Alles. Immer. Besser. - Michael Girkinger - E-Book

Alles. Immer. Besser. E-Book

Michael Girkinger

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Beschreibung

Ob durch Werbung, Ratgeber oder digitale Hilfsmittel – wir werden unablässig dazu animiert, uns selbst zu optimieren. Der Impuls, sich zu verändern, gehört zum Menschsein. Daraus speist sich die positive Botschaft der Selbstoptimierung: Wir können etwas für unsere Gesundheit und unser Glück tun. Heutzutage ist daraus eine Verheißung geworden: Glück und Erfolg seien nur eine Frage der bewussten Einstellung und des richtigen "Mindsets". Michael Girkinger geht der Frage nach, was hinter dem Drang zur Selbstoptimierung steckt. Ideengeschichtlich ist sie eine Fortsetzung von Individualisierungsprozessen, die bis zum Beginn der Neuzeit zurückreichen. Der steigende Wohlstand und mehr Freizeit haben es ermöglicht, dass sich die Menschen mehr mit sich selbst beschäftigen. Die Konsum- und Werbeindustrie trägt ihren Teil dazu bei, indem sie immer neue Schönheits-, Wohlfühl- und Leistungsideale verkauft. Wettbewerb und technischer Fortschritt zwingen die Menschen, sich anzupassen und zu verbessern. Selbstoptimierung kann ein lustvoller Prozess sein, bei dem die Menschen entdecken, dass mehr möglich ist, als sie dachten. Sie ist, wo sie freiwillig passiert, ein Privileg, das die Mehrheit der Menschheit gar nicht besitzt. Doch Selbstoptimierung wirkt auch als indirekter Zwang, wo Menschen auf den Ausbildungs-, Berufs- oder Beziehungsmärkten unter Konkurrenzdruck geraten. Zusätzlich Druck entsteht durch die Vorstellung, dass Erfolg allein in der eigenen Verantwortung liegt, während individuelle Umstände oder die sozialen Verhältnisse ausgeblendet werden. Subtiler kann sich ein indirekter Zwang zur Selbstoptimierung dort zeigen, wo wir versuchen, verinnerlichten Idealen eines gelungenen Lebens zu entsprechen: der ideale Job, die ideale Work-Life-Balance oder die ideale Partnerschaft. Nicht selten führt dieser Zwang zum Glück in die Überforderung und den Burn-Out.

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Seitenzahl: 192

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Inhaltsverzeichnis
Der Autor
Vorwort
Selbstoptimierung als ambivalentes gesellschaftliches Leitbild
Erzählungen vom »perfekten Leben«
Bruce Springsteen und die »Macht des positiven Denkens«
Was den Leser und die Leserin erwartet
Erste Annäherungen an das Thema und ein bisschen Philosophie
Leben auf schwankendem Grund
Das glatte Leben
»You can make it, if you try«
Der Sinn für den Neuanfang
Gedanken zur Conditio humana
Das bestmögliche Leben?
Was bedeutet Selbstoptimierung?
Enge und weite Formen der Selbstoptimierung
Hybride Formen der Selbstoptimierung
Selbstoptimierung ist nicht neu
Elementare Unterscheidungen von Optimierungshandlungen
Biokonservative vs. Bioliberale
Gegen die Macht des Schicksals: Blitzlichter alter und neuer Optimierungstechniken
Das Bewusstsein bestimmt das Sein
Der Mensch als seines Glückes Schmied
Selbstoptimierung durch Self-Tracking
Technisch gestützte Emotionsarbeit und Neuroenhancement
Was Selbstoptimierung heute antreibt
Die zwei Quellen der Selbstoptimierung
Ein Leben der »größtmöglichen Fülle«
Freie Menschen in der Multioptionsgesellschaft
Das ambivalente Streben nach Selbstverwirklichung und Authentizität
Die Gesellschaft der Singularitäten
Selbstoptimierung als Reichweitenvergrößerung
Der Mythos vom perfekten Leben
Gegen die Rolltreppe laufen
Vom Fahrstuhl zur Rolltreppe
Die Tyrannei der Leistungsgesellschaft
Zwischen Potenzialentfaltung und Zwang zur Selbstoptimierung
Selbstoptimierung im Spiegel der drei großen Ängste unserer Zeit
Die Angst, nicht zu genügen
Die Angst, etwas zu verpassen
Die Angst, sich selbst zu verfehlen
Persönlichkeit, Persönlichkeitsbildung, Persönlichkeitsentwicklung
Persönlichkeitsbildung: ein weites Feld
Persönlichkeit: stabil und in Bewegung
Persönlichkeitsveränderung: möglich und erstrebenswert?
Großes Glück, großer Erfolg: (Sonder-)Angebote zur Selbstoptimierung
Magisch gut drauf: das Positive Denken
Großes Glück, großer Erfolg
Konsumkultur am Persönlichkeitsbildungsmarkt
Was Glück eigentlich ausmacht und wie negative Gefühle unser Leben verbessern
Glück und Gesellschaft
Die vielen Stimmen des Glücks
Flüchtiges Glück
Hedonistisches Glück
Glück und Sinn
Wie negative Gefühle unser Leben verbessern
Glück kann man finden oder nicht …
Licht und Schatten der Selbstoptimierung
»Ich bin es wert, optimiert zu werden«
Das Negative am Positiven und paradoxe ­Effekte des Optimierungsdenkens
Große Versprechen, einfache Anleitungen
Entmutigung durch sinnlos hohe Zumutung
Allmachtswahn und Kontrollillusion
Glück als persönliche Leistung und Pflicht
Dominanz positiver Gefühle
Sozialer Kontext wird ausgeblendet
Paradoxe Effekte des Optimierungsstrebens
Resümee
Selbstoptimierung zwischen progressiven Idealen und neuen Zwängen
Was ich mitgenommen habe …
Die Ebene der Gesellschaft
Die Ebene der Persönlichkeitsbildung
Die persönliche Ebene
Wege der Veränderung
Ein zweites Leben
Danksagung

Michael GirkingerAlles. Immer. Besser.

  

Licht und Schatten der Selbstoptimierung

© 2023 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-910-7(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-517-8)

Umschlaggestaltung: Sophie Gudenus

Lektorat: Elvira M. Gross

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Der Autor

Michael Girkinger, geboren 1979 in Innsbruck, hat Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Salzburg studiert. Er arbeitet für die „Grüne Wirtschaft Österreich“ und ist daneben publizistisch und als Lektor tätig.

Vorwort

Platon sagt, am Anfang aller Philosophie steht das Staunen. So war es auch in meinem Fall: Schon während meines Studiums war ich verblüfft über all die Werbeannoncen in Business- und Weiterbildungsmagazinen, die sich der Persönlichkeitsentwicklung annahmen. Sie versprachen, bestimmte Kompetenzen schnell und tiefgreifend verbessern zu können bis hin zur Optimierung der kompletten Persönlichkeit. Nahegelegt wurden diese Verbesserungen und Heilsversprechen von Trainer:innen, die selbst bereits sehr optimiert und glücklich aussahen. Auch du, lieber Kunde und liebe Kundin, kannst ganz schön glücklich und erfolgreich werden, wenn du mein Angebot buchst. So wird die Botschaft kommuniziert.

Das ist kein Buch, das Selbstoptimierung ablehnt oder geringschätzt. So einen definitiven Standpunkt einzunehmen, halte ich für vermessen, denn die Möglichkeiten zur Selbstoptimierung sind genauso vielfältig wie die individuellen Erfahrungen damit. Ein Dankbarkeitstagebuch mag für den einen albern sein, für die andere hilfreich. Eine Fitness-App mag für die eine bevormundend sein, für den anderen motivierend. Sich verbessern zu wollen, nach Höherem zu streben, ist ein Antrieb, der tief im Menschen verwurzelt ist. ­Michel Foucault drückte es so aus: »Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, was man am Anfang nicht war.« Diesem Impuls folgend kann Selbstoptimierung etwas sein, das uns Energie und Richtung gibt und unser Leben bereichert. Kritisch sehe ich sie dort, wo sie mit unerfüllbaren Ansprüchen und Idealen, Kontrollillusionen oder Zwangsoptimismus verbunden ist. Interessant ist daher weniger die Selbstoptimierung an sich, sondern der Kontext, in dem sie praktiziert wird. Das Buch analysiert, warum es ein berechtigtes Unbehagen an der Selbstoptimierung gibt, und stellt die Frage, ob Selbstoptimierung als Versuch, alles im Leben »bewusster« zu machen und in Regeln zu packen, der optimale Weg ist, um ein besserer oder glücklicherer Mensch zu werden.

1930 veröffentliche Sigmund Freud seine bekannte Schrift Das Unbehagen in der Kultur. Sein Gedanke damals: Kultur schützt den Menschen vor der Natur und regelt das Zusammenleben. Doch diese Regeln und Normen zwingen den Menschen, seine Triebe einzuschränken. Deshalb lebt er immer in einem Widerspruch zu seiner Veranlagung. Freud beschäftigte sich auch mit dem Glück, zu dem der Mensch nur sehr eingeschränkt fähig sei. Glück sei nur ein episodisches Vergnügen, das sich, wo es fortdauert, zum lauen Behagen wandle. Wir sind so konstituiert, dass wir nur den Kontrast intensiv erleben können, nicht den Zustand. Man kennt das Bonmot Goethes: »Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen.« Das mag, merkt Freud in einer Fußnote an, eine Übertreibung sein. Er bespricht verschiedene Quellen des Glücks, keine davon sei ohne Haken. Was also tun? In seiner ihm speziellen Art schlussfolgert er: »Wie der vorsichtige Kaufmann es vermeidet, sein ganzes Kapital an einer Stelle festzulegen, so wird vielleicht auch die Lebensweisheit raten, nicht alle Befriedigung von einer einzigen Strebung zu erwarten.«

Heute, in einer Kultur der »good vibes only«, kann man sich fragen: Ist es nicht ein überkommenes, negatives Bild, das Freud hier zeichnet? Mir gefällt, wie er – stellenweise mit großväterlicher Ironie – die Polarität des Lebens beschreibt und mahnt, man dürfe nie »die Buntheit der Menschenwelt und ihres seelischen Lebens« vergessen. Dieser Zugang trägt möglicherweise mehr zur inneren Balance bei als die idealisierten Lebensbilder, die uns etwa der Selbsthilfemarkt, Businessmagazine oder die Welt der (Sozialen) Medien als neue Norm vor die Nase halten. Haben sie ein neues »Unbehagen in der Kultur« geschaffen, das aus einer schmerzlich empfundenen Diskrepanz zwischen uns selbst und irgendwelchen einseitig positiv gefärbten »besten Versionen« besteht?

Solche Visionen stehen nicht nur in einem deutlichen Kontrast zu mir selbst und den Menschen um mich herum, sondern auch zur Welt der Literatur, wie ich sie kennengelernt habe. Nirgendwo herrschen auch nur annähernd so ideale Zustände wie in der inszenierten, aber augenscheinlich wirkmächtigen Welt moderner Expert:innen der Lebenskunst. Warum erwähne ich die Literatur? Weil Literatur ein Spiegel unserer vielstimmigen Innen- und Außenwelt ist. Ein Roman begeistert uns, wenn er Erfahrungen und Eindrücke darstellt, die wir selbst kennen, aber nie so hätten formulieren können. Gute Literatur zeigt, wie komplex unsere Welt ist. Sie macht sichtbar, wie vielschichtig und oft widersprüchlich wir denken und handeln und dass das Panorama menschlicher Gedanken und Gefühle viel größer ist als das, was wir gemeinhin als normal oder normal im Sinne von erstrebenswert halten. Und sie zeigt, wie sehr wir mit sozialen und historischen Prozessen verwoben sind, die wir weder ganz erkennen noch beherrschen können. Daher greife ich auch in diesem Buch bisweilen auf Literatur zurück.

Im Studium begann ich mich mit dem Persönlichkeitsbildungsmarkt näher zu beschäftigen. Daraus wurde schließlich eine Dissertation, in der ich mich kritisch mit den vielen Glücks- und Erfolgsangeboten auseinandersetzte. Der Begriff der Selbstoptimierung spielte für mich anfangs noch keine nennenswerte Rolle, obwohl die vielen Glücks- und Erfolgsexpert:innen genau das darstellen und predigen: Selbstoptimierung. Die Kritik an fragwürdigen »Produkten« am Persönlichkeitsbildungsmarkt war nicht der einzige Grund, warum ich mich mit dem Thema auseinandersetzte. Es werden dort auch Fragen angesprochen, die uns alle auf die eine oder andere Art beschäftigen: Was macht für mich ein gelingendes Leben aus? Welches Leben passt zu mir? Wozu bin ich fähig? Womit tue ich mir schwer? Wie gehe ich damit um? Solche Fragen schwingen mit, wenn sich Menschen in irgendeiner Weise optimieren ­wollen. Doch egal, welches Lebenskonzept wir als erstrebenswert erachten, im Leben aller Menschen geht es immer auch um den ­Umgang mit Grenzen. Die ultimative Grenze ist die eigene Endlichkeit. Die Erde existiert bereits seit 4,5 Milliarden Jahren. Wir sind nur etwa 4 000 Wochen ein Teil von ihr.

Dieses Buch ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit einer ambivalenten Selbstoptimierungskultur und ihren oft trügerischen Glücksversprechen, es berührt dabei ebenfalls solche Lebensfragen und kann, so hoffe ich, die eine oder andere Inspiration mitgeben. Dabei habe ich Gedanken aus vielen Büchern herangezogen. Ich folge dabei dem Historiker Theodore Zeldin, der einen großen Wert darin sieht, an der Gedankenwelt anderer Menschen teilzuhaben und zu erfahren, was sie bewegt oder bewegt hat; was für sie in ihrem Leben von Bedeutung war oder ist. Er schreibt: »Ich ziehe es vor, zu erfahren, was Sie glauben, was andere glauben oder geglaubt haben, welches Bild sich andere als ich von der Welt machen und was passieren würde, wenn die Leute mehr darüber wüssten, was in den Köpfen der anderen vor sich geht. Es hat keinen Sinn, entscheiden zu wollen, was man mit seinem Leben anfängt, ohne zu wissen, was andere aus ihrem Leben gemacht haben und mit welchen Ergebnissen.« Das Leben, soviel ist sicher, ist viel bunter und interessanter, als es die Ratgeber oder Businessmagazine darstellen.

Linz, im Jänner 2023Michael Girkinger

Selbstoptimierung als ambivalentes gesellschaftliches Leitbild

DerGrundinstinktdesMenschenistHerrschsucht.ErwillherrschenüberTotesundLebendiges,KörperundSeelen,ZukunftundVergangenheit.AlledievielfältigenTätigkei­ten, denen er sich hingibt, zielen dahin.

Egon Friedell, »Kulturgeschichte der Neuzeit«

Jeder kennt sie: Aufforderungen, Angebote und Anleitungen, etwas an seiner Persönlichkeit und im eigenen Leben zu verbessern. Anfang 2020, drei Monate, bevor die Corona-Pandemie in Österreich den ersten Lockdown auslöste, titelte das Magazin Men’s Health: »Dein bestes Jahr!« Am Cover ein Mann mit Sixpack. Daneben die Teaser: »Neustart 2020: So erreichst du alle Ziele«, »Mehr aus jedem Workout rausholen«, »Schlauer essen«, »Jede Nacht richtig gut schlafen«. Es sind Variationen wohlbekannter Appelle, die uns so oder so ähnlich dazu anhalten, das Beste aus uns und unserem Leben zu machen.

Ob man das gut oder schlecht finden soll, wird unterschiedlich gesehen. Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat seine Probleme damit. Wir würden in einem »permanenten Trainingsprogramm« leben, das uns darin »schult, der noch bessere Optimierer zu werden. Mach dies, mach das, kauf dir eine Apple-Watch, dann kannst du deine Körperfunktionen steigern. Wir leben in einem Universum der permanenten Optimierung.« Die Soziologin Paula-Irene Villa bezeichnet Selbstoptimierung als »Zauberchiffre für Status«. Der Jugendkulturforscher Bernhard Heinzlmaier beklagt ein »Selbstoptimierungsdiktat«, dessen Ideal »der immer funktionstüchtige, kreative, erfolgreiche und gutaussende Optimist« ist. Der Philosoph Wilhelm Schmid meint dagegen, die Selbstoptimierung sei zu Unrecht in Verruf geraten, und plädiert, sie dafür zu nutzen, besser mit sich selbst zurechtzukommen. Der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller wiederum sieht im Wunsch, sich selbst und die Umwelt zu optimieren, einen Ausdruck von Optimismus, während sich das Misstrauen gegenüber der Selbstoptimierung »als Teilaspekt jener depressiven, angsterfüllten Grundstimmung deuten [lässt], die Teile des sich im Abstieg wähnenden Westens ergriffen hat«.

Als Begriff ist Selbstoptimierung seit Mitte des 20. Jahrhunderts bekannt. Weite Verbreitung gefunden hat er erst seit den 2000er-Jahren. Menschheitsgeschichtlich bedeutet die Praxis der Selbstverbesserung zunächst nichts Herausragendes. Für Peter Sloterdijk ist die Erde ein »Planet der Übenden«. Die Praxis des Übens entspringt der Grundkonstitution des Menschseins: Der Mensch ist ein »Mängelwesen«, wie es der Philosoph Arnold Gehlen formulierte. Anders als Tiere arm an Instinkten, weist er dafür eine ausgesprochen hohe Plastizität, Weltoffenheit, Lernfähigkeit und Erfindungsgabe auf. Zur Realität des Menschseins gehören – das ist die andere Seite der Medaille – wesentlich Erfahrungen der Unvollständigkeit, der Unzulänglichkeit, der Widersprüchlichkeit, des Mangels und des Leids. Der Theologe Hans Küng (gestorben 2021) sagte mit 82 Jahren über sich, er habe sich stets als widersprüchlichen Menschen mit Stärken und Schwächen erfahren, »weit von der gewünschten Vollkommenheit. Keinesfalls als Idealmensch, sondern als Menschen mit Höhen und Tiefen, mit Tag- und Nachtseiten, mit all dem, was C. G. Jung den ›Schatten‹ der Person nennt, eben das, was der Mensch statt aufzuarbeiten nur zu gern wegschiebt, verdrängt, unterdrückt. Und möchte nicht manch einer in seinem Herzen gerne anders sein? Ein klein wenig intelligenter, reicher, schöner? Oft nimmt man die Welt leichter an als sich selbst, wie man nun einmal ist oder durch andere gemacht wurde.«

Erzählungen vom »perfekten Leben«

In der offenen und klugen Selbsteinschätzung Küngs spiegelt sich wider, was uns als Menschen auszeichnet: Wir sind, was unsere Meinungen, Wünsche und Emotionen anlangt, nicht dazu gezwungen, blind vor uns hinzuleben, sondern können uns in unserem Erleben zum Thema machen und uns »selbst bestimmen«. Das gelingt in zwei Schritten: durch verstehen und bewerten. Ich kann erstens fragen, was ich denke, fühle und will. Wie bin ich zu meiner Einstellung gekommen? Und wäre es auch möglich, etwas anderes zu denken, zu fühlen und zu wollen? Ich kann zweitens fragen, ob ich zufrieden mit meiner gewohnten gedanklichen Sicht auf die Dinge bin. Überzeugt sie mich weiterhin oder würde ich lieber anders denken und handeln? Diese zwei Arten, das eigene Erleben zu reflektieren, finden sich auch in der Bedeutung des Wortes Lebensführung. Sie spannt den weiten Bogen vom Alltag zur Lebenskunst, vom »Überleben« bis hin zum »guten« und »gelungenen« Leben, und umfasst damit alles, was das Leben wertvoll und bedeutsam macht.

Woher beziehen wir aber unsere Vorstellungen von einem gelungenen Leben? In den westlichen Gesellschaften sind sie eng verknüpft mit einer »liberalen Erzählung«. Der Historiker Yuval Harari beschreibt die Geschichte der Menschheit als Abfolge von großen Erzählungen – über den Menschen, die Welt, das Universum. Erzählungen stiften Sinn und Identität. Die liberalen halten uns dazu an, uns selbst zum Ausdruck zu bringen, schöpferisch zu sein und uns zu verwirklichen. Und zu glauben, dass wir über unseren Willen, unsere Wünsche, Gefühle und Gedanken bestimmen, sie kontrollieren und also auch optimieren können. Lebten wir in anderen Umgebungen und unter anderen Umständen, würde uns dieses Bild von uns selbst vollkommen fremd erscheinen. Der Verhaltensforscher Kurt Kotrschal erwähnt in seinem Buch Sind wir Menschen noch zu retten? ein interessantes Beispiel. Im Regenwald Südostasiens findet man die letzten Angehörigen des Volkes der Maniq. Sie leben ganz in der Gegenwart, kennen keine Begriffe für Vergangenes und Zukünftiges und pflegen keinen Ahnenkult. Vieles an ihrer Kultur ist für unsere Begriffe nur rudimentär ausgebildet. Dafür haben sie eine hohe sprachliche Komplexität im ökologischen Bereich entwickelt. Sie haben zwar keinen Begriff für die Kategorie »Baum«, benennen aber Hunderte Arten von Bäumen und Tausende für sie relevante Arten von Lebewesen in ihrer Umwelt. Es wird vermutet, dass es sich bei ihren Sprach- und Denksystemen um eine spezifische Anpassung an ihren Lebensraum handelt, die weniger spirituell-philosophische, sondern mehr ökologische Inhalte hervorbrachte. Sollte eines ihrer Kinder in einem urbanen Umfeld aufwachsen, so Kotrschal, dann würde es sich aber ebenso an die herrschende Kultur anpassen, Kreditkarten benutzen oder vielleicht eine Universität besuchen.

Was würden die Maniq antworten, wenn man sie fragte, wie weit sie sich selbst »verwirklicht« haben? Für uns ergibt dieser Begriff »Sinn«, in ihrem Lebensraum nicht. Das Beispiel zeigt sehr schön: Wir Menschen können uns exzellent körperlich und mental an unsere Umwelt anpassen. Und wir erzählen uns in unterschiedlichen Natur- und Kulturräumen unterschiedliche Geschichten darüber, wie das Leben »ist« oder was es zu einem gelungenen Leben braucht. Die Geschichten geben uns Orientierung, können aber auch leicht in die Irre führen, wie der Glücksforscher Paul Dolan warnt. Niemand sei immun vor sozialem Druck. Von klein auf würden wir hören, was wir tun sollten, um das »perfekte Leben« zu leben. Status, Wohlstand, Erfolg, Bildung oder die Ehe würden zu diesen Geschichten gehören. Es handle sich entweder überwiegend um Mythen oder sie seien einfach nicht für jeden wahr. Trotzdem würde vieles von dem, was wir tun, von solchen Geschichten angetrieben. Das Glück stecke aber nicht in diesen Geschichten, nicht in »dem einen großen Ding« das es zu erreichen gelte, sondern in den täglichen Erfahrungen, in den kleinen Dingen, die uns Freude und Sinn gäben. Auf sie müssten wir unsere Aufmerksamkeit richten. Auch die Aufrufe, sein »wahres Ich« zu suchen oder unsere »bestmögliche Version« zu sein, gehören zu solchen Geschichten. Derartige Appelle können uns inspirieren, aber auch ablenken, verwirren und unzufrieden machen.

Bruce Springsteen und die »Macht des positiven Denkens«

Bruce Springsteen gehört seit den 1970er-Jahren zu den weltweit erfolgreichsten Rockmusikern. Er hat Millionen Platten verkauft, füllt Stadien, ist ein Geschichtenerzähler, der epische Konzerte gibt. Umso größer war das allgemeine Erstaunen über seine Autobiografie, die 2016 erschien. Offen schildert er darin seinen jahrzehntelang geführten Kampf gegen Ängste und Depressionen, ein Erbe seines Vaters, der Springsteens Zuhause einst in ein »Minenfeld aus Angst und Unbehagen« verwandelt hatte. Aus diesem Grund beschreibt er sich selbst als manisch-depressiven Trapezkünstler, der immer wieder versucht, sich mit Medikamenten und Therapien über Wasser zu halten. Besonders stark schlug seine Depression nach seinem 60. Geburtstag aus, wo sie »wie Öl aus einem lecken Tanker direkt in den wunderschönen türkisblauen Golf meiner sorgfältig geplanten Existenz« sprudelte.

2019 lief seine Show »Springsteen on Broadway«. Thema war die Spannung, die ihn sein Leben lang begleitete: Die Spannung zwischen der Person, die wir durch Gene und Herkunft schicksalshaft sind, und der Person, die wir durch unseren Willen werden können. In einem Interview erklärte er, wie wichtig es sei, sich seinen inneren Dämonen zu stellen. »Mit jedem Jahr, das vergeht, wird der Preis für unsere Weigerung, diese Klärung vorzunehmen, höher und höher.« Richtig gefunden habe er sich bis heute nicht. »Niemand tut das. Mit der Zeit wird man immer mehr man selbst. Im Laufe deines Lebens erreichst du so viele Meilensteine, die dich authentischer machen und dir zeigen, wer du wirklich bist. Aber ich ertappe mich immer noch dabei, dass ich um offensichtliche Dinge kämpfe, die ich schon lange hätte wissen müssen. Wenn es mir nicht mehr so gut geht, verliere ich den Blick darauf, wer ich bin. Das Einzige, was im Leben sicher ist, besteht darin: Wenn du denkst, du hast es, dann hast du es nicht!«

Wir alle kennen solche Erfahrungen. Wir alle bewegen uns in diesem Spannungsfeld zwischen dem, wie die Dinge liegen, und dem, wie wir sie gerne hätten. Dieses Spannungsfeld äußert sich auch bei zwei viel diskutierten Themen, die in starkem Kontrast zueinanderstehen: die Diskussion über psychische Leiden und die Diskussion über Glück. Viel mediale Aufmerksamkeit findet die Zunahme individueller Krisensymptome wie Stress, Burnout und Depression. In Österreich gaben 2018 bei einer Umfrage knapp 60 Prozent der Befragten an, sie seien durch Stress belastet. Rund ein Drittel der Österreicher:innen fühlt sich aufgrund der beruflichen oder privaten Stressbelastung burnoutgefährdet. Als die größten Belastungsfaktoren werden der Arbeitsplatz, Finanzsorgen und Beziehungspro­bleme genannt. Ca. 1,2 Millionen Menschen in Österreich sind von einer psychischen Erkrankung betroffen. Die »Österreichische Gesundheitsbefragung« der Statistik Austria aus dem Jahr 2014 ergab, dass 10 Prozent der befragten Frauen und 6 Prozent der Männer innerhalb der letzten zwölf Monate unter Depressionen litten (bei 78 Prozent der betroffenen Frauen und 69 Prozent der Männer gab es dazu auch eine ärztliche Diagnose). Durch die Corona-Pandemie hat sich die Zahl der Menschen mit Depressionen erhöht. Die Pandemie galt als »Brandbeschleuniger der Einsamkeit« und Auslöser gesteigerter Gereiztheit. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der fortschreitenden Klimaerwärmung, der Energiekrise und der Inflation hat sich 2022 eine neue Gemengelage entwickelt, die den Blick auf die Zukunft eintrübte. Knapp die Hälfte der Bevölkerung sieht der nahen Zukunft mit Skepsis und Pessimismus entgegen. Die größten Sorgen bereiten jungen Menschen zwischen zwanzig und vierzig Jahren die steigenden Lebenshaltungskosten und die Klimakrise.

Ein ganz anderes Bild zeigt das laute Gerede über ein besseres, irgendwie gelungeneres Leben. Glück, so wird suggeriert, ist machbar: durch Konsum, Diät, Wellness, trendige Lifestyles oder die Arbeit am Selbst. Auf dem Fließband werden Tipps verteilt, Techniken entworfen, Geheimnisse gelüftet, Formeln entdeckt, Strategien vermittelt, Rezepte verschrieben, Befreiungen geplant, Kräfte entfesselt. Sucht man auf amazon.de in der Rubrik Bücher nach dem Stichwort Glück oder Erfolg, so werden jeweils mehr als 60 000 Vorschläge ausgeworfen (Abfrage September 2022). Du willst mehr Glück? »Das Geheimnis des Glücks. Lache – Liebe – Lebe! Tausche Sorgen und Ängste gegen Freude und Zufriedenheit und entscheide dich, glücklich zu leben«. Du willst mehr Erfolg? »Erfolg ist, wenn du’s trotzdem schaffst: Wie dich nichts und niemand stoppen kann«.

Die Kultur des positiven Denkens ist durchdrungen von der Überzeugung, dass »in jedem Menschen ein unbeschränktes Potential« liegt. Glück wird Mittel zum Zweck, ein Botenstoff für Erfolg, Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit, ein Gradmesser, ob jemand auf der Gewinner- oder Verliererseite steht. Das Geschäft mit der Persönlichkeit boomt. Die Botschaft ist: Du musst dich mit deiner »defizitären«, unvollkommenen Persönlichkeit oder Situation nicht abfinden. Wenn du willst, ist (fast) alles möglich. Oder zugespitzt: Es gibt Heilung durch Optimierung. Die »modernen Priester der Machbarkeit«, wie sie als Trainer:innen, Speaker oder Coaches in großer Zahl am Persönlichkeitsbildungsmarkt zu finden sind, verkörpern ihre Glücks- und Erfolgsverheißungen mit ihrem professionell inszenierten Habitus. Wir treffen auf diesem Markt Macher:innen, Gewinnertypen, Visionär:innen, Innovator:innen, erfrischend, kompetent, lebensfroh und -erfahren, voller Power oder mit beseeltem Lächeln. Sie wissen augenscheinlich, wie man das Leben richtig anpackt, wie man eine optimierte Version von sich schafft.

Was den Leser und die Leserin erwartet

Die Vision hinter der Selbstoptimierung ist grundsätzlich positiv: Wir können unser Schicksal in die eigene Hand nehmen und Dinge zum Besseren wenden. Mit der Selbstoptimierung schwingt aber auch die Idee mit, dass wir uns das Leben immer so richten können, wie wir es wünschen. Ein riesiger Glücksmarkt rund um die persönliche Entwicklung verspricht ein Leben, in dem wir uns ausschließlich wohlfühlen und mit uns im Reinen sind. Was davon abweicht, wirkt plötzlich therapiebedürftig, vorläufig, schal, als kleiner Wurf, nicht als Teil des Lebens mit all seinen Kompromissen, Licht- und Schattenseiten. Das ist vielleicht die größte Gefahr solcher Optimierungsversprechen: Sie kultivieren ein Gefühl der Unzulänglichkeit und nähren mit Bildern von einem perfekten Leben unrealistische Erwartungen.

Wir alle haben unsere Geschichte, Möglichkeiten und Einschränkungen. Wir sind zerbrechlich und vergänglich: Wir sind jung, bis wir es nicht mehr sind. Wir sind gesund, bis wir es nicht mehr sind. Wir sind mit lieben Menschen zusammen, bis wir es nicht mehr sind. Wir besitzen etwas, das für uns wertvoll ist, bis wir es nicht mehr haben. Wir erfahren Freude und unentrinnbar auch Leid. Die Beliebtheit für schnelle Lösungen etwa in Form von »10 Tipps für …« zeigt, dass es uns manchmal verdammt schwerfällt, das Leben mit all seinen Schattierungen anzunehmen. Es ist ein Lebensweg, der Engagement, Mut und Selbstüberwindung verlangt und damit jene Bedingungen schafft, aus denen etwas ganz Neues, Anderes erwachsen kann. Auch das könnte man als Optimierung begreifen: sich auf all diese Erfahrungen einzulassen, sie als Teil der Lebensfülle zu erkennen und anzunehmen. Wir können auf diesem Weg unsere ganz individuelle Antwort auf das Leben finden.