, dass das neue Maß schon bald auch in vielen anderen Ländern gelten würde, doch dauerte es noch mehrere Jahrzehnte, bis man seine Vorzüge außerhalb Frankreichs erkannte. In Österreich-Ungarn und 16 weiteren Staaten wurde der Meter (so wie auch das Kilogramm) nach einer mehrjährigen Übergangsphase am 1. Jänner 1876 gesetzlich bindend eingeführt. Nach und nach folgten fast sämtliche Länder der Erde.

Dem Menschen von heute erscheint es verwunderlich, wie lange die Welt ohne einheitliche Maße auskommen konnte. Immerhin hatten diese nicht nur für den Handel größte Bedeutung, im Verkehrswesen, im Bauwesen, im Handwerk, im wissenschaftlichen Austausch und in vielen anderen Bereichen waren sie ebenfalls schier unerlässlich. Wer in früheren Jahrhunderten aber auch nur den täglichen Einkauf erledigen musste, hatte es mitunter schwer. In Europa gab es Tausende unterschiedliche Normen, Währungen, Gewichte und Hohlmaße, allein auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches gab es deren Hunderte. Die Abmessung von Längen etwa beruhte zwar schon seit urdenklichen Zeiten auf den »natürlichen« Maßen des Menschen, doch genau darin liegt auch die Erklärung für die große Vielfalt: Kein Mensch gleicht dem anderen in allen Details.

Je nachdem, in welchem Königreich, Herzogtum oder Bistum, in welcher Region, in welcher Stadt, in welchem Ort, auf welchem Markt man sich befand, unterschieden sich Zoll (Daumenbreite), Faust, Handbreit, Fuß (oder »Schuh«), Spanne und Elle (der Abstand zwischen Ellenbogen und der Spitze des kleinen Fingers) teils beträchtlich voneinander. Darüber hinaus gab es noch das Schritt- und das Klaftermaß (die Spanne zwischen zwei ausgestreckten Armen eines erwachsenen Mannes) und schließlich die Meilen, deren Längen aber ebenfalls von Land zu Land erheblich voneinander abwichen.

Am Beispiel der Elle lassen sich diese Schwierigkeiten besonders gut erläutern, gehörte sie doch – zum Abmessen von Stoffen – zu den wichtigsten im Alltag gebrauchten Maßen. Sie variierte aber nicht nur von Ort zu Ort, sondern auch danach, welche Art von Stoff vermessen werden sollte, also ob teures Wolltuch oder billigeres Leinen (in Städten wie Venedig oder Bozen gab es darüber hinaus noch eigene Seiden-Ellen).

Die Magistrate der Stadt hatten begreiflicherweise großes Interesse, den guten Ruf ihres Wirtschaftsstandorts nicht zu gefährden. Es wurden strenge Qualitätskontrollen durchgeführt, um Betrugsversuche unehrlicher Handwerker oder Händler zu unterbinden. Eigene »Beschaumeister« begutachteten die Erzeugnisse der Tuchmacher und versahen sie mit amtlichen Punzen, in der Lebensmittelherstellung herrschten ebenfalls hohe, regelmäßig kontrollierte Standards. Um auch der Kundschaft die Möglichkeit zu geben, die erstandene Ware zu überprüfen, bestand etwa das »Waaghaus« in der Rotenturmstraße, in dem man Gewichte miteinander abgleichen konnte.

Besonders bekannt sind die metallenen Ellen, die an zentralen Plätzen vieler Städte – meist am Markt, am Rathaus oder einer wichtigen Kirche – heute noch zu sehen sind. An diesen offiziellen, »geeichten« Längenmaßen konnte jeder und jede die gekauften