Am roten Strand - Jan Costin Wagner - E-Book
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Am roten Strand E-Book

Jan Costin Wagner

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Beschreibung

Ermittler, die Täter schützen müssen, vor denen ihnen graut, und die im Kampf gegen sich selbst zutiefst gefährdet sind. Gerade hat das Ermittlerteam um Ben Neven und Christian Sandner ein entführtes Kind befreien und einen der Täter fassen können. Allerdings läuft eine interne Untersuchung an, weil Ben dabei einen der Entführer erschossen hat – da wird klar, dass der Fall eine noch weit größere Dimension hat. Die Polizisten finden Hinweise, dass es ein ganzes Netzwerk von Tätern gibt, die sich gegenseitig im Internet austauschen – kurz danach wird einer von ihnen ermordet. Auch der Verdächtige in Untersuchungshaft stirbt auf rätselhafte Art und Weise. Irgendwann wird klar: nicht nur die Polizei, auch frühere Opfer sind wohl auf das Netzwerk gestoßen – und nehmen jetzt Rache. Die Ermittler finden sich in der paradoxen Situation wieder, dass sie einerseits gegen Verbrecher ermitteln, deren Taten in ihnen eine tiefe Verstörung auslösen – und dass sie diese Täter gleichzeitig vor einer unbekannten Bedrohung schützen müssen. Und ausgerechnet der Polizist, in dem viele seiner Kollegen einen Helden sehen, bewahrt ein Geheimnis, vor dem er sich selbst entsetzt …

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Jan Costin Wagner

Am roten Strand

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Jan Costin Wagner

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Dank

Inhaltsverzeichnis

Für Belinda

Inhaltsverzeichnis

And the boy on the moon

got finally in trouble with signings

well … maybe

bringing the night to the people

when they sleep

(girl and the moon)

Inhaltsverzeichnis

Eins

And the girl on the sun

was well engaged with a story

of love and pain and hate

stealing the day … let the people dream again

Josy

Der Sommer ist echt. So unmittelbar, mehr geht nicht. Das ist zumindest ihre Meinung. Josys. Sie ist nach vorn gegangen. Eingestiegen. Losgefahren.

Das Haar hat sie zum Pferdeschwanz gebunden, sie genießt das warme Licht auf der Stirn, die jetzt freiliegt. Die Morgensonne scheint durch die Windschutzscheibe herein, bespielt ihr Gesicht, wie ein Clown, dem Lustiges vorschwebt.

Josy lacht leise. Es ist eher ein Kichern. Josys Kichern. Es ist alles so nah, das Kichern, der Sommer, die Sonne. Die Straße, der Wegesrand, der Motor, der erstirbt, die Stille. Das knallrote Schild, das am Dach prangt, die Buchstaben. HOTEL.

Sie lehnt sich zurück, beginnt zu warten. Wenn alles so ist wie erwartet, wird der Mann gegen acht joggen gehen. Sie will gar nichts von ihm. Vom Mann.

So nennt sie alle Männer. Mann.

Sie will ihm nur dabei zusehen, wie er läuft. Schritt für Schritt.

Sie wartet, ist ganz ruhig. Unbehelligt, die Vereinbarung gilt, sie ist vorne und bleibt das auch bis auf Weiteres. Sie ist eine gute Beobachterin. Deshalb sieht sie ihn sofort, als er aus dem Hotel tritt und eine kurze Dehnübung macht neben dem Parkplatz, auf dem vorwiegend Luxuskarossen stehen. Dann läuft er los. Ritual. Der Mann ist noch immer recht fit, recht gut anzusehen, obwohl er in die Jahre gekommen ist.

Im Gegensatz zu Josy, Josy bleibt immer jung.

Sie will nichts von dem Mann, sie wollte nur sehen, ob er wirklich gekommen ist. Und ob er tut, was er immer getan hat.

Sie startet den Wagen, wendet, kehrt zu den anderen zurück, ins Glashaus.

Landmann

In der Nacht vor der Beerdigung träumt er, dass Barbara zurückgekehrt ist. Zurückgekehrt, als Vermisste. Er ist der leitende Ermittler in dem Fall. Er ist damit beauftragt, Barbara zu suchen. Sie ist weg und doch wieder da. Er empfindet es, im Traum, als eine gute Wendung.

Barbara ist nicht mehr tot, nur noch verschwunden.

Aber er findet sie nicht. Er begeht eine leer stehende Wohnung. Das Licht ist beige. Nostalgie. Bereits im Traum beginnt er zu begreifen, dass es nicht stimmt, dass es nicht echt ist.

Er führt Gespräche mit Schatten, die Barbara gesehen haben. Die Schatten sagen ihm, wo sie ist, aber er kann die Worte nicht greifen, sie erreichen ihn nicht, verpuffen. Dann ist er an einem Strand, der von Gestrüpp überwuchert ist. Er läuft, dann öffnet sich der Blick, er hört Wellen rauschen. Sie ist hier irgendwo, aber er begreift, dass er ihr nicht begegnen wird. Es ist nur ein Bild. Er kann sich in dem Bild bewegen, aber das Bild lebt nicht.

Dann steht er an einer Weggabelung. Zwei Straßenschilder über ihm, im 90-Grad-Winkel zueinander. Das Beige hat sich zusehends verdunkelt. Es ist nicht der Abend, der sich ankündigt, es ist das Ende des Traums, das näher rückt.

Dann ist das Ende da, die Szenerie zerfließt, und er schlägt die Augen auf, weinend.

Ben

Svea trinkt Kaffee, Marlene isst Cornflakes, Ben sitzt den beiden gegenüber, schweigend. Weil er die Worte noch nicht gefunden hat, die Marlenes Frage beantworten könnten.

»Wie war sie so?«, hat sie gefragt. Marlene meint Barbara, Landmanns Tochter, die heute beerdigt werden wird.

»Ich habe sie gar nicht so häufig getroffen«, sagt Ben. »Aber sie war … ja, einfach sehr nett. Sehr …« Das nächste Wort schluckt er herunter.

Marlene sieht ihn fragend an.

Lebensfroh, das ist das Wort, das ihm auf den Lippen gelegen hat. Nein, denkt er. Das wird er nicht aussprechen. Obwohl es stimmt. Aber es würde Marlene verwirren. Es passt nicht mehr zu Landmanns Tochter, von der Marlene inzwischen weiß, dass sie sich das Leben genommen hat.

Woher weiß sie das eigentlich? Er hat es ihr nicht explizit gesagt. Svea auch nicht. Offenbar hat es Marlene zwischen den Zeilen lesen können, hat es ertastet, erspürt, in den Pausen, die entstanden sind, wenn er in den vergangenen Tagen und Wochen mit Landmann telefoniert hat.

»Ja, sie war nett. Liebenswert. Klug, so wie Landmann.«

Marlene nickt. Sie kennt Landmann ein wenig, manchmal sind sie dort gewesen, Svea, Marlene und er selbst. Zuletzt waren sie gemeinsam vor etwa einem Jahr da, im Sommer, Marlene ist im See geschwommen, der direkt an den großen Garten des Hauses grenzt, in dem Landmann lebt.

Landmann, denkt er. Sein ewiger Mentor, wie Svea gerne sagt, augenzwinkernd. Die Zeit, in der er mit Landmann hat zusammenarbeiten dürfen, war seine beste, und Svea hat ja recht. Er hat auf Landmann nie verzichten können, hat ihn hinzugezogen zu Ermittlungen, wenn er nicht weiterwusste. Aber jetzt fällt Landmann aus. Jetzt ist er es, der Landmann wird helfen müssen.

»Ich mag ihn«, sagt Marlene.

»Hm?«

»Herrn Landmann. Er ist wie so ein alter, weiser Mann. Einer, der alles weiß.«

Ben lächelt. Und dann denkt er, dass es nicht stimmt. Landmann weiß nicht alles. Es gibt Dinge, die Landmann nie wissen wird. Zum Beispiel über seine verstorbene Tochter, Barbara. Und über ihn. Ben.

Ben nickt.

»Ein Alleswisser«, sagt Marlene. Dann trübt sich ihr Blick ein. Jetzt sieht sie nachdenklich aus. Sie legt den Zeigefinger an die Lippen, kneift die Augen zusammen, posiert.

Svea lacht. »Marlene, du siehst aus wie eine sehr gelehrte Professorin. Was denkst du?«

Marlene lächelt, löst sich aus der Pose, und Ben ahnt, was sie denkt, und fragt sich, woraus seine elfjährige Tochter diese Erkenntnis schöpft.

»Ich dachte nur gerade«, sagt Marlene. »Dass es so was ja nicht gibt. Also, so jemanden gibt es ja nicht. So einen Alleswisser.«

Anne

Anne erwacht aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Seit einigen Wochen schläft sie so. So … gut. Sie hebt den Blick. Christian sitzt gegen das Bettgestell gelehnt, blättert in Unterlagen. Er wendet sich ihr zu. »Guten Morgen«, sagt er.

»Morgen«, sagt sie. Sie spürt ein Lächeln auf ihren Lippen.

»Alles gut?«, fragt Christian.

»Ja. Klar.«

»Du siehst aus … als würdest du mich auslachen.«

»Nein«, sagt sie.

»Na dann«, sagt Christian. Auch er lächelt.

Wie in einem Film, denkt Anne. Vermutlich hätte sie früher sogar gesagt: wie in einem schlechten Film. Das hätte sie einfach so dahingesagt. Was hätte das anderes sein sollen, wenn nicht ein schlechter Film? Die Vorstellung, dass es ihr gut gehen könnte. Dass sie jemanden in ihrer Nähe haben könnte, der … ihr wirklich nah ist. Und um das Klischee auf die Spitze zu treiben …

»Also, ich denke, dass du mich komisch ansiehst«, sagt Christian.

… um das Klischee auf die Spitze zu treiben, das Beste daran … sie haben nicht mal Sex. Nicht mal dran gedacht. Zumindest sie nicht.

»Tja«, murmelt sie.

»Hm?«, fragt Christian.

»Zumindest ich nicht«, sagt sie. »Und du?«

»Bitte?«, fragt er.

Sie lacht. Wenn sie raten müsste, würde sie sagen, dass er tatsächlich nichts von ihr will. Dass er tatsächlich nichts vorbereitet, keine plötzliche Wendung. Platonische Freundschaft. Reden, schweigen. Gemeinsam einschlafen, Seite an Seite.

»Was liest du?«, fragt sie.

Er zögert. Sie weiß, was er liest. Christian, der Polizist, ermittelt. In ihrem Fall. Im weitesten Sinne. Lange Zurückliegendes wird ausgewertet. Ein monströses Geschehen, auf weißes Papier gebannt.

Christian legt die Akte auf dem Nachttisch ab. »Ich muss ein paar Sachen vorbereiten«, sagt er. »Für zwei Vernehmungen heute.«

Sie nickt.

Und ja, so etwas gibt es wirklich, denkt sie. Vielleicht.

So eine Freundschaft, wie im schlechten Film, die einfach nur aus Zuneigung gemacht ist und nicht an Bedingungen geknüpft.

Ben

Die Szenerie ist gleißend hell, während er zum Friedhof fährt. Svea ist zu Hause geblieben, um sich um Marlene zu kümmern. Es ist gut so, denkt Ben. Er hat gespürt, dass es ihr schwergefallen wäre, mitzukommen. Wer geht schon gerne zu Beerdigungen. Beschreitet letzte Wege, mit Menschen, die noch nicht so weit sind.

Ben hat gesagt, dass sie bei Marlene bleiben solle, Landmann werde das sicher verstehen. Svea hat gezögert. Dann hat sie genickt, erleichtert.

Sie hat Barbara, Landmanns Tochter, kaum gekannt. Sind sie sich überhaupt je begegnet? Ja, doch, mindestens das eine Mal, im Sommer vor einigen Jahren, als Barbara zu Besuch in Wiesbaden war. Grillparty bei Landmann. Marlene … eine damals noch sehr kleine Marlene … ist am Ufer des Sees, in dem großen Garten, mit Mädchen aus Landmanns Nachbarschaft herumgerannt.

Auch Ben hat Barbara eigentlich kaum gekannt. Aber er hat immer gewusst, wie nah Landmann und sie sich standen. Sie waren doch wirklich … Vater und Tochter … wie aus dem Bilderbuch. Er schließt die Augen. Erinnert sich an den Anruf, vor einigen Wochen. Er war es, der Landmann angerufen hat. In der Hoffnung, dass Landmann ihm bei einer Ermittlung werde helfen können. In diesem Fall, der ihn sehr beschäftigt hat. Kindesentführung. Zwei Jungen. Landmanns Stimme ist weit weg gewesen. In einem anderen Land. Du kennst ja Barbara, Landmanns Worte.

Ja, sicher, hat Ben entgegnet. Deine Tochter.

Sie ist tot. Und dann: Ich werde hier eine Weile bleiben müssen. Da, wo Barbara gelebt hat.

Ben hat keine Worte gefunden. Hat nur gedacht, dass er Barbara gemocht hat und dass Landmann ihm nicht wird helfen können, in seinem wichtigsten Fall.

Er ist da. Angekommen, lässt den Wagen ausrollen, parkt auf einer freien Fläche vor dem von hohen Bäumen umsäumten Friedhof. Dunkel gekleidete Menschen sind auf dem Weg zu den Gräbern. Große, kleine. Sie bewegen sich wie in Zeitlupe. Der Blick eines Jungen streift Ben. Ein schlanker Junge, ganz in Schwarz, er geht an der Hand einer Frau. Vermutlich die Mutter.

Ben sieht den beiden nach. Fokussiert den Jungen. Betrachtet seinen Nacken, seine kurz geschorenen Haare. Verspürt Lust. Vage, klebrig, sie wabert an den Beinen entlang. Er würgt sie ab, indem er aussteigt.

Christian

Eine Weile wartet Christian Sandner auf Bens Ankunft, dann fällt ihm ein, dass Ben heute später ins Büro kommen wird. Er ist bei der Beerdigung der Tochter eines langjährigen Kollegen, Landmann. Christian kennt Landmann nur aus Bens Erzählungen, er stieß zum Dezernat für Delikte am Menschen erst, nachdem Landmann, der Mathematiker, wie Ben ihn gerne nennt, in den Ruhestand gegangen war.

Er denkt an die beiden. An Ben. An Landmann. Den er nicht kennt, der ihm aber schon seit Tagen nicht aus dem Kopf geht. Landmann hat seine Tochter verloren. Mit der er, wie Ben gesagt hat, ein so gutes Verhältnis hatte.

Der Gedanke verliert sich, formiert sich neu, steuert ein anderes Ziel an: Ben. Seit einigen Wochen ist Christian bewusst, dass er mit ihm wird sprechen müssen. Er hat noch nicht anknüpfen können, hat noch keinen Weg gefunden, den er begehen könnte. Er weiß nur, dass sie sprechen müssen, irgendwann. Denn Ben hat vor seinen Augen einen Menschen erschossen.

Die interne Ermittlung ist noch nicht abgeschlossen, aber es wird vermutlich nicht mehr lange dauern. Er, Christian, hat gesagt, was zu sagen war. Vor allem hat er verschwiegen, was er nicht in Worte hat fassen können.

Er senkt den Blick auf die Akte, die er schon heute früh studiert hat. Er hat Anne nicht gesagt, dass ihn diese Akte besonders beschäftigt, sie behandelt ein Verbrechen, das lange zurückliegt. Und Anne kommt auch darin vor. Eine neunjährige Anne, die Opfer wurde. Die Akte erzählt nicht die Geschichte, sie listet nur Fakten auf. Anne Gärtner ist einer von vielen Namen. Genau genommen sind es 24.

24 Namen. 24 Kinder, drei Männer. Die Männer stehen im Verdacht, die Kinder sexuell missbraucht und den Missbrauch gefilmt zu haben. Das Ganze hat mindestens vierzehn Jahre lang angedauert. Das Netzwerk, das an dem Missbrauch durch den Konsum von Filmen und Fotos partizipiert hat, umfasst, Stand heute, 51 Personen. Das alles sind vorläufige Zahlen, da es sich um eine laufende Ermittlung handelt. Haupttäter und treibende Kraft scheint ein Mann namens Anton Holdner gewesen zu sein, der seit einigen Wochen in Untersuchungshaft sitzt. Ein Hausverwalter und Bewohner eines Campingplatzes am Rand der Stadt. Christians Blick streift den Namen des Campingplatzes, der in der Akte mehrfach vorkommt.

Am roten Strand – Seeblickcamping.

Die Worte verschwimmen vor Christians Augen. In seinem Rücken hört er Schritte, die er sofort zuordnen kann.

»Guten Morgen, Christian«, sagt sein Kollege, Mark Lederer.

»Morgen, Mark«, sagt Christian.

Lederer setzt sich an seinen Schreibtisch. Sie sitzen zu zweit in dem weiten Großraumbüro. »Bist du gerade erst gekommen?«, fragt Christian.

Lederer hebt den Blick. »Hm?«

»Bist du heute etwas später gekommen?«

»Ach so. Nein, ich hatte unten einen Kaffee getrunken. Pause gemacht«, sagt Lederer.

Christian Sandner nickt. Er lächelt unwillkürlich. Natürlich, denkt er. Lederer ist immer als Erster da. Es beruhigt ihn, lässt ihn ahnen, dass alles in Ordnung kommen könnte, gibt ihm einen kleinen Schub, ein wenig Kraft, weiterzulesen. Anne Gärtner, neun Jahre alt. Inzwischen ist sie Mitte zwanzig. Ihm geht die Frage durch den Kopf, ob Anne unter anderen Umständen weiter geschwiegen hätte, immer weiter, ob sie das Geheimnis ihres Leids mit ins Grab genommen hätte.

Der Gedanke verliert sich, vielleicht, weil er sich nicht vorstellen kann, dass sie stirbt. Sie ist gerade erst in sein Leben getreten. Mit Wucht. Er liebt sie, von ganzem Herzen. Einfach dafür, dass sie da ist. Dass sie existiert.

»Schwierige Lektüre«, murmelt Lederer.

Christian wendet sich ihm zu, sucht seinen Blick. Lederer studiert dieselbe Akte, dieselben Namen, Daten.

»Ja«, sagt Christian.

Er denkt an Landmann, Bens langjährigen Vorgesetzten, den Mathematiker. Vielleicht hätte Landmann etwas herauslesen können aus diesen Zahlen, aber Landmann hat anderes zu tun.

Christians Gedanken verweilen bei dem Mann, den er nur aus Bens Erzählungen kennt und der so allein sein muss an diesem Tag, in diesem Moment.

Christian kann es gut verstehen, weil er weiß, wie es ist, wenn der wichtige Mensch zu fehlen beginnt. Und weil er weiß, wie es ist, wenn der wichtige Mensch plötzlich im Leben steht. Er denkt an Landmann, stellt ihn sich vor. Sieht ihn im Grünen stehen, in der Sonne, am Grab.

Dann, zu seiner eigenen Verwirrung, formuliert er in Gedanken eine Art Gebet, ungläubig und in religiösen Dingen unbedarft, wie er ist.

Gib Landmann Kraft, denkt Christian, ohne zu wissen, an welchen Gott er sich mit dieser Bitte wendet.

Landmann

Kraft, denkt Landmann. Fremdes Wort, fremder Gedanke. Die Kraft ist weg. Jetzt, da sie weg ist, spürt er, dass er sie besessen hat. Diese Kraft zu leben. Das Leben anzunehmen, es zu genießen, ohne sich wirklich bewusst zu machen, was es bedeutet. Auf diesem Planeten zu wandeln, mit den anderen. Gemeinsam mit all den anderen haltlosen Menschenwesen.

Vage nimmt er wahr, dass Ben vorübergeht, mit gesenktem Kopf, in einiger Entfernung. Die Menschen versammeln sich, suchen ihre Plätze. Die Sonne bescheint den Vorplatz der kleinen Kapelle, in der die Pfarrerin gleich über Barbara sprechen wird. Es werden vorformulierte Worte sein, die er bereits kennt, denn er hat sie niedergeschrieben und der Pfarrerin den Zettel in die Hand gedrückt. Das sei alles, hat er gesagt. Alles, was an diesem Tag zu sagen sein werde.

Natürlich stimmt das nicht. Es wäre viel mehr. Ein vielstimmiger Chor sollte es sein, der eine lange Reihe von Worten anstimmt. Er hebt unwillkürlich den Blick. Sucht die Fläche ab, die Gesichter, die seinen Blick meiden.

Wo sind Barbaras Freundinnen? Sind sie gekommen? Angereist, aus der Ferne, aus der Stadt, in der Barbara ihr Leben beendet hat? Aus freien Stücken? Sagt man so?

Er hat eine Nachricht für Barbaras Freundinnen auf einem Anrufbeantworter hinterlassen und sich gefragt, ob diese Nachricht einen Empfänger finden wird. Die WG, in der Barbara gelebt hat, hat in jedem Fall noch so etwas, einen Anrufbeantworter. Vielleicht werden sie also wirklich kommen. Zumindest einige von ihnen. Einige von Barbaras Freundinnen.

Waren es eigentlich Freundinnen? Landmann weiß es nicht. Er weiß nicht, wem Barbara wirklich nahgestanden hat, in den Tagen, Wochen, Monaten vor ihrem Tod. Sie haben nur selten telefoniert. Es gab keinen Grund dafür, es war einfach so, dass Barbara auf seine Versuche, Kontakt aufzunehmen, ein wenig seltener eingegangen ist.

Er hat sich gar nichts dabei gedacht. Er ist nicht im Ansatz auf die Idee gekommen, dass daran etwas merkwürdig sein könnte. Warum auch? Warum sollte ein lebensfroher Mensch wie Barbara plötzlich nicht mehr lebensfroh sein? Das ergibt keinen Sinn. So funktionieren Gleichungen nicht.

Wie eine Gleichung, die aufgeht, funktioniert die Beerdigung, das weiß er schon jetzt, denn er hat alles in die Wege geleitet. Hat, als schließlich die Obduktion abgeschlossen und die Leiche freigegeben war, die Bestattung ebenso akribisch geplant wie den anschließenden Ausklang in einem nahe gelegenen Café.

Er hat alle angeschrieben, hat sorgfältig recherchiert. Namen, Adressen, Freunde, Verwandte. Die meisten sind gekommen. Hat er vergessen zu erwähnen, dass er sie nicht sehen will? Dass er allen nur Bescheid gibt, um die Form zu wahren?

Ja, doch, das zu erwähnen hat er vergessen.

Jetzt sind sie da, sogar seine Schwester, Margot, mit ihrem Ehemann, Thomas. Beide kennt er kaum, Margot hat er zuletzt vor Jahren gesehen, aber jetzt werden sie neben ihm in der ersten Reihe sitzen. Auch einige der Nachbarn, die er angeschrieben hat, sind da.

Von den ehemaligen Kollegen nur einer: Ben.

Und dahinten sind tatsächlich die jungen Frauen, mit denen Barbara in einer WG gelebt und studiert hat. Schauspiel, aber sie wollte etwas anderes machen, das hat sie ihm gesagt, einige Zeit vor ihrem Tod. Sie wolle sich neu orientieren. Hat sie gesagt.

Landmann betrachtet die Frauen, lässt sie nicht aus den Augen. Eine von ihnen, Lisa, wenn er sich richtig erinnert, löst sich aus der Gruppe und kommt auf ihn zu.

»Herr Landmann.«

Sie reicht ihm die Hand. Sonnenlicht flackert, flimmert, flüchtig, tanzt vor seinen Augen.

»Ich werde ein paar Worte sagen«, sagt die Frau. Lisa. »Sie hatten ja … eine Nachricht aufgesprochen und gesagt, dass wir, wenn wir wollen, etwas sagen sollten. Dass das schön wäre …«

Hat er das gesagt? Ja, doch. Er nickt.

»Nicht lange«, sagt sie. »Ein paar Minuten.«

Ein paar Minuten, denkt er.

Sie sieht ihn fragend an.

»Möchten Sie das immer noch?«, fragt Lisa. Vermutlich Barbaras beste Freundin.

»Ja. Natürlich. Es freut mich«, sagt er.

Sie lächelt.

»Dann werde ich auf ein Signal der Pfarrerin warten.«

Landmann nickt. Die Pfarrerin steht aufrecht vor der Kapelle. Ihr Blick ist offen, sympathisch.

Lisa, Barbaras Freundin, die einige Worte sagen wird, lächelt traurig.

Die Kraft ist weg, denkt Landmann. Er findet weder den Impuls, das Lächeln zu erwidern, noch wird er zuhören können, wenn Lisa über Barbara spricht. Seine Kraft reicht nicht, nicht einmal für ein paar Minuten.

Christian

Der Verhörraum ist grün und grau. Dass es so ist, wird ihm zum ersten Mal wirklich bewusst, obwohl er es seit Langem weiß. Er hat häufig hier Gespräche geführt, einem bestimmten Schema folgend, eine bestimmte Rolle ausfüllend. Früher hat er sich selbst in der Rolle wahrgenommen, heute nimmt er den Raum wahr. Grau und grün.

Der Mann, der ihm gegenübersitzt, ist … einfach das. Ein Mann. Irgendeiner. Er trägt ein weißes Hemd, ein blaues Sakko, Jeans. Repräsentant eines lässigen Unternehmertums. 49 Jahre alt.

Der Mann hat sich so angezogen, am frühen Morgen, weil er davon ausgegangen ist, einen dieser normalen Tage zu verleben. Im Büro des Unternehmens, in dem er arbeitet und das mit einer Software die Digitalisierung des Standorts Deutschland vorantreibt. So steht es in der Broschüre, die Christian überflogen hat, sie ist Teil der Akte.

»Ja«, sagt Christian Sandner. Betrachtet die aufgeschlagene Akte, die vor ihm liegt. Er weiß, was darinsteht. Hebt den Blick, sucht das Gesicht des Mannes.

»Herr Göbel«, sagt er.

Der Mann nickt.

»Jens Göbel.«

»Richtig.«

Richtig, denkt Christian. »Herr Göbel, Sie haben mitgeteilt, auf die Anwesenheit eines Anwalts verzichten zu wollen.«

»Das trifft zu«, sagt Göbel. »Ich habe gar keinen Anwalt. Wozu?«

»Sie wissen …« Christian sucht den Blick des Mannes, findet ihn. »Sie wissen, warum Sie hier sind?«

Der Mann schweigt. Christian wartet.

»Nein«, sagt der Mann.

»Aber die Kollegen, die Sie heute früh aufgesucht haben, haben Sie darauf hingewiesen, dass Ihnen der Besitz von kinderpornografischen Schriften sowie die Beteiligung an einem mehrfachen Missbrauch im Juni vor vierzehn Jahren zur Last gelegt werden.«

Christian betrachtet den Mann.

Der Mann schweigt. Sucht nach Worten. »Ich verstehe nichts davon«, sagt er.

»Was genau verstehen Sie nicht?«

»Vor vierzehn Jahren. Machen Sie Witze? Das ist eine Ewigkeit her. Wäre das überhaupt noch … es ist ohnehin nie passiert.«

Eine Ewigkeit, denkt Christian. Anne war damals neun. Ihr Name steht da, schwarz auf weiß. Sie ist eines der Kinder, die vor einer Ewigkeit, wie Herr Göbel es nennt, im Wohnwagen des Haupttäters, Holdner, vergewaltigt wurden. Von Holdner, dem Hausverwalter, Göbel, dem Unternehmer, und, Stand jetzt, einem weiteren Mann, der noch nicht ermittelt werden konnte.

»Wie ist die Bekanntschaft zwischen Ihnen und Herrn Anton Holdner entstanden? Wie kam es dazu?«

»Gar nicht«, sagt Göbel. »Ich kenne keinen Holdner.«

»Wir haben Chatverläufe, die das Gegenteil belegen. Diese Chatverläufe sind aktuell, wenige Monate alt. Sie sind also bis in die Gegenwart hinein weiter beteiligt gewesen, zumindest am Austausch kinderpornografischer Schriften, vermutlich auch unmittelbar am Missbrauch.«

Göbel schweigt.

»Wir haben Sie auf Basis eines IP-Adressen-Abgleichs in dem Forum als Quietsch30 identifiziert«, sagt Christian.

»Das kann nicht zutreffen«, sagt Göbel.

»Sie sprachen in einem der Chats davon, dass Sie die Tochter Ihrer Halbschwester hart rannehmen wollen.«

Göbel schweigt.

»Sie weisen darauf hin, dass es kleine Mädchen so brauchen. Dass es ihnen Freude macht.«

»Nein«, sagt Göbel.

»Die Tochter Ihrer Halbschwester ist fünf Jahre alt.«

»Das ist nicht richtig. Fragen Sie sie doch. Ich habe sie niemals angefasst.«

»Sie sagen also, dass Sie es sich nur vorgestellt haben? Fantasien sind ja erlaubt.«

»Ich habe gar nichts. Ich bin nicht dieser …«

»Quietsch30.«

»Ja. Was ist das für ein schwachsinniger Name?«

»Wenn Sie nicht Quietsch30 sind, wie kann es dann sein, dass Quietsch30, ebenso wie Sie, eine Halbschwester hat, deren Tochter fünf Jahre alt ist?«

»Zufall«, sagt Göbel.

Christian schweigt. Er denkt an Anne. Vielleicht wird Sie diesen Mann als einen derjenigen, die sie vor vielen Jahren vergewaltigt haben, identifizieren müssen. Obwohl das Videomaterial, das sie im Wohnwagen von Holdner gefunden haben, ausreichen sollte. Aber der Göbel, der auf diesen Aufnahmen zu sehen ist, ist vierzehn Jahre jünger, und die Aufnahme ist häufig ein wenig verwackelt, sobald sein Gesicht ins Bild kommt.

Christian beschließt, eine Pause einzulegen. Er steht auf, wendet sich ab. »In einem Punkt haben Sie recht, Herr Göbel«, sagt er.

Göbel hebt den Blick.

»Quietsch30 ist tatsächlich ein schwachsinniger Name.«

Ben

Nach der Beerdigung folgt Ben der Trauergesellschaft in das Café, in dem die Nachbetrachtung stattfindet. Das Wort spukt für eine Weile durch seine Gedanken, bis ihm bewusst wird, dass es merkwürdig ist. Falsch, unpassend. Vielleicht ist es ein Wort, das eher ihm selbst gilt, denn er befindet sich seit Wochen in einer Art Nachbetrachtung.

Seitdem er einen Menschen erschossen hat, den Entführer eines kleinen Jungen, Jannis. Am Abend steht ein weiterer Termin mit der Leiterin der internen Ermittlung an, ein weiterer Baustein in der Nachbetrachtung. Es ist tatsächlich eine interne Ermittlung, eine polizeiliche und eine, die er selbst durchführt.

Aber jetzt flutet die Sonne das weitläufige Café, Schatten tanzen an den Wänden. Auf einem Tisch stehen gelbe und rosa Kuchen bereit. Pfirsich und Himbeere. Weiße Tassen, weiße Kaffeekannen. Ben sucht den Raum ab, findet Landmann, er sitzt an einem Tisch am Rand, neben seiner Schwester, Margot.

Ben weiß wenig über Margot, Landmann hat ihm vor Jahren mal Fotos aus der Kindheit gezeigt und gesagt, dass er mit Margot im Erwachsenenleben kaum noch Kontakt gehabt hat. Ich denke, wir sind sehr verschieden, hat er gesagt, ohne näher darauf einzugehen, inwiefern. In jedem Fall bedeutet es, dass Margot weder Polizistin noch Mathematikerin gewesen ist.

Kindheit. Erwachsenenleben. Ben erinnert sich daran, dass er sich ein wenig darüber gewundert hat, damals, als Landmann ihm die Fotos gezeigt hat. Landmann als Kind, schwarz und weiß, in Badehose, lachend.

Jetzt sitzen die beiden Geschwister Seite an Seite, flankiert von einem Mann, vermutlich Margots Ehemann, dessen Blick verschlossen ist. Landmann führt eine weiße Tasse zum Mund.

An einem Tisch, einige Meter entfernt, sitzen jüngere Frauen im Alter von Barbara, sicher Freundinnen. Mitstudentinnen. Sie sind in ein Gespräch vertieft, einige lachen leise, suchen einen gangbaren Weg, balancieren zwischen der Traurigkeit und der Sonne, die den Raum flutet.

Ben steht für eine Weile unschlüssig, dann gibt er sich einen Ruck und nähert sich dem Tisch, an dem Landmann und seine Schwester sitzen.

»Ben«, sagt Landmann.

Ben nickt.

»Komm, setz dich«, sagt Landmann.

Ben setzt sich Landmann gegenüber. »Ben Neven«, sagt er, reicht der Schwester die Hand. »Ein Kollege … wir haben zusammengearbeitet.«

Die Schwester nickt, erwidert den Händedruck. Ben nickt auch dem Ehemann zu.

»Es war ganz anders, als ich gedacht habe«, sagt Landmann.

Ben sieht ihn fragend an.

»Es waren viel mehr Menschen da. Und ich war überrascht, dass Barbaras Lehrerin aus der Grundschule gesprochen hat. Und der Junge, der mit ihr im Turnverein gewesen ist. Daniel. Erst als er gesprochen hat, habe ich mich daran erinnert, dass die beiden mal zusammen gewesen sind … in der zehnten oder elften Klasse.«

Ben nickt.

»Jetzt weiß ich es wieder. Barbara hat damals Schluss gemacht. Wir haben abends zusammengesessen, und sie hat mir erzählt, dass der Junge, Daniel, zu viel zu schnell wollte. Er hat davon gesprochen, dass sie heiraten und Kinder haben und so weiter …« Landmann lächelt.

»Das kann ich verstehen«, sagt Ben.

»Hm?«

»Dass Barbara das zu schnell ging, kann ich verstehen«, sagt Ben.

»Ja, allerdings. Aber trotzdem … ich frage mich, was gewesen wäre … sie hätten ja zusammenbleiben können. Zumindest für eine Weile. Dann wäre alles anders gekommen.«

Ben schweigt.

»Weißt du, ich erinnere mich sogar daran, dass ich Barbara zugeraten habe, den Jungen zu verlassen. Diesen Daniel, den sie aus dem Turnverein kannte. Ich fand ihn ein wenig eigenartig. Er hat Gedichte für sie geschrieben. Eigentlich schön, aber es hat mich auch in Sorge versetzt. Ich kann dir gar nicht erklären, warum.«

»Es ist etwas ungewöhnlich«, sagt Ben.

»Vielleicht habe ich dazu beigetragen, dass Barbara diesen Jungen verlassen hat und dass ihr plötzlich die Idee kam, Schauspiel zu studieren, am anderen Ende des Landes. Ich habe ihr sogar nach der Schule ein anderes Studium ausgeredet. Sie wollte eigentlich hier was mit Musik machen. Das war mir zu vage, habe ich ihr ausgeredet.«

»Das wusste ich nicht«, sagt Ben.

»Hätte ich das nicht getan, wäre sie geblieben. Alles wäre anders gekommen.«

Ben zögert. »Ich weiß nicht«, sagt er.

»Eine Variable zu verändern bedeutet, das Resultat zu verändern«, sagt Landmann.

Ben schweigt.

»Ich war wirklich überrascht«, sagt Landmann. »Dass so viele da waren, dass es so schön war, so sonnig.« Er betrachtet das Stück Kuchen, das vor ihm auf einem weißen Teller liegt. Er nimmt die Gabel, isst ein Stück.

»Sogar der Kuchen schmeckt nach Sommer«, sagt Landmann.

Christian

Christian hat sich gerade einen Platz im hintersten Winkel der Cafeteria ausgesucht und nippt an seinem Kaffee, als er Lederer sieht. Lederer ist in Aufregung, das sieht Christian sofort.

»Was ist?«, fragt er.

»Wir haben was gefunden. In einer Kleingartenanlage.«

»Was?«

»Eine Gartenlaube. In einer Kleingartenanlage bei Hofheim.«

»Okay.«

»Ein Treffer der IT-Ermittler. Eigentümer der Laube ist ein Torsten Dahms.«

Christian nickt.

»32 Jahre alt. IT-Experte, arbeitet bei einem Telekommunikationsunternehmen.«

32 Jahre alt. Zu jung, denkt Christian unwillkürlich. Zu jung, als dass er dabei gewesen sein könnte bei dem, was Anne angetan wurde, vor einer Reihe von Jahren. Oder?

»Wie es aussieht, könnte das unser Administrator sein«, sagt Lederer.

Christian kneift die Augen zusammen.

»Holdner hat bis heute darüber geschwiegen, wer vor zwei Jahren die Plattform aktualisiert ins Darknet gestellt und verwaltet hat. Vielleicht haben wir mit Dahms unseren Mann gefunden.«

»Okay. Worauf stützen wir das?«

»Auf die Gartenlaube«, sagt Lederer. »Darin befindet sich ein Serverraum, aufwendig ausgestattet, die Kriminaltechniker sind schon da.«

»Okay.«

»Dahms ist zu Hause. Ich habe Malvi gesagt, dass wir gleich hinfahren.«

»Gut«, sagt Christian. Gartenlaube … Serverraum … er denkt an Göbel, dessen Vernehmung er eigentlich gleich fortsetzen wollte.

»Torsten Dahms«, sagt Lederer. »32 Jahre alt, verheiratet, Familienvater. Das Ehepaar Dahms hat zwei sechsjährige Töchter. Zwillinge.«

Christian betrachtet Lederer. Der Brechreiz, den er verspürt, ist vage, ein Pochen in der Speiseröhre. Er atmet es weg.

»Ich rufe Ben an«, sagt Lederer. »Wir fahren in zehn Minuten, ja?«

Christian nickt. Er sieht Lederer nach, der zielstrebig läuft, während er schon Bens Nummer anwählt. Christian bleibt noch für eine Weile sitzen. Namen gehen ihm durch den Kopf, sie kristallisieren sich heraus, verschwinden, sind ohnehin nichts als Spekulation.

Wie nennen Eltern ihre Kinder heute? Vor allem, auf welche Namen fällt die Wahl, wenn es Zwillinge sind? Er weiß es nicht. Er weiß nicht einmal, welche Namen er selbst in Betracht ziehen würde. Wenn er Kinder hätte. Der Gedanke bleibt haften. Wie das wäre, Kinder zu haben. Zwillinge. Nadine und Natalie? Er weiß nicht, ob Anne Kinder haben möchte. Das war noch kein Thema, in den Wochen, die sie miteinander verbracht haben.

Seine Gedanken kreisen um Anne. Um ihr Glück. Er hofft, dass sie einen schönen Tag verbringt. Morgens läuft sie meistens, dann schaut sie Fernsehen. Sie mag Quizsendungen, sagt, dass sie dabei entspannen kann. Das ist gut.

Wusstest du, dass Menschen nicht mehr als 25 vertraute Orte haben, die sie regelmäßig besuchen? hat sie kürzlich gefragt.

Er hat gelacht und verneint. Hat es sich durch den Kopf gehen lassen. 25 vertraute Orte. Ist das viel oder wenig?

Und ist eine Gartenlaube ein vertrauter Ort? Ein Serverraum. Was genau ist das eigentlich?

Forscher der University of London haben das mit den 25 Orten herausgefunden, hat Anne gesagt.

Josy

Jetzt muss es also schnell gehen. Ereignisse überschlagen sich. Warum nicht? Soll ihr recht sein. Sie sieht merkwürdig klar. Fast, als könnte sie in die Zukunft sehen. Das muss an ihr liegen, an Josy. Sie ist nach vorn getreten, hat Diskussionen eine Absage erteilt. Hat Zustimmung geerntet. Sie sitzt im Café des Squash-Inn für eine Weile etwa zwanzig Meter entfernt von dem Mann, der sich lachend mit einem anderen unterhält, seinem Spielpartner. Dann steht sie auf, läuft mit Schwung, ein wenig die Hüften schwenkend, auf die beiden zu. Stellt dem Mann die Cola light hin. »Haben Sie am Court vergessen«, murmelt sie, schenkt ihm ein Lächeln.

»Oh.«

»Ja.« Sie lacht. Hell.

»Danke«, ruft der Mann noch.

Gern geschehen, denkt sie.

Sie bleibt am Rand des Geschehens sitzen, atmet die Sonne ein und aus. Sie sieht zu, während der Mann aufbricht. Er hat es nicht weit bis nach Hause. Überraschungen warten auf ihn. Sind es eigentlich Überraschungen? Oder hat der Mann immer vor Augen gehabt, dass der Tag kommen wird? Nein, vermutlich nicht. Weil er keine Augen hat. Keine, mit denen er wirklich sehen könnte.

Sie öffnet ihre eigene Cola light, trinkt langsam, Schluck für Schluck.

Gern geschehen, denkt sie noch einmal.

Ben

Lederers Anruf erreicht Ben, als er gerade zu seinem Wagen läuft. Er ist bis zum Schluss geblieben, ist als Letzter gegangen, gemeinsam mit den engsten Familienmitgliedern, mit Landmann, seiner Schwester, deren Ehemann.

Jetzt hört er, was Lederer sagt, und dann durchquert er den Tag. Als würde er die offene See am Steuer eines Motorbootes durchtrennen. Links und rechts brechen die Fassaden weg. Lederer hat in knappen Sätzen die Lage beschrieben. Das Bild, das ihn erwartet. Dahms, Torsten, verheiratet, Kinder. Zwillinge.

Das Haus ist weiß und wird von der Sonne beschienen. Der Garten akkurat. Verschiedene Farben, fein voneinander abgetrennt. Lederer und Christian sind auch gerade angekommen, stehen vor dem Haus, beraten sich. Malvi und einige der Kriminaltechniker sind, wenn er das richtig verstanden hat, schon seit einer Weile da.

Ben läuft. Hebt den Arm, weil Christian seinen angehoben hat, zum Gruß. Dann ist er bei ihnen. Lederer geht voran. Das ist ungewöhnlich. Er folgt den beiden, Lederer und Christian, und versucht, sich einzustellen, eine Position zu finden. Er denkt an Svea, die heute später Mittelstrecke fliegt, nach Stockholm, morgen Abend wird sie wieder da sein. Er denkt an Marlene, die Freundinnen trifft, sie wollen mit der Mutter einer Freundin ein Picknick machen, am Fluss.

Dann sind sie schon im Haus. Einer der Techniker hat die Tür geöffnet. Ben sucht die Fläche ab, seinen eigenen Entdeckungen ausweichend. Er will nichts finden. Keinen Blick, keine Sache, keine Wesen. Das Erste, was ihm begegnet, ist der Blick eines Kindes. Eines Mädchens. Es sind Zwillinge, das hat Lederer gesagt.

Ben lächelt unwillkürlich. Alles gut. Alles kommt in Ordnung. Der Blick des Mädchens, das an der Treppe steht, ist verschlossen. Hat sich zurückgezogen, Schutz suchend, verinnerlicht.

Er folgt den anderen, läuft an dem Mädchen vorbei, hört gedämpft die Stimme einer Frau. »Geh nach oben zu deiner Schwester, Nele«, sagt die Frau. »Bitte.«

Nele, das ist also eines der Mädchen, einer der Zwillinge. Und die Stimme der Frau, vermutlich die Mutter, die Ehefrau von Torsten Dahms, klingt warm, trotz der Aufregung. Ben nimmt alles wahr. Wenn die Stimme der Mutter Zuneigung zur Tochter verrät, ist vielleicht nicht alles verloren.