Am Ende des Weges - Hans-Jürgen Wilhelm - E-Book

Am Ende des Weges E-Book

Hans-Jürgen Wilhelm

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Beschreibung

Der Einzug in ein Pflegeheim ist für viele Menschen oft ein radikaler Einschnitt. Sich den neuen Lebensbedingungen anzupassen fällt ihnen häufig schwer und ist geprägt von starken Gefühlen und wehmütigen Gedanken an die Vergangenheit. Ängste und Sorgen können zu Frustration und Bitterkeit führen. Der neue Heimbewohner, Herr Bachmann, wirkt trotz oder gerade wegen seiner fast 90 gelebten Jahre gar nicht verbittert oder frustriert. In verschiedenen Alltagssituationen und Begegnungen blickt er auf sein Leben zurück – freundlich zugetan, meist mit einem Schmunzeln, manches Mal überrascht, nachdenklich, oft überwältigt. Auch wenn er vor dem Ende seines eigenen Weges steht, wendet er sich mit seiner Geschichte gerade an die Leserinnen und Leser, die noch einen großen Teil ihres Lebens vor sich haben. Das Buch lädt ein, innezuhalten, den eigenen Lebensweg bewusster zu beschreiten und den Herausforderungen mutig zu begegnen. Wohlwollender mit sich selbst zu sein, versöhnlich auf das schon hinter sich liegende Leben zu blicken – und neugierig auf das zu sein, was noch kommt. Die Botschaft des Buches: Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg, sondern allein den Weg, den am Ende jeder für sich und mit sich gegangen ist.

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Seitenzahl: 86

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Hans-Jürgen Wilhelm

Am Ende des Weges

Eine kleine Erinnerung an unsere Endlichkeit

© 2023 Hans-Jürgen Wilhelm

Website: www.drwilhelm.org

Lektorat: Renate Hensel

Illustration: Tobias Kurtz

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Für den Inhalt ist der Autor verantwortlich.

Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.

Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung Impressumservice,

Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

1. Gelebte Zeit

2. Mein kleiner Freund

3. Die Reise des Lebens

4. Der Anfang vom Ende

5. Ich und ich

6. Mein Leben ohne mich

7. Mitten im Leben

8. Die neue Zeit

9. Heimat

10. Angekommen

11. Vertrauen in den Weg

12. Am Ende des Weges …

13. Freiheit zu entscheiden

14. Handeln, aber richtig

15. Wie viel Sinn ist sinnvoll?

16. Versäumte Chance

17. Wenn alles Wahrheit wird

18. Loslassen, die größte Aufgabe

19. Das Treffen

20. Zufriedenheit

21. Sterben

Der Autor

Am Ende des Weges

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

1. Gelebte Zeit

Der Autor

Am Ende des Weges

Cover

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Vielen Dank an

Tobias Kurtz

für die wundervollen Illustrationen

und

Renate Hensel

für das liebevolle Lektorat!

Die große Gefahr des Alters ist,

dass man das Ziel zwar erreicht,

aber den Weg vergessen hat.

1. Gelebte Zeit

Die Sonne scheint in mein Gesicht, und ich blicke auf meinen alten Wecker, sechs Uhr zeigt er mit seinen roten Zahlen. Er begleitet mich seit ewigen Zeiten durch mein Leben und ist nun einer der treuesten Gefährten in meinem neuen Zuhause. Ein kleines, gemütliches Zimmer, das nun wahrscheinlich mein letztes Zuhause sein wird. Wer hätte gedacht, als ich ihn damals mit Mitte zwanzig von meinem Vater bekam, dass er mich bis zum Ende begleiten wird. Von vielen und vielem hätte ich es gehofft und vor allem gewünscht. Er war nicht dabei. Doch im Gegensatz zu allem anderen ist er noch da.

Vor vielen Jahren lag ich Stunden wach und betrachtete die Minuten, die einfach nicht vergehen wollten. Im Nachhinein glaube ich, wir beide, mein Wecker und ich, haben uns da erst richtig kennengelernt. Es war eine lange Nacht. Ich habe auf meinen Wecker geschaut und mir gewünscht, dass der kleine Zeiger endlich auf der Sieben steht und ich aufstehen kann. Dass die Sonne aufgeht und der neue Tag beginnt. Dass die Nacht zu Ende ist.

Aber je verzweifelter ich auf die Zeiger schaute, desto langsamer schienen sie sich zu bewegen. Ich drehte mich weg und wartete ungeduldig. Nach einer gefühlten Ewigkeit von unzähligen Stunden wendete ich mich wieder meinem Wecker, seinen Zahlen und seinen Zeigern zu und stellte fest, es waren noch nicht einmal fünf Minuten vergangen.

Nie mehr danach habe ich ihm so genau bei seiner Arbeit zugeschaut, ihn dabei beobachtet, wie er fleißig Minute für Minute abschreitet. Immer gleich und ohne Pause dreht er sich im immer gleichen Tempo um seine Achse. Beginnt jede Stunde wieder von vorn, und das Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Das alles bis heute ohne zu murren, alles, was er benötigte, waren täglich ein paar Sekunden der Aufmerksamkeit, um seine Feder aufzuziehen, und dann drehte er sich weiter, bis heute. Und wenn wir jemanden finden, der diese Sekunden täglich für ihn auch nach meiner Zeit aufbringt, dann wird er vermutlich auch nach mir weiter seine Kreise ziehen. Eine schöne Vorstellung.

Nie wieder nach dieser Nacht habe ich so bewusst wahrgenommen, wie unendlich langsam Zeit vergehen kann, wenn man sich ihr so ausschließlich zuwendet. Meist läuft sie ja so ganz nebenbei, dezent, unaufdringlich, aber unaufhaltsam ist sie doch immer da. Es gibt keine Sekunde, in der keine Zeit vergeht. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Zeit stehen bleibt, aber sie tut es nicht, sie tut es nie.

Und heute, mit fast 90 Jahren, stehe ich am Ende meines Lebens, am Ende meiner gelebten Zeit, schaue zurück auf die vergangenen Minuten und habe das Gefühl, es sei erst gestern gewesen, als ich meinen Stern, die Liebe meines Lebens, vor mehr als 60 Jahren zum ersten Mal sah. Ich habe das Gefühl, dass mein Leben doch gerade erst begonnen hat, und frage mich, wo diese fast 90 Jahre geblieben sind.

Auch am Ende meiner Zeit, nimmt sich die Zeit die Zeit, die sie braucht, ohne Eile, ohne Hast, aber beständig. Im Gegenteil, je mehr ich mich den einzelnen Minuten zuwende, umso mehr Zeit scheinen sie sich zu nehmen. Ein Geschenk oder ein Fluch? Ich weiß es nicht.

Frühstück, wann gibt es hier noch mal Frühstück? Gestern gab es doch diese Information, ich glaube ab sieben Uhr. So ist das also in einem Pflegeheim. Ich liege hier in meinem Bett, die aufgehende Sonne scheint mir ins Gesicht, und ich sehe in dem kleinen Zimmer auf meinen alten Sessel, den ich mitbringen durfte. Auch von ihm hätte ich nie gedacht, dass er mich auf meinen letzten Wegen begleiten würde. Ich hatte so vieles geplant, vorbereitet, organisiert und auch erwartet, so wenig davon hatte letztendlich Bestand, und so vieles ist eingetreten, was ich nicht im Geringsten auf dem Plan hatte. Das nennt man Leben.

2. Mein kleiner Freund

Jetzt sitze ich hier im Pflegeheim am Ende meines Lebens. Ein Leben, das sich im Rückblick vollkommen anders entwickelt hat, als ich es mir zu Beginn vorstellen konnte. Aber es war gut so, wie alles gekommen ist. Ich habe den Eindruck, es war rund. Alles, das Gute und auch das Schlechte, hatte im Nachhinein betrachtet seinen Sinn.

Ja – so passt alles zusammen, und der Kreis schließt sich. Am Ende steht ein Mensch mit fast 90 gelebten Jahren im Gepäck. 90 Jahre mit unzähligen Erfahrungen, Enttäuschungen, Überraschungen, Erfolgen und Niederlagen. 90 Jahre im unentwegten Selbstversuch, ohne Sicherungskopie, ohne die Möglichkeit des Restarts, wie man das heute aus den Computerspielen kennt. Man kann auf seinem Weg zwar die Richtung ändern, aber man fängt nie von vorn an.

Ein Wahnsinnsprojekt, ohne Plan, Budget, Meilensteine oder gar schriftlich niedergelegte Zielvorgaben. Im Rückblick wirkt das Ganze an vielen Stellen eher wie ein Zufallsprodukt, aber war es das tatsächlich? Heute kann ich mir ein Leben ohne meinen Stern nicht ansatzweise vorstellen, ohne ihn wäre es gar nicht mein Leben. Aber wenn an diesem wundervollen Abend damals, als ich meinen geliebten Stern zum ersten Mal sah, nicht noch die Sonne geschienen hätte, wären wir bestimmt nicht in den Nachbarort gewandert, sondern in die Kneipe nebenan. Dann wäre ich meinem Stern wahrscheinlich nie begegnet, und mein Leben ein anderes geworden – eigentlich unvorstellbar.

Es klopft an der Tür. Mein kleiner Freund, er ist acht Jahre alt, öffnet die Tür und fällt mir stürmisch um den Hals – der jüngste Sonnenschein meines Lebens. Und so, wie er in diesem Moment meine kreisenden Gedanken mit seinem wundervollen Lächeln von einer Sekunde auf die andere beendet, zeigt er mir, worauf es eigentlich ankommt. Ihn interessieren meine Überlegungen nicht, die ohnehin meist mehr Fragen als Antworten aufwerfen, sein Leben ist noch reines Gefühl. Für ihn scheint die Welt oft so einfach zu sein und doch auch so schwer.

Er wohnte mit seinen Eltern in der Wohnung neben meiner und kam mich früher schon oft besuchen. Er war tagsüber nach der Schule meist allein und klingelte immer bei mir, wenn er Angst hatte – und er hatte oft Angst. Angst, allein zu sein, Angst, etwas falsch zu machen und abends Ärger zu bekommen, Angst davor, wenn seine Eltern nach Hause kamen, oder Angst davor, in der Schule nicht gut genug zu sein. Nun besucht er mich hier im Heim.

Er ist so hilflos und unsicher, weil er nicht weiß, was er tun kann, damit er abends keinen Ärger bekommt. Eigentlich bekommt er abends immer Ärger: Entweder hat er etwas, das er machen sollte, nicht gemacht, oder er hat es falsch gemacht. Oder er hat das Pech, dass er den tagsüber aufgestauten Ärger seiner Eltern ertragen muss. Es war egal, was er tat und wie er es tat. Er ist überzeugt, dass immer er es ist, der etwas falsch macht. Er wünscht sich so sehr, nichts falsch zu machen. Alles richtig zu machen und von seinen Eltern gelobt zu werden – das ist sein großer Wunsch.

Er kann nicht verstehen, dass nicht er es ist, der alles falsch macht, und dass er von seinen Eltern etwas erhofft, das sie ihm niemals geben werden. Er kann nicht verstehen, dass er schon längst alles richtig macht, er fühlt nur diese schreckliche Angst und diese Ohnmacht.

Das ist für mich schwer zu ertragen, und ich bemerke, dass ich meinem kleinen Freund mit meinem Verstand nicht helfen kann. Mir wird bewusst, wie ich mich selbst mit meinem Verstand identifiziert habe, wie er mir einredet, dass er ich ist.