Allgemeine Didaktik - Rotraud Coriand - E-Book

Allgemeine Didaktik E-Book

Rotraud Coriand

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Beschreibung

Das Buch entwickelt die wissenschaftlichen und praktischen Dimensionen der Didaktik - verstanden als Theorie über das Verhältnis von Lehren und Lernen - in einem systematischen Theoriegebäude, das nicht in den üblichen Grenzen des Schulunterrichts verbleibt, sondern Unterricht im vor-, nach- und außerschulischen Bereich einschließt. Aus dem Zusammenhang von Erziehung und Unterricht werden die Grundfragen der Allgemeinen Didaktik abgeleitet, deren Antworten unendlich vielgestaltig sind. Vor dem Hintergrund dieser Weite und Vielschichtigkeit der Didaktik als Lehr- und Forschungs-gebiet sowie unterrichtliches Handlungsfeld wird ein Überblick über Theorieebenen gegeben und exemplarisch auf praktische und wissenschaftliche Theorien eingegangen. Die Leser - insbesondere Studierende pädagogischer Berufe, Erziehungswissenschaftler, Fachdidaktikerinnen sowie professionell Lehrende - sind eingeladen, den systematischen Gedankengang für das eigene didaktische Denken und die Unterrichtsreflexionen kritisch zu verfolgen.

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Rotraud Coriand

Allgemeine Didaktik

Ein erziehungstheoretischer Umriss

2., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

 

 

2., aktualisierte Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031606-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031607-2

epub:    ISBN 978-3-17-031608-9

mobi:    ISBN 978-3-17-031609-6

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

Einleitende Vorbemerkung

I Einführung in die Allgemeine Didaktik

1 Die Lehren-Lernen-Korrelation als Gegenstandsfeld

2 Zur Wissenschaftsgeschichte der Didaktik

2.1 Das Jahr 1648

2.2 Didaktik als Wissenschaft in den Systematiken Herbarts und seiner Nachfolger

3 Didaktik im disziplinären Strukturgefüge der Erziehungswissenschaft

II Erziehung – Unterricht – Allgemeine Didaktik

1 Zum Zusammenhang von Erziehung und Unterricht

2 Grundfragen der Allgemeinen Didaktik

2.1 Stoffauswahl und -verbindung

2.2 Unterrichtsphasen im Fokus ihrer allgemeindidaktischen Funktionen

2.3 Art und Weise der Vermittlung

3 Unterricht und seine Vorbedingung: Classroom-Management

III Ebenen der didaktischen Theoriebildung

1 Didaktische Kompetenz als berufliche Position und Qualifikationsanforderung

2 Die Ebenen im Überblick

IV Unterrichtskonzepte als Theorien zweiten Grades

1 Exemplarisch: Der Jena-Plan

1.1 Das Verfängliche des dezidiert praktischen Interesses an der Reformpädagogik

1.2 Isolierung der didaktischen Elemente

1.3 Zum Etikett »Jena-Plan«

2 Exemplarisch: Blended Learning

(gemeinsam mit Stephan Wedding)

2.1 »Neue Medien« – eine Vorgeschichte

2.2 Das Blended Didaktikum – ein Lehrformat an der Universität Duisburg-Essen

V Didaktische Modelle als Theorien dritten Grades

1 Definition und Klassifikation

2 Ein Modell der logischen Didaktik: Die Didaktik Herbarts als wesentlicher Bestandteil seiner Erziehungslehre

2.1 Begriffsbildung durch Deduktion

2.2 Logische Kombinatorik am Beispiel der Didaktik

3 Zur kybernetisch-informationstheoretischen Didaktik nach Felix von Cube – einem allgemeindidaktischen Modell der empirischen Richtung

3.1 Disziplingeschichtliche Vorbetrachtungen zur empirischen Tradition der Allgemeinen Didaktik

3.2 Das kybernetisch-informationstheoretische Modell

4 Ausgewählte Modelle der pragmatischen Didaktik

4.1 Bildungstheoretische Didaktik im Rahmen kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft von Wolfgang Klafki

4.2 Konstruktivistische Ansätze

VI Didaktische Prinzipien

1 Einführung

2 Exemplarisch: Das Prinzip der didaktischen Differenzierung

2.1 Lehrende können nicht

nicht

differenzieren!

2.2 Differenzierung als unterrichtsmethodischer Möglichkeitsansatz

2.3 Bildungsstandards versus Differenzierung?

Schlussgedanken: Didaktik und das Technologieproblem der Erziehung

Literatur

Sachregister

Personenregister

 

»Erziehung geschieht, aber muss gewollt sein,der Normativität entkommt man nicht.«(Michael Winkler 2006, S. 7)

 

 

 

 

 

Einleitende Vorbemerkung

 

Die Idee zu diesem Versuch, die Allgemeine Didaktik systematisch zu umreißen, entstand vor allem vor dem Hintergrund der regelmäßig durchzuführenden Pflichtvorlesung »Einführung in die Allgemeine Didaktik«. Eine solche Überblicksvorlesung halten zu dürfen, bietet den Vorzug, vom persönlichen Spezialgebiet der Forschung aufzusehen, um fachlich wieder großräumiger zu denken. Die jedes Universitätsfach überhaupt erst konstituierende und unaufhörliche systematische Arbeit insbesondere an den Fachbegriffen und der Fachstruktur rückt wieder ins Blickfeld. Das führt natürlich nicht immer nur zu mehr Klarheit, sondern eher zum Gewahrwerden der unübersehbaren Weite und Vielschichtigkeit des didaktischen Lehr- und Forschungsgebietes und der damit verbundenen persönlichen Stolperstellen und Ungereimtheiten bezüglich des Systems der Erziehungswissenschaft. Dennoch stellt das eine gute Gelegenheit dar, den eigenen Zugang zu den inhaltlichen Zusammenhängen und systematischen Strukturen des zu vertretenden Faches für sich und den Dialog mit anderen festzuhalten – vor allem aber für die Orientierung der Studierenden im Fach. Dafür ist eine Einführungsvorlesung da, und das vorliegende Buch wurde durchaus als Begleitlektüre geschrieben, obgleich nicht im Stil eines Lehrbuchs. Auch wenn ein Lehrbuch dem tieferen Verständnis der besuchten Veranstaltung dienen kann, so verleitet es schnell dazu, es als »das« Lehrbuch zur Vorlesung zu betrachten. Sobald aber Bücher davon abhalten, Publikationen und Positionen anderer Wissenschaftler und Fachleute zu konsultieren, gehören sie in die Kategorie der »Leitfäden zu geistiger Trägheit« (Stoy 1847, S. 19). Es entfällt die für ein universitäres Studium charakteristische Mühe, sich mit unterschiedlichen Theorien und Behauptungen auseinanderzusetzen. Aktuelle Veröffentlichungen werden nicht mehr wahrgenommen, was aber wichtig wäre, denn mit dem Erscheinen eines (Lehr-)Buches beginnt sein Verfallsdatum. Der fortwährende Diskurs bleibt im Dunkeln, und das für die pädagogische Praxis so notwendige pädagogische Denken wird kaum geschult. Aus dem Grund habe ich mich entschieden, lediglich Konturen einer Allgemeinen Didaktik zu umreißen; die konzentrierte, auf Schärfe gestellte Aufnahme benötigt die ergänzende Lektüre. Außerdem repräsentiert ein Umriss auch nichts Fertiges, sondern nur einen Status quo, der sich ergänzen und korrigieren lässt.

Nach einer Einführung in den Gegenstand, die Wissenschaftsgeschichte und den systematischen Ort der Allgemeinen Didaktik geschieht der Umriss erziehungstheoretisch eingebettet: Ausgehend von der Erziehungstatsache wird der systematische Zusammenhang von Erziehung und Unterricht herausgearbeitet, um in dieser Perspektive wesentliche Grundfragen einer Allgemeinen Didaktik abzuleiten. Die Antworten auf die zentralen allgemeindidaktischen Fragen sind unendlich vielgestaltig und u. a. davon abhängig, wie nahe der Antwortende der pädagogischen Praxis ist: Der Unterrichtspraktiker muss ständig antworten, indem er handelt, denn jede pädagogische Situation erfordert von ihm Entscheidungen, die sich in pädagogischen Handlungen ausdrücken. Er ist also in seinen Antworten außerordentlich stark auf seine Erfahrungen angewiesen, die der ständigen Reflexion bedürfen. Anders der wissenschaftlich arbeitende Didaktiker, der – in deutlichem Abstand zur pädagogischen Tätigkeit – auf einer Metaebene die Unterrichtspraxis beobachtet und versucht, mittels des gewählten methodologischen Zugangs – sei es der vorwiegend logische, empirische, geisteswissenschaftliche, kritisch-konstruktive, phänomenologische, konstruktivistische und/oder bildungstheoretische, erziehungstheoretische, erkenntnistheoretische usw. – diese Praxis in einem Theoriegebäude abzubilden. Es entstehen miteinander konkurrierende wissenschaftliche Theorien, die den unterschiedlich ausgeprägten Anspruch verfolgen, brauchbare Reflexionsinstanz für diejenigen zu sein, die Unterricht und Unterrichtsforschung verantworten. Demgemäß gibt der Umriss zunächst einen Überblick über die angesprochenen Theorieebenen und führt lediglich exemplarisch in wenige, bestimmte Denkrichtungen repräsentierende Theorien ein. Die Unterscheidung von praktischen und wissenschaftlichen Theorien mündet in das abschließende Kapitel, in dem es um das Grundproblem der Erziehungswissenschaft geht, nämlich das Verhältnis von pädagogischer – hier konkret didaktischer – Theorie und Praxis.

Grundsätzlich folgen die Darstellungen – wie noch gezeigt wird – einem weit gefassten Unterrichtsbegriff, weil das Feld der Allgemeinen Didaktik nicht auf den schulischen Lehr-Lern-Prozess beschränkt ist, sondern ebenso den vor-, nach- und außerschulischen Bereich betrifft. Zudem entspricht es dem Darstellungsprinzip, sich den didaktischen Problemkreisen sowohl aus historischer wie gegenwartsbezogener Perspektive zu nähern und sich dabei zugleich der Dialektik von Erziehung und Bildung zu vergewissern. Auch wenn in den derzeitigen Debatten ein wie auch immer aufgeladener Bildungsbegriff omnipräsent gegenüber Erziehung zu sein scheint, bleibt es hier bei der erziehungstheoretischen Grundlegung der Allgemeinen Didaktik. Denn: »Bildung ist nicht voraussetzungslos möglich« (Winkler 2006, S. 270).

»Gleich, ob die große, philosophisch begründete Bildung oder die banale, scholare, längst curricular zurechtgestutzte Instruktionspädagogik gemeint ist, immer ist Erziehung vorausgesetzt, in der sie auszeichnenden Spannung, Vermittlung zur Aneignung zu ermöglichen, die Autonomie des Subjektes gegenüber den Vereinnahmungen zu verteidigen, welchen es sich aussetzen muss.« (Ebd.)

Insgesamt sollen sich die Leser durch die Form »Umriss« eingeladen fühlen, den Weg der Entwicklung eines systematischen Gedankengebäudes mitzugehen, um es mit praktischer oder wissenschaftlicher Ambition um-, weiter- oder neuzubauen. Die Studierenden im Besonderen sollen angeregt werden, das sich in unser Fach Erziehungswissenschaft/Didaktik ab und an einschleichende Schwarz-Weiß-Denken nicht einfach hinzunehmen, sondern ihm mit gesundem Misstrauen zu begegnen. Gemeint sind solche – von mir zugegebenermaßen wahllos aufgezählte und platt formulierte, aber gern in die Einleitung von Hausarbeiten übernommene – Pauschalurteile wie: Vor PISA war aller Unterricht der Bundesrepublik Deutschland qualitativ nur mäßig entwickelt, seit PISA wissen wir, was »guten Unterricht« ausmacht und wie er »gut« funktioniert; Frontalunterricht ist pädagogisch unbrauchbar, kooperatives Lernen die Lösung; im Herbartianismus sind Unterricht und Schule erstarrt, Reformpädagogik ist kinderfreundlich; Erziehung ist schwarze Pädagogik, Bildung salonfähig usw.

 

 

 

 

I

Einführung in die Allgemeine Didaktik

1          Die Lehren-Lernen-Korrelation als Gegenstandsfeld

 

Den für die Didaktik-Definition maßgebenden Zusammenhang von Lehren und Lernen stellt Otto Willmann – ein Klassiker der Didaktik sowie Erforscher ihrer Geschichte – her. Er führt uns über die Sprachgeschichte zum ursprünglichen Zusammenhang von Lehren und Lernen (vgl. Willmann 21906): Beide Worte besitzen eine gemeinsame Wurzel, die im gotischen »lais«, »ich weiß«, enthalten ist und ursprünglich besagte, »ich habe erwandert, erfahren« (ebd., S. 411). Daran anknüpfend leitet er in seinen etymologischen Untersuchungen sowohl die Grundbedeutung von »lernen« als »wissend werden durch Erfahren oder Erwandern« als auch von »lehren« als »Erfahrung und Fertigkeit erwerben machen« her (vgl. ebd.).

Lehren und lernen sind Korrelate, aber unterschiedlichen Umfangs. Als »Kausativum« umfasst lehren in der Bedeutung von »lernen-machen« sehr viel weniger als lernen, denn nicht jedes Lernen wird durch Lehren ausgelöst und begleitet. Lernen in der Bedeutung des Erwanderns ist Selbsttätigkeit, die nicht durch Lehre bewirkt wurde. Eine Beziehung zum Lehren lässt sich in dem Fall nur im übertragenen Sinn herstellen: »[B]eim Lernen als Erfahren belehrt man sich selbst« (ebd.). Das Lehren ist somit durch den Zweck, dass gelernt werden soll, nur mit einem Teil des menschlichen Lernens befasst und eng an diesen Teil gebunden. Lehren ohne lernen macht wenig Sinn. Das von Lehre unabhängige Lernen hingegen ist allgegenwärtig und unumgänglich.

Beide Begriffe verbindet Willmann im bekannten Spruch »durch Lehren lernen wir«, wobei das Anspruchsvolle des Zusammenhangs darin liegt, dass er für beide Tätigkeiten dasselbe Subjekt vorsieht: Natürlich können wir durch die Belehrung seitens anderer lernen. Aber wir lernen eben auch und besonders dann, wenn wir lehren, denn indem wir das Wissen und Können anderer vermitteln, wird uns das eigene geläufiger. Die Griechen der Antike, denen der Didaktik-Begriff entlehnt wurde, gingen in ihren Positionen zum Verhältnis von Lehren und Lehren sogar so weit, dass sie erst im Lehren einen Abschluss des Lernens sahen. Nach ihnen erhielt der Spruch »Docendo discimus« – »Durch Lehren lernen wir« – eine neue Qualität in der Formulierung »Docturi discimus« – »Wir lernen, um das Gelernte lehren zu können« (ebd.). Die individuelle Zielperspektive wird um die sozial folgenreichere erweitert. Willmann verweist hier auf Platons Aussage: »Keinen schöneren Beweis ihres Wissens können die Wissenden geben, als wenn sie andre wissend zu machen vermögen« (zit. n. ebd.). Aristoteles, Schüler Platons, habe das Lehren-Können zur Probe des Wissens erklärt. So gedacht erhält das Lehren, das ursprünglich das lernende Erwandern nur zu ergänzen hatte, eine neue Wertigkeit und gewissermaßen sogar Vorrang gegenüber dem Lernen; »in ihm [dem Lehren, R. C.] reift das Wissen aus, es ist geistiges Zeugen und Überleiten des Geistigen« (ebd., S. 412). Diese Aufwertung des Lehrens, auch das zeigt Willmann in seinen etymologischen Analysen, ist bereits in dem griechischen Ausdruck zu finden, aus dem der heutige Begriff der Didaktik hervorgegangen ist: διδασχειν (didaskein) (vgl. ebd.).

Damit ist der Gegenstand der Didaktik umrissen. Derjenige, der sich mit Didaktik befasst, interessiert sich in erster Linie für die Prozesse des Lehrens und Lernens in ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander. Deshalb wird hier Didaktik als Theorie über das Verhältnis von Lehren und Lernen definiert, wobei didaktische Theorien je nach praktischem oder wissenschaftlichem Interesse auf unterschiedlichen Ebenen entstehen, die beispielsweise Erich Weniger in Abhängigkeit von ihrem Abstand zur Praxis als Theorien ersten, zweiten und dritten Grades (vgl. Weniger 1929/1990) bezeichnete. Die Ebenen der didaktischen Theoriebildung sind strukturbestimmend für das vorliegende Buch und determinieren das Mehrebenenmodell zur Kennzeichnung des didaktischen Gegenstandsfeldes.

2          Zur Wissenschaftsgeschichte der Didaktik

 

2.1        Das Jahr 1648

Bekanntermaßen ist die Erziehungswissenschaft und mit ihr die Didaktik im Vergleich zu den ursprünglichen, traditionellen Universitätsfakultäten bzw. Wissenschaftsdisziplinen Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Philosophie ein junges akademisches Fach. Die Anfänge im deutschsprachigen Raum lassen sich im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert verorten. Erinnert sei in dem Zusammenhang an den ersten deutschen Lehrstuhl für Pädagogik, der an der Hallenser Universität 1779 eingerichtet, jedoch nur kurz von Ernst Christian Trapp bis 1783 ausgefüllt wurde. Die Etablierung weiterer ordentlicher Professuren lässt sich in Deutschland erst wieder Anfang des 20. Jahrhunderts ausmachen. Österreich hingegen errichtete bereits 1805 an seinen Hochschulen Lehrkanzeln für Pädagogik (vgl. Brezinka 2003a, S. 147). Allerdings kam es im Zuge der Reform des österreichischen Studienwesens um 1848 wieder zu deren Abschaffung. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden hier erneut vereinzelt Lehrstühle für Pädagogik geschaffen bzw. beförderte man Professoren für Pädagogik zu ordentlichen Professoren (vgl. Brezinka 2000, S. Vff.). Bis dahin fand die Pädagogik an den Universitäten eine eher randständige Vertretung durch Philosophen oder Theologen.

Die wissenschaftstheoretische Selbstreflexion der Erziehungswissenschaft bzw. ihrer Kerndisziplin Didaktik setzte weit früher ein als die institutionelle Folge in Gestalt von Ordinariaten, die als sichtbare Anerkennung der Eigenständigkeit einer Wissenschaft gelten. Wolfgang Sünkel (vgl. 2007, S. 13ff.) wartet überraschend mit einem konkreten Zeitpunkt auf, nämlich dem Jahr 1648. Dieses Jahr erfüllt seinen Untersuchungen zufolge drei notwendige Merkmale zugleich: »1) die Absicht, einen pädagogischen Sachverhalt der wissenschaftlichen Bearbeitung zu unterziehen, muss expressiv gemacht sein; 2) es muss das Verfahren, das dabei angewandt werden soll, kenntlich gemacht und als wissenschaftliches Verfahren behauptet sein; und es muss 3) eine Realisierung geben, also einen Text, der so verfährt« (ebd., S. 14, Hervorh. i. Orig.). Alle drei Kriterien weist er in dem Buch von Johannes Amos Comenius (1592–1670) nach, das den Titel »Methodus linguarum novissima« (»Neueste Sprachlehrmethode«) trägt und 1648 in Lissa erschien. Anders als die berühmte Didactica Magna, die die Didaktik als Lehrkunst beschreibt, wende sich diese Schrift nicht an ein allgemeines Publikum, um es für das Reformprogramm von Comenius zu gewinnen, sondern explizit an Lehrpersonen, die für ihre Unterrichtstätigkeit qualifiziert werden sollten. Insbesondere das zehnte Kapitel, »Methodi Linguarum Novissimae fundamentum, Ars DIDACTICA«, das eine Allgemeine Didaktik biete, zähle als »frühester Versuch einer wissenschaftlichen Behandlung des Unterrichts als solchen« (ebd., S. 14). Noch im neunten Kapitel stelle Comenius fest, dass sich die Didaktik auf feste und unveränderliche Grundlagen stützen müsse, »wenn sie zu einer Handlungswissenschaft (›Ars‹) ausgebaut werden soll« (ebd.). Sünkel übersetzt den zum zehnten Kapitel, das in der Literatur als die »Kleine« oder »Analytische Didaktik« bezeichnet wird (vgl. ebd.), überleitenden Satz, der für ihn entscheidend für die Zuordnung des Textes zur Wissenschaftsreflexion ist, aus dem Lateinischen wie folgt:

»In der Großen Didaktik haben wir die Geheimnisse dieser ›Ars‹ auf synkritische Weise untersucht, durch vergleichende Beobachtung mit Naturvorgängen und Handwerksverfahren. Hier nun wird auf analytische Weise vorgegangen, indem man die ›Ars‹ direkt definiert, sie in ihre notwendigen Bestandteile – die Ziele, die Mittel und die Handlungsweisen – zergliedert und so auf szientifische – wissenschaftliche – Weise Lehrsätze aufstellt.« (Comenius zit. n. ebd., S. 15, Hervorh. i. Orig.)

Anhand der gegensätzlichen Erkenntnismethoden (synkritisch – analytisch-wissenschaftlich) stellt Sünkel fest: »[D]ie Große Didaktik ist ein rhetorischer, die Kleine ein wissenschaftlicher Text« (ebd.). Auf die von ihm in der Kleinen Didaktik gestellten erkenntnisleitenden Frage »Quid est?« (übersetzt n. ebd.: »Was ist das?«) definiert Comenius: »Didactica est benè docendi ars« (übersetzt n. ebd.: »Didaktik ist die Wissenschaft vom guten Lehren«). Daran anschließend beschreibe Comenius vermutlich als erster das didaktische Dreieck in theoretischen Begriffen (vgl. ebd., S. 16f.). 2011 stellt Wolfgang Sünkel diese für das später so genannte didaktische Dreieck bedeutsame Textstelle und ihre Übersetzung aus »Methodus linguarum novissima« zur Verfügung: »Ecce hîc Docens, Discens, Doctrina. Docens est, qvi scientiam tradit: Discens, qvi accipit: Doctrina, ipsa Scientiae traditio, & a Docente in Discentem transitus«1 (Comenius zit. n. Sünkel 2011, S. 50).

Bereits Comenius unterscheidet also in Bezug auf die Didaktik in seinem Gesamtwerk sowohl zwischen praktischer (Didaktik als »Lehrkunst«) als auch wissenschaftlicher Theorie (Didaktik als »Wissenschaft vom guten Lehren«).

2.2        Didaktik als Wissenschaft in den Systematiken Herbarts und seiner Nachfolger

Das disziplinäre Verständnis der Erziehungswissenschaft und der Didaktik wurde nachhaltig beeinflusst durch das systematische Denken Johann Friedrich Herbarts (1776–1841) sowie den insbesondere unter den Herbartianern ausgetragenen Diskurs um begriffliche Klarheit in systematischen Gedankengebäuden, der zur Generierung von Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft führte.

Herbarts Forderung, die Pädagogik möge sich »so genau als möglich auf ihre einheimischen Begriffe besinnen und ein selbständiges Denken mehr kultivieren« (1806a/21982, S. 21, Hervorh. i. Orig.), symbolisiert sein Bestreben, die Pädagogik zu einem anerkannten, eigenständigen akademischen Fach zu etablieren. Dazu bedurfte es einer eindeutigen Fachsprache sowie der logischen Bestimmung der Stellung von Begriffen in einem Begriffssystem, aus dem dann die pädagogischen Theorien erwachsen können. Mit der »Allgemeine[n] Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet« (Herbart 1806a/21982) lieferte Herbart ein bis heute die erziehungswissenschaftliche Diskussion anregendes Exempel für die von ihm geforderte Präzision der Begrifflichkeit. Ein Ergebnis seiner systematischen Betrachtungen stellt die Ableitung zweier erziehungswissenschaftlicher Teilgebiete dar: »Didaktik« und »Lehre von der sittlichen Charakterbildung« (vgl. Herbart 1814/21982, S. 263).

Das Urteil über Herbarts System der »einheimischen Begriffe« reichte von »Dunkelheit« (Willmann 1873) über »Undeutlichkeit« (Ziller 1873, S. 246) bis hin zu »großer gothischer Bau« (Stoy 1873, S. 301), womit eine für die erziehungswissenschaftliche Disziplinentwicklung konstruktive Auseinandersetzung ausgelöst wurde. Das Kontroverse der Debatte soll im Folgenden am Beispiel der unterschiedlichen Positionen zur systematischen Verortung und Ausdifferenzierung der Didaktik gezeigt werden, die von Karl Volkmar Stoy (1815–1885) und Otto Willmann (1839–1920) – zwei originären Systematikern der wissenschaftlichen Schule Herbarts – vertreten wurden: Stoy knüpft unmittelbar an seinen akademischen Lehrer Johann Friedrich Herbart an und entwickelt eine erziehungstheoretisch begründete Didaktik. Willmann dagegen entwirft in Abgrenzung zu Herbart ein grundlegend anderes Modell, indem er die »Hoheitsrechte der Pädagogik« (Willmann 1882/21894, S. 85) gegenüber der Didaktik entkräftet und die Didaktik – systematisch (!) betrachtet – als bildungswissenschaftliche Disziplin autonom neben die Pädagogik als Erziehungswissenschaft stellt.

Stoy: Allgemeine und besondere Didaktik im erziehungswissenschaftlichen Theoriegebäude

Karl Volkmar Stoy, der bei Herbart in Göttingen studierte, setzte sich Zeit seines Lebens für die Pädagogische Bildung angehender Gymnasiallehrer an den Universitäten ein (vgl. Coriand 2000). Am Gedanken der pädagogischen Freiheit orientiert (vgl. Stoy 1882), sollten die Studierenden neben einem gründlichen wissenschaftlichen Fachstudium auch Veranstaltungen besuchen, die sowohl der »[p]ädagogischen Einsicht« durch die »Einführung in ein geordnetes Ganze wohl begründeter Sätze und ihre Folgerungen« als auch der »Aneignung einer von Selbstbeobachtung und Beurtheilung durchdrungenen Praxis« dienten (vgl. Stoy 1876, S. 200). Dafür gründete er 1844 in Jena ein pädagogisches Universitätsseminar, das er mit einer Übungsschule verband, und realisierte hier über drei Jahrzehnte hinweg (1844–1866 u. 1874–1885) unter freiwilliger, aber verantwortlicher Mitwirkung der Seminaristen seine Pädagogik des Schullebens. Der Reflexion der praktisch-pädagogischen Tätigkeit der Studenten an der Universitätsschule diente die fachsystematische Ordnung pädagogischen Wissens, die Stoy später als methodologische Enzyklopädie veröffentlichte (vgl. Stoy 1861/21878) und in der alle Fragen, die den lehrenden Erzieher bewegen, ihren logischen Platz finden sollten. So gesehen fungierte die Universitätsschule als systematisch arrangierter Erfahrungsraum, in dem die künftigen Gymnasiallehrer lernten, ihre pädagogischen Erfahrungen im systematischen Nachdenken über Erziehung zu beurteilen. Und: Die Schüler der ärmsten Bevölkerung Jenas besuchten eine Schule, die völlig nach pädagogischen und diätetischen Ansprüchen Stoys umgestaltet wurde und ihnen aus heutiger Sicht eine moderne Schulbildung ermöglichte.

Stoy teilt das deduktive Wissenschaftsverständnis seines akademischen Lehrers und lehnt sich in der »Encyklopädie, Methodologie und Literatur der Pädagogik« (Stoy 1861/21878) an dessen begrifflichem Gerüst an. In der Analyse der Erziehungstatsache folgt er Herbart zunächst in den erkenntnisleitenden Fragen nach dem Erziehungszweck und den Erziehungsmitteln, allerdings geht er über ihn hinaus, indem Stoy nach Antworten aus wissenschaftlich unterschiedlichen Perspektiven sucht:

»Die vorhandene Erziehung kann angesehen werden als etwas einfach Gegebenes oder als ein Gewordenes. In beide Betrachtungen theilt sich die historische Pädagogik. Andrentheils kann die Betrachtung der Erziehung wie sie sein soll angestellt werden theils absolut d. h. ohne Rücksicht auf gegebene Lebensverhältnisse – das ist die Aufgabe der philosophischen Pädagogik – theils relativ d. h. mit Rücksicht auf die empirischen Verhältnisse – damit beschäftigt sich die praktische Pädagogik.« (Ebd., S. 20, Hervorh. R. C.)

Auf die Weise eröffnet Stoy im Unterschied zu Herbart eine weitere Systemebene und leitet drei voneinander abhängige pädagogische Hauptdisziplinen ab. Die aus seiner Sicht abhängigste Disziplin sei die Praktische und die freieste die Philosophische Pädagogik. Diese Abhängigkeitsgrade veranlassen ihn zu folgender Struktur der Enzyklopädie der Pädagogik: »Nach ihrer gegenseitigen Stellung erweist sich die Reihenfolge als die natürlichste, dass die philosophische Pädagogik an die Spitze, die praktische am Schluss, die historische in der Mitte ihre Stelle erhält« (ebd.).

Die Didaktik bekommt ihren systematischen Ort im Feld der Philosophischen Pädagogik, die Stoy als »ein geschlossenes Ganzes wohl bearbeiteter Begriffe« (ebd., S. 12) definiert, in dessen Rahmen die Ideale der Erziehung frei von idealistischen Übertreibungen sowie Raum lassend für die feinsten Bewegungen des Lebens (vgl. ebd., S. 14f.) gezeichnet werden. Die Philosophische Pädagogik untergliedert er weiter in die pädagogische Teleologie bzw. »Lehre vom Zweck der Erziehung« und in die pädagogische Methodologie bzw. Lehre von den Erziehungsmitteln (vgl. ebd., S. 30). Didaktik und Hodegetik wenden sich den eigentlichen Erziehungsmitteln »Unterricht« und »Führung«2 zu. Die Diätetik, die Stoy ebenfalls innerhalb der pädagogischen Methodologie behandelt, befasst sich genau genommen nicht mit den Erziehungsmethoden. Sie sei eher eine »Lehre von den Vorbedingungen der Erziehung« (ebd., S. 42, Hervorh. i. Orig.), da sie diejenigen wissenschaftlich begründeten Anweisungen zur Pflege und Ausbildung des menschlichen Körpers enthält, die für die erfolgreiche Unterrichtung und Führung unerlässlich seien (vgl. ebd., S. 40). Führung und Unterricht sowie die Körperertüchtigung und -pflege stehen in unmittelbarer Abhängigkeit zum Zweck der Erziehung, der, wie schon bei Herbart, auf den Zögling selbst zurückweist: Erziehung »solle den Zweck verfolgen, welchen der Zögling, wenn er mündig wäre, selbst verfolgen würde« (ebd., S. 33). Der Erwachsene – so das Ideal – wählt dann seine besonderen, individuellen Lebenszwecke in Abstimmung mit der von ihm erkannten und anerkannten »Gesammtheit der sittlichen Lebenszwecke« (ebd., S. 32).

Unterricht, das Feld der Didaktik, hat wie die Führung dieser doppelten Aufgabe nach Verknüpfung von »notwendigen« (sprich sittlichen) und »bloß möglichen« Zwecken (vgl. Herbart 1806a/21982, S. 41) zu genügen, indem er für die »ethische und religiöse wie theoretische« (Stoy 1861/21878, S. 57) Bildung des Gedankenkreises Sorge trägt. Dafür sind geeignete Inhalte auszuwählen, fachlogisch wie pädagogisch zu strukturieren und zu vermitteln. Dementsprechend bestimmt Stoy die Grundfragen der Allgemeinen Didaktik: Sie befasst sich mit den Fragen nach der »Materie« (ebd., S. 63), der »Disposition« (ebd., S. 67) und der »Methode und Technik« (ebd., S. 71) des Unterrichts.

Bei der didaktischen Grundfrage nach der Stoffauswahl geht es Stoy darum, die »Materie« des Unterrichts hinsichtlich ihrer pädagogischen Bedeutung zu prüfen. Nur der in den einzelnen Wissenschaften hinterlegte Gedankenstoff, der zur ethischen, religiösen und theoretischen Bildung beiträgt, soll zum Unterrichtsgegenstand werden. Die Gewichtung im Lehrplan folgt – angeregt durch die Anforderungen der Teleologie – einer Relativität der pädagogischen Bedeutung des Stoffes: Das sei keine Frage von »Realismus und Humanismus« (ebd., S. 65). Vielmehr erhalten die Inhalte derjenigen Wissenschaften Vorrang, welche der ethischen, religiösen und theoretischen Lebensanschauung unmittelbar dienen. Nachgeordnet sind die »Wissenschaften von Formen und Zeichen, wie Mathematik und Grammatik, sie haben ja für die Bildung nur den Werth von Werkzeugen« (ebd., S. 66).

Die zweite Grundfrage der Allgemeinen Didaktik, die Frage nach der »Disposition« bzw. nach der geeigneten Unterrichtsanordnung, wendet sich dem pädagogischen Prinzip zu, dass »die mitgetheilten Gedanken in gehöriger Wechselwirkung zu einander stehen« (ebd., S. 67). Hierher gehören die didaktischen Überlegungen zum Nebeneinander der Lehrstoffe (»Statik«), um einseitige Betrachtungen zu vermeiden, zum an Bekanntes anknüpfenden Nacheinander (»Propädeutik«) sowie zur Verbindung der Aneignungsgegenstände (»Concentration«3) (vgl. ebd., S. 67–71).

Schließlich bündelt Stoy die Vermittlungsweise in die Frage nach der »Methode und Technik des Unterrichts« (ebd., S. 71). In der Sonderung von Methode und Technik folgt er der Herbartschen Differenzierung nach dem »Gang des Unterrichts« (Herbart 1806a/21982, S. 72) und den »Manieren des Unterrichts« (ebd., S. 71). Demnach erklärt Stoy den Gang des Unterrichts zur Methode. Je nach Richtung der geistigen Tätigkeit (regressiv oder progressiv) und entsprechend der wechselseitigen Bedingtheit von Analyse und Synthese unterscheidet er zwischen analytischer, synthetischer und – mit Verweis auf Karl Mager – genetischer Methode (vgl. Stoy 1861/21878, S. 74f.). Unter den Begriff der »didaktischen Technik« (ebd., S. 74) hingegen falle der »Stil des Unterrichts« (ebd., 74), das persönliche Geschick des Lehrenden,

»die verschiedenen Thätigkeiten während des Unterrichtes, das Aufnehmen und das Wiedergeben u. a. m. in bestimmte Reihenfolge zu bringen, bald die stetige Vertiefung des zusammenhängenden Vortrags durch katechetischen Verkehr zu unterbrechen, bald runde und gedehnte Sprache an die Stelle der accentuirten Kürze treten zu lassen, die Hülfe der bildlichen und übrigen Anschauungsmittel bald in den Vordergrund, bald zurückzustellen« (ebd., S. 78).

Stoy konkretisiert – wiederum über Herbarts allgemeine Perspektive hinausgehend – die in der Allgemeinen Didaktik angesprochenen Problemkreise, indem er eine Aufgaben- und Feldbestimmung der »besonderen Didaktik« (ebd., S. 81) anschließt. Die allgemeindidaktischen Grundsätze werden durch die Aspekte, die sich aus der Natur der Lehrobjekte, dem Alter und dem Geschlecht der Lernenden ergeben, in die »objektive, progressive und sexuelle Didaktik« (ebd.) modifiziert. Die objektive Didaktik, die der heutigen Fachdidaktik entspricht, lässt die Wissenschaften zu »Schulwissenschaften« (ebd.) werden und führt diese durch den fachlichen Zuschnitt der allgemeindidaktischen Prinzipien für Auswahl, Anordnung und Bearbeitung der Lehrstoffe im Lehrplan zusammen. Zur Maxime der Lehrplankonstruktion erhebt Stoy, »dass die Mitarbeit des Schülers am Bau als ein Unentbehrliches vorausgesetzt, die individuelle freie Bewegung des Lehrers innerhalb der einzelnen Räume, heissen sie nun Stufen oder Lektionen, möglich gemacht ist« (ebd., S. 82). In engem Bezug zur objektiven Didaktik steht die progressive, die sich mit der altersgemäßen Unterrichtung der Aneignungsgegenstände auseinandersetzt. Schließlich wendet sich die sexuelle Didaktik den geschlechtsspezifischen, genaugenommen den weiblichen,4 Eigenarten bei der Initiierung von Lernprozessen zu. Die Didaktik, die insbesondere die spezifisch weiblichen Aneignungsbesonderheiten zu bedenken hat, gehört für Stoy noch zu den wenig erforschten Gebieten und deshalb stelle die spezielle Didaktik der Psychologie die Frage, »worin denn die grössere Innigkeit der weiblichen Natur, der schnellere Rhythmus der Gedanken, die Abneigung gegen Abstraktionen, und die übrigen unzweideutigen Licht- und Schattenseiten der weiblichen Natur ihren Grund und ihre Grenzen haben« (ebd., S. 85). Ohne eine solche wissenschaftliche Aufklärung blieben alle Lehrpläne, die vorgäben, der weiblichen Natur Rechnung tragen zu wollen, »nur flüchtige, willkürliche Zeichnungen« (ebd.).

Der systematische Gedankenkreis Stoys schließt sich jedoch erst durch die logische Einbettung der Didaktik in eine Erziehungstheorie, denn es fehlen der Didaktik noch die Erkenntnisse darüber, wie man den Wert des ausgewählten, strukturierten und vermittelten Unterrichtsgegenstands durch adäquates Handeln der Schülerinnen und Schüler bereits in der Schule erfahrbar machen kann. Damit beschäftigt sich im weitesten Sinne die Hodegetik. Während die Didaktik sich der Bildung des Gedankenkreises zuwendet, thematisiert die Hodegetik den Umgang miteinander als Anwendung des theoretisch, ethisch und religiös Geprüften. In der Lehre von der Führung entwickelt Stoy den pädagogischen Maßstab für die von ihm in der Universitätsübungsschule sowie in der Schule seiner privaten Erziehungsanstalt realisierte Pädagogik des Schullebens, die auch wesentliche, über die Didaktik hinausgehende Grundsätze der Unterrichts-»Führung« enthält. Solche Elemente des Schullebens wie Schulunterricht, Schulreisen, Schulfeiern, Gartenarbeit, Turnen, Spielen, Wandern, Werkstattarbeit, Theaterabende, Studientage sowie Formen von Schülermitbestimmung und -mitverwaltung wurden durch den hodegetischen Begründungszusammenhang zu pädagogischen Situationen (vgl. Coriand 2000, S. 117–175).

Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Durch die systematische Einbettung der Didaktik in eine Erziehungstheorie, die Erziehung als Vorgang zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden definiert, sowie unter Hinzunahme seiner Positionen aus der Praktischen Pädagogik bleibt die Didaktik Stoys auf den schulischen Unterricht begrenzt; sie ist streng genommen eine Schuldidaktik.

Willmann: Die Didaktik als Bildungswissenschaft5

Pädagogisch prägend waren für Otto Willmann vor allem seine Jahre in Leipzig. Hier trat er, nachdem er in Berlin promoviert und das Examen für das höhere Lehramt erworben hatte, in das von Tuiskon Ziller geleitete Universitätsseminar ein, unterrichtete in der Seminarübungsschule, betreute die Unterrichtsübungen der Praktikanten und übernahm parallel dazu den Gymnasialunterricht an der privaten Erziehungsschule des Herbartianers Ernst Barth. 1868 berief ihn der Wiener Gemeinderat zum »Ordinarius und Muster- bzw. Oberlehrer am Wiener Pädagogium« (vgl. Beyer 1899, S. 805; Brezinka 2003b, S. 23f.). 1872 erhielt Otto Willmann eine außerordentliche Professur für Philosophie und Pädagogik an der deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag, die 1877 in eine ordentliche Professur für Philosophie und Pädagogik umgewandelt wurde (vgl. Brezinka 2003b, S. 27ff., 33f.).

Eine Frage, die in Willmanns Schriften immer wieder aufscheint, ist die nach der Bedeutung des Kriteriums der Wahrheit für die »moralischen Wissenschaften« (Willmann 1882/21894, S. 65) im Vergleich zu den Naturwissenschaften. Bei der Auseinandersetzung mit diesem wissenschaftstheoretischen Problem geht es Willmann insbesondere um das Aufzeigen der Bedingungen, unter welchen Pädagogik und Didaktik dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit genügen können. Damit befasst er sich bereits in der frühen Prager Vorlesung »Enzyklopädie der Erziehungswissenschaft« und gelangt zur Unterscheidung von Erziehungswissenschaft und Kunstlehre (vgl. Willmann 1874/1971, S. 452). Angesichts einer solchen Differenzierung wirft der Titel des Jahre später erschienenen zweibändigen, international beachteten Werks »Didaktik als Bildungslehre« (1882/21894 u. 1889/21895)6 die Frage auf, ob hier von Didaktik als Wissenschaft oder von Didaktik als Kunstlehre die Rede ist. Antwort gibt die fast 100 Seiten umfassende Einleitung, mit der er den ersten Band eröffnet und sein Wissenschaftsverständnis kennzeichnet. Demnach befassen sich beide Bände mit der Didaktik als Bildungswissenschaft:

»Die vorstehenden Erörterungen suchten die Leitlinien aufzuzeigen, von deren Einhaltung gehofft werden kann, daß die Erziehungs- und Bildungslehre eine wissenschaftliche Gestaltung gewinnen und ebenbürtig neben die älteren verwandten Disciplinen, welche die anderen Sphären der menschlichen Bethätigung behandeln, treten möge.« (Willmann 1882/21894, S. 74f.)

Wie bereits angekündigt, zielen die disziplintheoretischen Überlegungen Willmanns vor allem auf eine gegenüber der Pädagogik autonome Didaktik7. In dem Zusammenhang problematisiert er außerdem das Verhältnis von Allgemeiner Didaktik zur Fachwissenschaft sowie zur Fachdidaktik.

Die Unabhängigkeit der Didaktik zur Pädagogik ergibt sich aus seiner – nicht ganz widerspruchsfreien – Unterscheidung der Begriffe Bildung und Erziehung. Erziehung, von ihm als ein »sittliches und darum ein bewußtes Thun« bestimmt, gehe von »der Persönlichkeit aus, in eine andere, eine werdende Persönlichkeit hinein« (ebd., S. 18). Bildung hingegen sei »inneres geistiges Gestalten« (ebd., S. 21) und darum »Arbeit« des sich bildenden Subjekts sowie derer, die Bildung ermöglichen (vgl. ebd., S. 22). Erziehung »ist in erster Linie auf die Strebungen und den Willen, diese [die Bildung, R. C.] auf die geistige Thätigkeit gerichtet; jene ist sittliche, diese geistige Assimilation; jene ist auf Autorität und Gehorsam gestellt, diese verlangt zwar ebenfalls die Unterordnung des Subjekts unter höhere Einsicht, zugleich aber dessen freithätige Mitwirkung« (ebd., S. 24). Dementsprechend grenzt Willmann Erziehung und Bildung in dreierlei Hinsicht voneinander ab:

•  Einerseits schreibt er die sittliche Absicht, die sich im adäquaten Handeln des Adressaten widerspiegeln soll, der Erziehung zu; demgegenüber stellt er die Bildung als eine besondere geistige Anstrengung dar, die »über den bloßen Kenntnis- und Fertigkeitserwerb« (ebd., S. 22) hinausgeht.

•  Andererseits befindet sich der Zögling bei Erziehung nach Willmann in einer Art Objektposition. Damit ist gemeint, dass die Initiative nicht beim Zögling liegt; sondern bei Erziehung wird etwas zweckgebunden an ihn herangetragen und erwartet, dass er sich entsprechend verhält. Anders bei Bildung: Da befindet sich die gleiche Person in einer Subjektposition; sie bildet sich. Oder wie es Willmann ausdrückt – sie arbeitet (vgl. ebd.).