Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur - Andrea Wulf - E-Book
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Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur E-Book

Andrea Wulf

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Beschreibung

Was hat Alexander von Humboldt, der vor mehr als 150 Jahren starb, mit Klimawandel und Nachhaltigkeit zu tun? Der Naturforscher und Universalgelehrte, nach dem nicht nur unzählige Straßen, Pflanzen und sogar ein »Mare« auf dem Mond benannt sind, hat wie kein anderer Wissenschaftler unser Verständnis von Natur als lebendigem Ganzen, als Kosmos, in dem vom Winzigsten bis zum Größten alles miteinander verbunden ist und dessen untrennbarer Teil wir sind, geprägt. Die Historikerin Andrea Wulf stellt in ihrem vielfach preisgekrönten – so auch mit dem Bayerischen Buchpreis 2016 – Buch Humboldts Erfindung der Natur, die er radikal neu dachte, ins Zentrum ihrer Erkundungsreise durch sein Leben und Werk. Sie folgt den Spuren des begnadeten Netzwerkers und zeigt, dass unser heutiges Wissen um die Verwundbarkeit der Erde in Humboldts Überzeugungen verwurzelt ist. Ihm heute wieder zu begegnen, mahnt uns, seine Erkenntnisse endlich zum Maßstab unseres Handelns zu machen – um unser aller Überleben willen.

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Andrea Wulf

Alexander von Humboldt

und die Erfindung der Natur

Aus dem Englischen übertragen von Hainer Kober

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe ist 2015 unter dem Titel The Invention of Nature. The Adventures of Alexander von Humboldt – The Lost Hero of Science bei John Murray, London, erschienen. © 2015 by Andrea Wulf © 2016 für die deutsche Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt

Karten: Rodney Paull Bildredaktion: Dietlinde Orendi Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-19550-2 V010 www.cbertelsmann.de

Für Linnéa (P. o. P.)

Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte der Vernunft ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben und ihre Verhältnisse offenbart, so daß ein Blinder, dem das unendlich Sichtbare versagt ist, im Hörbaren ein unendlich Lebendiges fassen kann.

Johann Wolfgang von Goethe

Inhalt

Karte: Humboldts Reise durch Amerika

Karte: Humboldts Reise durch Venezuela

Karte: Humboldts Reise durch Russland

Prolog

TEIL I AUFBRUCH: Erste Ideen

1 Anfänge

2 Fantasie und Natur:Johann Wolfgang von Goethe und Humboldt

3 Auf der Suche nach einem Ziel

TEIL II ANKUNFT: Sammlung der Ideen

4 Südamerika

5 Die Llanos und der Orinoco

6 Über die Anden

7 Chimborazo

8 Politik und Natur:Thomas Jefferson und Humboldt

TEIL III RÜCKKEHR: Sichtung der Ideen

9 Europa

10 Berlin

11 Paris

12 Revolutionen und Natur:Simón Bolívar und Humboldt

13 London

14 Sich im Kreis drehen: Maladie Centrifuge

TEIL IV EINFLUSS: Verbreitung der Ideen

15 Rückkehr nach Berlin

16 Russland

17 Evolution und Natur: Charles Darwin und Humboldt

18 Humboldts Kosmos

19 Dichtung, Wissenschaft und Natur: Henry David Thoreau und Humboldt

TEIL V NEUE WELTEN: Entwicklung der Ideen

20 Der größte Mann seit der Sintflut

21 Mensch und Natur: George Perkins Marsh und Humboldt

22 Kunst, Ökologie und Natur:Ernst Haeckel und Humboldt

23 Schutz und Natur: John Muir und Humboldt

Epilog

ANHANG

Dank

Eine Bemerkung zu Humboldts Veröffentlichungen

Zur Textgestalt

Abkürzungen

Anmerkungen

Quellen und Bibliografie

Register

Bildteil

Prolog

Sie krochen auf allen vieren einen hohen, schmalen Grat entlang, der an manchen Stellen nur fünf Zentimeter breit war. Der Pfad, wenn man ihn denn so nennen konnte, war voller Sand und loser Steine und entsprechend rutschig. Links unter ihnen lag eine steile Felswand, die mit Eis überzogen war und glitzerte, wenn die Sonne durch die dichte Wolkendecke brach. Der Blick nach rechts, wo es 300 Meter steil nach unten ging, war nicht viel besser. Hier waren die dunklen, fast senkrecht abfallenden Wände mit Felsvorsprüngen übersät, die wie Messerklingen hervorragten.1

Einer hinter dem andern bewegten sich Alexander von Humboldt und seine drei Begleiter vorsichtig Zentimeter für Zentimeter vorwärts. Ohne die richtige Ausrüstung und geeignete Kleidung war es eine gefährliche Kletterpartie. In dem eisigen Wind waren ihre Hände und Füße taub geworden, geschmolzener Schnee hatte ihre dünnen Schuhe durchweicht, und in ihren Haaren und Bärten hingen Eiskristalle. Gut 5000 Meter über dem Meeresspiegel mussten sie regelrecht darum kämpfen, in der dünnen Luft zu atmen. Die scharfkantigen Felsen zerfetzten die Sohlen ihrer Schuhe, und ihre Füße begannen zu bluten.

Es war der 23. Juni 1802. Alexander von Humboldt und seine Gefährten bestiegen den Chimborazo, einen spektakulären erloschenen Vulkan in den Anden, der sich wie eine riesige Kuppel in fast 6500 Metern über dem Meeresspiegel erhob, etwa 150 Kilometer südlich von Quito im heutigen Ecuador. Damals glaubte man, der Chimborazo sei der höchste Berg der Welt. Kein Wunder, dass ihre Träger so große Angst hatten, dass sie an der Schneegrenze davongelaufen waren. Der Gipfel des Vulkans war in dichten Nebel gehüllt, trotzdem hatte Humboldt darauf bestanden, die Besteigung fortzusetzen.

Seit drei Jahren reiste Alexander von Humboldt durch Lateinamerika und drang dabei tief in Gebiete vor, die bis dahin nur wenige Europäer betreten hatten. Besessen von der Idee, wissenschaftliche Beobachtungen zu machen, hatte der Zweiunddreißigjährige eine Unmenge der besten Instrumente aus Europa mitgebracht. Für die Besteigung des Chimborazo hatte er den größten Teil seines Gepäcks zurückgelassen, aber ein Barometer, ein Thermometer, einen Sextanten, einen Künstlichen Horizont und ein sogenanntes Zyanometer zur Messung der »Bläue« des Himmels eingepackt. Auf dem Weg zum Gipfel holte Humboldt immer wieder mit tauben Fingern seine Geräte heraus und stellte sie auf abenteuerlich schmale Felsvorsprünge, um Höhe, Schwerkraft und Feuchtigkeit zu messen. Akribisch notierte er außerdem sämtliche Arten, auf die sie stießen – hier ein Schmetterling, dort eine winzige Blume. Alles hielt er in seinem Notizbuch fest.

Auf 5500 Metern fanden sie eine letzte winzige Flechte, die sich an einen Felsbrocken krallte. Dann verschwanden alle Spuren organischen Lebens; in dieser Höhe gab es keine Pflanzen oder Insekten mehr. Selbst die Kondore, die ihre früheren Besteigungen begleitet hatten, waren verschwunden.2 Als der Nebel alles um sie herum in einen leeren und fast unheimlichen Raum verwandelte, fühlte Humboldt sich der bewohnten Welt vollkommen entrückt. »Wir waren wie in einem Luftballon isoliert.«3 Dann lichtete sich der Nebel plötzlich und gab den Blick auf den schneebedeckten Gipfel des Chimborazo frei, der in den blauen Himmel ragte. Ein »großartiger Anblick«4, war Humboldts erster Gedanke, doch dann bemerkte er die gewaltige Gletscherspalte, die sich vor ihnen auftat – 20 Meter breit und 200 Meter tief.5 Und es führte kein anderer Weg zur Spitze. Nach Humboldts Messung befanden sie sich in einer Höhe von 5917,16 Metern6, also keine 300 Meter unter dem Gipfel.

Humboldt und seine Gefährten besteigen einen Vulkan.

Wellcome Library, London: Alexander von Humboldt, Vues des Cordillères, 2 Bde. (1810–1813)

Noch nie war jemand so hoch gestiegen, und noch nie hatte jemand so dünne Luft geatmet. Als er nun am vermeintlich höchsten Punkt der Welt stand und auf die Bergketten schaute, die sich unter ihm ausbreiteten, begann Humboldt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Die Erde erschien ihm als ein riesiger Organismus, in dem alles mit allem in Verbindung stand – eine mutige, neue Sicht der Natur, die noch immer beeinflusst, wie wir heute unsere Umwelt sehen und begreifen.

Humboldt, der von seinen Zeitgenossen als der bekannteste Mann der Welt nach Napoleon bezeichnet wurde,7 war einer der faszinierendsten und beeindruckendsten Menschen seiner Zeit. 1769 in eine wohlhabende preußische Adelsfamilie hineingeboren, verzichtete er auf seine Privilegien, um herauszufinden, was es mit der Welt auf sich hat. Als junger Mann begab er sich auf eine fünfjährige Entdeckungsreise durch Lateinamerika, setzte seine Existenz viele Male aufs Spiel und kehrte mit einer neuen Sicht auf die Welt zurück. Die Expedition prägte sein Leben und Denken und machte ihn weltberühmt. Er lebte in Großstädten wie Paris und Berlin, fühlte sich aber genauso an den entlegensten Zuflüssen des Orinoco oder in der Kasachensteppe an der russischen Grenze zur Mongolei zu Hause. Im Laufe seines langen Lebens wurde er zum Mittelpunkt der wissenschaftlichen Welt, schrieb an die fünfzigtausend Briefe und erhielt mindestens doppelt so viele. Wissen, so Humboldts Überzeugung, musste geteilt und ausgetauscht werden und allen Menschen zur Verfügung stehen.

Er war aber auch ein Mann der Widersprüche. Als erbitterter Gegner des Kolonialismus unterstützte er die Revolution in Lateinamerika, war aber gleichzeitig Kammerherr zweier preußischer Könige. Er bewunderte die Vereinigten Staaten für ihr Ideal von Freiheit und Gleichheit, kritisierte sie aber fortwährend, weil sie die Sklaverei nicht abschafften. Sich selbst nannte er einen »halben Amerikaner«8, verglich die Vereinigten Staaten aber gleichzeitig mit einem »Cartesianischen Wirbel, alles fortreißend, langweilig nivellierend«9. Er war selbstbewusst, sehnte sich aber ständig nach Anerkennung. Man bewunderte sein enormes Wissen, fürchtete aber gleichzeitig seine scharfe Zunge. Humboldts Bücher wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und waren so populär, dass die Menschen sich um die ersten Exemplare rissen; und doch starb er als armer Mann. Er konnte arrogant und abweisend sein, aber auch sein letztes Geld für einen jungen Wissenschaftler in Not opfern. Sein Leben war ausgefüllt mit Reisen und nie endender Arbeit. Stets war er auf der Suche nach Neuem und nicht zufrieden, wie er sagte, wenn er nicht »drei Dinge zugleich« tat.10

Humboldt wurde für sein Wissen und sein wissenschaftliches Denken hochgeachtet und war dennoch kein Gelehrter im Elfenbeinturm. Wenn er von seinem Schreibtisch und seinen Büchern genug hatte, stürzte er sich in größte Abenteuer, die seinem Körper das Äußerste abverlangten. Tief wagte er sich in die geheimnisvolle Welt des venezolanischen Regenwalds hinein, und in den Anden kroch er in schwindelnder Höhe auf schmalen Felsvorsprüngen entlang, um die Flammen im Inneren eines aktiven Vulkans zu betrachten. Noch mit sechzig Jahren machte er sich auf eine mehr als 15000 Kilometer lange Entdeckungsreise zu den entlegensten Winkeln Russlands und war belastbarer als seine jüngeren Begleiter.

Einerseits war er fasziniert von wissenschaftlichen Instrumenten, von Messungen und Beobachtungen, andererseits trieb ihn der Zauber der Natur an. Selbstverständlich musste die Natur vermessen und analysiert werden, aber er glaubte auch, dass wir die Natur durchaus mit Sinnen und Gefühlen erfassen sollten. Er wollte in den Menschen die »Liebe zur Natur«11 wecken. In einer Zeit, als andere Wissenschaftler nach universellen Gesetzen suchten, schrieb Humboldt, die Natur müsse erlebt und gefühlt werden.12

Humboldt hatte die Gabe, sich noch nach Jahren an winzigste Einzelheiten erinnern zu können: die Form eines Blattes, die Beschaffenheit des Erdbodens, eine Temperatur, die Gesteinsschichten eines Felsens. Sein außerordentliches Gedächtnis ermöglichte ihm, Beobachtungen zu vergleichen, die er in der ganzen Welt gemacht hatte und zwischen denen mehrere Jahrzehnte oder Tausende von Kilometern lagen. Humboldt sei in der Lage, »bei jedem Gedanken gleichsam die ganze Reihe aller Erscheinungen in der ganzen Welt zu durchlaufen«13, wie ein Kollege später sagte. Während andere mühsam ihre Erinnerungen durchstöbern mussten, hatte Humboldt – »dessen Augen natürliche Teleskope & Mikroskope sind«14, wie der amerikanische Schriftsteller und Dichter Ralph Waldo Emerson voller Bewunderung sagte – jedes Stückchen Wissen und jede Beobachtung sofort zur Hand.

Ausbreitung der Pflanzen in den Anden

Wellcome Library, London: Heinrich Berghaus, The Physical Atlas (1845)

Als Humboldt, erschöpft vom Aufstieg, schließlich auf dem Chimborazo stand, ließ er seine Umgebung auf sich wirken. Hier wechselten sich verschiedene Vegetationszonen ab. In den Tälern hatte er Palmen- und schwüle Bambuswälder durchquert, wo bunte Orchideen die Bäume umschlangen. Weiter oben hatte er Nadelhölzer, Eichen, Erlen und strauchartige Berberitzen gesehen, ähnlich denen, die er aus europäischen Wäldern kannte. Daran schlossen sich alpine Pflanzen an, wie er sie in den Schweizer Bergen gesammelt hatte, und Flechten, die ihn an die Arten vom nördlichen Polarkreis und in Lappland erinnerten. Noch nie hatte jemand Pflanzen so betrachtet. Humboldt registrierte sie nicht in den engen Kategorien des Klassifikationssystems, sondern nahm sie als Lebensformen eines bestimmten Standorts und Klimas wahr. Er begriff die Natur als eine globale Kraft mit einander entsprechenden Klimazonen auf verschiedenen Kontinenten: Das war damals ein radikales Konzept, und noch heute prägt es unser Verständnis der Ökosysteme.

Humboldts Bücher, Tagebücher und Briefe verraten einen visionären Denker, der seiner Zeit weit voraus war. Er erfand die Isotherme – die Temperatur- und Drucklinien, die wir heute auf unseren Wetterkarten sehen – und entdeckte den magnetischen Äquator. Er war auch der Erste, der von Vegetations- und Klimazonen sprach, die sich rund um den Globus schlängeln. Vor allem aber hat Humboldt unseren Blick auf die Natur revolutioniert. Überall erkannte er Verbindungen. Nichts, noch nicht einmal den winzigsten Organismus, hat er separat betrachtet. »In der großen Verkettung der Ursachen und Wirkungen«, sagt Humboldt, »darf kein Stoff, keine Thätigkeit isoliert betrachtet werden.«15 Mit dieser Erkenntnis erfand er das »Netz des Lebens« – den Begriff der Natur, wie wir ihn heute verstehen.

Betrachtet man Natur nun als Netz, wird offensichtlich, welchen Gefahren sie ausgesetzt ist. Alles hängt mit allem zusammen. Wenn ein Faden gezogen wird, kann sich das ganze Gewebe auflösen. Nachdem er 1800 sah, welche verheerenden Schäden koloniale Plantagen am Valenciasee in Venezuela angerichtet hatten, warnte Humboldt als erster Wissenschaftler vor den dramatischen Folgen des vom Menschen verursachten Klimawandels.16 Durch Abholzungen war das Land dort unfruchtbar geworden, der Wasserstand des Sees war gefallen, und nach dem Verschwinden des Buschwerks hatten heftige Regenfälle die Böden von den umliegenden Berghängen gewaschen. Als Erster wies Humboldt darauf hin, dass der Wald die Atmosphäre mit Feuchtigkeit anreichern und kühlen könne – und sprach von der großen Bedeutung der Bäume für die Wasserspeicherung und den Schutz vor Bodenerosion.17 Er warnte davor, dass die Menschen sich in die Natur einmischten und dies unvorhersehbare Folgen für »kommende Geschlechter« haben könnte.18

In der Erfindung der Natur folge ich den unsichtbaren Fäden, die uns mit diesem außerordentlichen Mann verbinden. Humboldt beeinflusste viele der größten Denker, Künstler und Wissenschaftler seiner Zeit. Thomas Jefferson nannte ihn »eine der schönsten Zierden unseres Zeitalters«19. Charles Darwin schrieb: »Nichts hat meinen Eifer je so heftig entfacht wie die Lektüre von Humboldts Personal Narrative«20, und erklärte, ohne Humboldt hätte er sich weder an Bord der Beagle begeben noch die Ideen für die Entstehung der Arten entwickelt. Die Romantiker William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge brachten beide Humboldts Naturbegriff in ihren Gedichten zum Ausdruck. Sogar Henry David Thoreau, Amerikas meistverehrter Naturschriftsteller, fand in Humboldts Büchern eine Antwort auf sein Dilemma, wie man Dichter und Naturforscher zugleich sein kann; Walden wäre ohne Humboldt ein ganz anderes Buch geworden. Simón Bolívar, der Revolutionär, der Südamerika von der spanischen Kolonialherrschaft befreite, nannte Humboldt den »Entdecker der neuen Welt«21, und Johann Wolfgang von Goethe erklärte, Humboldt habe ihm an einem einzigen Tag mehr Wissen vermittelt, »als hätte ich Jahre verlebt«22.

Am 14. September 1869 wurde weltweit Alexander von Humboldts hundertster Geburtstag gefeiert. In Melbourne und Adelaide wie in Buenos Aires und Mexico City ehrten viele Redner Humboldt vor zahllosen Zuhörern.23 Bei Festakten in Moskau wurde Humboldt als »Shakespeare der Wissenschaften«24 bezeichnet, und im ägyptischen Alexandria feierten die Teilnehmer unter einem von Feuerwerk erleuchteten Himmel.25 Die größten Veranstaltungen aber fanden in den Vereinigten Staaten statt. Von San Francisco bis Philadelphia und von Chicago bis Charleston gab es Straßenumzüge, opulente Festessen und Konzerte.26 In Cleveland gingen achttausend Menschen auf die Straße, in Syracuse schlossen sich fünfzehntausend einem Festzug an, der mehr als anderthalb Kilometer lang war.27 Präsident Ulysses Grant besuchte die Humboldt-Feier in Pittsburgh, wo zehntausend Besucher die Stadt lahmlegten.28

In New York City säumten Flaggen die Kopfsteinpflasterstraßen. Das Rathaus war in Fahnen gehüllt, und ganze Häuser verschwanden hinter riesigen Plakaten, die Humboldts Gesicht zeigten. Sogar die Schiffe, die draußen auf dem Hudson River vorbeizogen, waren mit bunten Girlanden geschmückt. Am Morgen folgten Tausende zehn Musikkapellen, die von der Bowery über den Broadway zum Central Park marschierten, um einen Mann zu ehren, »dessen Ruhm keine Nation für sich beanspruchen kann«, wie die New York Times auf ihrer Titelseite verkündete. Am frühen Nachmittag hatten sich fünfundzwanzigtausend Zuschauer im Central Park eingefunden, wo eine große Humboldt-Büste aus Bronze feierlich enthüllt wurde. Am Abend, bei Einbruch der Dunkelheit, setzte sich ein Fackelzug mit 15000 Menschen in Bewegung, der unter bunten chinesischen Laternen durch die Straßen zog.29

Stellen wir uns vor, sagte ein Redner, »er stünde auf den Anden« und ließe seinen Geist über allem schweben.30 In jeder Rede, wo auch immer auf der Welt, wurde betont, Humboldt habe einen »inneren Zusammenhang« zwischen allen Teilen der Natur gesehen.31 In Boston erläuterte Emerson den Würdenträgern der Stadt, dass Humboldt ein »Weltwunder«32 gewesen sei. Sein Ruhm, so die Daily News in London, sei »in gewisser Weise eng mit dem Universum selbst verbunden«33. In Deutschland gab es Festveranstaltungen in Köln, Hamburg, Dresden, Frankfurt und vielen anderen Städten.34

Die größte deutsche Feier fand in Berlin statt, Humboldts Heimatstadt, wo trotz sintflutartiger Regengüsse achtzigtausend Menschen zusammenkamen. Alle Büros und Behörden blieben an diesem Tag geschlossen. Trotz des Regens und kalten Windes dauerten die Reden und Gesänge viele Stunden.35

Heute kennen viele Deutsche Alexander von Humboldt nur als Entdeckungsreisenden und Naturforscher, der ein paar Jahre durch Südamerika reiste, und die meisten Engländer und Nordamerikaner haben noch nie von ihm gehört. Aber obwohl viele von Humboldts Ideen heute außerhalb der Universitäten fast vergessen sind – zumindest in der englischsprachigen Welt –, prägen sie noch immer unser Denken. Während sich in den Bibliotheken der Staub auf seinen Büchern sammelt, stoßen wir doch überall auf seinen Namen – vom Humboldt-Strom, der an den Küsten von Chile und Peru vorbeifließt, bis hin zu Dutzenden Denkmälern, Parks und Bergen in Lateinamerika: etwa die Sierra Humboldt in Mexiko oder der Pico Humboldt in Venezuela. Eine Stadt in Argentinien, ein Fluss in Brasilien, ein Geysir in Ecuador und eine Bucht in Kolumbien – alle sind sie nach Humboldt benannt.[1]36

In Grönland gibt es das Kap Humboldt und den Humboldt-Gletscher; Gebirgszüge tragen seinen Namen in Nordchina, Südafrika, Neuseeland und in der Antarktis, Flüsse und Wasserfälle in Tasmanien und Neuseeland, Parks in Deutschland. Und in Paris gibt es eine Rue Alexandre de Humboldt. Allein in Nordamerika tragen vier Verwaltungsbezirke, dreizehn Städte, diverse Berge, Buchten, Seen und Flüsse seinen Namen, außerdem der Humboldt Redwoods State Park in Kalifornien und Humboldt-Parks in Chicago und Buffalo. Aus Nevada wäre beinahe der Staat Humboldt geworden, als der Verfassungskonvent den Namen in den 1860er-Jahren diskutierte.37 Fast dreihundert Pflanzen und mehr als hundert Tiere heißen wie er – unter anderem die kalifornische Humboldt-Lilie (Lilium humboldtii), der südamerikanische Humboldt-Pinguin (Spheniscus humboldti) und der fast zwei Meter lange räuberisch-aggressive Humboldt-Kalmar (Dosidicus gigas), der im Humboldt-Strom anzutreffen ist. Auch etliche Mineralien dieses Namens gibt es – von Humboldtitbis Humboldtin, und auf dem Mond gibt es ein Gebiet, das als Mare Humboldtianum bezeichnet wird. Nach Humboldt sind mehr Orte benannt als nach irgendjemandem sonst.38

Ökologen, Umweltschützer und Naturschriftsteller orientieren sich an Humboldts Ideen, wenn auch in den meisten Fällen, ohne es zu wissen. Rachel Carsons Stummer Frühling beruht auf Humboldts Vorstellung von der Vernetzung der Natur. Auch die berühmte Gaia-Theorie von der Erde als lebendigem Organismus, die von dem britischen Wissenschaftler James Lovelock in den 1970er-Jahren entwickelt wurde, weist eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Humboldts Gedanken auf. Als dieser von der Erde als einem »durch innere Kräfte bewegten und belebten Naturganzen«39 sprach, kam er Lovelock um mehr als einhundertfünfzig Jahre zuvor. Das Buch, in dem Humboldt seinen neuen Entwurf beschrieb, nannte er zwar Kosmos, ursprünglich aber hatte er Gäa als Titel erwogen (dann allerdings verworfen).40

Die Vergangenheit prägt uns. Nikolaus Kopernikus zeigte uns unseren Platz im Universum, Isaac Newton erklärte die Naturgesetze, Thomas Jefferson formulierte unsere Vorstellungen von Freiheit und Demokratie, und Charles Darwin bewies, dass alle Arten von gemeinsamen Vorfahren abstammen. Alle diese Überlegungen haben unser Verständnis der Welt maßgeblich mitgestaltet.

Humboldt vermittelte uns einen Begriff von der Natur selbst. Ironischerweise sind uns seine Ideen inzwischen so selbstverständlich geworden, dass wir oft vergessen, von wem sie stammen. Aber wir sind immer noch mit ihm verbunden: durch seine Gedanken und die vielen Menschen, die er beeinflusst hat. Wie ein Band verknüpft uns sein Naturbegriff mit ihm selbst. Am Ende läuft alles bei ihm zusammen.

Die Erfindung der Natur ist mein Versuch, Humboldt zu finden. Es war eine Reise um die Welt, die mich unter anderem zu Archiven nach Kalifornien, Berlin und Cambridge führte. Ich habe Tausende von Briefen studiert, bin aber auch Humboldts Spuren gefolgt. In Jena habe ich die Ruinen des Anatomieturms besichtigt, in dem er viele Wochen hindurch Tiere sezierte, und in Ecuador entdeckte ich in 4000 Metern Höhe auf dem Antisana, während vier Kondore über uns kreisten und eine Herde wilder Pferde uns umringte, die baufällige Hütte, in der Humboldt im März 1802 eine Nacht verbracht hatte.

In Quito hielt ich Humboldts spanischen Originalpass in Händen – jenes Papier, das ihm erlaubte, durch Lateinamerika zu reisen. Als ich in Berlin die Kartons öffnete, die seine Aufzeichnungen enthielten – wunderbare Sammlungen und Kollagen mit Tausenden von Blättern voller Skizzen und Zahlen –, begriff ich endlich, wie er gedacht hatte. Näher an zu Hause, in der British Library in London, verbrachte ich viele Wochen damit, Humboldts veröffentlichte Bücher zu lesen, einige so riesig und so schwer, dass ich sie kaum auf den Tisch heben konnte. In Cambridge studierte ich Darwins Exemplare von Humboldts Büchern – und zwar die, die auf einem Regal neben seiner Hängematte auf der Beagle standen. Auf ihren Seiten wimmelte es von Darwins Bleistiftanmerkungen. Als ich in diesen Büchern las, hatte ich das Gefühl, ein Gespräch zwischen Darwin und Humboldt zu belauschen.

Im venezolanischen Regenwald lag ich nachts wach und horchte auf die seltsamen Schreie der Brüllaffen; in Manhattan, wo ich alte Manuskripte in der New York Public Library las, erlebte ich Hurrikan Sandy. Ich bewunderte in dem kleinen Ort Piòbesi, vor den Toren von Turin, das alte Herrenhaus mit seinem Turm aus dem 10. Jahrhundert, wo George Perkins Marsh Anfang der 1860er-Jahre Teile seines Werks Man and Nature schrieb – ein Buch, das von Humboldt’schen Ideen angeregt worden war und zur Grundlage der amerikanischen Umweltschutzbewegung wurde. Im tiefen Neuschnee umrundete ich Thoreaus Walden Pond und wanderte durch den Yosemite-Nationalpark, wo ich mich an den Satz von John Muir erinnerte: »Der einfachste Weg ins Universum führt durch eine Waldwildnis.«41

Der aufregendste Moment meiner Recherche war, als ich den Chimborazo bestieg, jenen Berg, der Humboldts Vorstellung von Natur so grundlegend beeinflusst hat. Als ich die kahlen Hänge hinaufkletterte, war die Luft so dünn, dass mir jeder Schritt wie eine Ewigkeit erschien – ich kam nur langsam voran, während sich meine Beine anfühlten, als wären sie aus Blei und irgendwie von meinem Körper losgelöst. Mit jedem Schritt wuchs meine Bewunderung für Humboldt. Er hatte mit einem verletzten Fuß den Chimborazo erklommen (und auf jeden Fall nicht in so bequemen und festen Wanderschuhen, wie ich sie trug), beladen mit Instrumenten und mit vielen Zwischenstopps, um Messungen vorzunehmen.

Das Ergebnis meiner Entdeckungsreise durch Landschaften und Briefe, durch Gedanken und Tagebücher ist das vorliegende Buch. Die Erfindung der Natur ist mein Versuch, Humboldt wiederzuentdecken und dazu beizutragen, dass er den ihm gebührenden Platz im Pantheon der Natur und der Wissenschaften wieder einnimmt. Es ist auch der Versuch zu begreifen, woher unser heutiges Verständnis von Natur und Umwelt kommt.

1Noch heute tragen viele deutschsprachige Schulen in Lateinamerika alle zwei Jahre Sportwettkämpfe aus, die Juegos Humboldt heißen – Humboldt-Spiele.

TEIL I AUFBRUCH: Erste Ideen

1 Anfänge

Alexander von Humboldt kam am 14. September 1769 in einer wohlhabenden preußischen Adelsfamilie zur Welt, die ihre Winter in Berlin und die Sommer auf dem Familiensitz Schloss Tegel verbrachte, das etwa 15 Kilometer nordwestlich der Stadt liegt. Sein Vater, Alexander Georg von Humboldt, war Offizier und Kammerherr am preußischen Hof und Vertrauter des künftigen Königs Friedrich Wilhelm II. Marie Elisabeth, Alexanders Mutter, war die Tochter eines reichen Fabrikanten, die Geld und Land in die Ehe gebracht hatte.1 Der Name Humboldt galt viel in Berlin; der künftige König war sogar Alexanders Pate.2 Doch trotz ihrer privilegierten Herkunft hatten Alexander und sein älterer Bruder Wilhelm eine unglückliche Kindheit.3 Als Alexander neun war, starb der geliebte Vater plötzlich, und die Mutter brachte ihren Söhnen nie viel Zuneigung entgegen. Im Unterschied zum freundlichen und liebevollen Vater war die Mutter formell, kalt und distanziert. Statt mütterlicher Wärme ließ sie ihnen die beste Erziehung angedeihen, die damals in Preußen zu bekommen war: Hauslehrer, die aufgeklärte Gelehrte waren, erzogen ihre Söhne und weckten in ihnen die Liebe zu Wahrheit, Freiheit und Wissen.4 In einigen der Lehrer suchten die Jungen eine Vaterfigur, allerdings waren die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern auch manchmal kompliziert. Gottlob Johann Christian Kunth etwa, der viele Jahre für ihren Unterricht verantwortlich war, behandelte sie mit einer eigentümlichen Mischung aus Missfallen und Enttäuschung, während er gleichzeitig ein Gefühl der Abhängigkeit in ihnen nährte. Meist stand Kunth hinter den Brüdern, sah ihnen über die Schulter, während sie rechneten, lateinische Texte übersetzten oder französische Vokabeln lernten, und verbesserte sie fortwährend. Nie war er wirklich zufrieden mit ihren Fortschritten. Immer wenn sie einen Fehler machten, reagierte Kunth, als wollten sie ihn damit verletzen oder beleidigen. Für die Jungen war dieses Verhalten schlimmer, als wenn er sie mit einem Stock geschlagen hätte.5 Verzweifelt bemüht, Kunth zu gefallen, empfanden sie, wie Wilhelm später berichtete, eine »ewige Sorge«, ihn zufriedenzustellen.6

Schloss Tegel

Hermann Klencke, Alexander von Humboldt’s Leben und Wirken, Reisen und Wissen (1870)

Für Alexander war es besonders schwer, weil er, obwohl zwei Jahre jünger, dasselbe lernen musste wie sein frühreifer Bruder. Infolgedessen hielt er sich für weniger begabt. Wenn Wilhelm in Latein und Griechisch brillierte, kam sich Alexander begriffsstutzig und langsam vor. Er tat sich so schwer, dass seine Erzieher, wie Alexander später einem Freund berichtete, »ganz daran verzweifelten, es würden sich je auch nur gewöhnliche Geisteskräfte bei ihm entwickeln«7.

Wilhelm vertiefte sich in die griechische Mythologie8 und in die Geschichte des alten Rom, während Alexander zu unruhig war, um sich mit Büchern zu beschäftigen. Stattdessen entfloh er dem Klassenzimmer, wann immer er konnte, um die ländliche Umgebung zu durchstreifen und Pflanzen, Tiere und Steine zu sammeln und zu zeichnen. Weil er stets mit den Taschen voller Insekten und Pflanzen nach Hause zurückkehrte, bekam er von seiner Familie den Spitznamen »der kleine Apotheker«9; aber sie nahmen seine Interessen nicht ernst. Der preußische König Friedrich der Große soll den Jungen einmal gefragt haben, ob er wie sein Namensvetter Alexander der Große vorhabe, die Welt zu erobern. Und der junge Humboldt antwortete: »Ja, Sire, aber mit meinem Kopf.«10

Ein Großteil seiner frühen Jahre, so berichtete Humboldt später einem nahen Freund, habe er unter Menschen verbracht, die ihn möglicherweise geliebt, aber ganz sicherlich nicht verstanden hätten. Seine Lehrer verlangten viel von ihm, und seine Mutter lebte zurückgezogen von der Gesellschaft und ihren Söhnen. Marie Elisabeth von Humboldts größtes Bestreben sei es gewesen, sagte Kunth, die »geistige und sittliche Vollkommenheit«11 von Wilhelm und Alexander zu fördern – das seelische Wohlbefinden ihrer Söhne habe sie offenbar nicht interessiert. Er sei »tausendfältigem Zwange« unterworfen gewesen,12 erzählte Humboldt – und einsam. Da er nie das Gefühl hatte, er könne im Beisein seiner strengen Mutter, die jeden seiner Schritte überwachte, einfach er selbst sein, spielte er ständig eine Rolle. Zudem durfte im Haushalt der Humboldts niemand Begeisterung oder Freude zeigen.

Alexander und Wilhelm waren sehr unterschiedlich.13 Während Alexander abenteuerlustig war und sich gerne im Freien aufhielt, war Wilhelm ernsthaft und fleißig. Alexander fühlte sich von seinen Empfindungen hin- und hergerissen; dagegen war Wilhelms hervorstechender Charakterzug Selbstbeherrschung.14 Beide Brüder zogen sich in ihre eigenen Welten zurück – Wilhelm in seine Bücher und Alexander zu einsamen Spaziergängen durch Tegels Wald, einen großen Forst, in dem auch nordamerikanische Bäume wuchsen.15 Wenn Alexander zwischen dem malerischen Zuckerahorn und der imposanten Weißeiche umherwanderte, empfand er die Natur als beruhigend und tröstlich.16 Aber zwischen diesen Bäumen aus einer anderen Welt begann er auch von fernen Ländern zu träumen.

Humboldt wuchs zu einem gut aussehenden jungen Mann heran. Bei einer Größe von einem Meter dreiundsiebzig17 hielt er sich sehr gerade und straff, sodass er größer erschien. Er war schlank und drahtig – schnell und gewandt.18 Seine Hände waren klein und zart, sodass sie eher denen einer Frau glichen, wie eine Bekannte berichtete.19 Er hatte forschende, wache Augen, und sein Aussehen entsprach ganz dem Ideal des Zeitalters: zerzaustes Haar, ein voller sensibler Mund und ein Grübchen im Kinn. Allerdings war er häufig krank und litt unter Fieberanfällen und Nervenschwäche, die Wilhelm für eine »Art Hypochondrie« hielt, denn der »arme Junge ist nicht glücklich«20.

Um seine Verletzlichkeit zu verbergen, baute Alexander einen Schutzwall aus Spott und Ehrgeiz um sich auf. Als Junge hatte man ihn wegen seiner scharfzüngigen Bemerkungen gefürchtet – ein Freund der Familie hatte ihn »un petit esprit malin« genannt21, ein Ruf, dem er sein Leben lang gerecht wurde. Sogar Alexanders engste Freunde räumten ein, dass er auch eine boshafte Seite gehabt habe.22 Aber Wilhelm meinte, sein Bruder sei nie wirklich gemein gewesen23 – vielleicht ein wenig eitel und von dem starken Bedürfnis getrieben, zu glänzen und sich hervorzutun. Von Jugend an schien Alexander zwischen Eitelkeit und Einsamkeit zu schwanken, zwischen dem Verlangen nach Lob und der Sehnsucht nach Unabhängigkeit.24 Einerseits unsicher, andererseits von seinen geistigen Fähigkeiten überzeugt, war er zwischen dem Wunsch nach Lob und dem Gefühl seiner Überlegenheit hin- und hergerissen.

Im selben Jahr wie Napoleon Bonaparte geboren, wuchs Humboldt in eine zunehmend globale und zugängliche Welt hinein. Da passt es gut ins Bild, dass wenige Monate vor seiner Geburt die erste internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit stattgefunden hatte: Astronomen aus Dutzenden von Ländern hatten ihre Arbeit koordiniert und ihre Beobachtungen zum Venustransit ausgetauscht. Man hatte endlich entdeckt, wie sich die Längengrade berechnen ließen, und die weißen Flecken auf den Landkarten wurden rasch ausgefüllt. Die Welt veränderte sich. Kurz bevor Humboldt sieben Jahre alt wurde, erklärten amerikanische Revolutionäre ihre Unabhängigkeit, und unmittelbar vor seinem zwanzigsten Geburtstag 1789 begann die Französische Revolution.

Deutschland befand sich noch immer unter dem Dach des Heiligen Römischen Reichs, das nach dem Bonmot von Voltaire weder heilig noch römisch noch ein Reich war. Die Nation, die noch keine war, bestand aus vielen Staaten – teils winzigen Fürstentümern, teils riesigen und mächtigen Dynastien wie den Hohenzollern in Preußen und den Habsburgern in Österreich, die um Vorherrschaft und Territorien kämpften. Mitte des 18. Jahrhunderts war Preußen unter der Herrschaft Friedrichs des Großen zum größten Rivalen Österreichs aufgestiegen.

Als Humboldt geboren wurde, war Preußen bekannt für sein riesiges stehendes Heer und für die Tüchtigkeit seiner Verwaltung. Friedrich der Große herrschte als absoluter Monarch, hatte aber trotzdem Neuerungen wie das Primarschulwesen und eine moderate Agrarreform eingeführt und erste Schritte zur Religionsfreiheit unternommen. Obwohl man ihn vor allem wegen seiner militärischen Fähigkeiten bewundert, war Friedrich der Große auch ein Liebhaber von Musik, Philosophie und Bildung. Ungeachtet der Tatsache, dass französische und englische Zeitgenossen die Deutschen häufig als roh und rückständig ansahen, gab es in den deutschen Staaten mehr Universitäten und Bibliotheken als irgendwo sonst in Europa. Das Verlags- und Zeitschriftenwesen boomte, und in dessen Kielwasser machte die Alphabetisierung rasante Fortschritte.25

Inzwischen schritt Großbritannien wirtschaftlich schnell voran. Landwirtschaftliche Neuerungen wie Fruchtwechsel und moderne Bewässerungssysteme sorgten für größere Ernteerträge. Die Briten hatte das »Kanalfieber« gepackt, und sie überzogen ihre Insel mit einem modernen Transportsystem. Im Zuge der industriellen Revolution wurden mechanische Webstühle und andere Maschinen entwickelt, woraufhin überall Manufakturen entstanden und Produktionszentren zu Städten anwuchsen. Statt wie bisher Subsistenzwirtschaft zu betreiben, begannen die britischen Bauern, die Arbeiter in den neuen Ballungsgebieten zu versorgen.

Die Natur wurde mit den jüngst entwickelten Technologien, wie der Dampfmaschine von James Watt, und medizinischen Entdeckungen unterworfen und kontrolliert – in Europa und Nordamerika fanden erste Pockenimpfungen statt. Als Benjamin Franklin Mitte des 18. Jahrhunderts den Blitzableiter erfand, zähmte die Menschheit, was bis dahin als Ausdruck göttlichen Zorns galt. Im Besitz solcher Macht verlor der Mensch seine Furcht vor der Natur.

In den zwei vorangegangenen Jahrhunderten war die westliche Gesellschaft von der Idee beherrscht, dass die Natur wie ein komplexer Apparat funktioniere – eine »große und komplizierte Maschine des Universums«26, wie ein Wissenschaftler gesagt hatte. Denn wenn der Mensch raffinierte Uhren und Automaten konstruieren konnte, was vermochte Gott dann noch an Großartigem zu erschaffen? Der französische Philosoph René Descartes und seine Anhänger glaubten, dass Gott dieser mechanischen Welt einen ersten Anstoß gegeben hatte, während Isaac Newton das Universum eher für ein göttliches Uhrwerk hielt, in das der Schöpfer als der Uhrmacher fortwährend eingriff.

Erfindungen wie Teleskope und Mikroskope offenbarten neue Welten, und mit ihnen wuchs die Überzeugung, dass die Naturgesetze entschlüsselt werden konnten. In Deutschland hatte der Philosoph Gottfried Wilhelm von Leibniz Ende des 17. Jahrhunderts den Entwurf einer Universalwissenschaft vorgeschlagen, die sich auf die Mathematik gründete. Währenddessen hatte Newton in Cambridge die Mechanik des Universums entdeckt, indem er die Gesetze der Mathematik auf die Natur anwandte. Infolgedessen empfand man die Welt als beruhigend vorhersagbar, solange man diese Naturgesetze verstehen konnte.

Mathematik, objektive Beobachtung und kontrollierte Experimente bahnten einen Weg der Vernunft durch die westliche Welt. Naturforscher wurden Bürger ihrer selbst ernannten »Gelehrtenrepublik«, einer geistigen Gemeinschaft, ungeachtet von Nationen, Religionen und Sprachen.27 Mit ihren Briefen, die kreuz und quer durch Europa und über den Atlantik reisten, verbreiteten sich wissenschaftliche Entdeckungen und neue Ideen. Diese »Gelehrtenrepublik« war ein Land ohne Grenzen, in dem kein Monarch regierte, sondern die Vernunft. Alexander von Humboldt wuchs in diesem neuen Zeitalter der Aufklärung heran, in dem die westlichen Gesellschaften offenbar einer Zukunft voller Selbstvertrauen und Verbesserungen entgegensahen. Fortschritt war das Motto des Jahrhunderts und bewirkte, dass jede Generation die nächste beneidete. Niemand kam auf die Idee, dass die Natur selbst zerstört werden könnte.

Als junge Männer schlossen sich Alexander und Wilhelm von Humboldt den intellektuellen Kreisen Berlins an, wo sie über die Bedeutung von Erziehung, Toleranz und unabhängigem Denken diskutierten. Als die Brüder in Berlin von Lesezirkel zu Lesezirkel und von einem Philosophensalon zum nächsten eilten, wurde das Lernen, das in Tegel eine einsame Beschäftigung gewesen war, zu einem sozialen Ereignis. Im Sommer blieb ihre Mutter häufig in Tegel, und die beiden Brüder lebten mit ihren Hauslehrern im Berliner Stadthaus der Familie.28 Aber diese Freiheit war nicht von Dauer: Ihre Mutter ließ keinen Zweifel daran, dass Wilhelm und Alexander in den Staatsdienst eintreten sollten. Da sie von ihr finanziell abhängig waren, mussten sich die Brüder ihren Wünschen fügen.29

Marie Elisabeth von Humboldt schickte den achtzehnjährigen Alexander auf die Universität in Frankfurt an der Oder. Dieses Provinzinstitut, etwa 100 Kilometer östlich von Berlin, hatte nur zweihundert Studenten und war vermutlich eher wegen seiner Nähe zu Tegel als wegen seines wissenschaftlichen Rufs ausgewählt worden.30 Nachdem Alexander dort ein Semester Kameralistik (Wirtschafts-, Finanz- und Verwaltungskunde) studiert hatte, fand die Familie, er sei jetzt reif genug, um sich Wilhelm in Göttingen anzuschließen, wo es eine der besten Universitäten der deutschen Staaten gab31. Wilhelm studierte Jura, Alexander belegte Naturwissenschaft, Mathematik und Sprachen. Obwohl die Brüder jetzt in derselben Stadt lebten, verbrachten sie wenig Zeit miteinander. »Unser Charakter ist zu verschieden«32, sagte Wilhelm. Während Wilhelm eifrig studierte, träumte Alexander von Tropen und Abenteuern. Er sehnte sich danach, Deutschland zu verlassen.33 Als Junge hatte Alexander die Bücher von James Cook und Louis Antoine de Bougainville gelesen, die beide die Welt umsegelt hatten, und seine Fantasie trug ihn in die dort beschriebenen fernen Länder. Wenn er im botanischen Garten von Berlin die tropischen Palmen betrachtete, verspürte er nur den einen Wunsch, sie in ihrer natürlichen Umgebung zu sehen.34

Dieses jugendliche Fernweh nahm konkrete Züge an, als Humboldt seinen älteren Freund Georg Forster auf einer viermonatigen Reise durch Europa begleitete. Forster war ein deutscher Naturforscher, der an Cooks zweiter Weltumsegelung teilgenommen hatte. Humboldt und Forster lernten sich in Göttingen kennen. Häufig sprachen sie über Forsters Expedition, und dessen lebhafte Schilderungen der Inseln im Südpazifik steigerten Humboldts Verlangen nach diesen unbekannten Regionen noch mehr.35

Im Frühjahr 1790 reisten Forster und Humboldt nach England, in die Niederlande und nach Frankreich; aber der Höhepunkt ihrer Fahrt war London, wo Humboldt alles, was er sah, an ferne Länder erinnerte. Auf der Themse wimmelte es von Schiffen, die Waren von überallher brachten. Jedes Jahr liefen rund fünfzehntausend Schiffe den Hafen an36, beladen mit Gewürzen aus Ostindien, mit Zucker von den Westindischen Inseln, mit Tee aus China, Wein aus Frankreich und Holz aus Russland. Der Fluss war ein »schwarzer Wald« von Masten.37 Zwischen den großen Handelsschiffen schlängelten sich Hunderte von Kähnen, Jollen und kleinen Booten hindurch. Zweifellos überfüllt und verstopft, war die Themse doch ein imposantes Abbild der imperialen Macht Großbritanniens.

In London lernte Humboldt Wissenschaftler, Entdeckungsreisende, Künstler und Denker kennen. Er traf Captain William Bligh (bekannt durch die berüchtigte Meuterei auf der Bounty) und Joseph Banks, Cooks Botaniker bei der ersten Weltumsegelung und inzwischen Präsident der Royal Society, des wichtigsten wissenschaftlichen Forums in Großbritannien. Humboldt bewunderte die hinreißenden Zeichnungen und Skizzen, die William Hodges, der Maler, der Cook auf dessen zweiter Reise begleitet hatte, aus exotischen Weltgegenden mitgebracht hatte. Wohin Humboldt auch blickte – alles beschwor diese neuen Welten. Selbst am frühen Morgen fiel sein Blick, sobald er die Augen öffnete, auf die gerahmten Stiche mit Schiffen der Ostindien-Kompanie, die die Schlafzimmerwände in seiner Unterkunft schmückten.38 Oft weinte Humboldt, wenn er durch diese Eindrücke schmerzlich an seine unerfüllten Träume erinnert wurde. »Es ist ein Treiben in mir«, schrieb er, »dass ich oft denke, ich verliere mein bisschen Verstand.«39

Eine Ansicht von London und der Themse

Wellcome Library, London

Wenn die Traurigkeit unerträglich wurde, begab er sich auf lange, einsame Wanderungen. Bei einem dieser Ausflüge durch das ländliche Hampstead, unmittelbar nördlich von London gelegen, entdeckte er ein Blatt Papier, das an einen Baum genagelt war und auf dem stand, dass man junge Seeleute suche.40 Einen Augenblick lang glaubte er, eine Lösung für seine Probleme gefunden zu haben, doch dann fiel ihm seine strenge Mutter ein. Auf unerklärliche Weise fühlte sich Humboldt von dem Unbekannten angezogen, von der Ferne, aber er war ein »zu guter Sohn«41, wie er sich eingestehen musste, um sich gegen sie aufzulehnen.

Humboldt glaubte, langsam wahnsinnig zu werden, und schickte »verrückte Briefe«42 an Freunde zu Hause. »Meine unglücklichen Verhältnisse«, schrieb Humboldt am Vorabend seiner Abfahrt von England an einen Freund, »zwingen mich, immer zu wollen, was ich nicht kann, und zu tun, was ich nicht mag.«43 Aber noch immer wagte er nicht, sich den Erwartungen seiner Mutter zu widersetzen, die ihm den typischen Lebensweg eines Mitglieds der preußischen Elite vorgab.

Wieder zu Hause, begann Humboldt seine Trübsal in unbändige Energie umzuwandeln. Er fühlte «dieses ewige Treiben«, als würde er von »10000 Säuen« gejagt.44 Gehetzt wechselte er von einem Thema zum nächsten. Die Zweifel an seinen geistigen Fähigkeiten und die Unterlegenheitsgefühle gegenüber seinem älteren Bruder waren längst überwunden. Ständig bewies er sich, seinen Freunden und seiner Familie, wie intelligent er war. Forster war davon überzeugt, dass Humboldts »Geist zu tätig«45 sei – und Forster war nicht der Einzige, der das so sah. Sogar Caroline von Dacheröden, Wilhelms Verlobte, die Alexander erst kurz zuvor kennengelernt hatte, war besorgt. Sie mochte Alexander, aber sie fürchtete, wie sie sagte, er »schnappt wohl über«46. Viele, die ihn kannten, erwähnten, wie rastlos er war und wie rasch er sprach – »mit der Geschwindigkeit eines Rennpferdes«47.

Im Spätsommer 1790 begann Humboldt sein Studium an der Handelsakademie in Hamburg. Er hasste es, da sich alles nur um Zahlen und Kassenbücher drehte.48 In seiner Freizeit vertiefte er sich in wissenschaftliche Abhandlungen und Reiseberichte,49 lernte Dänisch und Schwedisch – alles war besser als seine Wirtschaftsstudien. So oft er konnte, ging er zur Elbe hinunter, wo er die großen Handelsschiffe vorbeisegeln sah, die Tabak, Reis und Indigo aus den Vereinigten Staaten brachten. Der »Anblick der Schiffe im Hafen«50, gestand er einem Freund, habe ihn gerettet – die Segler waren ein Symbol seiner Hoffnungen und Träume. Er konnte es nicht erwarten, endlich »eigener Schöpfer seines Glücks«51 zu sein.

Als Humboldt sein Studium in Hamburg abschloss, war er einundzwanzig. Abermals fügte er sich den Wünschen der Mutter und schrieb sich im Juni 1791 an der angesehenen Bergakademie in Freiberg ein52, einer Kleinstadt bei Dresden. Das war ein Kompromiss, der ihn einerseits auf eine Laufbahn in der preußischen Bergbehörde vorbereitete – um seine Mutter zu besänftigen –, ihm aber wenigstens erlaubte, seine Interessen an den Naturwissenschaften und der Geologie zu verfolgen. Die Akademie war die erste ihrer Art und vermittelte die neuesten geologischen Theorien in Hinblick auf ihre praktische Anwendung im Bergbau. Außerdem gab es hier eine lebendige wissenschaftliche Gemeinschaft, zu der einige der begabtesten Studenten und namhaftesten Professoren aus ganz Europa zählten.

In nur acht Monaten absolvierte Humboldt einen Studiengang, der normalerweise drei Jahre dauerte.53 Jeden Morgen stand er vor Sonnenaufgang auf und fuhr zu einem der Bergwerke in der Umgebung von Freiberg. Die nächsten fünf Stunden verbrachte er tief unten in den Stollen, wo er die Bauweise der Minen, die Arbeitsmethoden und die Gesteinsarten studierte. Es half, dass er so schlank und drahtig war. Mühelos konnte er sich durch die engen Gänge und niedrigen Schächte bewegen, um mit Bohrer und Meißel Gesteinsproben zu nehmen, die er zu Hause untersuchte. Dabei arbeitete er mit einer solchen Besessenheit, dass er häufig die Kälte oder Feuchtigkeit nicht bemerkte. Mittags kroch er aus der Dunkelheit ans Licht, klopfte sich den Staub von der Kleidung und fuhr zurück in die Akademie, um die Seminare oder Vorlesungen über Mineralkunde und Geologie zu besuchen. Abends und oft bis tief in die Nacht saß Humboldt an seinem Schreibtisch. Bei Kerzenlicht über die Bücher gebeugt, las und studierte er. Während seiner Freizeit untersuchte er den Einfluss des Lichts (oder von dessen Fehlen) auf Pflanzen und sammelte Tausende von botanischen Proben. Er maß, machte Notizen und klassifizierte. Er war ein Kind der Aufklärung.54

Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft in Freiberg reiste Humboldt nach Erfurt zur Hochzeit seines Bruders mit Caroline. Doch wie so oft verband er auch hier ein gesellschaftliches Ereignis oder eine Familienfeier mit der Arbeit. Statt sich auf direktem Weg zu dem Fest in Erfurt zu begeben, wurde die Anreise eine 1000 Kilometer lange geologische Expedition durch Thüringen.55 Caroline war über die Ruhelosigkeit ihres neuen Schwagers halb amüsiert und halb besorgt. Ihr gefiel seine Energie, aber manchmal machte sie sich auch lustig über ihn – wie eine Schwester, die ihren jüngeren Bruder neckt. Alexander habe seine Eigenheiten, und die müsse man respektieren, sagte sie zu Wilhelm, doch oft machte sie sich auch Sorgen um seinen Gemütszustand und seine Einsamkeit.56

Humboldt hatte in Freiberg nur einen einzigen wirklichen Freund, einen Kommilitonen, den Sohn der Familie, bei der er sich ein Zimmer gemietet hatte. Die beiden jungen Männer waren Tag und Nacht zusammen, vertieft in ihre Studien und Gespräche.57 Humboldt gestand, »dass ich noch nie irgend ein menschliches Wesen so innig, so herzlich liebte, als Sie«58, machte sich aber zugleich Vorwürfe, dass er eine so enge Freundschaft eingegangen war – er wusste, dass er Freiberg nach seinen Studien verlassen und sich dann nur noch einsamer fühlen würde.59

Doch die intensive Arbeit an der Akademie machte sich bezahlt, denn schon kurz nach Abschluss seines Studiums wurde Humboldt im erstaunlich jugendlichen Alter von zweiundzwanzig Jahren zum Bergassessor ernannt und damit vielen älteren Kollegen vorgezogen. Dieser rasante Aufstieg machte ihn ein bisschen verlegen, aber er war auch stolz genug, um in langen Briefen an Freunde und Angehörige damit anzugeben.60 Vor allem aber erlaubte ihm seine Stellung, Tausende von Kilometern zu reisen, um Böden, Stollen und Erzlager genauestens zu inspizieren – von Kohlegruben in Brandenburg und Eisenadern in Schlesien bis hin zu Goldminen im Fichtelgebirge und Salzbergwerken in Polen.

Auf diesen Reisen lernte Humboldt viele Menschen kennen, blieb aber meistens distanziert und zurückhaltend.61 Er sei recht zufrieden, schrieb er Freunden, aber bestimmt nicht glücklich. Spätabends, nachdem er lange Tage in den Bergwerken oder in Kutschen auf schlechten Straßen verbracht hatte, dachte er oft an die wenigen Freunde, die er in den letzten Jahren gefunden hatte.62 Er fühlte sich »verdammt, immer allein«63. Wenn er wieder einmal irgendwo unterwegs eine Mahlzeit in einem heruntergekommenen Wirtshaus64 zu sich nahm, war er oft zu müde, um zu schreiben oder sich zu unterhalten. Doch an manchen Abenden fühlte er sich so einsam, dass sein Mitteilungsbedürfnis über die Erschöpfung siegte. Dann griff er zur Feder und schrieb lange Briefe, wobei er von einem Thema zum anderen sprang – von detaillierten Abhandlungen über seine Arbeit und seine wissenschaftlichen Beobachtungen bis hin zu emotionalen Ausbrüchen sowie Liebes- und Freundschaftsbekundungen.

Er würde zwei Jahre seines Lebens für die Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit opfern, schrieb er seinem Freund in Freiberg und bekannte, er habe die »süßesten Stunden meines Lebens«65 mit ihm verbracht. Einige dieser Briefe, die er spät in der Nacht verfasste, offenbarten seine tiefsten Gefühle und waren geprägt von verzweifelter Einsamkeit. Seite für Seite schüttete Humboldt sein Herz aus, um sich dann für seine »närrischen Briefe« zu entschuldigen66. Am nächsten Tag, wenn die Arbeit wieder seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, war alles vergessen, und es vergingen Wochen oder sogar Monate, bis er wieder schrieb. Selbst für die wenigen Menschen, die ihn gut kannten, blieb Humboldt oft ein Rätsel.

Inzwischen machte er Karriere, und seine Interessen erstreckten sich auf weitere Gebiete. Humboldt begann sich um die Arbeitsbedingungen der Bergleute zu kümmern, die er jeden Morgen in die Eingeweide der Erde hinabsteigen sah. Um ihre Sicherheit zu verbessern, erfand er eine Atemmaske und eine Lampe, die selbst in den tiefsten und sauerstoffärmsten Stollen noch funktionierte.67 Er verfasste Lehrbücher für die Bergleute und gründete eine Bergschule, weil er entsetzt war über ihre geringen Kenntnisse.68 Als er feststellte, dass sich historische Dokumente möglicherweise als nützlich für die Wiederinbetriebnahme stillgelegter oder unergiebiger Bergwerke erweisen könnten, weil in diesen Schriften gelegentlich reiche Erzvorkommen erwähnt oder von alten Entdeckungen berichtet wurde, verbrachte er Wochen damit, Handschriften aus dem 16. Jahrhundert zu entziffern.69 Er arbeitete und reiste so viel, dass einige seiner Kollegen glaubten, er müsse »acht Beine und vier Hände« haben.70

Die Intensität, mit der er sich in all diese Beschäftigungen stürzte, machte ihn krank, und er litt unter Fieberanfällen und nervösen Störungen.71 Seiner Meinung nach war es eine Kombination aus Überarbeitung und der Kälte in den tiefen Stollen der Bergwerke. Doch trotz Krankheit und Arbeitsbelastung gelang es Humboldt, seine ersten Bücher zu veröffentlichen: eine Abhandlung über die Basaltgesteine am Rhein72 und eine andere über die unterirdische Flora in Freiberg73 – seltsame pilz- und schwammartige Pflanzen, die in vielfältigsten Formen auf den feuchten Grubenbalken wuchsen. Humboldt konzentrierte sich auf das, was er messen und beobachten konnte.

Während des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die »Naturphilosophie« – heute bezeichnen wir sie als »Naturwissenschaften« – von einem Teilgebiet innerhalb der Philosophie, neben Metaphysik, Logik und Moralphilosophie, zu einer unabhängigen Disziplin, die eine eigene Herangehensweise und Methodologie verlangte. Parallel entstanden neue Fachbereiche der Naturphilosophie und etablierten sich als eigene Spezialgebiete – unter anderem Botanik, Zoologie, Geologie und Chemie. Obwohl Humboldt gleichzeitig auf verschiedenen Feldern arbeitete, hielt er sie damals streng getrennt. Durch diese wachsende Spezialisierung konzentrierte sich Humboldt immer stärker auf Einzelheiten und achtete nicht so sehr auf das große Ganze, was aber später zu seinem Markenzeichen wurde.

Eines der Experimente zur tierischen Elektrizität, die Humboldt mit Froschbeinen durchführte.

Wellcome Library, London: Alexander von Humboldt, Versuch über die gereizte Muskel- und Nervenfaser (1797)

In dieser Lebensphase entwickelte Humboldt auch ein leidenschaftliches Interesse für die sogenannte »tierische Elektrizität« oder den Galvanismus, wie er nach dem italienischen Naturwissenschaftler Luigi Galvani genannt wurde. Galvani war es gelungen, Kontraktionen in den Muskeln und Nerven von Tieren hervorzurufen, indem er sie an verschiedene Metalle anschloss. Er vermutete, dass tierische Nerven mit Elektrizität arbeiten. Fasziniert von dieser Idee, begann Humboldt eine lange Versuchsreihe von viertausend Experimenten, in denen er Frösche, Eidechsen und Mäuse sezierte, an Drähte anschloss, stach und mit tödlichen Stromschlägen traktierte. Da er sich nicht mit Tieren begnügen mochte, musste auch sein eigener Körper herhalten; deshalb nahm er auch immer seine Instrumente auf seine Dienstreisen durch Preußen mit. Abends, nach getaner Arbeit, stellte er seinen elektrischen Apparat in den kleinen Zimmern auf, die er mietete. Dann reihte er Metallstäbe, Zangen, Glasplatten und Fläschchen mit allen möglichen Chemikalien auf dem Tisch auf, dazu Feder und Papier. Mit einem Skalpell schnitt er sich in die Arme und den Oberkörper. Vorsichtig rieb er nun alle möglichen Chemikalien in die offenen Wunden oder klebte sich Metallstücke, Drähte und Elektroden auf die Haut oder unter die Zunge. Sorgfältig notierte er jedes Detail – jede Zuckung, jede Konvulsion, jedes Brennen und jeden Schmerz.74 Viele dieser Wunden entzündeten sich, und an manchen Tagen war seine Haut mit blutgefüllten Beulen bedeckt. Sein Körper sah so geschunden aus wie der eines »Gassenläufers«75[2], gab er zu, aber trotz der Schmerzen, berichtete er voller Stolz, habe alles »prächtig«76 geklappt.

Durch seine Experimente kam Humboldt mit einer wissenschaftlichen Idee in Berührung, die im ausgehenden 18. Jahrhundert besonders kontrovers diskutiert wurde: dem Begriff der organischen und anorganischen »Materie« und der Frage, ob eine von beiden irgendeine »Kraft« oder ein »aktives Prinzip« enthalte. Newton vertrat die Ansicht, Materie sei ihrem Wesen nach träge und erhalte alle anderen Eigenschaften von Gott. Die Botaniker und Zoologen hingegen, die eifrig die Flora und Fauna klassifizierten, waren mehr daran interessiert, Ordnung in das Chaos zu bringen, als sich mit der Vorstellung auseinanderzusetzen, dass Pflanzen oder Tiere möglicherweise anderen Gesetzen gehorchten als unbelebte Gegenstände.

Ende des 18. Jahrhunderts begannen einige Wissenschaftler, dieses mechanische Naturmodell infrage zu stellen, weil es die Existenz lebender Materie nicht zu erklären vermochte. Zu der Zeit, als Humboldt seine Versuche mit »tierischer Elektrizität« unternahm, gelangten immer mehr Wissenschaftler zu der Überzeugung, dass Materie nicht leblos sein könne, sondern dass es eine Kraft geben müsse, die diese Aktivität auslöse. Descartes’ Theorie, die Tiere im Wesentlichen als Maschinen sah, wurde nun zunehmend kritisiert. Französische Mediziner, der schottische Arzt John Hunter und vor allem Johann Friedrich Blumenbach, ein früherer Professor Humboldts in Göttingen, formulierten neue Theorien des Lebens.

Als Humboldt in Göttingen studierte, hatte Blumenbach eine überarbeitete Ausgabe seines Buchs Über den Bildungstrieb77 veröffentlicht. Darin hatte er die Idee entwickelt, dass es in lebenden Organismen wie Pflanzen und Tiere mehrere Kräfte gebe. Die wichtigste Kraft, die den Organismen ihre Form verleiht, nannte er den Bildungstrieb. Jedes lebendige Wesen, vom Menschen bis zum Schimmelpilz, habe, so schrieb Blumenbach, diesen Bildungstrieb, und deshalb sei er von größter Bedeutung für die Entstehung des Lebens.

Seine Experimente waren für Humboldt nichts weniger als die Auflösung des, wie er sagte, »gordischen Knotens der Lebensprozesse«78.

2Spießrutenläufer

2 Fantasie und NaturJohann Wolfgang von Goethe und Humboldt

1794 unterbrach Alexander von Humboldt für kurze Zeit seine Experimente und die Inspektionsreisen zu den preußischen Bergwerken, um seinen Bruder Wilhelm zu besuchen, der mit seiner Frau Caroline und ihren beiden Kindern in Jena wohnte, knapp 250 Kilometer südwestlich von Berlin.1 Jena war damals eine Stadt mit viertausend Einwohnern, die im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach lag, einem kleinen Staat, der von Karl August, einem aufgeklärten Herrscher, regiert wurde. Die Stadt war ein Mittelpunkt für Wissenschaft und Literatur und wurde wenige Jahre später zum Zentrum des deutschen Idealismus und der Romantik. Die Universität Jena hatte sich zu einer der größten und berühmtesten im deutschsprachigen Raum entwickelt und lockte dank ihrer liberalen Haltung fortschrittliche Denker aus anderen deutschen Staaten an, in denen es weniger frei zuging.2 Es gebe keinen anderen Ort in Deutschland, sagte der dort ansässige Dichter Friedrich Schiller, an dem Freiheit und Wahrheit so sehr geschätzt würden.3

Rund 20 Kilometer von Jena entfernt lag Weimar, die Hauptstadt von Sachsen-Weimar-Eisenach und der Wohnort von Johann Wolfgang von Goethe. In Weimar standen keine tausend Häuser, und der Ort war angeblich so klein, dass jeder jeden kannte. Die Bauern trieben das Vieh durch die kopfsteingepflasterten Straßen, und die Post kam so unregelmäßig, dass es für Goethe leichter war, seinem Freund Schiller, der an der Universität von Jena arbeitete, einen Brief durch seine Gemüsehändlerin auf deren Auslieferungsrunde mitzugeben, als auf die Postkutsche zu warten.4

In Jena und Weimar trafen, so sagte eine Besucherin, die klügsten Köpfe zusammen wie Sonnenstrahlen in einem Vergrößerungsglas.5 Wilhelm und Caroline waren im Frühjahr 1794 nach Jena gezogen und gehörten zu Goethes und Schillers Freundeskreis. Sie wohnten am Marktplatz gegenüber von Schiller – so nahe, dass sie ihm aus dem Fenster zuwinken und ihre täglichen Zusammenkünfte verabreden konnten.6 Als Alexander eintraf, schickte Wilhelm eine kurze Nachricht nach Weimar und lud Goethe nach Jena ein.7 Goethe kam mit Vergnügen und wohnte wie immer in seinem Gästezimmer im herzoglichen Schloss, ganz in der Nähe, nur ein paar Häuserzeilen nach Norden.

Während Humboldts Besuch trafen sich die Männer jeden Tag. Es waren lebhafte Zusammenkünfte mit hitzigen Diskussionen und dröhnendem Gelächter – häufig bis spät in die Nacht.8 Trotz seiner Jugend gab Humboldt oft den Ton an. Er »nöthigte uns«9 in die Naturkunde, berichtete Goethe begeistert; sie sprachen über Zoologie und Vulkane, über Botanik, Chemie und Galvanismus. »Man könnte in acht Tagen nicht aus Büchern herauslesen, was er einem in einer Stunde vorträgt«10, sagte Goethe.

Der Dezember 1794 war bitterkalt.11 Französische Truppen nutzten den zugefrorenen Rhein als Heeresstraße auf ihrem Kriegszug durch Europa.12 Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach war tief verschneit. Aber jeden Morgen vor Sonnenaufgang stapften Humboldt, Goethe und ein paar andere wissenschaftlich interessierte Freunde über den Jenaer Marktplatz durch Dunkelheit und Schnee. Sie gingen, in dicke Wollmäntel gehüllt, an dem imposanten Rathaus aus dem 14. Jahrhundert vorbei und weiter zur Universität, wo sie Anatomievorlesungen besuchten.13 Es war eisig in dem fast leeren Auditorium des mittelalterlichen Rundturms, der zur alten Stadtmauer gehörte – aber die ungewöhnlich niedrigen Temperaturen hatten den Vorteil, dass die Leichen, die sie sezierten, nicht so schnell verwesten. Goethe, der Kälte hasste und normalerweise die knisternde Wärme seines Ofens bevorzugte14, hätte nicht glücklicher sein können. Er redete ununterbrochen. Humboldts Anwesenheit animierte ihn und spornte ihn an.15

Goethe war Mitte vierzig und der berühmteste Dichter Deutschlands. Genau zwei Jahrzehnte zuvor war er ganz plötzlich international bekannt geworden, als er DieLeiden des jungen Werther veröffentlichte – einen Roman über einen unglücklich Liebenden, der Selbstmord begeht und damit zur Symbolfigur der Empfindsamkeit jener Zeit wurde. Der Werther wurde zu dem Buch einer ganzen Generation, und viele identifizierten sich mit dem namengebenden Protagonisten. Der Roman wurde in die meisten europäischen Sprachen übersetzt und so populär, dass zahllose Männer, unter anderem auch der junge Karl August, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, die »Werther-Uniform« trugen – gelbe Weste und Hose, blauer Rock, braune Stiefel und runder Filzhut.16 Man sprach vom Werther-Fieber17,und die Chinesen stellten Werther-Porzellan her, das für den europäischen Markt bestimmt war.

Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1787

Wellcome Library, London

Als Goethe Humboldt kennenlernte, war er nicht mehr der ungestüme junge Dichter des Sturm und Drang. Diese Epoche hatte die Individualität und die ganze Bandbreite extremer Gefühle verherrlicht – von dramatischer Liebe bis zu tiefer Melancholie; es war eine Zeit voller Leidenschaften, Gefühle, romantischer Gedichte und empfindsamer Romane. Als Goethe 1775 erstmals von dem damals achtzehnjährigen Karl August nach Weimar eingeladen worden war, begann für ihn eine lange Folge von Liebesaffären, Alkoholexzessen und albernen Streichen. Lärmend waren Goethe und Karl August durch die Straßen von Weimar gezogen, manchmal in weiße Tücher gehüllt, um die Leute zu erschrecken, die noch an Geister glaubten.18

Sie rollten sich in Fässern, die sie vom örtlichen Kaufmann stibitzt hatten, die Hügel hinunter, und flirteten mit Bauernmädchen – alles im Namen des Genies und der Freiheit. Natürlich konnte sich niemand beklagen, da ja Karl August, der junge Herrscher, mit von der Partie war. Aber diese wilden Jahre waren schon lange vorbei, und mit ihnen die theatralischen Liebesbeteuerungen, die Tränen, das Zerschmettern von Gläsern und das Nacktbaden, worüber die Einheimischen sich so aufgeregt hatten. 1788, sechs Jahre vor Humboldts erstem Besuch, hatte Goethe die Weimarer Gesellschaft noch einmal schockiert, als er sich die ungebildete Christiane Vulpius zur Geliebten nahm.19 Knapp zwei Jahre später brachte Christiane, die als Näherin und Blumenmacherin in Weimar arbeitete, ihren Sohn August zur Welt. Goethe setzte sich über alle Konventionen und boshaften Klatschereien hinweg und lebte mit Christiane und August zusammen.

Als Goethe Humboldt kennenlernte, war er zur Ruhe gekommen und korpulent geworden, mit Doppelkinn und einem Bauch, den ein Bekannter hämisch mit dem »einer Frau in den letzten Stadien der Schwangerschaft«20 verglich. Sein gutes Aussehen gehörte der Vergangenheit an – die schönen Augen waren »im Fett der Backen«21 verschwunden, und er war längst nicht mehr der hinreißende »Apoll«22. Nach wie vor war Goethe der Vertraute und Ratgeber des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach, der ihn geadelt hatte. Er war Direktor des Hoftheaters und übte mehrere gut bezahlte Verwaltungstätigkeiten aus; unter anderem beaufsichtigte er die Bergwerke und Manufakturen des Herzogtums. Wie Humboldt schwärmte Goethe so sehr von der Geologie (und dem Bergbau), dass er seinem kleinen Sohn gelegentlich eine Bergmannskluft anzog.23

In der literarischen Welt überragte Goethe wie Zeus die anderen deutschen Dichter und Schriftsteller, aber er konnte auch den Eindruck eines »kalten, einsilbigen Gottes«24 machen. Einige beschrieben ihn als melancholisch, andere als arrogant, stolz und bitter. Goethe war kein guter Zuhörer, wenn ihn das Thema nicht interessierte, und er konnte ein Gespräch mit verletzender Gleichgültigkeit oder einem unvermittelten Themenwechsel abwürgen. Manchmal war er so unhöflich, besonders jungen Dichtern oder Philosophen gegenüber, dass seine Besucher aus dem Zimmer flohen.25 Doch nichts von all dem störte seine Bewunderer. Das »heilige dichterische Feuer«26 habe es, wie ein britischer Besucher in Weimar sagte, bislang nur in Homer, Cervantes und Shakespeare zur Vollkommenheit gebracht, und nun brenne es in Goethe.

Goethes Haus in Weimar

Wellcome Library, London

Doch Goethe war nicht glücklich. »Man kann sich keinen isoliertern Menschen denken, als ich damals war.«27 Die Natur – »die große Mutter«28 – faszinierte ihn weit mehr als Menschen. Sein großes Haus in Weimars Stadtmitte zeugte von seinem Geschmack und seiner Stellung. Es war elegant eingerichtet, voller Bilder und italienischer Statuen, beherbergte aber auch riesige Sammlungen von Steinen, Fossilien und getrockneten Pflanzen. Nach hinten hinaus lagen eine Reihe einfacherer Zimmer, die Goethe als Arbeitszimmer und Bibliothek dienten und die in einen Garten führten, den er für wissenschaftliche Studien angelegt hatte. In einer Ecke des Gartens befand sich ein kleines Gebäude, das seine umfangreiche geologische Sammlung enthielt.29

Am liebsten aber war Goethe in seinem Gartenhaus am Fluss Ilm, außerhalb der Stadtmauer auf dem herzoglichen Gut. Nur zehn Minuten von seiner Stadtresidenz entfernt, war dieses gemütliche kleine Haus sein erster Wohnsitz in Weimar gewesen – später aber war es zu seinem Zufluchtsort geworden, an den er sich zurückzog, wenn ihm der ständige Besucherstrom zu viel wurde. Hier schrieb er, gärtnerte und empfing seine engsten Freunde. Wilder Wein und süß duftendes Geißblatt umrankten Mauern und Fenster. Es gab Gemüsebeete, eine Wiese mit Obstbäumen und einen langen Weg, der von Goethes geliebten Stockrosen gesäumt war. Als Goethe 1776 dort eingezogen war, hatte er nicht nur seinen Garten selbst angelegt, sondern auch den Herzog überredet, aus dem streng geometrischen Barockgarten des Schlosses einen modernen englischen Landschaftspark zu machen, der dank unregelmäßig gepflanzter Baumgruppen ganz natürlich wirkte.

Goethe begann »der Welt müde zu werden«30. In Frankreich hatte die Schreckensherrschaft den ursprünglichen Idealismus der Revolution von 1789 in die blutige Realität der Massenhinrichtung von Zehntausenden vermeintlichen Feinden verwandelt. Diese Brutalität und die Gewalt, mit der die folgenden napoleonischen Kriege Europa überzogen, ernüchterten Goethe und versetzten ihn in »die traurigste Stimmung«31. Als die Heere durch Europa marschierten, fürchtete er um Deutschland. Er lebe wie ein Einsiedler32, sagte er, und das Einzige, was ihn aufrecht hielt, waren seine naturwissenschaftlichen Studien. Sie waren für ihn wie ein »Balken im Schiffsbruch«33.

Heute ist Goethe wegen seines literarischen Werkes berühmt, aber er war auch ein leidenschaftlicher Naturforscher, fasziniert von der Erdgeschichte und der Botanik. Er besaß eine Steinesammlung, die am Ende auf achtzehntausend Proben angewachsen war.34 Während Europa in den Krieg taumelte, ging er ruhig seinen Studien in vergleichender Anatomie und Optik nach. Im selben Jahr, in dem Humboldt ihn zum ersten Mal besuchte, legte Goethe einen botanischen Garten an der Universität Jena an. Er verfasste die Schrift Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790), in der er schrieb, es gebe eine ursprüngliche, archetypische Form, die der Pflanzenwelt zugrunde liege. Jede Pflanze sei nur eine Spielart dieser Urform. Hinter der Vielfalt verberge sich die Einheit.35 Goethe war davon überzeugt, dass das Blatt diese Urform darstellte, die Grundform, aus der sich alle anderen Formen entwickelt hatten – Blütenblätter, der Kelch und so fort. »Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt«, sagte er.36

Das waren faszinierende Ideen, aber Goethe hatte keinen naturwissenschaftlichen Sparringspartner, mit dem er seine Theorien hätte weiterentwickeln können. All das änderte sich, als er Humboldt kennenlernte. Es war, als hätte Humboldt den Funken entzündet, der Goethe so lange gefehlt hatte.37