Adieu, Johannes - Werner Lehr - E-Book

Adieu, Johannes E-Book

Werner Lehr

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Beschreibung

Gibt es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben? »Die Antwort darauf ist eindeutig: Ja, es gibt dieses Recht!«, sagt der Autor Werner Lehr in seinem Text. Werner Lehr ist ehrenamtlicher Ansprechpartner und Kontaktstellenleiter für Norddeutschland bei der »Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben e.V.«. In diesen Funktionen hält er Vorträge über Patientenverfügungen und den aktuellen Stand der Sterbehilfediskussion in Deutschland. Auch die Autorin Sabine Marya setzt sich seit vielen Jahren für das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben ein. Ihre Erzählung »Adieu, Johannes« befasst sich mit dem persönlichen Konflikt, in dem immer wieder die Menschen stecken, die andere in ihrer letzten Lebensphase begleiten und um Hilfe beim Sterben gebeten werden: Johannes Seyer wird von dem lebensmüden 89 Jahre alten Herbert Baumbach gebeten, ihm dabei zu helfen, endlich sterben zu können. Für ihre Erzählung »Der erste Flügelschlag - Abschied von einer Freundin - Realität und Utopie« wurde Sabine Marya 2011 der Arthur-Koestler-Preis in der Kategorie »Print« verliehen. In dieser Erzählung begleitet Leah ihre todkranke Freundin Lisa. Die Autorin beschreibt diese Sterbebegleitung in zwei unterschiedlichen Versionen: Einmal in der schmerzlichen Realität, so wie sie sich bei uns in Deutschland tagtäglich abspielt. Die Utopie ist eine bei uns leider noch nicht erfüllbare, jedoch wünschenswerte Idealversion. Kurz vor ihrem selbstbestimmten Sterben schreibt Lisa in ihr Tagebuch: »Ich kann gehen, bevor ich gewaschen, gefüttert und gewickelt werden muss. Ich kann gehen, solange ich mich noch als Mensch fühle.«

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ADIEU, JOHANNES

Mein Leben gehört mir -

und mein Sterben auch …

Sabine Marya & Werner Lehr

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliographische Information durch die Deutsche Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte bei den Autoren/ Künstlern

Umschlaggestaltung: Hans Weiss

Coverbild: Hans Weiss

Lektorat: Sabine Andresen

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

Adieu, Johannes Mein Leben gehört mir – und mein Sterben auch …

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Danksagung

Adieu, Johannes

Gibt es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben?

Der erste Flügelschlag - Abschied von einer Freundin - Realität & Utopie

Über die Autoren

Weitere Bücher

Danksagung

Wir danken allen, die uns bei diesem Buchprojekt so wunderbar unterstützt haben.

Ein besonderer Dank geht an Wega Wetzel, Pressesprecherin der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) e.V. und an Hans Weiss für das kritische Lesen und für das achtsame Lektorat an Sabine Andresen.

Adieu, Johannes

Erzählung

Sabine Marya

Diese Erzählung ist Fiktion, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Doch sie könnte sich schon heute genau so ereignen, durch das Dilemma, in dem immer wieder die Menschen stecken, die andere in ihrer letzten Lebensphase begleiten.

Adieu, Johannes

Der Dezembersturm zerrte an der klitschnassen Zeitung, die halb aus der Röhre am Zaun herausschaute. Die Äste der alten Birke im Vorgarten peitschten über den Boden und der Pavillon ächzte und quietschte im Wind.

Nach einem kurzen kritischen Blick zum Dach hastete ich mit dem Hund zum Haus und schloss die Tür zu dem großen Vorflur auf. Ich schälte mich aus dem Regenmantel und den Stiefeln und begann dann, den Hund abzutrocknen.

Im nächsten Moment wurde die Tür zur Diele geöffnet.

„Mir war doch so, dass ich euch gehört habe“, sagte meine Frau. „Möchtest du gleich etwas Warmes trinken?“

Ich nickte nur und arbeitete mich dann weiter mit dem Handtuch durch das nasse Fell des Labradors.

Normalerweise ging meine Frau an einem solchen Schietwetterabend nach meinem Nicken in die Küche, um alles für unser gemütliches Sitzen am Kamin im Wohnzimmer vorzubereiten, doch heute blieb Esther an der Tür stehen.

Verwundert blickte ich auf und bemerkte erst jetzt, wie seltsam angespannt meine Frau war. Fragend sah ich sie an.

„Da war gerade so ein Anruf für dich“, sprudelte es aus ihr heraus.

Ich ließ von dem noch feuchten Hund ab, der sich sofort an meiner Frau vorbei in die Diele schob.

„Den Namen habe ich nicht verstanden, irgend etwas mit Baum und er hat ihn nicht wiederholt. Er will sich wieder melden, hat er gesagt und dann einfach aufgelegt“, erzählte sie und nestelte dabei nervös an ihrer Bluse herum. „Du hast ihn knapp verpasst.“ Esther beschrieb mir den Anrufer als einen älteren Herrn. „Er meinte, dass er deine Hilfe braucht, beim Sterben, du sollst ihm eine Organisation vermitteln, die …“ Ihre Stimme begann zu zittern, als sie fortfuhr: „Dieser Mann, er schien dich persönlich zu kennen, so, wie er deinen Namen ausgesprochen hat …“

Erstaunt schüttelte ich den Kopf. „Das war bestimmt ein Missverständnis, Esther. Vielleicht war er mal auf einem Vortrag, auf dem ich auch dabei war. Oder er hat gehört, dass ich ehrenamtlich helfe beim Ausfüllen von Patienten- und Betreuungsverfügungen und …“

„Johannes, ich weiß, was ich gehört habe“, unterbrach mich meine Frau ungehalten. „Und ich sage dir nur: mach keinen Scheiß und stürze uns nicht ins Unglück. Du kümmerst dich sowieso schon viel zu viel um andere und lehnst dich zu weit aus dem Fenster mit dem, was du in der Öffentlichkeit so von dir gibst.“ Esther kniff ihre Lippen zusammen und wandte sich von mir ab.

Natürlich – mal wieder unser Streitthema. Wenn es nach Esther gehen würde, dann würde ich mich auf mein wöchentliches Handballspielen in der Altherrenriege und die gelegentlichen Treffen mit den Töchtern und Enkelkindern beschränken. Mein soziales Engagement seit meiner Verrentung war ihr von Anfang an ein Dorn im Auge. Mit meiner ehrenamtlichen Tätigkeit im Alleingang, ohne einen Verein im Hintergrund, hatten wir einen Kompromiss geschlossen, der Esther davor schützte, dass ich zusätzlich auch noch Vereinsarbeit machen und mich in weiteren Bereichen engagieren würde. Trotzdem vermisste ich manchmal sehr einen Austausch mit anderen Menschen, die sich ebenfalls wie ich in diesem Bereich „Patientenvorsorge“ engagierten.

Ich trottete Esther hinterher in unsere Küche, in der Hoffnung, irgendwie wieder für bessere Stimmung zu sorgen. Doch es war egal, wie viel Mühe ich mir gab, der Abend war bereits verdorben. Wir hockten am Kamin und fanden nicht die rechten Worte für ein lockeres Gespräch. Konfliktgespräche vermieden wir beide schon seit Jahren, seit Esthers Herzinfarkt bemühte ich mich sogar, sie vor allem abzuschirmen, was sie aufregen könnte. Zu groß war meine Angst, sie zu verlieren oder sogar schuld an ihrem Tod zu sein.

Schließlich schaltete Esther den Fernseher an und wir ließen eine oberflächliche Sendung an uns vorbeiplätschern. Danach gingen wir ins Bad und dann ins Bett.

Esther sagte: „Gute Nacht“, schaltete das Licht aus und kehrte mir den Rücken zu. Ich lauschte ihrer Atmung, wohlwissend, dass sie nicht schlief, sondern einfach nur nicht mir reden wollte. Meine Frau war schon immer eine Konfliktvermeiderin gewesen, bereits während unseres Studiums. Kaum jemand aus unserem Umfeld hatte damals verstehen können, dass wir beide ein Paar geworden sind und nun feiern wir bald unseren dreißigsten Hochzeitstag und haben zwei erwachsene Töchter.

Am nächsten Morgen wichen wir einander aus. Nach dem Frühstück murmelte Esther etwas von „Besorgungen in der Stadt“ und verließ das Haus. Ich wanderte unruhig in den Räumen umher und wählte schließlich die Telefonnummer des gestrigen Anrufers, die der Apparat gespeichert hatte. Doch am anderen Ende nahm niemand ab.

Am Abend, nach den Nachrichten, fragte Esther mich: „Und hat er nochmals angerufen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Und warum hast du dann versucht, bei ihm anzurufen?“, wollte Esther wissen. „Musst du das Unglück in unser Haus holen, wenn es sich nicht selber meldet?“

„Ach, Esther“, seufzte ich und griff nach meinem Weinglas. Im selben Moment begann die Titelmelodie der Filmserie und enthob uns eines weiteren Gesprächs.

An den folgenden Tagen meldete sich der Anrufer nicht und ich unternahm keinen weiteren Versuch, ihn selber nochmals zu erreichen, um Esther nicht aufzuregen. Weihnachten rückte näher, unsere beiden Töchter reisten mit ihren Kindern und Ehemännern an und wir verbrachten angenehme Tage miteinander.

Der Anruf Anfang Januar traf mich unvorbereitet. „Ich möchte gerne mit Ihnen einen Termin machen“, sagte der ältere Herr, der sich als Herbert Baumbach vorstellte. „Ich brauche Ihre Hilfe.“

Wir verabredeten uns zum Ende der Woche und ich schrieb Namen und Adresse in den Terminkalender. Verwundert registrierte ich dabei: „Herr Baumbach wohnt ca. 50 Kilometer von mir entfernt. Gibt es niemanden, der mehr in seiner Nähe wohnt und ihm helfen kann?“

„Das ist er!“, rief Esther entsetzt, als sie den Namen las. Verwirrt sah ich sie an.

„Na, der im Dezember angerufen hat. Das ist der Name. Johannes, du darfst nicht hinfahren zu diesem Mann!“

„Esther, vielleicht ist das Ganze ja auch nur ein Missverständnis, er hat am Telefon nichts gesagt von …“

„Du und dein Heiligenschein“, zischte Esther, wandte sich ab und ließ mich stehen. Grübelnd starrte ich vor mich hin, bis der Hund mich anstupste.

„Hanno will raus“, rief ich vage in die Richtung, in die Esther verschwunden war und zog mir meinen warmen Mantel über. Wenig später verließ ich das Haus und schlug den Weg in den Wald ein. Niemand begegnete mir auf meinem einsamen Gang an kahlen Bäumen vorbei, das war gut so, denn das Gehen half mir dabei, meine Gedanken zu sortieren. Ich fühlte mich nicht in der Lage, den Termin wieder abzusagen. „Was du zugesagt hast, das musst du auch einhalten, deshalb überlege genau, was du jemandem versprichst“, hatten meine Eltern mir beigebracht und diese Wertvorstellung galt noch immer für mich.

Der ältere Herr klang ganz sachlich am Telefon, kein verzweifelter Hilferuf. Vielleicht hatte Esther ja tatsächlich etwas falsch verstanden und der Mann brauchte wirklich nur die Hilfe beim Ausfüllen von Verfügungen, was ich auf meiner Homepage als ehrenamtliche Arbeit anbot? Und wenn nicht, dann, so beschloss ich, werde ich ganz ruhig erklären, dass ich zwar Menschen ehrenamtlich dabei helfe, ihre Patienten- und Betreuungsverfügungen auszufüllen, aber dass ich keine Kontakte zu einer Organisation habe, die Sterbehilfe vermittelt. Schließlich leben wir hier in Deutschland …

Plötzlich tauchte das Bild meines herzkranken Vaters vor mir auf, dieser alte gepflegte Mann, immer trug er einen Anzug, darüber während der Arbeit den Arztkittel. Er lebte am Ende nach dem plötzlichen Tod meiner Mutter in einer kleinen Wohnung in unserer Stadt und wurde von uns betreut. In seiner letzten Nacht stürzte er auf dem Weg zur Toilette aus Schwäche und schaffte es nicht, alleine wieder hoch zu kommen. Die Putzfrau fand ihn am nächsten Morgen so im Flur und half ihm hoch, säuberte ihn, begleitete ihn zurück ins Bett und rief uns danach an. Noch nie vorher hatte ich meinen Vater im Schlafanzug gesehen, er hatte sich so geschämt, dass er meine Frau und mich wieder aus dem Zimmer schickte.

Am Nachmittag fuhr ich erneut zu ihm, aus Sorge. Die Spritze lag auf seinem Nachttisch. Mein Vater hatte immer gesagt, dass er niemals als Pflegefall enden will, zu viel hatte er gesehen in seiner Zeit als Arzt. Ein Leben ohne Würde war für ihn nicht vorstellbar und zu seiner Vorstellung von Würde gehörte die Kontrolle über seine Körperfunktionen. Ich räumte die Spritze weg und rief seinen alten Hausarzt an, der Tod durch Herzversagen feststellte. Wir ließen meinen Vater einäschern, um ihn vor späteren Untersuchungen zu schützen.

Am Freitagvormittag klingelte ich an der verabredeten Adresse bei einem gepflegten Einfamilienhaus. Im Carport stand ein Mittelklassewagen, davor noch ein kleineres Auto.

Ein älterer Herr öffnete mir die Tür. Sein Hemd war frisch gebügelt, die Krawatte akkurat gebunden, die Weste passte zur Hose. „Herr Seyer, wie schön, dass Sie pünktlich sind“, begrüßte er mich und bat mich ins Haus. Langsam, Schritt für Schritt, ging er bedächtig an seinem Stock voran. Im Flur spielte ein kleines Mädchen. „Das ist Nadja, die Tochter meiner Perle“, erklärte Herr Baumbach mir im Vorbeigehen. Das Kind lächelte schüchtern und vertiefte sich dann wieder in sein Spiel. Aus einem der Zimmer war das Geräusch eines Staubsaugers zu hören.

Herr Baumbach führte mich in ein geräumiges Wohnzimmer, das genau so gediegen wirkte wie die anderen Räume, an denen wir vorbeigegangen waren. Ein riesiger Plasma-Fernseher dominierte diesen Raum, die beiden großen Lederlehnsessel standen auffällig nahe vor dem Fernseher.

In der Sitzecke an der Terrassentür bat mir Herr Baumbach einen Sitzplatz an, setzte sich mir gegenüber und fragte mich dann: „Möchten Sie einen Kaffee oder etwas anderes zu trinken? Dann bitte ich meine Haushaltshilfe, Ihnen etwas zu bringen. Mein Augenlicht ist so schlecht geworden, dass bereits das Eingießen eines Getränks inzwischen eine besondere Geschicklichkeit und Anstrengung von mir erfordert …“

Dankend lehnte ich ab und kam gleich zur Sache: „Was kann ich für Sie tun, Herr Baumbach?“

„Ich habe es bereits Ihrer Frau am Telefon gesagt. Ich will nicht mehr leben und ich brauche dabei Hilfe, wenn …“

„Herr Baumbach, ich …“

Mit einer kurzen Handbewegung unterbrach mich der ältere Herr. „Bitte, hören Sie mich erst einmal an, Herr Seyer. Und danach können Sie immer noch einfach aufstehen und alles hier vergessen, was ich Ihnen anvertraue.“

Widerstrebend nickte ich und hörte ihm zu.

„Ich bin jetzt 89 Jahre alt und war 43 Jahre verheiratet. Meine Frau ist vor vier Monaten gestorben, nach einer langen Zeit auf der Intensivstation. Dummerweise hatte sie keine Patientenverfügung und anfangs habe ich tatsächlich noch gehofft, dass sie wieder gesund wird und wir noch eine gute gemeinsame Zeit haben werden. Ein Jahr lang ist sie gestorben, jeden Tag ein wenig mehr, es war so entsetzlich. Kurz danach habe ich einen Bericht über ein Buch gehört, die junge Autorin beschreibt darin, wie ihre Großeltern sich gemeinsam töten. Der Mann war schwerkrank, die Frau war noch gesund, aber sie wollte nicht ohne ihren Mann weiterleben. Genau so hätten meine Frau und ich es auch machen sollen, Hand in Hand gemeinsam im Bett für immer einschlafen … Doch wir beide haben uns mit diesem Thema nicht genug befasst, leider, muss ich heute sagen. Stattdessen ist meine Frau über Wochen jämmerlich verreckt, zum Schluss haben sie ihr sogar noch einen künstlichen Darmausgang gelegt. Es war so schlimm, das alles mit zu erleben. Für mich war es wie Folter und ich habe mich immer wieder gefragt: Warum sagt man bei Hunden, dass sie den Gnadentod bekommen und erspart ihnen so viel Leid? Und wir Menschen, wir werden künstlich von einem System am Leben gehalten, das mit unserem Leid sehr viel Geld verdient … Wir verlieren dabei unsere Würde und wir werden von uns Wildfremden angefasst, an intimsten Stellen. Ständig werden unsere Grenzen überschritten, wir werden durch unsere Pflegebedürftigkeit zum Objekt, dem sogar ein normales Sterben verwehrt wird. Ich habe es bei meiner Frau gesehen, Herr Seyer. Danach war für mich so klar: niemals will ich so enden!

Im Dezember war ich beim Augenarzt. Ich werde blind – und die Ärzte können nichts dagegen tun, hinzu kommt mein schwaches Herz, das mir alle Tätigkeiten immer schwerer macht. Um uns herum sind alle Bekannten und Freunde verstorben, wir hatten nur ein kleines Umfeld, ich habe früher im diplomatischen Dienst gearbeitet, wir waren viel im Ausland. Kinder haben wir keine und nun …“

Seine Stimme zitterte leicht. „Ich bin ein einsamer alter Mann, der so lebensmüde ist. Mein Körper ist alt und verbraucht, bald schon werde ich auf Hilfe angewiesen sein, wenn ich mein Leben nicht vorher beenden kann. Die Vorstellung, in einem Pflegeheim vor mich hin vegetieren zu müssen und dabei immer mehr an Würde zu verlieren, ist mir unerträglich. Bitte, Herr Seyer, helfen Sie mir! Geben Sie mir ein Medikament, das mich für immer einschlafen lässt.“

Entsetzt schüttelte ich den Kopf. „Ich kann und darf das nicht, Herr Baumbach. Sterbehilfe ist in unserem Land strafbar, ich …Wie sind Sie überhaupt auf mich gekommen und auf die Idee, dass ich Ihnen helfen könnte bei diesem Unterfangen?“

Herr Baumbach räusperte sich. „Ich kannte Ihren Vater. Wir haben uns damals im Internat ein Zimmer geteilt und anschließend haben wir uns gelegentlich zum Schachspielen getroffen. Ihr Vater war immer ein wichtiger Mensch für mich gewesen, sein Tod hat mich sehr getroffen, auch, wenn wir uns nicht mehr gesehen haben, als er nicht mehr in der Lage war, mit mir zu spielen.

Wenn Sie sehen, wie um Sie herum alles immer leerer wird, das war für mich ein erschreckendes Gefühl, nicht, weil ich selber Angst vor dem Tod habe, nein, sondern weil die Einsamkeit um einen herum mit jedem Toten im Alter immer näher und näher rückt … Ich habe den Mann meiner Perle gebeten, für mich im Internet nach Ihnen zu recherchieren, ich wollte Ihnen das Schachspiel schenken, mit dem wir beide immer gespielt haben, Ihr Vater und ich, wenn ich in Deutschland war. Und dann erzählte mir Herr Wassili von Ihrer Internetseite und dass Sie anderen Menschen dabei helfen, diese Bögen auszufüllen. Die Vorstellung, dass Sie mir helfen könnten, war für mich wie ein rettender Strohhalm.“ Herr Baumbach zeigte auf das große Schachbrett mit den geschnitzten Figuren. „Wie auch immer, nun habe ich Sie gefunden und ich möchte, dass Sie das Schachspiel heute mitnehmen. Als mir Herr Wassili von Ihrer Internetseite erzählte, ach, es war, als ob mir jemand eine Tür geöffnet hat, so, als ob es plötzlich für mich einen Weg gibt, raus aus dem, was …“ Bedrückt brach Herr Baumbach ab und sackte in sich zusammen.

Eine Weile schwiegen wir gemeinsam, bis Herr Baumbach sich wieder aufrichtete und mich ansah: „Wie machen das andere Menschen, die keine Chance haben, dass ihnen jemand Medikamente gibt? Ich bin körperlich zu schwach, um mir einen Haken in die Decke zu schrauben und auf einen Stuhl zu klettern. Mir kam auch schon der Gedanke, mich im Bahnhof vor einen durchfahrenden Zug fallen zu lassen. Aber damit dann auch noch den Zugführer und die anderen Menschen dort unglücklich zu machen … Nein, das ist einfach keine Option. Mir fehlt der Mut, mir die Pulsadern aufzuschneiden, denn die Vorstellung ist für mich einfach zu furchtbar, ich mache dabei Fehler und werde gefunden und ende für den Rest dieses Daseins verkrüppelt in einem Pflegeheim oder in einer geriatrischen Psychiatrie. Ach, Herr Seyer, Sie waren meine letzte Hoffnung. Aber ich verstehe, dass Sie sich nicht strafbar machen können oder wollen, darüber habe ich vorher nicht nachgedacht, entschuldigen Sie bitte. Danke, dass Sie gekommen sind …“

An der Haustür drängte mir Herr Baumbach 20 Euro Benzingeld auf. „Ich habe Ihnen doch gar nicht helfen können“, beteuerte ich.

Aber Herr Baumbach schüttelte energisch mit dem Kopf. „Sie haben mir zugehört und mich ernst genommen und Ihr Wagen fährt nicht mit Wasser. Leben Sie wohl, Herr Seyer.“

Wie ferngesteuert setzte ich mich in mein Auto und fuhr los. Unterwegs hielt ich zweimal an und rauchte eine Zigarette.

Als ich schließlich unser Ortsschild erreichte, führte mich mein erster Weg zu meinem Freund Peter. „Herrje, wie siehst du denn aus, komm erst mal in die Küche.“ Dort schenkte mir Peter sofort einen Schnaps ein. „Ich glaub, den brauchst du jetzt! Ist was mit Esther?“, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf, leerte das Glas und erzählte ihm dann alles.