Am Ufer des Ruhms - Gwen Bristow - E-Book

Am Ufer des Ruhms E-Book

Gwen Bristow

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Beschreibung

Der dritte Teil der Louisianna- Trilogie beginnt kurz vor dem ersten Weltkrieg. Fred Upjohn hat es mittlerweile zu einem erfolgreichen Deichbauunternehmer geschafft und seine Tochter Eleanor ist zu einer pflichtbewussten, sparsamen Frau herangewachsen.
Kester Larne, Erbe der Ardeith-Plantage ist hingegen das genaue Gegenteil von Eleonor und doch erobert er ihr Herz im Sturm.
Nach der Hochzeit erfolgt jedoch der Schreck: Kester ist hoffnungslos verschuldet und Eleanor setzt alles daran, die einst so glorreiche Plantage zu retten, während Kester sich dem leichten Leben hingibt.
Als dann auch noch der erste Weltkrieg ausbricht wird Eleanor klar, dass sie eine Entscheidung treffen muss - für oder gegen ihr Leben mit Kester...


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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebentes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes Kapitel

Über dieses Buch

Der dritte Teil der Louisiana-Trilogie beginnt kurz vor dem ersten Weltkrieg. Fred Upjohn hat es mittlerweile zu einem erfolgreichen Deichbauunternehmer geschafft und seine Tochter Eleanor ist zu einer pflichtbewussten, sparsamen Frau herangewachsen.

Kester Larne, Erbe der Ardeith-Plantage ist hingegen das genaue Gegenteil von Eleonor und doch erobert er ihr Herz im Sturm.

Nach der Hochzeit erfolgt jedoch der Schreck: Kester ist hoffnungslos verschuldet und Eleanor setzt alles daran, die einst so glorreiche Plantage zu retten, während Kester sich dem leichten Leben hingibt.

Als dann auch noch der erste Weltkrieg ausbricht wird Eleanor klar, dass sie eine Entscheidung treffen muss – für oder gegen ihr Leben mit Kester …

Über die Autorin

Gwen Bristow wurde am 16. September 1903 als Tochter eines Pastors in Marion, South Carolina/USA geboren. Sie besuchte die Pulitzer School für Journalismus und arbeitete als Reporterin. 1929 veröffentlichte sie ihren ersten Roman und wurde durch ihre Südstaaten-Romane weltbekannt. Sie starb 1980.

Gwen Bristow

Am Ufer des Ruhms

3. Teil der Louisiana Trilogie

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Fritz Helke

beHEARTBEAT

 

Digitale Originalausgabe

 

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Mohrbooks AG Literary Agency, Zürich

Titel der Originalausgabe »This side of Glory«

Copyright © 1940 by Gwen Bristow

Copyright der deutschen Erstausgabe © 1958 by Franz-Schneekluth-Verlag, Darmstadt

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Projektmanagement: Esther Madaler

Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven © shutterstock: allegro | Marzolino | Davor Ratkovic | sniegirova mariia | akaplummer

E-Book-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-2774-8

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

ERSTES KAPITEL

Der Himmel war wie blauer Samt und der Strom glitzerte in der Sonne. Es war Januar 1912.

Eleanor Upjohn, zehn Jahre älter als das Jahrhundert, saß vor ihrer Schreibmaschine im großen Verwaltungszelt des Deichbaulagers und war damit beschäftigt, die Geschäftskorrespondenz ihres Vaters zu erledigen.

Der Deichbauunternehmer Fred Upjohn war mit dem Bau des neuen Uferdammes beauftragt. Er saß an seinem Schreibtisch, las aufmerksam die Briefe durch, die seine Tochter geschrieben hatte, und unterzeichnete sie. Die Nachtischzigarre erlosch darüber; er zerdrückte sie achtlos im Aschenbecher.

Fred und Eleanor Upjohn waren nicht nur Vater und Tochter, sie waren auch sehr gute Freunde und respektierten einander in jeder Weise. Fred hatte dreißig Jahre seines Lebens damit zugebracht, Deiche zu bauen, um den Strom von den Städten und Plantagen zurückzuhalten, die er begrenzte. Als Eleanor vom College zurückkam und ankündigte, dass sie in ihrer Freizeit Stenografie erlernt habe und nun arbeiten wolle, begrüßte er sie sogleich als seine Sekretärin. Das schien völlig selbstverständlich; was hätte sie denn sonst tun sollen? Für Müßiggang irgendwelcher Art war in seiner Vorstellung kein Raum.

Eleanor, wie sie ihn so vor sich sah, den Brief lesend und nebenbei die Zigarre ausdrückend, musste daran denken, wie oft sie ihn so gesehen hatte. Sie sah sich selbst als kleines Mädchen in der Ecke hockend, das kühle ernste Gesicht des Vaters im mattgelben Lichtschein der Petroleumlampe, so wie jetzt; daneben die Mutter, ein Kind auf dem Arm und ein weiteres unter der hohen Wölbung ihres Leibes, wie sie ihn drängte, doch schlafen zu gehen, und ihm doch gleichzeitig Kaffee brachte, um ihn wach zu halten.

Eleanor war stolz auf den Vater und sie hatte wohl Grund dazu. Als Sandsackzähler hatte er dereinst begonnen, heute war er der erste Deichbauunternehmer am ganzen Mississippi. Oh, es gab nicht viele Männer, die sich eines solchen Weges rühmen durften! Heute besaßen die Upjohns ein Haus in einer der schönsten und vornehmsten Wohnstraßen von New Orleans, lebten in einer Atmosphäre weiter Behaglichkeit und brauchten sich nichts abgehen zu lassen. Und wenn Fred Upjohn den Strom hinauffuhr, zogen hunderte von Arbeitern die Mützen.

Selbst das Zelt, das sie hier draußen bewohnten, zeugte von Würde und Erfolg. Es bildete Herz und Mittelpunkt des bienenemsigen Lagerbetriebes und war zugleich mit dem gediegenen Komfort einer modernen Wohnung ausgestattet, in der sich behaglich leben ließ. Der Fußboden wurde durch drei Fuß lange kunstvoll geschnitzte Dielen gebildet, die abgenommen werden konnten, wenn die Männer das Lager abbrachen, um es an anderer Stelle wieder zu errichten. Die Zeltwände bestanden aus drei Fuß hohen hölzernen Platten, von denen aus Schirmstäbe in regelmäßigem Abstand bis zur Spitze liefen. Darüber waren imprägnierte Leinwandstreifen gespannt, die bei gutem Wetter aufgerollt und bei Regen und Kälte herabgelassen und am Fußboden festgeschnallt werden konnten.

Das Zelt teilte sich in mehrere Räume. Der Hauptraum war außer den Arbeitspulten mit Esstisch und Stühlen und einem großen Bücherschrank ausgestattet. Das Rohr des Holzbrandofens wurde mittels einer Metallstütze durch die Leinewandbespannung geführt. Schlafräume und Küche waren einfach, aber zweckmäßig und gediegen eingerichtet.

Eleanor war gern im Deichbaulager; es machte ihr Freude, mit dem Vater zu arbeiten; es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich ein anderes Leben zu wünschen. Dabei war sie ein frisches, natürliches Mädchen, nicht eben hübsch im landläufigen Sinne, aber von einer kühlen und herben Schönheit, so wie eine Stahlbrücke schön ist, deren edle und zugleich zweckmäßige Linienführung das Auge erfreut. Ihr Körper war von einer biegsamen Schlankheit, hart und federnd zugleich, mit den langen Beinen und den ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen, die keine Hast zu kennen schienen. Ihre Züge ließen jede Weichheit vermissen; nein, hübsch konnte man sie wohl nicht nennen, mit der etwas zu langen Nase und dem etwas zu breiten Kinn. Zudem war da ein Zug um den Mund, der von Härte und Willenskraft sprach und nicht eben zum Küssen einlud. Und doch machte gerade die Unregelmäßigkeit der Linien dieses Gesicht in einer merkwürdigen Weise anziehend; Sauberkeit, Ehrlichkeit und Anständigkeit sprachen daraus; kein Zweifel, dies war ein Mädchen, auf das man sich verlassen konnte. Sie hatte sehr schöne Augen von einem tiefdunklen Blau mit schwarzen Wimpern und sauber gezeichneten Brauen. Ihr festgeflochtenes dunkelbraunes Haar glänzte über ihrer Stirn wie eine Adelskrone.

Eleanor hatte sich im Widerspruch zum Zeitstil niemals geschnürt. Nicht, weil sie die Mode verachtete, sondern einfach deshalb, weil sie herausgefunden hatte, dass ein straff sitzendes Korsett das Atmen erschwerte. Aber die viele Bewegung im Freien, an die sie von Kind auf gewöhnt war, hatte ihrem Körper eine natürliche Geschmeidigkeit verliehen; was immer sie trug, es stand ihr prachtvoll. So wie die glatt sitzende Hemdbluse aus blauem Satin, in der sie jetzt hinter ihrer Schreibmaschine saß, mit dem einfachen weißen Kragen, der kühl und ein wenig pedantisch den schlanken Hals umschloss, und dem glatt bis zum Spann herabfallenden bortengesäumten Rock. Immer betonte ihre Kleidung ihren durchaus eigenen, Eleganz und Freiheit verbindenden Stil. Der Kragen war gestärkt und konnte somit auf die üblichen Stäbchen verzichten, der Gürtel wirkte fest, ohne es zu sein; er behinderte sie nicht. Der Rock war unterhalb der Knie mit einer geschickt verborgenen Falte versehen, die ihr das freie Ausschreiten ermöglichte.

Der Glanz des Tages funkelte sogar im Inneren des Zeltes. Eleanor verspürte Neigung, ein wenig ins Freie zu gehen. Sie saß seit sechs Uhr morgens hinter der Schreibmaschine und hatte schon einen leichten Krampf zwischen den Schultern. Aber da waren nun noch drei ungeöffnete Briefe, und es war immerhin möglich, dass etwas dabei war, was sofortige Erledigung verlangte. Sie griff zum Falzmesser und schlitzte sie hintereinander auf. Ein Senator schrieb und wies Fred Upjohn auf die von Präsident Taft für den Herbst einberufene Wasserstraßen-Tagung hin. Upjohn hatte sein Erscheinen bereits zugesagt; der Brief konnte ohne Antwort abgelegt werden. Der nächste Brief war an sie selber gerichtet. Ihre Augen überflogen die Zeilen: »– die bemerkenswert vielen Frauen-Promotionen an amerikanischen Universitäten bestätigen nur die außerordentliche Wichtigkeit, die dem Frauenstimmrecht zukommt.« Ihre Lippen kräuselten sich, und der Brief flog in den Papierkorb. Eleanor hatte niemals besondere Schwierigkeiten gehabt, das zu erreichen, was sie wollte, und es kümmerte sie nicht, ob andere Frauen bekamen, was sie wollten; mochten sie zusehen, es war ihre Sache. Der letzte Brief erforderte eine Antwort; sie spannte einen Bogen in die Schreibmaschine.

Fred Upjohn sah flüchtig herüber: »Bald fertig?«

Sie nickte; ihre Finger glitten bereits über die Tasten: »– wenn also keine ernsthafte Behinderung, etwa durch Wetterverschlechterung, eintritt, so sind wir sicher, das neue Deichprojekt fristgemäß zum 1. März zu beenden. Mit verbindlichen Empfehlungen, ihr sehr ergebener Fred Upjohn, Regierungsbeauftragter für den Uferdammbau.«

Sie schob ihm den Brief zur Unterschrift hin; er legte die eben neu angezündete Zigarre beiseite und griff nach dem Federhalter.

»Das war der letzte heute«, sagte sie, »Gott sei Dank! Ich bin auch halb tot.«

Upjohn streifte sie mit einem flüchtigen Blick. »Du siehst nicht so aus«, sagte er gleichmütig. Er pflegte durchschnittlich vierzehn Stunden am Tag zu arbeiten und hätte nie begriffen, wieso ein anderer nicht dasselbe leisten sollte.

Eleanor schnitt ihm ein Gesicht, während sie den Umschlag in die Maschine spannte und die Adresse schrieb: »Mr. Kester Larne, Ardeith-Plantage, Dalroy, Louisiana.«

»Was hast du denn geschrieben?«, fragte Upjohn zerstreut, den Brief ergreifend.

»Mr. Larne fragte an, wann wir damit rechneten, fertig zu werden. Er hofft, dass wir verschwunden sind, wenn er mit dem Pflanzen der Baumwolle beginnt.«

»Die Pflanzer fürchten immer, dass unsere Leute einen schlechten Einfluss auf die Arbeiter ausüben.« Upjohn stieß ein trockenes Lachen aus. »Nun, unsere Männer werden ihnen keine Unannehmlichkeiten machen.« Er unterschrieb den Brief.

Eleanor erhob sich und dehnte die Glieder; sie waren ganz steif vom langen Sitzen. »Gehört das ganze Baumwollgebiet hier herum der Ardeith-Plantage?«, fragte sie.

Er nickte flüchtig, schon wieder mit anderen Dingen beschäftigt.

»Ein riesiger Bereich. Müssen an die zweitausend Morgen sein.«

Upjohn ließ ein verächtliches Knurren hören: »Vermutlich in Höhe des ganzen Wertes mit Hypotheken belastet.«

»Wie kommst du darauf?«

Er stand auf, und über sein kühnes, hartes Gesicht glitt der Anflug eines Lächelns. »Das ist eine ganz besondere Rasse, die Larnes«, sagte er. »Eine blaublütige Gesellschaft von Faulenzern und Tagedieben. Diese Leute hatten durch Jahrhunderte nichts anderes im Sinn, als Saufgelage zu veranstalten, Frauen zu verführen und melancholische Betrachtungen über den Bürgerkrieg anzustellen.«

Eleanor lachte. Sie hatte sich, nunmehr in lässiger Haltung und im beglückenden Gefühl der Freiheit, wieder an ihrem Arbeitsplatz niedergelassen. »Immerhin«, sagte sie, »die Regierung hält sie für wichtig genug, ihnen zum Schutz ihrer Ländereien einen neuen Deich zu bauen.«

»Richtig.« Fred Upjohn ging zur Tür. »Und ich täte deshalb wahrscheinlich besser daran, mit meiner Meinung etwas hinter dem Berge zu halten.«

Sie beobachtete ihn, wie er das Zelt verließ. Er ging mit schweren und wuchtigen Schritten, wie ein Mann, der die meiste Zeit seines Lebens über offene Erde gegangen ist, anstatt über den Asphalt der Städte. Hier gehe ich, Fred Upjohn, sagte jeder Schritt aus, geht mir aus dem Wege! Ein Lächeln des Stolzes glitt über ihr Gesicht. Nein, es gab keinen Menschen, den sie so ehrlich und aufrichtig bewunderte wie ihren Vater.

Wenige Minuten später verließ sie gleichfalls den Raum und begab sich in ihr Schlafzimmer, um sich einen Mantel zu holen. Sie warf ihn lässig über den Arm, trat ins Freie und begann den verlassenen Uferdamm hinaufzusteigen. Mit ihren ruhigen, gleichmäßigen Schritten ging sie den Kamm entlang. Ein wundersames Flirren war in der Luft; sie glitzerte fast. Auf der einen Seite des Deiches dehnte sich unabsehbar das Land, die aufgebrochene schwarze Erde, bereit zur Aufnahme der neuen Pflanzen; auf der anderen glänzte in majestätischer Pracht der alte Strom, im Sonnenglast leuchtend wie ein Band von Feuer und Gold.

Als sie bei einer alten, breitästigen Eiche ankam, deren knorrige Wurzeln im alten Uferdamm steckten, blieb sie aufatmend stehen, lehnte sich gegen den mächtigen Stamm und sah beglückt in den trunkenen Glanz des späten Nachmittages.

Hinter ihr glitt der Strom in gemächlicher Ruhe dahin. Auf dem breiten Sandstreifen zwischen Wasser und Deich, der bei dem augenblicklich niedrigen Wasserstand völlig ausgetrocknet war, erstreckte sich die kleine Zeltstadt, in der die Deicharbeiter wohnten. Dreihundert Meter weiter konnte Eleanor die Männer und die von Maultieren gezogenen Schaufelkarren beobachten, die Tonnen von Erde heraufholten und sie auf der Baustelle abluden. Dort würde sich nun bald der neue Deich erheben und die Aufgabe des alten übernehmen, auf dem sie stand; der war durch die Hochwasser vieler Jahre und besonders durch die schweren Unwetter vom April des letzten Jahres stark angeschlagen und bot der reißenden Gewalt des Stromes keinen Widerstand mehr.

Eleanor liebte diesen Anblick: Auf der einen Seite der Frieden der Baumwollfelder, auf der anderen das geschäftige Treiben des Lagers, wo die Kinder zwischen den Zelten spielten, während ihre Mütter kochten und ihre Väter mit der Kraft ihrer Hände den neuen Schutzwall errichteten. Sie kannte den Strom in all seinen vielfältigen Möglichkeiten: Lohfarben im Sonnenglast, purpurn am Abend, wenn die Sonne sank, weiß glitzernd im kalten Licht des Mondes, brav und fügsam im Herbst und wild wie der Panther, wenn die Frühlingsstürme das Land durchbrausten. Wer wie sie im Deichbaulager aufgewachsen war, der liebte den Strom und fürchtete ihn zugleich, dem war er wie ein milder und gnädiger König, von dem man doch weiß, dass er die Macht über Leben und Tod in seinen Händen hält.

Sie hatte ein Weilchen halb träumend gestanden, als sie aus der Ferne das ratternde Geräusch eines Motors vernahm. Taktmäßig und unbeirrbar durchschnitten die hämmernden Stöße in gleichmäßigem Rhythmus den vom Zeltlager herüberkommenden Lärm. Sie drehte sich um, die Ursache des Geräusches zu erforschen. Auf der quer durch die Felder führenden, für die Baumwollkarren bestimmten Straße kam, Rauch ausspeiend und knatternd, eines jener klobigen und ungefügen Automobile heran, die neuerdings in Mode kamen. Es fauchte, hüpfte und wand sich auf der trockenen, von zahllosen Karrenrädern ausgefahrenen Straße, die für solch vornehme Vehikel nicht gedacht war.

Das Auto hatte kein Verdeck; als es näher kam, konnte Eleanor einen Mann am Steuer sehen, der keinen Hut trug und dessen dunkles Haar im Wind flatterte. Nahe einer struppigen Kiefer am Fuß des Deiches hielt es mit einem hässlich kreischenden Geräusch an, ohne dass der Fahrer den Motor gedrosselt hätte. Eleanor sah, dass er groß und breitschulterig war und ein junges, frisches Gesicht hatte. Sein Haar war vom Wind so durcheinandergeweht, dass es wie eine Schaumkrone wirkte. Er lachte dem Mädchen zu, das da allein unter dem Baum stand, und öffnete den Wagenschlag. Einen Augenblick später kam er bereits den Deich herauf.

Er sah aus wie ein junger Mann, der die Welt als einen idealen und herrlichen Aufenthaltsort betrachtet und sich glücklich preist, in ihr geboren zu sein. Eleanor sah, dass er fast einen Kopf größer war als sie selbst, und sie war wahrhaftig nicht klein. Breitbrüstig war er und sonnenverbrannt, als hätte er sein ganzes Leben im Freien zugebracht. Hätte er nicht so tiefdunkle Augen und Haare von der Farbe ungebleichten Zuckerrohrsirups gehabt, er hätte einem der Wikinger auf alten Bildern geglichen. Seine Stirn war breit und gewölbt, die kräftige Nase ein wenig gebogen. In seinem offenen und strahlenden Lächeln waren der Charme und die Selbstsicherheit des geborenen Frauenbetörers, der gewohnheitsmäßig jede nicht eben hässliche Frau anlächelt und von vornherein überzeugt ist, ihre Gunst zu erringen.

Annäherungen dieser Art fand Eleanor im Allgemeinen lästig und widerwärtig, und als sie jetzt gar zurücklächelte, begriff sie sich selber nicht; sie fand nur rein instinktiv: irgendetwas war anders als sonst in ähnlichen Fällen.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagte der Mann mit einer leichten Verbeugung aus der Taille heraus, geradeso, als ob er unangemeldet ihr Zimmer beträte. Seine Stimme war tiefer, als sie erwartet hatte.

»Sie suchen jemand?«, fragte sie, von einem sonderbaren Gefühl erfasst, das sie sich nicht zu erklären wusste.

»Nein, Gnädigste, durchaus nicht«, sagte der Mann, »ich hatte ursprünglich keine andere Absicht, als die, nach den Feldern zu sehen. Aber nun sah ich Sie.«

Jetzt lachte sie laut heraus, ihm gerade ins Gesicht.

»Haben Sie etwas gegen meine Anwesenheit einzuwenden?« Das war so dahingesagt; sicherlich war er überzeugt, dass jedermann über sein Erscheinen beglückt sein müsse.

Wie diese Augen sie ansahen! Sie war doch wahrhaftig nicht leicht in Verlegenheit zu bringen, aber jetzt machte es ihr Mühe, diesem schmeichelnden Blick standzuhalten. »Warum sollte ich?«, sagte sie schließlich. »Der Deich ist Eigentum der Regierung und für jedermann frei.« Eigentlich war sie wütend, und weil sie es war, hatte sie Grund, sich über ihre Stimme zu ärgern, die nichts davon spüren ließ, die im Gegenteil warm und beinahe herzlich klang, als spreche sie mit einem längst vertrauten Freunde und nicht mit einem reichlich anmaßenden Fremden.

»Ausgezeichnet!«, sagte der Mann, und das Lachen seiner Augen vertiefte sich. So ein Pfau!, dachte Eleanor. Wenn er sich jedem Mädchen gegenüber, das er zum ersten Mal sieht, so verhält, bleibt ihm keine Zeit, sonst noch etwas zu tun.

Der Mann sagte: »Höchstwahrscheinlich haben wir gemeinsame Bekannte, die in der Lage wären, uns einander ordentlich vorzustellen; einstweilen gestatten Sie, dass ich das meinerseits selbst übernehme: Kester Larne.«

»Larne?«, wiederholte Eleanor gedehnt. Oh!, dachte sie, das also ist er. Sie lächelte wieder: »Ich habe Ihnen gerade einen Brief geschrieben.«

»Sie – mir?« Jetzt schien es an ihm, verlegen zu sein. Verwirrt und bewundernd zugleich sah er sie an. »Wie komme ich zu dem Glück? Bitte, entschuldigen Sie, aber eines ist sicher: Hätte ich Sie je in meinem Leben gesehen, ich hätte Sie gewiss nicht vergessen.«

»Seien Sie kein Narr!«, sagte sie mit einem zornigen Aufblitzen ihrer Augen, das aber gleich wieder verschwand und einem leicht amüsierten Lächeln Platz machte. »Mein Vater ist der Regierungsbeauftragte für den Deichbau hier. Sie fragten bei ihm an, wann wir voraussichtlich fertig würden, und da ich meines Vaters Sekretärin bin, schrieb ich die Antwort.«

»Oh!« Seine bewundernden Blicke ließen nicht von ihr; vielleicht sah er nur den Anknüpfungspunkt, der sich da bot; der Fortgang des Deichbaues jedenfalls interessierte ihn im Augenblick sicher nicht.

»Die Antwort, die ich Ihnen schrieb, wird Sie sicher erfreuen«, fuhr Eleanor fort, »wir hoffen, am 1. März unsere Zelte abbrechen zu können.« Sie trat einen Schritt näher und nahm wahr, dass ein Schatten über sein Gesicht glitt. »Sie brauchen nicht denken, dass ich es als persönliche Beleidigung auffasse, wenn Sie wünschen, uns baldmöglichst los zu sein«, sagte sie mit leichtem Spott in der Stimme. »Ich weiß zur Genüge, dass Deichbauneger ein zähes Volk sind und im Allgemeinen mit Baumwollnegern schlecht auskommen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, kann ich sie deswegen nicht einmal tadeln.«

Er strahlte schon wieder; ein jungenhaftes Lachen überflog sein Gesicht. »Was für ein gescheites Mädchen Sie sind!«, sagte er. »Sie kommen wirklich nicht miteinander aus, trotz der gleichen Haut, und ich wäre tatsächlich froh gewesen, wenn die Deichbauarbeit vor dem Beginn der Baumwollpflanzzeit geendet hätte. Aber jetzt interessiert mich etwas anderes: Bedeutet der Abbruch der Zelte auch, dass Sie uns verlassen?«

»Allerdings!«, lachte sie. »Was sollte ich denn noch hier?«

Da war wieder der Schatten auf seinem Gesicht, aber er konnte sich auch diesmal nicht halten. »Nun, das sind fast noch zwei Monate«, sagte er unbekümmert, »eine Masse Zeit. Wollen Sie mir nicht Ihren Namen sagen?«

»Eleanor Upjohn.«

»Danke.« Kester Larne zog seinen Mantel ab und breitete ihn auf dem Gras der Böschung aus. »Möchten Sie sich nicht hinsetzen?«

Was ist das denn?, dachte Eleanor. Ich sollte jetzt gehen. Ich begreife mich nicht. Da war etwas in seiner Stimme, in seinem Gesicht, in seinem ganzen Wesen, dem sie sich nicht zu entziehen vermochte. Sie wies auf ihren eigenen Mantel, den sie über dem Arm trug. »Ich habe selber einen«, sagte sie.

»Oh, aber den müssen Sie anziehen. Nein, wirklich, ich wunderte mich schon, dass Sie ihn über dem Arm hängen hatten. Diese leuchtenden Tage sind trügerisch. « Er nahm ihr, als verstehe sich das ganz von selbst, den Mantel ab und hielt ihn ihr zum Hineinschlüpfen hin.

Und Eleanor, in keiner Weise gewöhnt, so betreut zu werden, fügte sich. Es ist närrisch, dachte sie, das alles ist närrisch, ich weiß durchaus nicht, warum ich mir das alles gefallen lasse; aber es war nun so, es war nichts dagegen zu tun. Sie setzte sich auf den ausgebreiteten Mantel, und Kester ließ sich neben ihr nieder, als sei dies die selbstverständlichste Sache von der Welt.

»Es ist feucht«, warnte Eleanor.

»Ich erkälte mich nie.« Er stützte sich auf die Ellenbogen und sah zu ihr auf. Eleanor fiel ein, was ihr Vater über die Larnes gesagt hatte. Dieser Kester mochte ein Frauenheld sein – wahrscheinlich war er es –, der bleiche Abkömmling einer ausgelaugten Aristokratenfamilie war er jedenfalls nicht. Sie erinnerte sich nicht, jemals einen kräftigeren, gesünderen und körperlich wohlgebildeteren Mann gesehen zu haben.

»Eleanor – das ist ein hübscher Name«, sagte er. »Mögen Sie ihn?«

»Doch – es sei denn, dass man mich Nelli ruft.«

Er lachte. »Wer würde auf den grotesken Einfall kommen, ein Mädchen wie Sie Nelli zu rufen!«

»Oh, mein Vater zum Beispiel. Manchmal wenigstens. Er fing damit an, als ich noch klein war. Früher machte es mir nichts aus. Aber als ich herausbekam, dass jeder Maulesel in jedem Lager Nelli gerufen wurde, war ich es leid und drohte Pa damit, dass ich ihn verlassen würde. Da ließ er es denn, im Allgemeinen wenigstens, aber manchmal vergisst er sich noch.«

»Ich verspreche, Sie niemals Nelli zu rufen!«, sagte er feierlich.

Sie maß ihn mit einem ihrer kühl spöttischen Blicke. »Sie haben ihr Auto stehen lassen und den Motor nicht abgestellt«, sagte sie.

Er wandte sich nicht um: »Haben Sie schon einmal versucht, so ein Ding anzukurbeln?«

Er ist träge, dachte sie, extravagant, aber träge. Ein Auto muss sein, aber Arbeit darf es nicht machen. Vater hat wahrscheinlich recht. Laut sagte sie: »Wenn Ihnen das Ankurbeln lästig ist, warum fahren Sie dann nicht einen leichten Einspänner?«

»Weil ich in Automobile vernarrt bin«, versetzte Kester. Und mit einem Aufblitzen seiner dunklen Augen: »Ich stelle fest, dass ich eine energische junge Dame vor mir habe.«

Sie lachte trocken: »Danke. Das hat man mir schon öfter gesagt.«

»Wahrscheinlich hat man Ihnen noch öfter gesagt, dass Sie entzückend aussehen.«

»Nein. Denken Sie an.« Sie ließ ihre Zähne blitzen. »Und das wäre auch verschwendete Mühe gewesen. Ich weiß ziemlich genau, wie ich aussehe. Ich kenne meine Nase und mein viereckiges Kinn. Und ich habe es gar nicht gern, wenn man mir etwas vormacht.«

»Ja«, sagte er, »so sehen Sie aus. Ich glaube, Sie sind viel mit Studenten zusammen gewesen, die im Allgemeinen süße und puppenhafte Mädchen lieben. Hat niemals jemand versucht, Ihnen den Unterschied klarzumachen zwischen« – er hielt ein und sah sie mit einem Blick an, über den sie errötete.

»Nun«, sagte sie, »zwischen –?«

Er hielt den Blick unverwandt auf sie gerichtet. »Ja – sagen wir zwischen süßen Weintrauben und – Kaviar?«

Sie lachte, unbewusst etwas verärgert. Wie frech er war! Sie dachte an ihre männlichen Bekannten, fast ausnahmslos Studenten oder Ingenieure. Nein, keiner von ihnen hatte jemals einen solchen Vergleich gewagt. Sie gestand sich ein, dass sie von allen respektiert worden war, weil sie mathematische Gleichungen schneller zu lösen verstand als einer von ihnen. Kester Larne war beträchtlich älter als die Studenten – sechs-, siebenundzwanzig, schätzte sie, und ihre Talente und Fähigkeiten interessierten ihn vermutlich nicht im Geringsten. Sie legte ihren Gedanken Zügel an; dieser Mann meinte wahrscheinlich kein Wort ehrlich, das er sagte. Die Art, in der er mit ihr umging, ließ auf beträchtliche Erfahrung schließen; sie zupfte, vor sich hinblickend, an einem Grashalm.

Kester maß sie mit einem neckisch prüfenden Blick.

»Sie halten mich für einen Schwindler?«, sagte er.

»Ja«, sagte sie kurz, ohne aufzusehen.

»Das macht nichts, das korrigiert sich mit der Zeit von selbst. Lassen Sie uns eine Fahrt machen.«

»Eine Fahrt? Wohin?«

»Lieber Gott! Irgendwohin! Bitte, kommen Sie!« Er war bereits aufgesprungen und hielt ihr mit einer selbstverständlichen Geste die Hände hin, um ihr aufzuhelfen.

Eleanors Gedanken waren schneller als ihre Stimme. Ihr Verstand sagte: Er hat mich in wohl überlegter Weise gefesselt. Er lädt mich ein und ist völlig sicher, dass ich Ja sagen werde. Er vermöchte den Gedanken nicht zu ertragen, dass es irgendwo eine vernünftige, einigermaßen gut aussehende Frau geben könnte, die ihm zu widerstehen vermöchte. Hätte ich meine fünf Sinne noch beieinander, wie ich es vorhin zweifellos noch hatte, dann müsste ich jetzt Nein sagen, aber –; da war irgendwo ein unerklärliches Aber.

»Danke«, sagte sie, »warum nicht?«

»Wunderbar!« Er ergriff ihre Hände und zog sie hoch. Sie standen einander gegenüber, und sie hatte ein leichtes Schwindelgefühl. Ich habe niemals so viel Frechheit und so viel Charme in einem Menschen gesehen, dachte sie. Er war bereits im Begriff, den Uferdamm hinabzusteigen, als sie ihn zurückhielt.

»Sie haben Ihren Mantel vergessen.«

»Das kommt, weil ich außer Ihnen nichts mehr sehe«, lachte er, nahm den Mantel auf und zog ihn an. Sie hatte ihn etwas zerdrückt, aber das machte nichts; die ungezwungene, selbstverständliche Eleganz seiner Erscheinung vermochte es nicht zu beeinträchtigen. Sie mühte sich, herauszubekommen, worauf der Zauber beruhte, der von diesem Manne ausging. Er kam wohl weitgehend von seiner Selbstsicherheit, von der Art, wie er sprach und wie er sich bewegte, ganz so, als ob nichts ihn anzuführen vermöchte. Die Ritter und Kreuzfahrer aus alten Geschlechtern, deren Bildnisse ihren Grabmalen eingemeißelt waren, bewahrten noch im steinernen Abbild diesen unwiderstehlichen Hauch von Hoheit und Adel.

Sie kletterten den Deichabhang hinunter; Kester hielt stützend ihre Hand. Er öffnete den engen Schlag des Autos; Eleanor stieg ein, und er setzte sich neben sie an das Steuer.

»Halten Sie sich fest«, sagte er, »als man diese Straße baute, hat man noch nicht an Autos gedacht.«

Lärmend und fauchend setzte der Wagen sich in Bewegung, hoppelte widerwillig über die verkrusteten Karrenspuren, durchfuhr das Baumwollfeld und bog bald darauf in eine Straße ein. Kester begann nun schnell die Geschwindigkeit zu steigern; Hindernisse schienen für ihn nicht zu existieren, ein Gefühl für Gefahr besaß er offenbar nicht, aber das entsprach wohl der Art seines Lebens. Eleanor jedenfalls fand, es gehöre zu ihm. Sie war durch dergleichen Abenteuer nicht verwöhnt, sie fand es erregend und schön, so schnell und sicher durch die vertraute Landschaft dahinzugleiten. Um sie herum wirbelte der Staub; er ballte sich hinter dem ratternden Gefährt zu einer Wolke. Eleanor klammerte sich an ihren Sitz, sie war wie betäubt und kämpfte mit einem leichten Schwindelgefühl.

Dann, ruckartig fast, verringerte Kester die Geschwindigkeit. Sie sah vor sich einen hohen, schmiedeeisernen Zaun, der ein geräumiges Grundstück einschloss.

»Hier wohne ich«, sagte er. »Ich denke, wir gehen hinein und trinken eine Tasse Kaffee, um den Staub aus den Kehlen zu spülen.«

»Fahren Sie immer so wie eben?«, fragte Eleanor.

Er sah sie verdutzt an. »Ja. Wieso? Habe ich Sie erschreckt? Dann bitte ich um Verzeihung. Aber Sie dürfen mir vertrauen. Ich bin, glaube ich, ein recht guter Fahrer.«

»Warten Sie eine Minute.« Eleanor strich sich das Haar aus der Stirn, in ihren Augen stand jetzt ein fast hilfloses Lächeln. »Sie fahren mich einfach hierher – ich weiß von Ihnen so gut wie nichts –, sind Sie sicher, dass Sie hier wohnen?«

Sie musste lachen, als sie sein Gesicht sah; er sah aus wie ein Junge, der über einem harmlosen Streich ertappt wurde. »Wieso?«, stammelte er. »Ich versichere Ihnen, ich habe hier gelebt – meine Familie hat hier gelebt seit der Revolution und noch länger.« Er zog die Bremsen, ließ den Wagen auslaufen und begann in seinen Taschen herumzufingern. »Ich müsste eigentlich irgendetwas bei mir haben, worauf mein Name steht«, sagte er. »Hier!« Er reichte ihr ein kleines silbernes Taschenmesser. In winzigen Buchstaben war auf einer der Schalen der Name ›Kester Larne‹ graviert. »Mutter hat mir das irgendwann einmal zum Geburtstag geschenkt«, lachte er, »und meinen Namen hat sie hineingravieren lassen, weil ich die Eigenschaft habe, alles zu verlieren.«

»Ist Ihre Frau Mutter zu Hause?«, fragte Eleanor.

Er zuckte die Achseln: »Vermutlich nicht. Ich glaube, meine Eltern sind ausgegangen, Besuche zu machen. Aber das tut ja nichts. Die Dienerschaft ist ja da. Bitte, kommen Sie. Hier herein. Es ist dies der einzige Platz weit und breit, wo man eine Tasse genießbaren Kaffees bekommen kann.«

Verrückt!, dachte sie wieder, aber sie widersprach nicht. Kester setzte den Wagen wieder in Bewegung und fuhr durch das weit offen stehende Tor eine breite, gepflegte Allee hinunter. Unwillkürlich stieß Eleanor einen Ruf der Bewunderung aus. Sie fuhren unter den schattigen Kronen sehr alter Eichen dahin, die in schnurgerader Richtung auf ein großes weißes Haus zuliefen, dessen schimmernde Fassade durch graue Moosgirlanden schimmerte, die von den Zweigen der Bäume herabhingen. Gleich dem verwunschenen Schloss eines Märchens stand es dann vor ihr, das Haus, umgeben von einer breiten Veranda, deren dorische Säulen das weit überhängende Dach trugen. Die Flügel der großen Mitteltür standen weit offen; schwer und wuchtig war diese Tür und von ungewöhnlicher Höhe und Breite. Die in gleicher Höhe gehaltenen Fenster zur Linken und Rechten reichten bis zum Fußboden hinab; schwere Vorhänge hinderten den Blick in das Innere und spendeten den dahinter befindlichen Räumen kühlenden Schatten.

Nachdem sie dem Auto entstiegen war, stand Eleanor einen Augenblick still und ließ die kühle, statuarische Schönheit des von alter Kultur zeugenden Bauwerkes und die abgeschiedene Stille der Parklandschaft auf sich wirken. Das Haus, fand sie, war griechisch und amerikanisch zugleich: Ein steinernes Mal jener klassischen Zeit, die die Revolutionen gebar, die amerikanische wie die französische, jener Zeit, die sich aus dem geistigen Elan ihrer Frühzeit ihren eigenen unvergänglichen Stil schuf, einen Stil, der die Bill of Rights ebenso hervorbrachte wie die Guillotine. Der die griechischen Gewänder des frühen neunzehnten Jahrhunderts erzeugte und schließlich auch seinen Ausdruck in der Architektur fand. Der die Länder, welche der jungen Demokratie huldigten, mit Säulenbauten, Säulenhallen und Säulenkaminen ausstattete, so dass man beim Anblick eines solchen Bauwerkes in Zweifel geriet, ob man eine Kirche oder einen Bankpalast vor sich habe. Hier wie dort war man versucht, an die Akropolis zu denken. Reiche Leute hielten es zukünftig für ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihre Kinder in Häusern geboren wurden, die wie griechische Tempel aussahen. Aber irgendwie zeugten alle diese in die Gegenwart herübergeretteten Bauten noch heute für den guten Geschmack ihrer Erbauer.

Eleanor streifte mit einem verwirrten Ausdruck in den Augen Kesters Gesicht. »Ich habe niemals einen schöneren Platz gesehen«, sagte sie leise. »Lassen Sie uns hineingehen.«

Die Haupthalle war weit, geräumig und luftig. Unweit der Eingangstür wand sich eine Wendeltreppe hinauf in den zweiten Stock. An den Wänden hingen große, nachgedunkelte Porträts in kostbaren Rahmen. Eleanor zur Linken sah ein Mann in weißgepuderter Perücke auf sie herab; ihm gegenüber stand eine junge Frau in der hohen Frisur des achtzehnten Jahrhunderts vor blauem Hintergrund. Daneben hing das Bild einer schwarzlockigen Frau in viereckig ausgeschnittenem, dicht unterhalb des Busens gegürtetem Gewand im Stil jener Zeit, da der erste Bonaparte Kaiser von Frankreich war. Eleanor durchschritt langsam den Raum. Am Fuß der Wendeltreppe blieb sie stehen. Dicht über ihr hingen zwei offenbar zusammengehörende Porträts. Das eine zeigte einen jungen Mann in der grauen Uniform der Konföderierten, das andere ein Mädchen in blauem Reifrock. Offenbar hatte dieses Mädchen zu dem Porträt an der gleichen Stelle gestanden, die Eleanor jetzt einnahm, denn dicht hinter ihr zeigten sich die Windungen der Wendeltreppe, und ihre Hand lag auf der Balustrade.

Eleanor wandte sich Kester zu. »Erzählen Sie mir etwas von diesen Menschen«, sagte sie leise; »wer sind sie?«

Kester ließ seinen Blick die Reihe der Porträts entlangschweifen. Seine tiefe Stimme strömte Ruhe und Sicherheit aus, als er dem Mädchen von seinen Vorfahren sprach.

Der Mann in der weißen Perücke war der Erste. Philip Larne, der das Land, das jetzt die Ardeith-Plantage trug, von Georg III. von England für seine Verdienste im französisch-indianischen Krieg als Geschenk erhalten hatte. Die Dame vor dem blauen Hintergrund war seine Frau. Sie waren eines Tages beide in Flachbooten den Mississippi heruntergekommen, damals, als Dampf noch nichts anderes als Dunst war, der aus einer Kesseltülle quillt. Die Frau im Empirekleid hatte in die Larnefamilie hineingeheiratet, in der Zeit, da Louisiana ein Kauf- und Handelsobjekt war. Das Paar aus der Bürgerkriegszeit waren Kesters Großeltern. Der junge Mann war im Kriege gefallen, aber das Mädchen, seine Frau, war eine sehr alte Dame geworden. Kester konnte sich aus seiner Kinderzeit her noch an sie erinnern.

Ach, da waren noch viele Bilder. Er würde sich glücklich schätzen, wenn er sie ihr nach und nach zeigen und ihr ihre Geschichte erklären könnte. Das ganze Haus würde er ihr gerne zeigen. Oh, es war sehr groß, dieses alte Haus, es hatte viele Räume, die keinen anderen Zweck hatten, als dem Besen Bewegung zu verschaffen. Merkwürdigerweise waren es genau dreißig gewesen, außer den Dienerschaftszimmern; einige waren inzwischen zu Toiletten und Badezimmern umgebaut.

Eleanor durchschritt eine Tür auf der einen Seite der Halle und sah sich in einer Bibliothek. In den hohen Buchregalen standen moderne Romane neben gebundenen Bänden von ›Putnam’s Magazine‹ und ›Godey’s Lady’s Book‹, alte Abhandlungen über Baumwollkultur und Romanzen mit erstaunlichen Titeln.

»›Der Fluch von Clifton‹«, las sie laut und schüttelte den Kopf. »›Der Damensalon im Jahre 1841‹.« Sie lachte: »Irgendwann und -wo habe ich von Taschenbüchern dieser Art gehört, aber ich glaube nicht, jemals eins gesehen zu haben. Und wer ist ›Mrs. E. D. E. N. Southworth‹?«

Kester verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Lächeln. »Diese Dame schrieb meines Wissens aufregende Sensationsgeschichten«, versetzte er sarkastisch, »wissen Sie, so’n Zeug, wo Stürme heulen, Schiffe scheitern und unwahrscheinliche Menschen sich mit juwelengeschmückten Dolchen umbringen.« Er hob resigniert die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Meine Familie hat zweifellos ausgezeichnete Qualitäten«, sagte er, »aber sie schwelgt nun mal gern in solch idiotischer Literatur.«

Eleanor legte einen Band von ›Godey’s Lady’s Book‹ vor sich hin und blätterte in den Seiten herum. Sie lächelte amüsiert über die hochtrabenden Phrasen, die ihre Augen auffingen und über die bauschigen, pompösen Gewänder auf den Modeseiten. »Solche Lektüre ist sehr instruktiv«, sagte sie, »wenn man diese Bilder sieht – ich weiß nicht –, es macht den Eindruck, als ob sie sehr selbstsicher waren. Ich möchte annehmen, dass das Leben zu jener Zeit einfacher war.«

Kester lachte sein jungenhaftes Lachen. »Lassen Sie sich nicht täuschen, Miss Eleanor«, sagte er, »ich habe oft in diesen Scharteken gelesen. Sicher habe ich aus einem guten Dutzend dieser ein bis zwei Jahrhunderte alten Bände den Rahm abgeschöpft. Und ich versichere Ihnen, in jedem wird das einfachere Leben der gerade vergangenen Epoche neidvoll bewundert und über die Schwierigkeiten der Gegenwart geklagt.«

»Dann glauben Sie also nicht, dass das Leben im neunzehnten Jahrhundert leichter war als das unsere?«

»Wie sollte das sein? Überlegen Sie einen Augenblick. Die Zeit, die den amerikanischen Bürgerkrieg einschloss, die ostindische Soldatenrebellion und die Belagerung von Paris? Nein, Gnädigste, das glaube ich nicht. Wir meinen, dass die alten Zeiten einfacher waren, weil wir mittlerweile wissen, wie Großvaters Probleme gelöst wurden. Jedes Problem ist einfach, wenn man die Lösung am Schluss eines Buches ablesen kann.«

Sie lachten zusammen. Eleanor stellte den Band Godey’s an seinen Platz zurück und sah sich weiter in der Bibliothek um. Auf dem Mitteltisch lag eine riesige Bibel, deren Deckel durch Metallschließen verbunden waren. Sie fragte, ob sie sie öffnen dürfe; er nickte lächelnd. Die Bibel fiel von selbst in der Mitte auseinander. Sie enthielt hier eine ganze Anzahl druckfreier Seiten zur Aufnahme von Familienurkunden. In vielen voneinander abweichenden Handschriften standen hier die Geburts-, Heirats- und Todesdaten der Larnes verzeichnet. Die Tinte war großenteils von der Zeit gebleicht oder gebräunt. Eleanor überflog, die Seiten langsam umwendend, die verschiedenen Eintragungen.

»Gestorben auf Ardeith-Plantage am 23. September 1810: Philip Larne, geboren in der Kolonie Südkarolina –«, las sie.

»Geheiratet in Dalroy, Louisiana am 4. April 1833 : Sebastian Larne und Frances Durham –«;

»Geheiratet auf Silberwald-Plantage, Louisiana am 6. Dezember 1859: Denis Larne und Ann Sheramy –«;

»Geheiratet in Dalroy, Louisiana am 21. März 1884: Denis Larne II und Lysiane St. Clair.«

»Das sind Ihre Eltern?«, fragte Eleanor.

Kester nickte. Ihr Interesse schien ihn zu freuen; er war weit entfernt davon, seine Heimat und die Geschichte seines Hauses als selbstverständliche Gegebenheit hinzunehmen, und er war naiv genug, sich über die Aufmerksamkeit anderer zu erheitern, die in der Regel nicht frei von heimlicher Bewunderung war.

Eleanor blätterte weiter in den Seiten; sie kam jetzt an die Geburtszeugnisse. Fast am Ende der Spalte las sie:

»Geboren auf Ardeith-Plantage am 18. Februar 1885: Kester Denis Larne, Sohn von Denis Larne II und Lysiane St. Clair.«

Er hatte noch einen jüngeren Bruder und eine Schwester. Ihre Geburtszeugnisse waren die letzten Eintragungen. Eleanor hob mit beinahe scheuem Ausdruck den Blick. »Mir scheint, es ist irgendwie Ehrfurcht gebietend, sich als letztes Glied einer solchen Reihe zu sehen«.

Er schüttelte den Kopf. »Warum? Ich sehe das nicht ein.«

»Oh, ich weiß nicht. Schon das Gefühl, Glied einer endlosen Kette zu sein –«.

Kester lachte: »Aber das sind wir schließlich alle.«

Sie schlossen die Bibel und gingen in die Halle zurück. Bei der Wendeltreppe bückte sich Kester und zeigte ihr den deutlich erkennbaren Abdruck eines Hufeisens im Holz einer Stufe. Man sah, dass die Treppe in jüngerer Zeit einer eingehenden Reparatur unterzogen worden war, aber dieser Hufeisenabdruck war völlig erhalten und noch jetzt unverkennbar. Er war entstanden, als gleich nach dem Bürgerkrieg Nordstaatentruppen das Haus besetzt und geplündert hatten. Da war ein Soldat in die Halle geritten und offenbar auf den Einfall gekommen, die Wendeltreppe hinaufreiten zu wollen. Er erzählte ihr die alte Geschichte mit allen Einzelheiten.

»Es ist bezaubernd, wie Sie das lebendig werden lassen«, sagte Eleanor. »Ich kannte die Geschichte aus der Schule, aber jetzt ist es mir, als sähe ich vor mir, was damals geschah.«

»Wenn man Sie sprechen hört, sollte man denken, Sie kämen aus zehntausend Meilen Entfernung hierher«, lachte Kester; es war augenscheinlich, dass ihr Interesse ihm Spaß machte.

»Ich bin in einem Deichbaulager in West-Feliciana- Parish geboren«, antwortete sie, »das ist eine andere Welt. Aber ich ermüde Sie, wenn ich Sie fortgesetzt erzählen lasse.«

»Ich räume ein, dass es sich bei einer Tasse Kaffee angenehmer plaudert«, versetzte er.

Eleanor lachte; sie war entwaffnet, es war einmal so. Sie durchquerten gemeinsam die Halle und betraten das der Bibliothek gegenüberliegende Wohnzimmer. Es war dies der eigentliche Aufenthaltsraum des Hauses. Er war mit tiefen, bequem gepolsterten Mahagonisofas ausgestattet. An einer Wand stand ein großes Klavier aus Rosenholz, und die moderne Zeit wurde durch einen Fonografen repräsentiert. Ebenso wie die Bibliothek besaß auch dieses Zimmer einen weißen Marmorkamin, aber gegenwärtig brannte kein Feuer hinter dem Messinggitter. In der Nähe des Kamins hing eine Glockenschnur herunter, in der Art, wie sie in den alten Tagen der Dampfboot-Schifffahrt von den Damen verwandt wurden, wenn sie bei einer Reise auf dem Strom stickend im Kreise saßen und sich eine Limonade heraufbringen ließen.

»Geht die Glocke noch?«, fragte Eleanor.

»Ja, gewiss. Warum?« Kester zog an der Schnur. Gleich darauf stand ein schwarz gekleideter Neger in der Tür; er sah aus, wie ein Leichenträger. Kester nannte ihn Cameo. Er befahl dem Mann, Kaffee zu bringen. Cameo näherte sich Eleanor mit grotesk feierlicher Höflichkeit. »Wünschen Sie, Ihren Mantel anzubehalten, Miss?«, fragte er.

Eleanor zog mithilfe des Negers den Mantel aus und reichte ihm ihn. Als Cameo hinausging, bemerkte sie, dass die Tür eine silberne Klinke hatte und in silbernen Scharnieren hing, die in weichem Glanz schimmerten. Jetzt erinnerte sie sich, die gleichen Klinken und Scharniere bereits in der Bibliothek gesehen zu haben. Einen Augenblick stand sie still. Sie tat heute ihren ersten Blick in die Wunderwelt eines der großen Herrensitze, von denen sie schon so viel vernommen hatte. Sie war sich klar bewusst, etwas sehr Wichtiges und Bedeutsames zu erleben, und doch waren alle ihre Sinne wie in heimlicher Abwehr gespannt. Sie begann zu begreifen, warum die Menschen, die Generationen hindurch in der konservierten Atmosphäre derartiger Häuser gelebt und geatmet hatten, so wurden, wie sie sich ihrer Umwelt zeigten. Ihre natürlichen Triebe waren durch die unverletzlichen Regeln einer kultivierten und aufs Äußerste sublimierten Lebenshaltung nach und nach eingedämmt worden, bis schließlich die letzte Unsicherheit schwand; ihre Charaktere waren in dieser abgeschlossenen Welt, in der alles ein für alle Mal feststand, in der jeder von klein auf genauestens wusste, was er zu tun hatte und was von ihm erwartet wurde, bis zur äußersten Glätte abgeschliffen. Das Haus, die Wendeltreppe mit dem Hufeisenabdruck, die Porträts in der Halle und die uralten Eichen vor dem Haus – alles verriet die gleiche ruhige Selbstsicherheit, die sie schon an Kester beobachtet hatte. Ach, es war ziemlich leicht, das zu verstehen, aber es schien eine Welt ohne Zugang.

Kester hatte inzwischen den Fonografen in Betrieb gesetzt und eine moderne Tanzplatte aufgelegt. Er stellte den Apparat ab, als Cameo wieder erschien und ein Tablett mit einem silbernen Kaffeeservice auf einem niedrigen Tischchen vor dem Kamin abstellte. Kester und Eleanor nahmen das Service vom Tablett und sahen einander an; Eleanor goss den Kaffee in die Tässchen.

»Was für ein wundervolles Service«, sagte sie; sie sah, wie der durch die hohen Fenster hereindringende Lichtschein sich in der Kanne spiegelte. »Es sieht aus wie ein Hochzeitsgeschenk.«

»Vermutlich war es eins«, sagte Kester.

»Von Ihrer Mutter?«

»O nein, sehr viel früher. Meine Urgroßmutter dürfte es bekommen haben. Warten Sie, es ist ein Monogramm eingraviert.«

Eleanor drehte die Kanne und fand die Initialen ›F. D. L.‹. »Heißt das Frances Durham?«, fragte sie. »Ich las den Namen zufällig vorhin in der Bibel. Aber entschuldigen Sie –«. Sie brach ruckhaft ab.

»Was denn? Was haben Sie?«

Sie lachte etwas gezwungen: »Es geht mich ja schließlich nichts an. Aber ich sehe eben, da ist einer Ihrer Diener recht unachtsam gewesen. Hier gerade über dem Monogramm ist ein Sprung im Metall.«

Kester betrachtete sie entzückt. »Vierzig Jahre lang ist versucht worden, diesen Sprung zu heilen«, sagte er. »Er wurde durch einen Spaten verursacht, der dagegenschlug, als man das Silber nach dem Bürgerkrieg aus der Erde grub.«

Eleanor stellte die Kanne behutsam zurück. Und wieder fühlte sie sich angeweht von der dichten Atmosphäre dieser fremden Welt, in die sie so unversehens eingedrungen war. Sie sah das Licht in dem alten Silber der beschädigten Kanne blitzen und wusste, dass der Sprung da nicht irgendein Sprung war, dass er sich von irgendwelchen Zufallssprüngen ebenso unterschied wie die kleinen Unregelmäßigkeiten in handgearbeiteter Spitze von den Schludrigkeiten maschinell hergestellter Imitationen.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mir zumute ist«, sagte sie. »Ich blicke in eine ganz neue Welt, und diese Welt ist gänzlich verschieden von allem, was ich bisher kennen lernte. Ich wohne in einem Hause in New Orleans, das vor neun Jahren erbaut wurde, und wir beschweren uns fortgesetzt, weil es nicht modern genug ist.«

»Ich habe mir oft gedacht, es müsste sehr bequem sein, in so einem modernen Hause zu wohnen«, entgegnete Kester. »Zweifellos ist es angenehm, zu wissen, dass die Dachrinnen dicht sind und dass man nicht Gefahr läuft, die Bodentreppe auf den Kopf zu bekommen. Darf ich noch ein Tässchen Kaffee haben?«

Sie füllte ihm die Tasse. »Würden Sie meinen Vater kennen, so würden Sie besser wissen, was ich meine«, fuhr sie fort. »Er ist ganz und gar ein Mensch des Heute, ein typischer Amerikaner, ein Selfmademan, wenn Sie so wollen. Vielleicht können Sie das nicht verstehen: Er ist so stolz, seinen Kindern Möglichkeiten bieten zu können, die er selbst nie gehabt hat.«

»Ich glaube, ich hätte mir das auch ohne Ihre Erklärung gedacht«, sagte er nachdenklich, »seien Sie bitte nicht böse, aber ich brauche doch nur Sie anzusehen. Sie gleichen Ihrem Vater, nicht wahr? Ich meine – auch innerlich?«

Sie runzelte ein wenig die Stirn. »Die Leute sagen es. Ich habe lange für ihn gearbeitet, in den Sommerferien, solange ich im College war, und ständig, seit ich meine Studien beendet habe.«

»Wo waren Sie im College?«

»In Barnard. Und Sie?«

»In Tulane. Waren Sie gern im College?«

Sie lachte etwas verlegen. »Ich weiß nicht. Nicht sehr, glaube ich. Ich bin nicht besonders klug. Und die anderen Mädchen waren – nun ja, so jung. Hätten sie wie ich am Strom gelebt und die oft genug verzweifelten Kämpfe kennen gelernt, die hier von den Männern bei Tag und bei Nacht durchgefochten werden mussten, um die Flut zurückzuhalten, sie hätten wahrscheinlich auch etwas andere Grundlagen für das Leben mitbekommen und würden ein Haarband oder einen Hut nicht mehr für das wichtigste Ding auf Erden halten. Aber ich langweile Sie wahrscheinlich; verstehen Sie überhaupt?«

Ihre Augen begegneten sich; sein Gesicht war jetzt ganz ernst. »Ja«, sagte er, »ich verstehe Sie. Aber ich habe ein Mädchen wie Sie nie gesehen. Bitte, sprechen Sie doch weiter. Erzählen Sie mir mehr von den Mädchen im College. Ich bin sicher, sie bisher mit ganz falschen Augen gesehen zu haben.«

Sie zog in burschikoser Manier die Knie hoch und umschlang sie mit den Armen. »Es ist merkwürdig«, sagte sie, »da war auch eine Wand. Ich verstand sie meistens nicht. Schon die Art, wie sie miteinander zu flüstern pflegten, schien mir sonderbar. Sie sprachen mit geheimnisvollen Mienen über Dinge und Zusammenhänge, die mir zeit meines Lebens selbstverständlich waren. Geburt und Tod sind natürliche Vorgänge in einem Deichbaulager; da gab es für mich kein Geheimnis. Auch das Zelt am Lagerende, das von Frauen bewohnt war und das ich nicht betreten sollte, war für mich weiter nichts Aufregendes. Nein, ich glaube nicht, dass ich jemals sehr mädchenhaft albern war.«

»Gewiss nicht«, versetzte Kester lächelnd, »Albernheit wäre sicher das Letzte, was man einem Mädchen wie Ihnen vorwerfen könnte.« Er saß jetzt wie ein Lausejunge mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden und lauschte hingegeben ihren Worten.

»Fahren Sie fort«, sagte er, »erzählen Sie mir etwas von einem Deichbaulager. Das ist für mich eine fremde Welt, obgleich ich so nahe am Strom wohne.«

Eleanor war merkwürdig zumute. Es war gewiss nicht ihre Art, so viel von sich selber zu reden, aber er war ein Zauberer, er hatte sie behext. Er wollte, dass sie erzählen solle, und sie erzählte. Da war Randa, die Köchin des Deichbaulagers. Sie war eine Negerin und hatte Diamanten in den Zähnen. Eine sonderbare Geschichte. Randas Mann hatte bei der Deichbauarbeit eine Verletzung erlitten und war gestorben. Die Regierung hatte der trauernden Witwe eine Prämie gezahlt. Randa, die Gute, war aber bange vor Glücksjägern, die ihr mit Heiratsabsichten nahen und sie ihres Schatzes berauben könnten. Da sie entschlossen war, sich ihren Reichtum zu erhalten, brachte sie ihn in Gestalt von Diamanten in ihren Zähnen unter. – Eleanor erzählte von Jelli Roll, der auch ein Neger und der Aristokrat des Lagers war. Denn Jelli Roll war so tüchtig, dass er zweieinviertel Dollar am Tage verdiente und es sich leisten konnte, Hemden aus geblümtem Perkal zu tragen. Zweifellos war Jelli Roll ein Genie. Seine Arbeit bestand darin, den Deichabhang zu planieren. Wenn nun die Männer mit den Schaufelloren heraufgekeucht kamen, sagte er ihnen, wo sie den Sand abladen sollten. Seine Kunst bestand in der Schnelligkeit der Berechnung. Er gab seine Anweisungen so schnell und so exakt, dass er nicht nur das Abladen von drei Loren gleichzeitig dirigierte, sondern auch die Verteilung der Sandmassen im gleichen Arbeitsgang vornahm, und zwar mit solcher Genauigkeit, dass hinterher nichts mehr zu ändern war. Fred Upjohn hatte das dutzende Male überprüft; es stimmte immer, drei zu eins auf der Innenseite, vier zu eins auf der Außenseite. »Ich mag Leute gern, die ihre Arbeit korrekt und ordentlich tun«, sagte Eleanor, »und hier liegt einer der Gründe, warum ich meinen Vater so bewundere. Pa baut die besten Deiche am Strom. Seine Sorgfalt und seine Exaktheit sind, glaube ich, einmalig. Er studiert mit nicht mehr zu überbietender Gründlichkeit die Beschaffenheit: Die Bodenformation, bevor er einen Spatenstich tun lässt. Form und Gestalt des Deiches stehen bei ihm bis in die kleinste Einzelheit fest, bevor er auch nur einen Löffel Erde bewegt.«

»Wissen Sie«, sagte Kester, »ich habe mein ganzes Leben am Strom zugebracht, aber jetzt, wo ich Sie darüber sprechen höre, ist es mir, als sähe ich das alles mit neuen Augen und finge eben an, die ersten Grundbegriffe zu lernen. Ich habe, glaube ich, zeit meines Lebens nur in Baumwolle gedacht.«

»Aber das mussten Sie doch«, entgegnete sie eifrig. »Das ist ja Ihre Sache. Was geht Sie der Deichbau an? Sind Sie gern Pflanzer geworden?«

»Sie fragen mich Dinge, über die ich niemals nachgedacht habe.« Kester schüttelte langsam den Kopf. »Das alles war immer ganz selbstverständlich, es stand nie in Frage. Mein Bruder Sebastian wollte von Anfang an Kaufmann werden. Also blieb mir die Plantage und Sebastian ging nach New Orleans.«

»Was tut er dort?«

»Er verkauft, was Ardeith erzeugt; er ist Baumwollmakler.« Kester stand auf und reckte sich. »Er versteht sein Geschäft, glaube ich. Ein prachtvoller junger Mann, sage ich Ihnen. Und der Einzige von uns, der gescheit genug ist, die Baumwolle für sich arbeiten zu lassen, während wir für die Baumwolle arbeiten.«

Er lehnte sich mit den Ellenbogen gegen die Marmorverkleidung des Kamins und betrachtete das Mädchen mit unverändertem Entzücken. Eleanor, das Kinn auf den über den Knien verschränkten Händen, hob ihre Augen und erwiderte seinen Blick. »Sie haben es nicht nötig, sich mit Späßen zu rechtfertigen«, sagte sie, »ich kann, glaube ich, nachfühlen, was in Ihnen vorgeht. Sie lieben den Platz und die Arbeit, zu der Sie gehören, und schämen sich, zuzugeben, was Ihnen beides bedeutet.«

Er nickte, halb stolz, halb verlegen; in seinen Augen stand ehrliche Bewunderung. »Ja, Miss Eleanor«, sagte er mit einer Stimme, die ernster, verhaltener klang als bisher, »ja, ich liebe Ardeith; warum sollte ich das nicht gestehen. Aber es ist so, dass ich mich als ein Teil dieses Besitzes fühle. Es ist mir völlig unmöglich, mich selbst und Ardeith auseinanderzudenken. Und ich schäme mich gar nicht, Ihnen das zu sagen, obgleich es nicht viele Leute gibt, denen ich so etwas mit dürren Worten sagen würde.«

Eine Pause trat ein. In Eleanor wuchs noch immer das sonderbare Gefühl heimlicher Vertrautheit, das nach ihr gegriffen hatte, als sie Kester Larne zum ersten Mal lachen sah. Die Schatten in den Ecken des großen Raumes begannen sich zu verdichten, aber Kesters Gestalt stand als klarer Umriss vor dem Kamin, als ob das ganze Licht der scheidenden Sonne sich gesammelt hätte, um seine kraftvolle Männlichkeit sichtbar zu machen. Er hat recht, dachte sie, er gehört ebenso zu Ardeith, wie das Haus, in dem er lebt, wie die Eichen, die es umschatten, es ist nicht möglich, sich ihn ohne diesen seinen ureigensten Hintergrund zu denken. Obwohl er reglos am Kaminsims lehnte, war sie sich seiner fordernden Gegenwart scharfsinnig bewusst. Sie stellte sich vor, wie er in einen mit vielen Menschen angefüllten Raum treten würde; sogleich musste alles in diesem Raum unwichtig werden durch die bloße Tatsache seines Erscheinens. Es fiel ihr wieder ein, was ihr Vater über die Larnes gesagt hatte. Er weiß gar nichts über sie, dachte sie, er weist sie einer bestimmten Kategorie zu, aber das ist ganz abstrakt, die Wirklichkeit ist immer ganz anders. Aber was immer es auch mit dem Geschlecht der Larnes auf sich haben mochte, zweifellos war Kester ein gut aussehender junger Mann, der nicht nur selber bezaubernd war, sondern darüber hinaus die viel seltenere Gabe besaß, andere Menschen zu bezaubern. Er gefällt mir, dachte sie, es hat keinen Sinn, es mir ableugnen zu wollen, er gefällt mir wirklich!

Sie erhoben sich beide, als Geräusche von draußen hereindrangen. Eleanor schrak unwillkürlich zusammen, mit einem kleinen Schuldbewusstsein, als hätte man sie über einer ihrer nicht würdigen Haltung ertappt. Kester hatte sich der Tür zugewandt.

»Sie bekommen Besuch?«, fragte sie.

Er lächelte, sehr verbindlich plötzlich und sehr wohlerzogen. »Nein«, sagte er, »meine Eltern. Sie kommen von ihrem Ausgang zurück. Ich werde sie holen.«

Er durchquerte den Raum, ging hinaus und kam nach wenigen Augenblicken mit seinen Eltern zurück. Die Vorstellung ging schnell vonstatten.

Das Erste, was Eleanor beim Anblick von Mr. und Mrs. Larne einfiel, war: Sie sehen wundervoll aus. Dies war ein Gefühlseindruck; was darüber hinaus sogleich ins Auge fiel, war: Sie sahen sich ähnlich. Sie waren beide groß und schlank und bewegten sich in der gleichen, seltsam anmutigen Weise. Beide sprachen sie mit weichen, melodischen Stimmen, beide wirkten sie sehr gepflegt und sehr distinguiert und beide hinterließen sie den Eindruck sehr charmanter, sehr liebenswürdiger, leider gänzlich unnützer Wesen.

Mr. Larne bestand darauf, dass die junge Dame ein Glas Cherry mit ihnen trinken müsse. Als sie ein wenig unschlüssig zögerte, aus dem unsicheren Gefühl heraus, dass die Larnes vielleicht für sich allein sein möchten und nur einem Gebot anerzogener Höflichkeit folgten, indem sie sie zum Bleiben nötigten, versicherte Mr. Larne mit unwiderstehlichem Charme, dass Kester leider sehr selten auf den reizenden Einfall käme, so eine entzückende junge Dame mitzubringen, und dass es ihn ungemein schmerzen würde, auf ihre Gesellschaft verzichten zu müssen.

Da gab sie denn nach. Sie setzte sich wieder, verwirrt und ein wenig betäubt und nicht ohne ein heimlich belustigtes Prickeln: Meinen diese Leute eigentlich, was sie sagen? Wahrhaftig, es war nicht festzustellen. Sie beschloss, ein Glas Cherry zu trinken und dann zu gehen. Mrs. Larne gab ihren großen Federhut einem Mädchen; Cameo erschien und brachte eine Karaffe und Gläser.

Denis Larne II und Lysiane St. Clair, erinnerte sich Eleanor. Dies also war Kesters Vater. Ein Gentleman, ohne Zweifel! Ein Mann, bei dem jedes Ding im Leben seinen unverrückbar festen Platz hatte. Sicherlich kannte er die guten Weinjahrgänge und die besten Zigarren. Sicherlich konnte er geistvolle Stellen aus modernen Romanen zitieren, liebte Debussy und hatte eine Vorliebe für moderne Tanzmusik. Zweifellos besaßen er und Lysiane ein klares Urteilsvermögen und verstanden es, eine Atmosphäre von Bildung und Wohlerzogenheit um sich zu verbreiten, aber wie, um alles in der Welt, hatte dieses zerbrechliche Porzellan-Paar einen Mann wie Kester hervorbringen können?

»Sie weilen auf Besuch in der Nachbarschaft, Miss Upjohn?«, fragte Denis Larne, während er ihr den Cherry kredenzte.

Eleanor rief ihre Gedanken zur Ordnung: »Ja. Ich wohne in New Orleans.«

»In New Orleans. Ich dachte es mir. Ich glaube, Ihre Familie zu kennen, obgleich ich zu meiner Beschämung im Augenblick nicht weiß, wo ich sie unterbringen soll.«

Eleanor lächelte: »Sie werden von meinem Vater gehört haben. Er baut den neuen Deichabschnitt, der die Ardeith-Plantage begrenzt.«

»Oh, sehen Sie an. Ich glaube, etwas in der Art hatte ich in Erinnerung.« Und er reichte ihr mit einer zierlichen Verneigung das Glas.

»Wie das schimmert!« Eleanor hielt das Gläschen hoch, dass die vom Fenster hereindringenden rötlichen Strahlen sich in dem Kristall und in der roten Glut des Cherrys brachen.

Lysiane stimmte lächelnd zu. »Ich habe oft gesagt, dass ich mir nichts aus solchen Getränken machen würde, wenn ich sie nicht sehen könnte.« Sie sah zu Kester hinüber, der wieder am Kamin lehnte: »Ist Post eingegangen, mein Lieber?«

»Ja, Madam, ein paar Briefe aus New Orleans. Vermutlich Einladungen zu Karnevalsbällen.«

Bei dem Wort Karneval hellte sich Mr. Larnes Gesicht um eine Nuance auf. »Ach, es wird auch Zeit, dass wir nach New Orleans zurückkehren«, bemerkte er.

Eleanor blickte überrascht auf: »Sie leben nicht hier?«

»Vaters Gesundheit lässt etwas zu wünschen übrig«, erklärte Kester. »Meine Eltern haben deshalb schon vor ein paar Jahren die Bearbeitung der Plantage abgegeben und leben seitdem in New Orleans. Sie kommen nur über Weihnachten nach Ardeith herauf.«

»Oh!« Sie war wohl ein wenig überrascht; ihr Blick streifte Kesters Gesicht: »Ist es da nicht oft sehr einsam für Sie in dem großen Haus?«

»Warum? Nein!« Er lächelte sie an.

»Meine Liebe«, sagte Mrs. Larne, »Sie kennen das nicht. Entweder befindet sich Kester außerhalb des Hauses, oder er hat es voller Leute. Allein ist er schwer zu denken, er muss immer Menschen um sich haben.«

»Mögen Sie keine Menschen um sich herum?«, fragte Kester.

»Oh, einige schon, selbstverständlich. Aber beileibe nicht jeden.«

»Denken Sie an, ich wohl«, sagte Kester. »Klug oder dumm, es macht mir nichts aus. Kluge Leute sind unterhaltend, und dumme verschaffen mir ein erfreuliches Überlegenheitsgefühl.«

Lysiane strahlte ihn an; auch sie, die Mutter im Banne seiner Unwiderstehlichkeit.

»Wo seid ihr eigentlich während des ganzen Nachmittages gewesen?«, fragte Kester.

Lysiane verzog ein wenig den noch immer reizvollen kleinen Mund. »Oh«, sagte sie, »wir haben einige Besuche gemacht und waren zuletzt bei Sylvia.«

Denis hüstelte; offenbar amüsierte er sich.

»Verzeihen Sie, Miss Eleanor«, sagte Kester, »aber wir haben so viele Vettern und Basen, dass es schwer ist, sie auseinanderzuhalten. Und es sind ein paar nicht eben erfreuliche Typen darunter.«

»Was meinen Sie, Miss Upjohn«, lächelte Denis Larne, »sind Vettern und Basen nicht überall die gleiche Rasse?«

»Ich weiß nicht«, sagte Eleanor, »ich habe keine.«

»Keine Vettern?«, rief Kester. Der Zustand schien ihm unfasslich.

»Nein«, versetzte Eleanor ruhig, »da sowohl mein Vater als meine Mutter keine Geschwister haben.«

Kester ließ einen Seufzer hören. »Offenbar ahnen Sie nicht, wie glücklich Sie wegen dieses Mangels zu preisen sind«, sagte er.

Eleanor sah ihn etwas verwundert an. »Warum? Ich denke es mir im Gegenteil sehr nett, eine große Familie zu haben. Selbst hatte ich mich insoweit nie zu beklagen, weil ich fünf eigene Geschwister habe, aber meine Mutter, die ganz allein aufgewachsen ist, beklagt sich noch jetzt oft darüber.«

»Und sie hat zweifellos recht«, sagte Lysiane. »Ich denke es mir entsetzlich, ganz einsam zu sein, ohne einen Menschen, der zu einem gehört. Wo ist Ihre Frau Mutter aufgewachsen? Bei entfernten Verwandten?«

Eleanor erwiderte den freundlich forschenden Blick der alten Dame mit ruhiger Höflichkeit: »Nein, Madam, in einem Waisenhaus in New Orleans.«

In Lysianes Augen trat ein Ausdruck hilflosen Entsetzens. »Nicht möglich!«, stammelte sie.

»Oh, es war wohl nicht gar so schlimm«, versetzte Eleanor gleichmütig. »Mutter sagt immer, man sei dort sehr gut zu den Kindern gewesen.«

»Die Zeiten waren so schwierig«, seufzte Mr. Larne, offensichtlich bemüht, eine Brücke zu finden, »jedermann war damals in Verlegenheiten, die er nicht zu meistern wusste.«

»Oh, ich erinnere mich«, fiel seine Gattin ein, »es war die Zeit der politischen Abenteurer. Ich denke mit Schrecken daran. Als ich ein kleines Mädchen war, war ein neues Kleid ein außerordentliches Ereignis.«

Eleanor dachte an das vergrabene Kaffeeservice. »Es muss eine fantastische Zeit gewesen sein«, sagte sie. »Wir sprachen vorhin noch darüber, dass die ›gute alte Zeit‹ wohl auch ihre besonderen Schwierigkeiten gehabt hat.«

»Zweifellos«, sagte Kester. »Ich für meine Person bin jedenfalls froh, jetzt zu leben. Möchten Sie das von sich selbst nicht auch sagen, Miss Eleanor?«

»Ich habe, offen gestanden, niemals darüber nachgedacht«, erwiderte Eleanor. »Jedenfalls bin ich froh, nicht die Kleider von damals tragen zu müssen. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste immer in solchen Reifröcken und Turnüren herumlaufen – es wäre entsetzlich!«

»Ich kann es gar nicht«, erklärte Lysiane. »Allerdings kann ich mir auch nicht vorstellen, wie man in einem so engen Rock laufen kann, dass man fast an den Füßen gefesselt ist.«

Eleanor lachte. »Nun«, sagte sie, »in einem engen Rock kann ich immerhin sitzen, aber ich habe nie begriffen, wie man mit einer Turnüre unter dem Kleid sitzen konnte.« Sie stellte ihr Glas auf das Tablett. »Mrs. Larne« – sie erhob sich – »es war sehr liebenswürdig von Ihnen, mich zu bewirten, aber nun muss ich gehen.«

Lysiane fragte höflich, ob sie nicht noch zum Abendessen bleiben wolle, aber Eleanor dankte. Sie verabschiedete sich von den alten Herrschaften, und Kester brachte sie zum Auto zurück, nachdem Cameo ihr in den Mantel geholfen hatte.

Während sie dem Lager zufuhren, sprachen sie nicht viel. Nur kurz vor dem Ziel sagte Kester:

»Darf ich Sie morgen wiedersehen?«

Sie lächelte: »Das wäre ein wenig schnell.«

»Keineswegs zu schnell«, sagte er. »Ich habe Jahre gewartet, um einem Mädchen wie Ihnen zu begegnen, einem Mädchen, das einen ganzen Nachmittag zubringen kann, ohne an ihrer Frisur oder an ihrer Kleidung herumzuzupfen. Also? Morgen?«

»Gut«, sie lachte überwunden, »um drei. Bis dahin muss ich arbeiten.«

»Ich werde um drei Uhr zur Stelle sein.«

Er ließ das Auto am Uferdamm halten und geleitete sie bis zum Zelt. »Teufel! Was ein Mädchen!«, sagte er, als er zum Auto zurückging. Und er begann vergnügt, den ›Horseshoe Rag‹ vor sich hin zu pfeifen, wie ein junger Mann, der mit sich und der Welt zufrieden ist.

ZWEITES KAPITEL

1

Fortan sahen Kester und Eleanor sich fast jeden Tag. Freilich immer erst am Nachmittag, denn Eleanor war weit entfernt davon, ihre Arbeit zu vernachlässigen; dennoch war etwas sehr entscheidend anders geworden. Zum ersten Mal, seit sie als Sekretärin bei ihrem Vater tätig war, ertappte sie sich dabei, von Zeit zu Zeit auf die Uhr zu sehen. Bisher hatte es für sie nur den Vater und die Arbeit gegeben; sie war nachmittags ins Freie gegangen, um sich zu erholen und sich etwas Bewegung zu verschaffen; plötzlich war ihr der Vormittag zu einer Art melancholischem Vorspiel geworden für die im Fluge dahineilenden Stunden, die sie mit Kester Larne zusammen sein würde, und selbst lange, bevor sie ihn erwarten konnte, war ihre Aufmerksamkeit schon zerstreut.