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Anna Funder

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Beschreibung

Ein Meisterwerk über Mut und Menschlichkeit Das Deutschland der wilden Zwanziger und die politisch zerrissenen Jahre danach: Drei Menschen, drei Schicksale, die Flucht vor der Gestapo nach London, der leidenschaftliche Kampf um Freiheit und Leben: Basierend auf einer wahren Geschichte beleuchtet Anna Funder in ihrem Roman packend und mitreißend eine Liebesgeschichte in Zeiten großen Aufruhrs.

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Anna Funder

Alles was ich bin

Roman

Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottiVorredeTeil IRuth 2001Toller 1939RuthTollerRuthTollerRuthTollerRuthTollerRuthTollerRuthTollerTeil IIRuthTollerRuthTollerRuthTollerRuthTollerRuthTollerRuthTollerRuthTollerRuthTollerRuthTeil IIITollerRuthTollerRuthTollerRuthAls Bev um neun [...]QuellenDanksagung

Zum Gedenken an Ruth Blatt

(geborene Koplowitz)

Lieber Ernst, lieg endlich schattenlos inmitten

Der Kampferprobten, die lebten, bis sie getan,

Was Vorbild war Jüngeren.

W. H. Auden, Zum Gedenken an Ernst Toller, Mai 1939

 

Vor meinem Fenster hat Krieg die Welt erfasst,

Bist du der, auf den ich gewartet habe?

Nick Cave, (Bist du) der, auf den ich gewartet habe?

 

Die zivilisiertesten Nationen sind so nahe an der

Barbarei, wie das glänzendste Eisen anfällig für Rost ist.

Nationen, wie Metalle, glänzen nur an der Oberfläche.

Antoine de Rivarol

Als Hitler an die Macht kam, lag ich in der Badewanne. Unsere Wohnung befand sich am Schiffbauerdamm in Flussnähe, im Herzen von Berlin. Von unseren Fenstern aus konnten wir die Kuppel des Reichstags sehen. Das Radio im Wohnzimmer war aufgedreht, damit Hans es in der Küche hören konnte, aber bis zu mir drang nur fröhlicher Jubel, der in Wellen aufbrandete wie bei einem Fußballspiel. Es war Montagnachmittag.

Hans presste Limonen aus und stellte mit der konzentrierten Aufmerksamkeit eines Chemikers Zuckersirup her, bemüht, ihn nicht zu Karamell verbrennen zu lassen. Am Vormittag hatte er im KaDeWe einen ganz besonderen lateinamerikanischen Cocktail-Stößel gekauft. Die Lippen der Verkäuferin waren in einem dunkelroten Bogen nachgezogen. Ich hatte über uns gelacht, verlegen über den Kauf von solchem Tand, diesem hölzernen Schaft mit abgerundetem Kopf, der wahrscheinlich so viel kostete, wie die junge Frau an einem Tag verdiente.

»Es ist verrückt«, sagte ich, »nur für Mojitos ein solches Gerät anzuschaffen!«

Hans legte mir den Arm um die Schultern und küsste mich auf die Stirn. »Es ist nicht verrückt.« Er zwinkerte der Verkäuferin zu, die das Ding sorgfältig in Goldpapier wickelte und dabei aufmerksam zuhörte. »Das nennt sich Zi-vi-li-sation.«

Für einen Augenblick sah ich ihn mit ihren Augen: ein herrlicher Mann mit aus der Stirn nach hinten gestriegeltem Haar, preußischblauen Augen und der geradesten aller geraden Nasen. Ein Mann, der wahrscheinlich in den Schützengräben für sein Land gekämpft hatte und der nun jeden kleinen Luxus verdiente, den das Leben zu bieten hatte. Die junge Frau atmete durch den Mund. So ein Mann konnte dein Leben in allen Einzelheiten verschönern, bis hin zu einem lateinamerikanischen Limonenstößel.

Wir waren an jenem Nachmittag ins Bett gegangen und standen nun gegen Abend auf, als die Rundfunkübertragung begann. Zwischen den Jubelrufen hörte ich Hans die Limonenschalen zerstoßen, ein Rhythmus wie das Pulsieren seines Blutes. Mein Körper schwebte, gelöst durch genossene Freuden.

Er tauchte in der Badezimmertür auf, eine Locke fiel ihm ins Gesicht, und die Hände hingen nass herab. »Hindenburg hat es tatsächlich geschafft. Sie haben eine Koalition zusammenbekommen und ihn ganz unter sich vereidigt. Hitler ist Reichskanzler!« Er eilte wieder den Korridor hinunter, um mehr zu hören.

Es schien so unglaubwürdig. Ich griff mir meinen Bademantel und zog eine Wasserspur bis ins Wohnzimmer. Die zwei Radiosprecher hatten alle rundfunktypische Zurückhaltung aufgegeben, sie fielen sich ins Wort: »Es sind unglaubliche Menschenmassen unterwegs, etliche Personen sind auf Bäume geklettert, um bessere Sicht zu haben … Über 15 000 SA-Leute marschieren, anschließend 5000 Stahlhelmer … Die Menge jubelt …« Ich konnte die stoßweisen Heil! Heil! Heil!-Rufe von den Straßen draußen und den Kommentar aus dem Radio hinter mir hören. Und dann ein gewaltiges Gebrüll, die Stimme des Ansagers überwältigt vor Erregung: »Adolf Hitler ist ans Fenster getreten!« Die Stimme setzte aus, erholte sich dann und sprach in tiefer Tonlage: »Und so erleben wir heute etwas ganz, ganz Großes, einen geschichtlichen Moment, über dessen Bedeutung wir uns heute vielleicht noch gar nicht klar sind …«

Ich ging zu den Fenstern. Die gesamte Südseite der Wohnung bestand aus im Halbrund angeordneten Doppelfenstern mit Blick auf den Fluss. Ich öffnete zwei davon. Luft strömte herein – beißend kalt und voll Geschrei. Ich blickte auf die Kuppel des Reichstags. Der Lärm kam von der Wilhelmstraße dahinter. Hans sah zu mir her.

»Wirklich, Ruth«, sagte er. »Es schneit.«

»Lass uns das selbst hören«, sagte ich.

Er trat dicht hinter mich, und ich zog seine Hände, feuchtkalt und limonensauer, über meinen Bauch. Eine Vorhut von Schneeflocken tanzte vor uns und offenbarte unsichtbare Luftwirbel. Suchscheinwerfer streiften die Wolkenbäuche. Dann Schritte, direkt unter uns. Vier Männer rannten unsere Straße hinunter, hielten dabei ihre Fackeln hoch und zogen einen Feuerschweif hinter sich her. Ich roch Kerosin.

»Heil! Heil! Heil!« Die Menschenmenge da draußen, nach Rettung schreiend. Aus dem Kasten hinter uns auf dem Buffet antwortete das Echo, blechern und gezähmt und mit drei Sekunden Verzögerung. Göring sprach, dann Goebbels, ein pausenloser Redefluss. »Was wir da unten erleben, diese Tausende und Tausende und Zehntausende und Zehntausende von Menschen, die in einem Taumel von Jubel und Begeisterung der neuen Staatsführung entgegenrufen … Deutschland darf und wird nicht in der Anarchie des Kommunismus untergehen …«

»Nein«, sagte ich, die Wange an Hans’ Schulter geschmiegt. »Wir werden stattdessen in Reih und Glied und mit einem gesunden Volksempfinden untergehen.«

»Wir werden nicht untergehen, Ruth, mein Schatz«, sagte er mir ins Ohr. »Hitler wird gar nichts tun können. Die Deutschnationalen und das Kabinett werden ihn an die Kandare nehmen. Sie wollen ihn nur als Galionsfigur.«

In den Straßen unten rotteten sich junge Männer zusammen, viele davon in Uniform: braun für die eigenen Truppen der Partei, die SA, schwarz für Hitlers Leibgarde, die SS. Andere waren zivile Anhänger, in Straßenkleidung mit schwarzen Armbinden. Ein paar Jungs hatten selbst gemachte, das Hakenkreuz verkehrt herum. Sie trugen Fahnen und sangen »Deutschland, Deutschland über alles«. Ich hörte den Schrei: »Die Republik ist Scheiße« und erkannte an der Satzmelodie den alten Schulhof-Spottvers: »Reißt dem Juden sein’ Rock entzwei/der Rock ist zerrissen/der Jud’ hat geschissen«. Die Luft war von Kerosindämpfen geschwängert. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ein Stand aufgebaut, wo die jungen Männer ihre immer schwächer flackernden Fackeln gegen neu entzündete tauschen konnten.

Hans kehrte in die Küche zurück, doch ich konnte mich nicht vom Fenster losreißen. Nach einer halben Stunde sah ich die dilettantisch hergestellten Armbinden wieder am Stand.

»So viel zu den Zehntausenden und Zehntausenden!«, rief ich aus. »Die lassen sie im Kreis laufen, damit es nach mehr aussieht.«

»Komm schon rein«, rief Hans über die Schulter aus der Küche.

»Ist denn das zu fassen?«

»Ehrlich, Schatz.« Er lehnte am Türrahmen und lächelte ruhig. »Zuschauer ermutigen sie nur.«

»Gleich.« Ich ging zur Abstellkammer im Korridor, die ich in eine Dunkelkammer verwandelt hatte. Sie enthielt in einer Ecke noch immer einige Besen und andere lange Gegenstände – Skier, eine Universitätsfahne. Ich holte die rote Fahne hervor und ging zurück.

»Das ist doch nicht dein Ernst?« Hans legte die Hände in gespieltem Entsetzen ans Gesicht, als ich sie entrollte.

Ich hängte sie zum Fenster hinaus. Es war nur eine kleine Fahne.

Teil I

Ruth 2001

»Es tut mir leid, Mrs Becker, was ich Ihnen mitzuteilen habe, ist gar nicht beruhigend.«

Ich befinde mich in einer noblen Klinik im Stadtteil Bondi Junction mit Blick auf den Hafen. Professor Melnikoff hat silbernes Haar und eine Halbbrille, eine himmelblaue Seidenkrawatte und lange Hände, die gefaltet auf seinem Schreibtisch liegen. Seine Daumen spielen lässig miteinander. Ich überlege, ob dieser Mann je geschult wurde, sich den Menschen außerhalb des ihn interessierenden Körperteils, in diesem Fall mein Gehirn, zu widmen. Wahrscheinlich nicht. Melnikoff mit seiner ruhigen Art wirkt wie ein Mensch, der es bevorzugt, einen großen weißen Atom-Sarkophag zwischen sich und einer anderen Person zu haben.

Und er hat mir ins Gehirn geschaut; nun bereitet er sich darauf vor, mir dessen Form und sein Gewicht und sein schleichendes Versagen mitzuteilen. Vergangene Woche haben sie mich in den MR-Tomographen gelegt, in einem dieser verdammten Hemden, die hinten offen sind und geschaffen wurden, um dich an die Verletzlichkeit der Menschenwürde zu erinnern und die gehorsame Befolgung von Anweisungen zu gewährleisten, auch als Absicherung gegen eine Flucht im letzten Moment. Lautes Klopfen, als die Magnetfelder meinen Schädel durchdrangen. Ich behielt meine Perücke auf.

»Eigentlich Doktor Becker«, sage ich. Außerhalb der Schule habe ich sonst nie auf dem Titel bestanden. Aber mit fortschreitendem Alter habe ich herausgefunden, dass Bescheidenheit mir nicht mehr so gut bekommt. Vor zehn Jahren beschloss ich, dass ich nicht als alte Frau behandelt werden will, daher begann ich, den Ehrentitel wieder entschlossen und in vollem Umfang zu benutzen. Und ich bin schließlich nicht hier, um mich trösten zu lassen. Ich will wissen, was er mir mitzuteilen hat.

Melnikoff lächelt, erhebt sich und befestigt die Aufnahmen meines Gehirns, schwarzweiße Schnittbilder von mir, mit Klemmen auf einem Leuchtschirm. Ich bemerke einen echten Miró – keinen Kunstdruck – an seiner Wand. Man hat das hiesige Gesundheitssystem schon vor langem verstaatlicht, und er kann sich das immer noch leisten? Es gab also nichts zu befürchten, oder?

»Also, Frau Kollegin Dr. Becker«, sagt er, »diese bläulichen Abschnitte deuten auf beginnende Plaquebildung hin.«

»Ich bin Dr. phil.«, sage ich. »Wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Sie stehen wirklich nicht so schlecht da. Für Ihr Alter.«

Ich bemühe mich, eine möglichst ausdruckslose Miene zu zeigen. Ein Neurologe sollte zumindest wissen, dass das Alter einen nicht dankbar macht für kleine Gnadenakte. Ich fühle mich gesund genug – jung genug –, um Verlust als Verlust zu erleben. Andererseits war bisher nichts und niemand in der Lage, mich umzubringen.

Melnikoff erwidert mild meinen Blick, seine Fingerspitzen berühren sich. Er legt eine sanfte Gelassenheit im Umgang mit mir an den Tag. Vielleicht mag er mich? Der Gedanke versetzt mir einen kleinen Schock.

»Es ist die beginnende Häufung von Defektzonen – Aphasie, Abbau des Kurzzeitgedächtnisses, vielleicht Beeinträchtigung einiger Aspekte der räumlichen Wahrnehmung, nach der Lokalisation der Plaquebildung zu urteilen.« Er deutet auf trübe Areale im oberen Frontalbereich meines Gehirns hin. »Möglicherweise hat das Auswirkungen auf Ihr Sehvermögen, aber hoffen wir, noch nicht in diesem Stadium.«

Auf seinem Schreibtisch steht ein Drehkalender, ein Gegenstand aus einer Zeit, in der sich die Tage einer auf den anderen legten, ohne Ende. Hinter ihm die bewegte, glitzernde Wasserfläche des Hafens, die große grüne Lunge dieser Stadt.

»Eigentlich erinnere ich mich an mehr, Herr Professor, nicht an weniger.«

Er setzt seine Halbbrille ab. Seine Augen sind klein und wässrig, die Iris scheint nicht mitten im Weiß seiner Augen zu liegen. Er ist älter, als ich angenommen hatte. »Tatsächlich?«

»An Geschehnisse in der Vergangenheit. Glasklar.«

Ein schwacher Geruch von Kerosin, unverkennbar. Obwohl das nicht sein kann.

Melnikoff hält sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und mustert mich.

»Dafür gibt es vielleicht eine klinische Erklärung«, sagt er. »Einige Studien deuten darauf hin, dass mehr lebhafte Langzeiterinnerungen heraufgeholt werden, während gleichzeitig das Kurzzeitgedächtnis abnimmt. Gelegentlich erleben Personen, die in Gefahr sind, ihr Augenlicht zu verlieren, starke sekundäre Symptome. Das sind Hypothesen, mehr nicht.«

»Sie können mir also nicht helfen.«

Er lächelt sein mildes Lächeln. »Brauchen Sie denn Hilfe?«

Ich verlasse ihn mit einem Termin in sechs Monaten, im Februar 2002. Sie legen die Termine nicht so dicht aufeinander, dass es uns Ältere entmutigt, doch auch nicht allzu weit auseinander.

Danach fahre ich mit dem Bus zur Hydrotherapie. Es ist ein Niederflurbus mit Kneeling-Funktion, einer, der die Einstiegsseite absenkt für Lahme wie mich. Mit ihm fahre ich von den rosa Medizintürmen in Bondi Junction auf dem Höhenrücken über dem Wasser in die Stadt hinein. Vor dem Fenster tut sich ein Rosella-Papagei an einem Flammenbaum gütlich, Turnschuhe tanzen an einer Stromleitung hängend. Dahinter faltet sich die Erde zu Hügeln auf, deren Hänge sich zum Hafen, der gelassen und voller Leben daliegt, hinabneigen, als wollten sie ihn küssen.

In Gefahr, Ihr Augenlicht zu verlieren. Ich hatte einst sehr gute Augen. Was ich allerdings sah, ist eine andere Sache. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Es ist sehr gut möglich, dass man sieht, wie etwas geschieht, und es überhaupt nicht wahrnimmt.

 

Der Hydrotherapiekurs läuft in der schicken neuen Schwimmhalle in der Stadt. Wie so viele andere Dinge funktioniert Hydrotherapie nur, wenn man daran glaubt.

Das Wasser ist warm, die Temperatur fein abgestimmt, damit die Diabetiker und die zu Herzflimmern Neigenden unter uns nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Ich klebe mir täglich ein Pflaster auf den Brustkorb, das mit einem elektrischen Impuls mein Herz antreibt, wenn es erlahmt. Von früheren, todesmutigen Experimenten weiß ich, dass es im Wasser haften bleibt.

Wir sind heute zu siebt im Becken, vier Frauen und drei Männer. Zwei der Männer werden in Rollstühlen über die Rampe ins Wasser hinuntergefahren, wie Schiffe beim Stapellauf. Ihre Betreuer schweben um sie herum, die Räder ihrer Gefährte sind im Wasser ungelenk. Ich bin in der letzten Reihe, hinter einer Frau mit einer altmodischen gelben Badekappe, aus der erstaunliche Gummiblumen sprießen. Wir heben gehorsam die Hände. Ich beobachte das herabhängende Fleisch unserer Arme. Der alternde Körper scheint einen Vorsprung bei der Zersetzung zu haben, wie er in seiner eigenen Hülle dahinschmilzt.

»Die Arme über den Kopf – einatmen – jetzt die Arme senken – ausatmen – die Arme nach hinten drücken – einatmen!«

Offenbar muss man uns daran erinnern, Luft zu holen.

Die Übungsleiterin am Beckenrand hat einen Halbmond weißer Igelhaare um den Kopf und ein Mikrophon vor dem Mund. Wir schauen zu ihr auf wie zu einer Geretteten. Sie ist freundlich und respektvoll, doch sie ist eindeutig eine Abgesandte, die – ziemlich verspätet für uns – die Botschaft bringt, dass körperliches Wohlbefinden zum ewigen Leben führen kann.

Ich bemühe mich, an die Hydrotherapie zu glauben, obschon es mir – weiß der Himmel – nicht gelungen ist, an Gott zu glauben. Als ich jung war, während des Ersten Weltkriegs, pflegte mein Bruder Oskar in der Synagoge einen Roman – Der Idiot oder die Buddenbrooks – unter dem Gebetbuch zu verstecken, damit Vater es nicht mitbekam. Schließlich verkündete ich mit der peinlichen Bestimmtheit einer Dreizehnjährigen: »Erzwungene Liebe tut Gott weh«, und weigerte mich, zur Synagoge zu gehen. Im Rückblick erkenne ich, dass ich damals zu Seinen Bedingungen argumentiert habe; wie kann man jemanden wehtun, der nicht existiert?

Und nun, eine Ewigkeit später, ertappe ich mich dabei, dass ich, wenn ich nicht aufpasse, denke: Warum hat Gott mich gerettet und nicht all die anderen? Die Gläubigen? Tief im Innersten empfinde ich, dass meine Stärke und mein Glück nur Sinn ergeben, wenn ich zum auserwählten Volk gehöre. Unverdientermaßen, und dennoch auserwählt; ich bin ein langlebiger Beweis seiner Irrationalität. Wenn man darüber nachdenkt, verdienen es weder Gott noch ich zu existieren.

»Jetzt konzentrieren wir uns auf die Beine, benutzen Sie also die Arme, wie Sie wollen, um die Balance zu halten«, sagt die junge Frau. Jody? Mandy? Meine Hörhilfe ist im Umkleideraum. Ich frage mich, ob sie das alles aufnimmt und an die Mütter weitergibt, die ihre Kinder mühsam aus nassen Badeanzügen schälen, an den Schimmel, die Schamhaare und die rätselhaften Knäuel unbenutzten Toilettenpapiers auf dem Fußboden.

»Wir strecken das linke vor und kreisen aus dem Knie heraus.«

Eine Sirene ertönt, heult in Intervallen. Drüben im großen Becken wird es gleich Wellen geben. Kinder laufen eilig mit erhobenen Händen durchs Wasser, weil sie ganz vorn stehen wollen, wo die Wellen am größten sind. Mädchen im Teenageralter überprüfen dezent den Sitz ihrer Bikini-Oberteile; Mütter setzen sich ihre Babys auf die Hüfte und gehen auch ins Wasser, um den Spaß mitzumachen. Ein kleiner Junge mit roter Schwimmbrille stürzt sich bis zum Kinn hinein. Hinter ihm geht eine zierliche junge Frau mit weich ins Gesicht fallenden Haaren ruhig vorwärts, wobei sich die Schulterblätter unter ihrer Haut bewegen wie angedeutete Flügel. Mein Herz tut einen Sprung: Dora!

Natürlich ist sie es nicht – meine Cousine wäre jetzt noch älter als ich – doch egal. Beinahe jeden Tag findet mein Kopf einen Weg, sie zu mir zu bringen. Was hätte Professor Melnikoff dazu zu sagen, frage ich mich.

Die Welle kommt, und der Schwimmbrillenjunge gleitet hinauf, den Mund zur Decke gereckt, um Luft zu bekommen, doch die Welle verschluckt ihn. Als sie ausläuft, ist er nirgends zu sehen. Dann taucht er weiter unten im Becken auf, nach Luft schnappend und ekstatisch.

»Frau Dr. Becker?« Die Stimme der jungen Frau von oben herab. »Zeit, zu gehen.«

Die anderen sind schon drüben bei den Stufen und warten darauf, dass die Männer im Rollstuhl auf die Rampe geschoben werden. Ich schaue zu ihr hoch und sehe sie lächeln. Vielleicht gibt ihr dieses Mikrophon einen direkten Draht zu Gott.

»Noch zehn Minuten bis zum nächsten Kurs«, sagt sie. »Immer mit der Ruhe.«

Jemand teilt Zeit in ungleichmäßigen Portionen aus. Warum sollte er nicht eine weißhaarige Botin wählen, lispelnd und engelsgut?

 

Bev hat für mich einen kleinen Topf Hackfleisch-Auflauf, mit Plastikfolie abgedeckt, in den Kühlschrank gestellt. Auf die Kartoffelbreidecke ist etwas Pfeffer gestreut, und das Ganze hat in seiner perfekt bemessenen Einzelportion-Isolation etwas Zwanghaftes an sich. Ich taue daher ein tiefgekühltes Stück Quarkkuchen zum Abendbrot auf – das ist einer der Vorteile, allein zu leben –, dann löse ich zum Ausgleich eine Brausetablette in einem hohen Glas auf. Ich werde mich Bev gegenüber erklären müssen, wenn sie morgen kommt.

Im Bett leisten mir die Zikaden draußen Gesellschaft – es ist noch früh. Ihr Chor lockt die Nacht herbei, als würde sie sich ohne ihre Ermutigung nicht an diesen hellen Ort wagen. Welche Na-acht!, scheinen sie zu zirpen, welche Na-acht! Und dann schweigen wir zusammen.

Toller 1939

Es klopft zweimal kurz an der Tür – Clara und ich halten uns an höfliche Umgangsformen, weil diese zwischen einem Mann und einer Frau, die allein in einem Hotelzimmer arbeiten, nötig sind, wie das auch auf Arzt und Patientin bei der intimsten Prozedur zutrifft. Unsere höflichen Umgangsformen verwandeln diesen Ort der zerwühlten Träume – die grasgrünen Vorhänge, das nicht abgeräumte Frühstückstablett, das hastig gemachte Bett – in einen Arbeitsplatz.

»Guten Morgen.« Ein offenes Lächeln auf ihren rot geschminkten Lippen, Lippen, die plötzlich intim wirken. Es ist das Lächeln einer jungen Frau, deren Leuchten nicht durch das vom Rassenwahn erzwungene Exil getrübt wurde; die vielleicht heute Morgen geliebt wurde.

»Guten Morgen, Clara.«

Heute trägt sie eine aprikosenfarbene Kunstseidenbluse mit weiten Ärmeln und Manschetten mit drei Knöpfen – ein billiges Luxusimitat, das nur eine Saison hält und vielleicht der Inbegriff von Demokratie ist. »Peachy«, wie sie hier in Amerika sagen würden, obwohl ich mir im Englischen nie sicher bin, ob es sich um Poesie oder ein Wortspiel handelt. Mit sich bringt sie die Morgenluft, frisch geschaffen für diesen Tag, den 16. Mai 1939.

Clara schaut sich im Zimmer um und schätzt den Schaden der Nacht ein. Sie weiß, dass ich an Schlaflosigkeit leide. Ihr Blick bleibt an mir im Sessel hängen. Ich spiele mit der Quaste an einer Kordel. Ihre grüngoldenen Fäden fangen das Licht ein.

»Ich mach das schon«, sagt sie und springt nach vorn. Sie nimmt die Kordel und bindet die Gardine zurück.

Aber die Kordel stammt nicht von der Gardine. Sie stammt vom Morgenmantel meiner Frau Christiane. Als sie mich vor sechs Wochen verließ, habe ich sie als Andenken behalten. Oder als Sabotageakt.

»Keine Post?«

Clara holt sie immer aus dem Briefkasten auf ihrem Weg zu mir.

»Nein«, sagt sie mit abgewandtem Gesicht am Fenster. Sie tut einen tiefen Atemzug, dreht sich um und geht entschlossen zum Tisch. Dann sucht sie, immer noch stehend, in ihrer Tasche nach ihrem Stenoblock. »Wollen wir den Brief an Mrs Roosevelt beenden?«, fragt sie.

»Nicht jetzt. Vielleicht später.«

Heute habe ich andere Pläne. Ich nehme meine Autobiographie vom Tisch. Mein amerikanischer Verleger möchte sie in englischer Übersetzung herausbringen. Er glaubt, dass sie sich nach dem Erfolg meiner Stücke in Großbritannien und meiner amerikanischen Vortragsreise gut verkaufen lässt. Er versucht mir zu helfen, Gott vergelt’s, weil ich all mein Geld an die notleidenden Kinder Spaniens gegeben habe.

Ich brauche kein Geld mehr, doch ich muss die Aufzeichnungen korrigieren. So wahr ich hier sitze, wird Hitler bald seinen Krieg haben. (Hierzulande scheint das keinen Menschen zu kümmern – seine Eröffnungssalve, der Einmarsch in die Tschechoslowakei erst vor einigen Wochen, ist in der New York Times auf Seite dreizehn gerutscht.) Aber was die Leute nicht wissen, ist, dass sein Krieg schon jahrelang gegen uns im Gange ist. Es hat schon Opfer gegeben. Jemand muss ihre Namen aufschreiben.

Clara starrt aus dem Fenster in den Central Park und wartet ab, bis ich meine Gedanken gesammelt habe. Während sie mir noch den Rücken zukehrt, frage ich: »Haben Sie ›Eine Jugend in Deutschland‹ gelesen?«

»Nein. Nein, das habe ich nicht gelesen.« Sie dreht sich schnell um und schiebt dabei eine lose Locke ihres dunklen Haars hinters Ohr.

»Gut. Gut, gut.«

Sie lacht – Clara hat einen Dr. phil. von der Frankfurter Universität und einen klugen Geist und kann es sich leisten, selbstironisch zu sein. »Das ist nicht gut!«

»Doch, doch.«

Sie neigt mir ihr Gesicht zu, über das die Sommersprossen so zufällig und wunderbar verstreut sind wie ein Sternenhaufen.

»Weil ich einige Änderungen machen werde.«

Sie wartet.

»Es ist unvollständig.«

»Das hoffe ich doch.«

»Nein. Keine Aktualisierungen. Es geht um jemanden, den ich nicht berücksichtigt habe.«

Meine Memoiren sind auf subtile, beschämende Weise selbstverherrlichend. Ich habe mich in den Mittelpunkt allen Geschehens gestellt; ich habe nie Zweifel oder Furcht zugegeben. (Ich war jedoch so schlau, von vereinzelten Grausamkeiten aus Kinderzeiten und von unbesonnenem Verhalten als Erwachsener zu berichten, um die Illusion zu erwecken – nicht zuletzt bei mir selbst –, nichts bleibe verborgen.) Ich habe den geliebten Menschen außen vor gelassen, und nun ist sie nirgends. Ich möchte sehen, ob für mich so spät in diesem Spiel noch Ehrlichkeit möglich ist.

Als ich das Buch in meinem Schoß öffne, stehen seine Seiten fächerartig hoch, vom Buchrücken emporgehalten. Die Nationalsozialisten haben meine Tagebücher beschlagnahmt – haben sie vermutlich auch auf ihren Scheiterhaufen verbrannt. Ich muss mich auf mein Gedächtnis verlassen.

Das Mädchen setzt sich an den Tisch, seitlich zu mir. Clara Bergdorf arbeitet seit fünf Wochen bei mir. Sie ist eine seltene Seele, mit der minutenlanges Schweigen friedvoll ist. Die Zeit ist nie leer oder voller Erwartungsdruck. Sie dehnt sich aus. Das schafft Raum für die Wiederkehr von so manchem, das mein leeres Herz erfüllen soll.

Ich zünde mir eine Zigarre an und lasse sie brennend im Aschenbecher liegen. »Wir fangen mit der Einleitung an. Fügen Sie zum Schluss diese Widmung an.« Ich räuspere mich. »Einer Frau noch will ich gedenken, deren tapferer Tat ich die Rettung dieser Manuskripte verdanke.« Ich hole tief Luft und blicke hinaus in den Himmel, heute von sanfter, unbestimmter Farbe.

»Als im Januar 1933 dem Diktator aus Braunau die Macht gegen das deutsche Volk anvertraut wurde, ging Frau Dora Fabian, deren Leben endete –«

Und dann breche ich ab. Clara glaubt, Kummer lähme mich, aber so ist es nicht. Ich weiß einfach nicht, wie ich dieses Ende beschreiben soll. Im Park spielt der Wind mit den Bäumen und bewegt Blätter und Zweige ein wenig nach hierhin und dahin – als wäre die Musik verstummt, doch sie könnten, koste es, was es wolle, nicht völlig stillhalten. Clara riskiert einen Blick in meine Richtung. Sie ist erleichtert, als sie sieht, dass ich nicht weine.

»Entschuldigung.« Ich wende mich ihr wieder zu. »Wo war ich stehengeblieben?«

»›Frau Dora Fabian‹«, liest sie vor, »›deren Leben endete‹.«

»Danke.« Ich blicke wieder hinaus und finde mein Wort. »Deren Leben traurig endete«, sage ich, was die schlichteste Wahrheit ist. »Ging Frau Dora Fabian, deren Leben im Exil traurig endete, in meine Wohnung und brachte zwei Koffer mit Manuskripten in Sicherheit.«

Clara schaut nicht hoch. Ihre Hand wandert stetig über die Seite und kommt nur kurz, nachdem ich zu sprechen aufgehört habe, zur Ruhe.

»Die Polizei erfuhr davon und verhaftete sie. Sie sagte, die Schriftstücke seien vernichtet worden. Nach ihrer Haftentlassung floh sie aus Deutschland. Kurz vor ihrem Tod vermochte sie (auf unerklärliche Weise), die Papiere ins Ausland zu schaffen.«

Clara legt ihren Bleistift hin.

Das ist alles? Ich schließe meine Augen.

Doras redaktionelle Spur ist überall im Buch zu finden: die Klarsicht, der Humor. Am Ende unseres Lebens erinnern wir uns am lebhaftesten an jene, die wir geliebt haben, weil sie es sind, die uns geformt haben. Mit ihrer Hilfe sind wir zu dem geworden, was wir sind, wie eine Pflanze mit der Hilfe eines stützenden Pfahls wächst.

Und wenn die Stütze nicht mehr da ist?

»Gut, und dann?«, fragt Clara leise nach einigen Minuten. Sie glaubt, ich sei weggetreten, habe ihre süße Gegenwart ausgenutzt und sei eingeschlafen. Sie befühlt die Kanten des Schreibblocks vor ihr.

»Ja, ja.« Ich setze mich wieder gerade hin.

Ich werde alles erzählen. Ich werde Dora zurückbringen, und ich werde sie in diesem Zimmer zum Leben erwecken.

Ruth

Es klingelt an der Tür.

Ich ignoriere es. Ohne die Augen zu öffnen, weiß ich, dass es Morgen ist.

Klingeling, klingeling, klingeling …

Verdammte Klingel. Fucking bell, wie man hier sagt. Das Ding ist mit mir gealtert und klemmt jetzt. Ich hebe mein krankes Bein mit dem anderen über die Bettseite und schlüpfe mit den Füßen – knorrig wie die Wurzeln eines alten Baumes – in die Schafslederschuhe, der eine mit erhöhter Sohle, der andere mit Plastiksohle. Meine Perücke lasse ich auf der Frisierkommode liegen.

Klingeling …

Ich öffne die Tür. Der Lieferwagen fährt schnell davon – ich kann gerade noch die dunkelrote Schrift auf seiner Seite lesen: »The World on Time«. Es ist sieben Uhr früh! Ein bisschen zu früh, wenn Sie mich fragen.

Ein Päckchen auf der Fußmatte. Ich bücke mich danach mit meinem steifen weggestreckten Bein – ich bin eine kahlköpfige Giraffe in einem unzuverlässigen Morgenmantel und bedaure zufällige Passanten, die mich in diesem schäbigen und ungebührlichen Aufzug sehen könnten. Das jagt mir einen kleinen Schauer den Rücken hinunter, bis ich mir vorstelle, dass Kinder dabei sein könnten, die ich im Allgemeinen nicht erschrecken möchte.

Ich gehe ins vordere Zimmer, mein Lieblingszimmer. Es riecht nach Möbelpolitur – Bev muss sie während meiner Abwesenheit gestern angewendet haben. Sie gebraucht die Politur – zusammen mit ihrer Rheumasalbe und ihren Kupferarmbändern – als Teil eines Arsenals gegen den Verfall und die Zeit, sie erstickt die Welt mit einer PVC-Schicht, um sie zum Glänzen zu bringen und sie dauerhaft zu konservieren wie die Plastiknahrungsmittel in den Fenstern japanischer Restaurants. Sie besprüht das Glas der Bücherschränke, die Holzlehnen der Sessel und sogar – das habe ich selbst beobachtet – die Blätter des Gummibaums. Eines Tages werde ich zu lange herumsitzen, und sie wird mich ebenfalls besprühen, mich für alle Zeiten als Ausstellungsstück konservieren: »Europäischer Flüchtling aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts«. Nicht dass ich Konservierung nötig hätte. Unkraut vergeht nicht, pflegte meine Mutter zu sagen.

Auf der Rückseite des Päckchens steht: »Columbia University New York, Department of Germanic Languages«. Hier in Sydney werden die Weltereignisse später als Story angespült, geglättet und abgeschliffen wie Glasbruchstücke im Sand. Und nun?

Sehr geehrte Frau Dr. Becker,

 

wir verweisen auf den früheren Briefwechsel in dieser Angelegenheit. Wie Ihnen bekannt ist, wird das Hotel Mayflower Ende 2001 abgerissen. In Vorbereitung darauf wird das Gebäude geräumt.

 

Um Gottes willen! Wie sollte mir das bekannt sein? Hier in Bondi? Und welcher »frühere Briefwechsel«? Aber ich könnte das natürlich auch vergessen haben.

Die beigefügten Dokumente, die Herrn Ernst Toller gehören, wurden in einem Safe im Kellergeschoss gefunden. Die Schriftstücke bestehen aus einer Erstausgabe von Herrn Tollers Autobiographie, Eine Jugend in Deutschland, und einigen maschinengeschriebenen Blättern mit Ergänzungen. Eine handschriftliche Notiz »For Ruth Wesemann« lag obenauf. Die deutsche Entschädigungsbehörde hat bestätigt, dass Sie früher als Ruth Wesemann bekannt waren.

Wenn Sie so entscheiden, wäre die Butler Library unserer Universität geehrt, dieses Material für zukünftige Generationen aufzubewahren. Wir besitzen schon die Erstausgaben von allen Theaterstücken Tollers und seine Korrespondenz aus seiner Zeit in den USA. Wir haben uns erlaubt, zur Sicherheit Kopien anzufertigen.

Falls ich oder irgendein Fakultätsmitglied der Universität Ihnen behilflich sein kann, würden wir die Gelegenheit begrüßen.

 

Hochachtungsvoll

Mary E. Cunniliffe

Brooke Russell Astor, Direktor für Sondersammlungen

 

Toller!

Sein Buch ist spröde wie alte Haut oder ein Laubhaufen. Der Rücken ist brüchig, hat sich vom Leineneinband gelöst, weil so viele Blätter zwischen die Buchseiten gestopft wurden. Etwas von ihm für mich: Es kann nur von ihr handeln.

Ich will es auf dem Couchtisch ablegen, doch mir zittern die Hände, und einige Blätter fallen heraus auf die Glasfläche, rutschen dann hinunter auf den Fußboden. Ein Stich in der Brust – meine Hand fährt hin, um das Pflaster über dem Herzen zu kontrollieren.

In seiner – und ihrer – Gegenwart werde ich auf den Kern meines Selbst reduziert. Meine ironischen Schutzmechanismen, mein schwer erworbener sarkastischer Panzer, sind wie nichts. Einst war ich so offen für die Welt, dass es schmerzte. Das Zimmer verschwimmt.

Als ich das Buch wieder aufhebe, öffnet es sich beim ersten maschinegeschriebenen Einschub:

Einer Frau noch will ich gedenken, deren tapferer Tat ich die Rettung dieser Manuskripte verdanke. Als im Januar 1933 dem Diktator aus Braunau die Macht gegen das deutsche Volk anvertraut wurde, ging Frau Dora Fabian, deren Leben im Exil traurig endete, in meine Wohnung und brachte zwei Koffer mit Manuskripten in Sicherheit. Die Polizei erfuhr davon und verhaftete sie. Sie sagte, die Schriftstücke seien vernichtet worden. Nach ihrer Haftentlassung floh sie aus Deutschland. Kurz vor ihrem Tod vermochte sie (auf unerklärliche Weise), die Papiere ins Ausland zu schaffen.

 

Ernst Toller

New York, Mai 1939

 

Toller war stets ein Meister des komprimierten Stils.

Ich ziehe eine Decke über meine Knie. Ich würde gern in die Nacht zurückkriechen, um vielleicht von ihr zu träumen.

Aber Träume kann man im Leben am wenigsten kontrollieren, will sagen, überhaupt nicht.

Toller

Ich habe mich hier so gut eingelebt, dass ich dieses Zimmer vielleicht nie verlassen werde. Das Mayflower-Hotel, Central Park West, ist ein ziemlich gutes Hotel – keineswegs das beste. Aber wenn ich ehrlich bin, besser, als ich mir leisten kann. Aber Ehrlichkeit ist so schwer. Wenn ich mir die Wahrheit zu genau betrachte, könnte ich vor Reue verrückt werden und jegliche Hoffnung verlieren.

Aber vielleicht bin ich ja schon total verrückt. Letzte Woche hat mich ein Mann, der sich in der U-Bahn geistesabwesend an einem ledernen Haltegriff festklammerte, etwas lange angestarrt. Ohne nachzudenken, bedachte ich ihn mit meinem »Prominentenlächeln« – so nannte Dora das. Der Ärmste wandte sich ab, als ignoriere er ein zwanghaftes Gesichtszucken.

Ich bin aus Europa ins Land der Freien geflohen, doch ich habe nicht wirklich mit Unsichtbarkeit gerechnet. In Berlin oder Paris, in London, Moskau oder Dubrovnik konnte ich keine zwei Schritte machen, ohne auf Autogrammjäger zu stoßen. In einem zärtlichen Moment hat Dora einmal gesagt, es sei gut für mich zu wissen, dass mein Werk geschätzt würde. Aber ich war lange Zeit berühmt; ich hatte mich mit dem Phantom Toller, das die Presse geschaffen hatte, angefreundet. Obwohl ich Applaus wie Sauerstoff brauchte, glaubte ich doch nie, dass die Liebe und der Beifall meinem realen Selbst galten, das ich wegen meiner dunklen Stunden gut versteckte.

Clara holt gerade Kaffee. Wir stecken in der Klemme; das Hotel weiß, dass ich die Rechnung nicht begleichen kann, wirft mich aber nicht hinaus. Aus Dankbarkeit gehen wir nicht so weit, den Zimmerservice zu bemühen.

Ich liebe den Central Park. Dort draußen steht jetzt ein Mann auf einer Obstkiste, gestikuliert und versucht, Vorübergehende anzulocken und wie im Wind treibende Papierblätter festzuhalten. Ich kenne das Gefühl: Die Augen schreien, dass die Welt dir gehört und du alles erklären kannst, wenn die Leute nur stehen blieben und zuhörten. Diese Aussicht auf etwas frisch Erdachtes, auf eine neue Möglichkeit des Glaubens, hält Amerika für alle Ankommenden bereit.

Das Buch liegt in meinem Schoß. Welche Chuzpe, mit vierzig meine Lebensgeschichte zu schreiben! Oder ein böses Omen. Weil ich sie niedergeschrieben habe, beschleicht mich nun vielleicht das Gefühl, das Leben sei zu Ende. Dora hätte mir darüber hinweggeholfen. Es gibt Menschen, die uns zu einem besseren Benehmen bewegen, wenn wir nur an sie denken.

Es ist nun sechs Jahre her, dass wir an diesem Buch gearbeitet haben. In Berlin, in meinem engen kleinen Arbeitszimmer in der Wilmersdorfer Straße. Doras Schreibtisch war hinter der Tür praktisch verdeckt, wenn jemand sie aufmachte. Sie pflegte dort im Schatten zu sitzen, und die bestrumpften Füße ruhten auf zwei übereinandergestapelten Wörterbüchern auf dem Fußboden. Mein Schreibtisch unter dem Fenster war größer. Sie schrieb meine Worte auf, wies mich zurecht und brachte mich wieder auf Kurs, wenn ich abschweifte. Dora glaubte, ich habe die bittersten und grundlegendsten Emotionen aus dem Buch herausgehalten zugunsten von all dem »Wagemut«, wie sie es ausdrückte. Ich wollte nicht über das schreiben, was in meinem Inneren vorging.

Unser schlimmster Kampf fand statt, als ich über meinen – wie soll ich das nennen? – meinen Zusammenbruch schrieb, nachdem ich von der Front entlassen wurde. Wenn Dora mich unterbrechen wollte, legte sie den Stenoblock in ihren Schoß. Wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hatte, drehte sie sich zum Schreibtisch um, legte Block und Stift dort sorgfältig ab und wandte sich mit leeren Händen an mich. Das war so ein Moment mit leeren Händen.

Sie steckte die gefalteten Hände zwischen ihre Schenkel. »Ich glaube …«, sagte sie und brach ab. Sie fuhr mit beiden Händen durchs dunkle Haar ihrer Bubikopffrisur, das ihr sofort wieder zurück ins Gesicht fiel. Sie begann von neuem. »Du hast gerade hier so eindrucksvoll von den Schrecken der Schützengräben geschrieben. Und wie du versucht hast, deine Männer zu retten.« Ihre Stimme, lebhaft und tief, wurde noch tiefer. »Wir müssen zu sehen bekommen, was dieser Mut dich gekostet hat.«

Mein Herzschlag verlangsamte sich. »Lies es mir noch einmal vor.«

Sie nahm den Block vom Schreibtisch und las: »›Ich werde krank. Magen und Herz versagen beide. Ich komme ins Lazarett nach Straßburg. In ein stilles Franziskanerkloster. Schweigsame, freundliche Mönche pflegen mich. Nach vielen Wochen werde ich entlassen. Ich bin kriegsuntauglich.‹ Das war’s.« Sie streckte eine Hand mit abgekauten Nägeln aus. »Das ist alles.«

Ich verschränkte die Arme. »Ich war dreizehn Monate an der Westfront«, sagte ich. »Und ganze sechs Wochen in dem Sanatorium. Es war eine finstere Zeit. Es gibt nichts darüber zu sagen.«

Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Dann lassen wir es erst einmal.« Sie wandte sich wieder zum Schreibtisch.

Wenn ich sie jetzt hierhaben könnte, selbst wenn sie mit mir stritte, ihren knochigen Rücken mir zudrehte, ich würde alles darum geben.

»So.« Claras Stimme bricht die Stille. Sie stellt zwei Pappbecher vor mir auf den Tisch und lächelt, als signalisiere sie damit einen neuen, besseren Anfang für das, was in diesem Zimmer geschieht. »Raten Sie doch mal, was daran Besonderes ist?«

Ich brauche einen Moment, um ihre Frage aufzunehmen. »Das Kunststück, eine Flüssigkeit in Papier zu füllen?« Ich habe diese Art Entdeckung geliebt, seitdem ich hier bin, der verblüffende praktische Einfallsreichtum der Amerikaner.

»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Diese Becher sind unendlich.« Sie benutzt den englischen Ausdruck: »Infinite cups! Wir können hingehen und sie wieder auffüllen lassen, ohne Ende.«

Ich wirke wohl nicht überzeugt oder nicht gebührend begeistert.

»Oder vielleicht auch nicht.« Sie zuckt mit den Schultern und lacht ein wenig, setzt sich hin. »Ich muss herausfinden, wie sie das machen.«

Clara blättert in ihrem Stenoblock, nach ihrem Kontakt mit der Welt draußen froher, nach ihrer Entdeckung des unerschöpflichen Kaffeebechers. Clara ist nicht einmal meine Sekretärin, sondern die Sidney Kaufmans, aus dem New Yorker Büro von MGM. Sid hatte Mitleid mit mir, nachdem meine Drehbücher nicht ankamen (nicht genug »Happy Ends«, meinte Hollywood), daher hat er sie mir ausgeliehen.

Sie findet die Stelle, wo wir stehengeblieben waren.

Aber ich bin erstarrt. Karikaturen kann ich. Typen in einem Theaterstück – die Witwe, der Veteran, der Industrielle –, aber keine Person, die mir so unendlich wichtig ist. Wenn ich nun nur ein Talent zum Vereinfachen habe?

»Um sie zu verstehen«, sage ich, »muss man verstehen, was sie zu tun versuchte. Dora war … die Tatkraft in Person.«

Clara lächelt.

»Es war alles eine Folge des Krieges. Unsere pazifistische Partei, die Unabhängigen. Und leider auch Hitler und dieser Krieg, den er jetzt führt.«

Ich blättere im Buch auf meinem Schoß und finde den Abschnitt über meinen Zusammenbruch. Das Versagen der Worte erscheint mir jetzt seltsam, wie man alles sagen und nichts preisgeben kann. Ich werde damit anfangen, dass ich tue, was Dora mir geraten hat.

»Bereit?«

»Klar.« Clara nimmt den Stift zur Hand.

»Gut. Die Überschrift ist ›Sanatorium‹.« Und dann fahre ich im Diktiertempo fort.

 

Der dort steht und singt ist praktisch noch ein Junge. Auf den Wangen blonder Flaum und etwas dickere, nicht zu bändigende Haare am Kinn. Ihn in diesem Übergangsstadium zu sehen – weder Kind noch Mann – gleicht einem intimen Akt, der nicht erlaubt sein sollte. Außerhalb dieser Mauern hätte er angefangen sich zu rasieren. Mit einer Bewegung der Schultern zieht er seine Handgelenke hoch in die Soutane, als seien sie zu zart, um sie sehen zu lassen. Doch er kann die Hände nicht davon abhalten, sich zur Musik zu bewegen, die von ihm ausgeht, um den Raum zu füllen und sich in uns auszubreiten.

In Bois-le-Prêtre gab es einen Jungen in seinem Alter, der im Schützengraben saß, während ihm Tränen und Rotz übers Gesicht liefen. Seine Uniform passte nicht, und er grüßte mich nicht.

»Was ist los, Gefreiter?«

»Mein Freund«, schluchzte er. Hinter ihm lag ein Junge im Gras, auch sechzehn oder siebzehn. Seine Augen waren noch offen. Der hintere Teil des Schädels und das linke Ohr waren weggesprengt. Die Fliegen fingen schon an, sich über ihn herzumachen.

»Was machen Sie hier allein?«, fragte ich den Jungen. Ich wusste, wie grausam meine Frage war – bis zum Granateinschlag vor zwanzig Minuten war er nicht allein gewesen. Jetzt versuchte er, seinen Freund nicht allein zu lassen. Er versuchte, nicht allein gelassen zu werden.

»Ich … ich …«

»Gehen Sie zurück ins Lager.«

Der Junge stand auf und begann die unbefestigte Straße zwischen zwei Reihen dünner Pappeln hinunterzugehen.

»Gefreiter!«

»Zu Befehl?« Er drehte sich um.

»Sie haben vergessen, seine Stiefel mitzunehmen.«

Er sah mich mit einem Blick voll so unverfälschtem Hass an, dass ich wusste, er konnte weiterkämpfen.

Diese Art von Brutalität hatten wir verinnerlicht.

Im Sanatorium sitzen wir an einem langen Tisch, die Mönche in braunen Kutten am oberen Ende, die Soldaten am unteren. Wir Patienten tragen Uniformreste – Soldatenmäntel sind besonders begehrt – oder zusammengewürfelte zivile Kleidungsstücke, falls es Verwandten gelungen ist, etwas zu schicken. Das einzige Geräusch ist das Klatschen der Ledersandalen auf dem Steinboden, als die Novizen das Essen hereintragen. Alles ist friedlich, abgesehen vom Christus, der am anderen Ende des Raumes hängt, nackt und sterbend. Er wirkt vertraut – wie ein Verwandter? Soweit ich weiß, sind er und ich die einzigen Juden hier. Eine Reihe hoher Fenster lässt Licht herein, das in Streifen in den Raum fällt und die Luft mit all ihren winzigen Schwebeteilchen aufleuchten lässt.

Ich habe siebeneinhalb Wochen nicht gesprochen. Im Lazarett in Verdun haben sie mir Elektroden an die Zunge gelegt, um sie zu beleben, als würde es sich um ein mechanisches Versagen handeln. Als ich aufschrie, entschieden sie, dass mir körperlich nichts fehle, deshalb schickten sie mich hierher, wo sich die Zeit, weitergeschoben nur von gemächlichen Glockentönen, dehnt, um zu heilen.

Die Stille war eine Erleichterung.

Lipp nickt, als er sich neben mich setzt, eine Serviette in seinen Kragen stopft und sie über der Brust ausbreitet. Er ist ein Arzt in seltsamer Tracht, doch auch ein Sozialist – er besteht darauf, wie alle anderen hier in einer steinernen Zelle zu wohnen. Lipp redet gern und kümmert sich gewissenhaft um uns. Nichts kann ihn schockieren. Ich beobachte, wie er tagsüber von einem zum anderen geht, als mache er die Runde in einem normalen Krankenhaus, dabei spricht er ruhig und zupft an seinem Spitzbart. Er spricht mich an, ohne auf eine Antwort zu warten, als wäre Stummsein eine völlig angemessene Reaktion auf diese Welt.

Im Sommer 1914 hatten alle den Krieg gewollt, ich eingeschlossen. Uns wurde erzählt, es hätte schon französische Angriffe gegeben, und die Russen würden an unserer Grenze aufmarschieren. Der Kaiser appellierte an uns alle, die Nation zu verteidigen, egal welcher Religion wir seien und welche politischen Ansichten wir hätten. Er sagte: »Ich kenne keine Parteien, nur Deutsche …« Und dann sagte er: »Meine lieben Juden …« Meine lieben Juden! Diese an uns persönlich ergehende Einladung zum Krieg haute uns um. Der Krieg erschien heilig und heroisch, wie sie es uns in der Schule beigebracht hatten – als etwas, das unserem Leben einen Sinn gab und uns reinigte.

Was konnten wir getan haben, dass wir eine solche Reinigung nötig hatten?

Dr. Lipp neigt den Kopf und schließt die Augen, dann bekreuzigt er sich und widmet sich seiner Schüssel, in deren blasser Brühe Graupen und Möhrenstücke schwimmen. Ungewöhnlich für einen Sozialisten, ist er auch ein glühender Katholik. Er ist davon überzeugt, dass alles zu einem Plan gehört, selbst wenn wir Sterblichen ihn nicht kennen.

Einige der Kriegsveteranen haben entsetzliche Wunden, die, so gut es in Feldlazaretten möglich war, versorgt wurden, bevor die Männer hierherkamen, um wegen anderer Schäden, die nicht zu sehen waren, gepflegt zu werden. Vier Männern fehlen Beine ganz oder teilweise. Jeder davon hat Anrecht auf zwei Beinprothesen vom Kriegsministerium in Berlin, doch sie sind nicht eingetroffen. Der Kamerad uns gegenüber hat beide Arme verloren, einen von der Schulter an, den anderen ab Ellbogen. Seine Prothesen sind angekommen. Sie sind aus Metall und sind auf der Seite ohne Arm um die Brust herum befestigt und am anderen Armstumpf mit Lederriemen und Metallschnallen, wie bei einem Schulranzen. Er braucht sicher Hilfe, um sie morgens anzulegen. Als er sich hinsetzte, bemerkte ich seinen offenen Hosenstall – ist das ein Versehen oder eine Notwendigkeit? In einer Welt ohne Arme ist es schwer, die Würde zu bewahren. Ob er seinen Schwanz mit dem Haken halten kann?

Sein Nachbar nimmt den Löffel des Mannes und füttert ihn, ohne zu fragen. Früher, wenn ich in den Straßen von München oder Berlin an Rückkehrern vorüberkam und die Beinlosen sich auf Rollbrettern bewegten, indem ihre stoffumwickelten Hände sich am Boden abstießen, oder mit ihren Stümpfen auf grauen Armeedecken saßen und Streichhölzer verkauften, oder an den Aberhunderten von ›Storchenmännern‹ auf Krücken, hielt ich sie für geschickt. Ich gestattete mir die Phantasie, dass der Invalide, wegen des geschickten Umgangs mit Rollbrett oder Krücke oder Stock, sich mit seiner Situation abgefunden hatte. Hier stürzen wir mit den Krücken und fallen von Stühlen, machen in die Hosen und weinen vor Wut. Das ist auch ein Übergangsstadium, das versteckt werden soll. Und es wird versteckt, eben hier.

Die Brühe heute ist gut – Hühnerbrühe. Die Mönche halten ihre eigenen Hühner und müssen sie nicht als Kriegsleistung abliefern, nur hinterher die Knochen für Brühpulver, wie alle anderen auch. Theo zu meiner Linken war früher Kellnerlehrling in Aschingers Restaurant in Berlin. Ihm wurden Nase und Oberkiefer von einer Granate weggerissen; er trägt einen schwarzen Tuchflecken über dem Mittelteil seines Gesichts. Darunter ist ein rötliches Loch, durch das er ein- und ausatmet. Der Flecken hat keinen praktischen Zweck; er trägt ihn, um anderen den Anblick zu ersparen. Seine Augen darüber sind blassblau, und auch ihr Anblick ist schwer zu ertragen.

Theo füttert sich selbst, indem er mit dem Löffel bis hinten in den Hals fährt und so gut er kann schluckt. Das Geräusch ist ekelhaft. Er wird nie ein Mädchen küssen. Er wird nie arbeiten. Er kann nicht sprechen. Draußen ehrt man die Toten als Helden, doch hier drinnen schämen sich die Verstümmelten.

Lipp wendet sich zu ihm und nickt anerkennend. »Guter Mann«, sagt er, »so ist’s recht.«

Der nächste Gang ist Matjes und Kartoffeln. Theo drückt den öligen Fisch in Kartoffelstücke und tut sein Bestes.

Zum Ende des Mittagessens läuten sie wieder eine Glocke. Wir legen unsere Löffel hin, Spuren von Aprikosensirup bilden ein leuchtendes Filigranmuster in den Schüsseln. Beim Hinausgehen wird wieder gesprochen. Männer zünden sich Zigaretten an. Ich gehe hinter Lipp, der Theo von einer metallenen Kiefernprothese erzählt, die »genial in den noch vorhandenen Knochen geschraubt wird«. Sie haben Theos Krankenakte mitgenommen.

Als Lipp zu einem anderen Patienten weitergeht, schließt sich Theo mir an. Er zieht die Augenbrauen hoch, und das kleine Tuch lässt ein Schnauben heraus. Er ist tapfer, doch er hat diesen Ausdruck wie viele von uns hier: Das kann doch unmöglich mein Leben sein; das muss ein Irrtum sein.

Ich glaube, Theo liebt unser beider Schweigen. Er weiß so gut wie ich, dass die Ärzte der Regierung nicht kommen und ihm einen mechanischen Kiefer geben werden – oder wenn doch, dann nur im Vorübergehen. Sie kommen, um zu prüfen, ob er, Theo Pöpke, ins Zivilleben zurückkehren kann oder ob er für die vorausschaubare Zukunft in eins der geheimen Militärhospitäler geschickt wird. Das ist keine Frage der Gesundheit. Es ist eine der Moral: Die Regierung möchte nicht, dass die grässlich Verwundeten die Unterstützung für den Krieg sabotieren, Frauen in Straßenbahnen erschrecken.

Als Theo sich gerade in meiner Zelle niedergelassen hat, um zu lesen, kommt Dr. Lipp, eine Zeitung schwenkend, hereingelaufen.

»Die Stimmung schlägt um!«, schreit er, dann lauter: »Das Ende naht!«

Theo sieht mich an und zieht gutmütig die Augenbrauen hoch. Wir sind stumm, nicht taub.

In Lipps Mundwinkeln haben sich weiße Speichelbläschen gesammelt, und das blassrosa Innere seiner Hosentasche baumelt von seiner Hüfte.

»Die Sozialdemokraten haben sich aufgespalten! Eine Gruppierung stimmt für die Beendigung des Krieges! Sie blockieren die Finanzierung! Sie gründen eine neue Antikriegspartei, die …« Er kneift das linke Auge zusammen, um sein Monokel besser festzuhalten. »›Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands‹. Das ist’s, Jungs –« Er schlägt mit dem Handrücken laut auf die Zeitung.

»Lassen Sie mich sehen«, sage ich.

»– und diesmal sperrt man sie nicht ein!«, beendet Lipp seinen Satz. Dann hält er inne, und ein törichtes Grinsen spaltet sein Gesicht. »Er spricht«, sagt er.

Theo sieht mich an, und seine Augen ziehen sich in den Außenwinkeln nach oben. Es könnte ein Lächeln sein.

Als ich erst einmal zu sprechen angefangen hatte, ließen sie mich bald raus. Zunächst war ich ziellos. Es war 1917, und obwohl das Ende des Krieges näher sein mochte als der Beginn, war es noch zu weit weg. Ich ging nach München und schrieb mich an der Universität ein; ich hatte eine Affäre mit einem Mädchen, dessen Liebster an der Front war. Als er fiel, erlosch ihr Interesse an mir.

Immer mehr meiner Freunde starben während dieses und des darauffolgenden Jahres. Ich war gerettet worden, aber ich fühlte mich dessen nicht würdig. Dann trat ich in die neue Partei ein – die Unabhängige –, und wir kämpften für den Frieden. Meine Kräfte kehrten zurück. Die Regierung nannte uns Verräter, Saboteure der Kriegsanstrengungen. Sie sprengten unsere Treffen und nahmen uns in Gewahrsam. Doch wir waren genauso bereit, für unser Land zu sterben, wie sie es waren; einige von uns hatten das schon getan. Wir wollten es einfach zuerst retten.

Im Kloster glaubte ich, die Atome hätten sich wieder zusammengefügt, um mich ganz zu machen, wären an ihre Stelle gerückt worden durch Gesang und unsichtbare Gnade. Aber jetzt sehe ich, dass der feste Grund außerhalb meiner Person war; ich hatte meine Hoffnung auf die Geschichte gesetzt.

Die Revolution kam in Russland, und wir warteten auf die unsere.

 

Clara bewegt ihre Schultern und dreht den Hals hin und her. Es ist, als wären wir beide dort im Kloster mit den Verwundeten und den Mönchen gewesen.

»Geht’s Ihnen gut?«, fragt sie.

»Ich habe lange nicht mehr an diese Menschen gedacht.« Meine Stimme klingt heiser.

Zwischen ihren Brauen ist eine Falte, und ihre Augen starren ins Leere. Es ist ein von Verwunderung gezeichnetes Gesicht, und Mitleidstränen sind nicht fern. Sie blinzelt sie weg. »Soll ich uns nicht vielleicht ein paar Sandwiches besorgen?«

»Danke.«

Sie legt die Hände in den Rücken und biegt sich katzengleich, stößt dann ihren Stuhl zurück. Sie geht zur Tür, um ihre Jacke zu holen, dreht sich aber vorher noch einmal zu mir um.

»Nach dem Mittagessen, dachte ich, könnten wir eine Weile im Park arbeiten.« Sie breitet die Arme aus und deutet auf die zurückgelassene Welt. »Ich meine, um etwas Luft zu schöpfen. Um zu sehen, was noch da ist von der Kirschblü…«

Ich schüttele den Kopf. Ich werde hier im Zimmer bleiben. Ich habe stets eingesperrt am besten gearbeitet.

Sie schlüpft in ihre Jacke.

»Warum essen Sie Ihr Sandwich nicht im Park?«

Sie ist unsicher, dann erleichtert. »Gut …« Sie hängt ihre Tasche um.

»Ach, nehmen Sie doch den Nachmittag frei. Wir haben für einen Tag genug gearbeitet.«

Sie schaut mich skeptisch an. Es ist ihr unbegreiflich, dass jemand aus freien Stücken Tag und Nacht in einem Zimmer bleiben will, wenn draußen diese großartige Stadt leuchtet und lockt wie ein Vergnügungspark, ein Glückstopf für Erwachsene. Sie hat auch den Verdacht, dass ich nichts essen werde.

»Zuerst bringe ich Ihnen ein Sandwich.«

»Nicht nötig.«

»Das Übliche?« Clara hat eine Art, mich zu ignorieren, die sanft ist, nicht brüsk. Sie ist eine Dompteurin in einem Zimmer mit einem müden alten Löwen. Sie braucht kein Podest und keine Peitsche, ihr Tonfall genügt.

»Danke.«

»Kapern?«

»Ja bitte.« Ich lächle ihr zu. »Ich danke Ihnen, Clara.«

Ruth

Ich hole die Milch aus dem Kühlschrank und rieche daran. Sie ist in Ordnung. Ich lasse das Wasser kochen und gieße es in die Tasse, nicht in die Blechbüchse. Vergangene Woche, in einem winzigen Moment der Zerstreutheit, stand ich plötzlich mit einer überfließenden Kaffeebüchse da. Ich klemme mir ein Paket Butterkekse unter die Achsel und gehe mit der Tasse den Hausflur entlang zum vorderen Zimmer. Die meisten alten Leute ernähren sich von Butterkeksen, bin ich überzeugt.

Als ich mich wieder vor Toller hinsetze, krümle ich alles voll – es ist der Keks-Urknall! Es gibt mehr Krümel, als je Keks vorhanden war, und das bleibt ein ewiges Rätsel. Später kommt Bev zum Saubermachen. Natürlich ist sie verärgert, wenn die Wohnung nicht schon sauber ist. Schon vor langem habe ich mich entschlossen, ihr Murren und Knurren, ihre giftigen, aus der Luft gegriffenen Vorwürfe als Spiel zu betrachten, als etwas, das uns verbindet. Sie kann über meine Schlampigkeit spotten (aber ich habe die Zigarillos aufgegeben!), während ich Dankbarkeit für ihre Fürsorge heuchle. Mit diesem Ritual erkennen wir wortlos an, dass ihre Tugend der meinen überlegen ist, obwohl ich, per Zufall und ohne mein Verdienst, ihr in Gelddingen überlegen bin.

Toller war also in einem Sanatorium. Es fällt mir schwer, mir einen solchen Feuerkopf stumm vorzustellen. Dora hat das nie erwähnt – vielleicht hat sie nicht viel darüber gewusst. Obwohl sie mir andere Dinge über seine Kriegserlebnisse erzählt hat, Dinge, über die er in der Öffentlichkeit nicht sprach. Er hatte sich als Freiwilliger gemeldet, sagte sie, weil er »mit seinem Leben beweisen« wollte, dass er Deutschland liebte. Sein Mut hatte die Menschen um ihn erschreckt. Als einmal ein Soldat verwundet im Niemandsland lag, rannte Toller los, um ihn zu bergen, wurde aber von einem Artilleriefeuerhagel in den Graben zurückgezwungen. Drei Tage und Nächte rief der Junge sie beim Namen, zuerst laut und verzweifelt, und dann schwächer und trauriger. Als er starb, hatte sich Tollers Kriegsbegeisterung zu einem selbstmörderischen Wagemut gewandelt, den er beim Schutz seiner Männer aufbrachte. Dora sagte, dass er sich verantwortlich fühlte für das Schlamassel, in dem sie steckten, als wäre das Ganze irgendwie seine Schuld.

Der gute Toller. Wie kommt es, dass berühmte Leute im wahren Leben so viel kleiner sind? Als Dora ihn zum ersten Mal in mein Berliner Studio brachte – das war am Nollendorf-Platz, also muss es 1926 oder 27 gewesen sein –, öffnete ich die Tür und sah hinunter auf zwei Grammophone mit riesigen Schalltrichtern, und unter jedem ein Paar Beine. Doras Stimme kam hinter dem einen hervor.

»Er hat sechs davon gekauft, kaum zu fassen. Für Freunde. Eins für dich.«

»Aber wir kennen uns gar nicht!« Ich war verlegen, sobald mir die Worte entschlüpft waren, als hätte ich sie in Gegenwart einer königlichen Hoheit geäußert. Doch die Verschwendung schockierte mich.

»Sei nicht so pedantisch, Ruth«, sagte Doras Stimme. »Lässt du uns nun herein?«

Sie stellten die Grammophone auf dem Tisch ab. Toller drehte sich lächelnd zu mir. Einen Augenblick lang war ich mit einem Stück Literatur konfrontiert, mit einem Mann, den ich von den Berichten über die Münchner Revolution kannte, von einem Steckbrief und von Theaterplakaten und der nun lebendig vor mir stand: ein ziemlich junger Mann in einem zerknitterten Seidenhemd, mit wilden, von grauen Strähnen durchzogenen Haaren um die Stirn, der mir die Hand schüttelte. Er hielt meinen Blick fest.

Toller beherrschte keinen Smalltalk, keine Kommunikationsebene für Bekannte. Er fixierte dich ein wenig zu lang mit diesen dunklen Augen. Seine einzige Umgangsart, mit jedem, war die vertrauliche. Die Frauen liebten ihn dafür. Er übersprang das ganze quälende Geplänkel, das vage Flirten, und redete, als kenne er sie und sei schon intim mit ihnen gewesen. Wer möchte sich nicht voll und ganz einem Mann hingeben, der sich jederzeit aufopfern würde, um die Welt zu retten?

Er lächelte noch immer und hielt meine Hand fest. »Ich könnte Ihnen in die Augen sehen« – er ließ mich los und deutete auf seine O-Beine –, »wenn diese verdammten Dinger grade wären.«

Ich lachte.

»Dora hat mir alles über Sie erzählt.«

»Wirklich?« Es kam mir unwahrscheinlich vor. Dora stand drüben an meinem Leuchttisch und schaute sich Negative an. Ich merkte jedoch an ihrem Schweigen, dass sie zuhörte. Wie auch alles, was er zu mir sagte, für sie bestimmt war.

Dora drehte sich um und unterdrückte ein Lächeln. »Er übertreibt«, sagte sie, ihn anblickend. »Ich habe kaum was gesagt.«

»Und sie hat Ihnen gesagt, dass ich ein Grammophon brauche?« Ich blickte von einem zum anderen. Sie lachten. »Das ist sehr freundlich, aber ich kann doch nicht –«

»Bitte«, sagte der berühmte Mann und zeigte mir beide Handflächen, »ich konnte einfach nicht widerstehen. Ich möchte wirklich, dass Sie es annehmen.« Er fing an zu husten und hielt die Hand vor den Mund.

Da wurde mir klar, dass ich, wenn ich viel Aufhebens machte, unterstellen würde, es sei irgendwie unnormal, sechs Grammophone auf eine Laune hin zu kaufen, und mindestens eins davon für eine bis dahin unbekannte Person.

»Also gut«, sagte ich. »Vielen Dank.«

Er wirkte erleichtert. Der Husten hörte auf. »Entschuldigung.« Er legte die Hand auf die Brust. »Ein altes Lungenleiden.«

Dora ließ ein Kichern hören. »Das war die malaise du jour deiner Generation, wie?«, sagte sie. »Das Lungenleiden.« Sie redete immer frei heraus, aber ganz ohne Boshaftigkeit. Kaum jemand nahm Anstoß, doch ich sah Toller zusammenzucken. Meine Cousine arbeitete erst seit zwei Wochen für ihn.

»Und die deine wäre?«

»Na ja …« Sie dachte schnell. »Die unsere wäre – irgendein Komplex. Vaterkomplex, Mutterkomplex, Unsicherheitskomplex, Autoritätskomplex …«

»Die habe ich auch alle«, lächelte Toller. »Die lassen mich nur nicht husten. Und übrigens bin ich nicht mal zehn Jahre älter als du.«

Dora nickte, als wolle sie sagen touché, und wandte sich wieder meinem Leuchttisch zu. Zwischen ihnen gab es eine Spannung, die ich fast sehen konnte, wie einen Strick quer durchs Zimmer, straff und lose und wieder straff. Ich stellte fest, dass sie ein Liebespaar waren.

Ich zeigte Toller einen Hocker. »Wollen wir anfangen?«

Dora hatte vereinbart, dass ich ihn für ein Plakat fotografierte, das Reklame für sein neues Stück Der entfesselte Wotan machen sollte. Sie hatte mir erzählt, wie sarkastisch es war – eine Komödie über einen größenwahnsinnigen Friseur namens Wotan, der mit Hilfe einer cleveren Kombination von Demagogie und Gewalttätigkeit versucht, das Nachkriegsdeutschland vor den Kommunisten und den Juden zu retten. (Wenn man sich das jetzt vorstellt! Wirklich schrecklich für Toller, dass er das Kommende so klar vorhersah.)

Ich berührte leicht seine Schultern, um ihn zu mir zu drehen. Das Halbrund hinter ihm war weiß wie sein Hemd; es wäre wunderbar, wenn dieser große dunkle Kopf aus der Helligkeit hervorträte.

»Bleiben Sie ganz entspannt«, sagte ich und begab mich wieder zu meiner Kamera.

»Sie können das leicht sagen.« Er musterte die Kamera auf ihrem Stativ. »Sie verstecken sich ja hinter dem Ding.«

Ich unterbrach das Filmaufspulen. Er lächelte mich auf eine Weise an, dass ich mich plötzlich völlig durchschaut fühlte.

Ich wandte mich wieder meiner Arbeit zu.

»Bleiben Sie ganz natürlich«, fuhr er fort, »das ist das Schlimmste, was man einem Schauspieler sagen kann. Sie vergessen einfach, wie sie sein sollen. Sie verfallen in eine Art langsames Gehabe.« Er setzte sich auf dem Hocker zurecht. Als ich wieder hinsah, posierte er, die Faust am Kinn, die Stirn gerunzelt, wie Rodins Denker.

»Hör auf, eine Rolle zu spielen«, rief Dora von der anderen Seite des Zimmers.

»Ich hab ja gesagt, es ist zu schwer«, sagte er leise zu mir, und dann fing er an herumzualbern und eine Pose nach der anderen einzunehmen, vom Denker zum Boxer, zu einem sich kratzenden Gorilla, wie ein Schauspieler, der sich warmspielt, oder jemand, der seine Rolle sucht. Das funktionierte überhaupt nicht.

»Dorle, kannst du mir hier mal helfen?«, rief ich.

Sie kam rüber. Ich gab ihr einen Belichtungsmesser in die Hand. Es war eine sinnlose Aufgabe: Ich brauchte sie in seinem Blickfeld, um ihm Halt zu geben.

Das Foto wurde berühmt. Man benutzte es ab da auf allen Plakaten für seine Produktionen, und manchmal verwendeten es auch die Zeitungen. Es ist eine Nahaufnahme, von den Augen beherrscht. Sie sind groß und freundlich und irgendwie nackt. Sein Mund, voll und geschwungen, ist geschlossen. Seine Stirn ist ein wenig gefurcht; das Kinn passend dazu gespalten. Er sieht aus, als hätte er dich, einen geliebten Menschen, gerade gebeten, bei einer seiner Kampagnen mitzumachen – die hungernden Russen mit Nahrungsmitteln zu versorgen oder die Zensurgesetze abzuschaffen oder politische Gefangene zu befreien. Er ist der Poster-Boy für die neue Nachkriegswelt, und obwohl er den Preis kennt, den du vielleicht bezahlen musst, will er dich. Er sitzt in einem Lichthof, zerbrechlich wie Glas, zart wie eine Seifenblase.

 

Die Sonne, die durch mein vorderes Fenster hereinströmt, hat offenbar einen kahlen Fleck auf meinem Kopf gefunden – o die thermischen Vorteile der kahlen Stellen bei Frauen! Meine Haare waren dort nicht immer so spärlich. Doch ich muss sagen, dass es im Allgemeinen ein Vorteil war, keine schöne Frau zu sein. Weil man mich kaum anschaute, konnte ich mich ungehindert umschauen.

Tollers Buch liegt auf dem Tisch. Einige seiner Ergänzungen sind noch dort eingeschoben, wo er sie haben wollte. Ich bücke mich, um die herausgefallenen aufzusammeln.

Draußen ist das Hupen eines Baufahrzeuges zu hören, das blind in einen Park zurückstößt. Die Wolken ziehen über die Straße und den Vorgarten hin, weg von mir im Morgenmantel in meinem Haus, hinaus aufs Meer. In Sydneys Frühling vollführen sie das jeden Morgen, rollen von uns weg wie ein Blechdeckel auf der Sardinenbüchse. Die Vogelrufe sind intensiv. Früher glaubte ich, das sei Freude über den neuen Tag, doch ich weiß nun, sie prüfen, wer die Nacht überlebt hat. Für mich im Sessel sieht es so aus, als würden diese Wolken am Frangipanibaum im Hof hängenbleiben, dessen Zweige kahl wie eine gigantische Koralle sind und in die Luft stechen. Wenn der Baum sie nicht aufhält, werden die Wolken weiterziehen und die beiden elektrischen Drähte verschlucken, die dieses Haus an den Mast auf der Straße binden. Wasser und Elektrizität vermischen sich nicht. Stimmen kommen zurück zu mir, oder manchmal nur Aufforderungen.

Der menschliche Geist ist ein interessantes Organ. Ohne fremdes Zutun spult er auf und spult ab. Oder ist das Gehirn das Organ und der Geist etwas ganz anderes, eine Wirkung davon, ein Scheinbild? Professor Melnikoff erzählt mir, dass das Gedächtnis von Alzheimer-Patienten sich zurückentwickelt, bis die ersten Dinge, die sie lernten, die letzten sind, die sie vergessen: »bitte« und »danke«, die Rest-Höflichkeitsformeln des Menschen, fest verankert im Hippocampus. Man kann nicht mehr allein auf die Toilette, bleibt jedoch höflich. Vielen Dank fürs Abwischen.

Aber Gott sei Dank ist es nicht Alzheimer, was ich habe. Es ist einfach so, dass manchmal, wie am Rand des Schlafs, eine vage Erinnerung auftaucht, wie ein Dia in einem Rundmagazin. Meine Freunde und andere Menschen tauchen auf und kommen ins Zimmer geschlüpft, sie atmen und bewegen sich und öffnen den Mund.

Einige Erinnerungen sind vielleicht nicht einmal meine eigenen. Ich habe die Geschichten so oft gehört, dass ich sie verinnerlicht habe, sie poliert und umhüllt habe, wie eine Auster das mit einem Sandkörnchen tut, und nun – seien es nun meine oder nicht – sind sie mein glänzendstes Ich.

Neunzehnhundertsiebzehn war das Jahr, in dem auch ich zum ersten Mal auf die USPD