American War - Omar El Akkad - E-Book

American War E-Book

Omar El Akkad

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Beschreibung

»American War« - das Buch der Stunde. »Ein gewaltiger Roman«, schreibt die renommierteste Literaturkritikerin der USA, Michiko Kakutani. Ein Roman über den nächsten amerikanischen Bürgerkrieg und das dramatische Schicksal einer Familie. Was wird sein, wenn die erschütternde Realität der Gegenwart - Drohnenangriffe, Folter, Selbstmordattentate und die Folgen von Umweltkatastrophen - mit aller Gewalt in die USA zurückkehrt? Vor diesem Hintergrund entfaltet Omar El Akkad mit großer erzählerischer Kraft den dramatischen Kampf der jungen Sarat Chestnut, die beschließt, mit allen Mitteln für das Überleben zu kämpfen. »American War« ist in den USA ein literarisches Ereignis, das schon jetzt mit Cormac McCarthy »Die Straße« und Philip Roth »Verschwörung gegen Amerika« verglichen wird.

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Seitenzahl: 608

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Omar El Akkad

American War

Roman

Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottiKarten: Die Vereinigten Staaten um 2075 / Die Freien Südstaaten um 2075PrologI. April 2075 St. James, Louisiana1. KapitelAmtliches Handbuch für den Schulunterricht – Geschichte, achtes Modul: Der Zweite Amerikanische Bürgerkrieg2. KapitelDer Ruf unseres Blutes: Botschaften aus dem Süden der Rebellen3. KapitelWie die Union zerfiel: Frühe Presseberichte aus dem Zweiten Bürgerkrieg4. KapitelAugenzeugenberichte aus dem Zweiten Amerikanischen Bürgerkrieg: Band II, 2074–2080II. Juli 2081 Iuka, Mississippi5. KapitelNicht atmen, nicht hoffen Die wahre Geschichte der Kriegsquarantäne in South Carolina6. KapitelSoldat des Nordens – Lehrjahre zwischen Krieg und Frieden: Lebenserinnerungen von General Joseph Weiland jr.7. KapitelEine Ansprache von Kaseb Ibn Aumran, Präsident der Bouazizi-Union, gehalten an der Ohio State University (4. Juni 2081)8. KapitelAkten des Kriegsministeriums – Abschliessende Entscheidungen über EntschädigungsansprücheIII. Oktober 2086 Lincolnton, Georgia9. KapitelEin Schuss in Halfway Branch: Leben und Tod des Generals Joseph Weiland10. KapitelProtokolle des Senats-Sonderausschusses für aufständische und sezessionistische Aktivitäten – Aussage des Leiters des Kriegsministeriums Joseph Weiland jr.11. KapitelProjekt Bürgerkriegsarchiv – Briefe von Gefangenen aus Sugarloaf (geprüft/keine Verschlusssache)12. KapitelGefundenes Fressen: Tagebuch eines ehemaligen Anwerbers aus dem SüdenIV. Januar 2095 Lincolnton, Georgia13. KapitelEin achtbares Ergebnis, eine Ermutigung für alle: Zeitzeugen über die Verhandlungen zur Wiedervereinigung14. KapitelProjekt Bürgerkriegsarchiv – Feierlichkeiten anlässlich des Wiedervereinigungstages Einladungsschreiben (geprüft/keine Verschlusssache)15. KapitelAnhörung vor dem Ausschuss für Aufklärung und Wiedervereinigung, 163. Kongress (1. Dezember 2123)16. KapitelDanksagungAnmerkungen der Übersetzer

Für meinen Vater

Der, welchen du strafen musst, ist der, welcher dich straft.

Kitab al-Agani (Buch der Lieder)

Mein Erbe ist wie der sprenklicht Vogel, um welchen sich die Vögel sammeln. Wohlauf und sammelt euch, alle Feldtier, kommet und fresset.

Jeremias 12,9

Prolog

Als ich jung war, sammelte ich Postkarten. Ich hatte sie in einer Schuhschachtel unter dem Waisenhausbett. Später, als ich in meine erste eigene Wohnung in New Anchorage zog, steckte ich die Schachtel ganz unten in ein altes Ölfass in dem windschiefen Werkzeugschuppen. Ich fand immer, für jemanden, der fast sein ganzes Leben damit zubrachte, die Geschichte des Krieges zu erforschen, waren diese Momentaufnahmen aus einer verklärten, heiteren Welt ein schönes Gegengewicht, ein Ausgleich.

Manchmal überlegte ich, ob ich das Ölfass wegschaffen sollte. Ich machte mir Sorgen, dass jemand es sehen könnte, ein Kollege von der Universität vielleicht, und für eine Art aufsässiges politisches Statement halten, wie die Sezessionistenfahnen, die im Stammland der Roten mancherorts wehen, oder die verrosteten Straßenkreuzer vor den Häusern – machtlose Andenken an die Rebellion, Symbole einer zerstörten und zerstörerischen Vergangenheit. Schließlich stammte ich selbst aus dem Süden. Und auch wenn ich schon mit sechs Jahren auf neutralen Boden gekommen war und nie mit einer Menschenseele über mein Leben vor dieser Zeit gesprochen hatte, war es doch nicht ganz unvorstellbar, dass einer meiner Kollegen insgeheim überlegte, ob nicht ein wenig rotes Rebellenblut in meinen Adern floss.

Meine liebsten Postkarten stammen aus den 2030er und 2040er Jahren, den beiden letzten Jahrzehnten, bevor der Planet sich gegen das Land wandte und das Land gegen sich selbst. Es waren Bilder von den großen Ozeanstränden, bevor der ansteigende Meeresspiegel sie verschlang; Bilder aus dem Südwesten des Landes, bevor nur Asche davon blieb; Fotografien von den endlosen Ebenen des Mittleren Westens, menschenleer unter strahlend blauem Himmel, bevor sich in der großen Wanderung all die vielen, die ihre Heimat an den Küsten verloren hatten, hier niederließen. Bilder, die an ein Amerika erinnerten, wie es in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts gewesen war: überschäumend und übermütig, selbstvergessen, als gäbe es kein Morgen.

Ich weiß noch, wie ich meine erste Ansichtskarte kaufte. Es war eine Aufnahme des alten Anchorage. Auf der Uferpromenade der Stadt liegt dick der frisch gefallene Schnee, auf dem Wasser schwimmen Eisschollen, die Sonne steht tief hinter den Bergen.

Ich war sechs, als ich meinen ersten echten Sonnenuntergang in Alaska sah. Ich stand auf Deck des Schmugglerschiffs, ein sonnenverbrannter Junge aus Georgia, ein Flüchtling. Ich weiß noch, wie sich die merkwürdigen weißen Flocken auf meinen Wimpern anfühlten und wie ich unwillkürlich mit den Zähnen klapperte – zum ersten Mal im Leben war mir kalt. Ich sah über den Bergspitzen die gefrorene dottergelbe Scheibe am Himmel hängen, und es kam mir vor, als sei ich am äußersten Ende der belebten Welt angelangt. Dem Ort, an dem jede Bewegung zum Stillstand kommt.

***

Ich gehöre zu dem, was man die Generation der Wunder nennt: diejenigen, die zwischen dem Beginn des Zweiten Amerikanischen Bürgerkrieges im Jahr 2074 und dessen Ende 2095 zur Welt kamen. Manche fassen den Begriff auch weiter und schließen die Kinder der zehnjährigen Seuchenzeit ein, die auf das Kriegsende folgte. Es ist eine alte Sitte in diesem Land, Generationen nach den Kriegen zu benennen, in denen sie hätten sterben sollen, und da bildet die Meine keine Ausnahme. Wir sind die wenigen, die dem Wüten der Selbstmordattentäter entgangen sind, der Willkür der Kriegsvögel; diejenigen, die rechtzeitig in gut bestückte Keller gebracht wurden, in Unwetterschutzräume, bevor die Pest der Wiedervereinigung sich über den ganzen Kontinent ausbreitete. Die paar, die einfach nur Glück hatten.

Mein ganzes Berufsleben habe ich mit dem Studium des blutigen Krieges zugebracht, des Krieges, den dieses Land gegen sich selbst führte. Ich habe Aufsätze für Fachzeitschriften geschrieben und Artikel für die Massenblätter, habe den Vorsitz bei unzähligen Symposien und Workshops geführt. Ich habe alles gelesen, was an Quellenmaterial erhalten ist: Kongressakten, Aufzeichnungen von Zeitzeugen, die grausigen Berichte der Überlebenden der Seuche. Ich habe die Schrecken des Wiedervereinigungstages rekonstruiert, an dem es einem der letzten Rebellen des Südens gelang, sich in die Hauptstadt der Union zu schleichen und dort die Saat jener Krankheit auszusäen, die das Land in zehn entsetzliche Jahre des Sterbens stürzte. Schätzungen zufolge sind elf Millionen Menschen im Krieg umgekommen und beinahe zehnmal so viele durch die Seuche danach.

Ich habe Berge von Briefen bekommen, von Lesern und Kritikern, die jede erdenkliche historische Einzelheit anzweifelten – ob etwa die Rebellen tatsächlich für dieses oder jenes Selbstmordattentat verantwortlich waren; ob das Massaker von Da-und-da tatsächlich so schlimm war, wie die Propaganda des Südens behauptete. In meinen Aktenschränken finden sich Hunderte solcher Schreiben, allesamt Variationen desselben Themas: dass ich, ein wohlbehüteter Bewohner von New Anchorage, privilegierter Bürger des neutralen Nordens, der nie an einer echten Schlacht teilgenommen habe, von diesem Krieg nicht die geringste Ahnung hätte.

Aber dafür weiß ich Dinge, die kein anderer weiß. Ich weiß es, weil sie es mir erzählt hat. Und nun, da ich es weiß, bin auch ich darin verstrickt.

***

Jetzt, fast am Ende meines Lebens angekommen, habe ich mir all die Erinnerungsstücke an meine jungen Jahre noch einmal angeschaut. Vor kurzem ist mir jene allererste Ansichtskarte in die Hand gekommen. Über hundert Jahre ist es nun her, seit die Fotografie entstanden ist; bis auf das Meer und die Berge ist alles, was darauf zu sehen ist, verschwunden. New Anchorage, eine weitläufige Ansammlung flacher Gebäude und wohlhabender Vorstädte, die sich an den Fuß der Hügel schmiegen, ist im Laufe der Jahre immer weiter landeinwärts gewandert. Die Docks, in denen ich seinerzeit als entwurzelte Kriegswaise ankam, sind seither mehrfach zurückverlegt und neu befestigt worden. Und wo einst Anleger aus knorrigem Holz waren, sind jetzt modulare Plattformen, die man leicht ab- und ein Stück weiter oben neu aufbauen kann. Schwere Stürme kommen ohne jede Vorwarnung.

Manchmal gehe ich am Hafen von New Anchorage spazieren, vorüber an Werft und Kais. Näher kann ich dem Punkt jetzt nicht mehr kommen, an dem ich einst neutralen Boden betrat, wenn ich mich nicht von einem der Boote, die zu den Wracks ausfahren, mitnehmen lassen will. Mein Arzt sagt, regelmäßige Spaziergänge sind gut für mich, und ich soll ruhig an die frische Luft gehen, wenn ich keine Schmerzen dabei habe. Wahrscheinlich sind das die harmlosen Geschichten, die er all seinen todkranken Patienten erzählt, denen, die schon lange den Schritt vom »Das ist gut für Sie« zum »Kann Ihnen nicht schaden« gemacht haben.

Eine seltsame Sache, das Sterben. So viele Jahre lang habe ich geglaubt, es würde von einem Tag auf den anderen vorbei sein, irgendwann, wenn die Seuche auch in den Norden, auf neutralen Boden, vorgedrungen war oder wenn die Roten von neuem rebellierten und eine neue Runde des Brudermords begann. Stattdessen bin ich nun zur gewöhnlichsten Form des Sterbens verurteilt, einer zu großen Zahl zu schlecht funktionierender Zellen. Ich habe einmal gelesen, dass ein nicht zu gefräßiger Krebs, rein praktisch gesprochen, gar keine so schlechte Todesform ist – nicht so langwierig, dass man jahrelang leiden muss, aber doch so, dass die Zeit bleibt, alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen – zu sagen, was gesagt werden muss.

***

Geschneit hat es schon seit Jahren nicht mehr, aber manchmal kriecht Ende Januar ein klein wenig Frost die Fensterscheiben hinauf. An solchen Tagen gehe ich gern hinaus ans Wasser und sehe mir die Dampfwolken meines Atems an. Ich fühle mich unbeschwert. Ich fürchte mich nicht mehr.

Ich stehe am Ende der Hafenpromenade und schaue hinaus aufs Wasser. Ich denke an all das, was es genommen hat, und all das, was mir genommen wurde. Manchmal starre ich stundenlang hinaus aufs Meer, sogar wenn es längst dunkel ist, so lange, bis ich anderswo angelangt bin, an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit: wieder in dem geschundenen Land der Roten, in dem ich geboren bin.

Und dann sehe ich auch sie wieder, wie sie aus dem Wasser steigt. Sie ist noch genau, wie ich sie in Erinnerung habe, ein massiger brauner Leib, der Rücken zerfurcht von aschgrauen Narben, und jede einzelne legt Zeugnis ab von der Folter, die sie erdulden musste, den Verbrechen, die man ihr in den Verliesen angetan hat. Sie steigt aus dem Wasser, ein Fels aus Fleisch, wiedergeboren aus dem offenen Schoß des Savannah. Und ich bin wieder ein Kind, weiß noch nichts davon, wie ich schon bald meinen Eltern, meinem Zuhause entrissen, wie ich verraten werde. Ich bin wieder zu Hause am Fluss, und ich bin glücklich, und ich liebe sie noch. Das ist mein Geheimnis – dass ich sie liebe bis zum heutigen Tag.

Dies ist keine Geschichte über den Krieg. Es ist eine Geschichte über Zerstörung.

I.April 2075St. James, Louisiana

1. Kapitel

Damals war ich glücklich.

***

Die Sonne brach durch einen Pilgerzug aus Wolken und schaute mit unerbittlichem Auge herab auf das Mississippimeer.

Das Wasser stand braun und reglos am Ufer. Die See riss ihr Maul auf bis weit über das zerstörte Marschland, Jahr für Jahr fraß das Wasser mehr von dem Schlick und dem Sand und dem Lehm fort, bis die Fundamente der alten Farmhäuser am Fluss, der Kunststofffabriken und der Bahndämme nachgaben. Bevor die Häuser schließlich ins Wasser rutschten, holten die letzten Deltabewohner – die, die ausharrten – noch alles Brauchbare heraus. Das Wasser verschlang das Land. Im Südosten blieb von der einst ruhmreichen Stadt New Orleans nur noch ein großer Tümpel, umgeben von Deichen. Das Taufbecken für ein neues Amerika.

Ein kleines Mädchen, sechs Jahre alt, saß auf der Veranda seines Elternhauses unter einem Vordach aus Holzschindeln. Es hielt ein Plastikgefäß mit Honig in der Hand, geformt in Gestalt eines Bären. Aus dem Ausgießer oben auf dem Bärenkopf floss goldene Flüssigkeit auf die billigen Bodendielen aus Kiefer.

Das Mädchen ließ den Honig in die tiefen Astlöcher der Dielen rinnen und verfolgte die Schlängelbewegungen, mit denen er sich den Konturen seiner neuen Umgebung anpasste. Das ist ihre früheste Kindheitserinnerung, der Anfang von allem für sie.

Und so will ich in den Augenblicken, in denen die Bitterkeit nachlässt, gern an sie zurückdenken. Als Kind.

Ich wünschte, ich hätte sie damals gekannt, damals als sie noch heil war.

»Was fällt dir ein, Sara Chestnut?«, schimpfte die Mutter des Mädchens von der Tür des Transportcontainers her, der für die Chestnuts ihr Zuhause war. »Habe ich dir gesagt, du sollst Sachen vergeuden, die nicht zum Vergeuden da sind?«

»Entschuldige, Mama.«

»Hast du gearbeitet, damit wir diesen Honig kaufen können, hm? Nein, ich glaube nicht. Geh jetzt und hol deine Schwester, und dann ab zum Frühstück, bevor euer Daddy losmuss.«

»Okay, Mama«, sagte das Mädchen und reichte den halbleeren Honigbären zurück. Sie duckte sich an der Mutter vorbei, die ihr dabei den Staub vom Po ihres Fleur-de-Lys-Kleids klopfte.

Das Mädchen hieß Sara T. Chestnut, aber sie selbst nannte sich Sarat. Der Name war aus einem Missverständnis in der Schule entstanden, Anfang des Jahres. Die neue Lehrerin hatte aus Versehen die mittlere Initiale als letzten Buchstaben des Vornamens gelesen – Sarat. Für die Ohren des kleinen Mädchens klang der Name genau richtig. Sara, das verschwand einfach, ein ahh, das sich in Luft auflöste. Sarat endete mit einem Klacken, wie eine Bärenfalle, die zuschnappt. Ein paar Monate später machte die Schule zu, die meisten Lehrer und Schüler flohen nach Norden vor dem heranrückenden Krieg. Aber der Name blieb.

Sarat.

––––

Hundert Fuß abseits vom westlichen Flussufer lebten die Chestnuts in einem Wellblechcontainer, einem Beutestück vom Werftgelände nicht weit ab. Keilförmige Stahlplatten, wiederum in Betonblöcke im Erdboden eingegossen, dienten dem Haus als Fundament. Brauner Rost breitete sich langsam von den Kanten her aus, vorangetrieben von der ewigen Feuchtigkeit.

Ein Spalier aus altmodischen Sonnenkollektoren bedeckte das ganze Dach bis auf eine Ecke, in der sie in einem Tank Regenwasser sammelten. Bei den Kollektoren lag eine wasserfeste Plane. Wenn ein Unwetter kam, spannten sie die Plane über das Dach, mit Seilen an allen vier Enden, die sie an Haken festzurrten. Sie lenkten das Wasser von den Zellen in den Tank oder ließen es, wenn der Tank voll war, auf den Boden und zum Fluss weiter unten abfließen, und so bekamen sie Trinkwasser und schützten zugleich ihr Zuhause vor Rost und Verfall.

In manchen Winterstürmen suchte die ganze Familie Zuflucht auf der Veranda; das Vordach hing durch, es tropfte, aber es ersparte ihnen den unerträglichen Lärm, der bei schwerem Regen im Inneren des Containers dröhnte, wie die Steeldrums bei einem Calypso.

Im Sommer, wenn im Haus Temperaturen wie in einem Schmelzofen herrschten, verbrachten sie die meiste Zeit draußen. Diese lange, sengende Sommerzeit, die von März bis Mitte Dezember anhielt, war für Sarat, ihre Zwillingsschwester Dana und ihren älteren Bruder Simon die glücklichste Zeit ihrer Kindheit. Die Kinder, von den Eltern aus der Ferne im Auge behalten, holten mit Eimern Wasser aus dem Fluss und begossen ein Stück Ufer so lange, bis sie eine Rutsche hatten. Ganze Nachmittage und Abende brachten sie so zu: die Kinder glitschten den Abhang hinunter ins Wasser und kletterten dann an einem mit Knoten versehenen Seil wieder nach oben; bei der Abfahrt quietschten sie vor Vergnügen, und ihre Hinterteile gruben tiefe Furchen in den Schlamm.

In einem Verschlag hinter dem Haus hielten sie ein paar halbverhungerte Hühner. Die Hühner machten viel Lärm, liefen aufgeregt hin und her, die Federn waren schmutzig und braun. Wenn sie gefüttert wurden und es nicht zu heiß war, legten sie Eier. Zu anderen Zeiten, am Rande der Revolte oder des Hungertods, schlachtete man sie lieber, die Köpfe zwischen zwei Nägel auf einem Baumstumpf geklemmt.

Der Container war mit Stellwänden unterteilt. Benjamin und Martina Chestnut lebten im hintersten Teil des Hauses. Der neunjährige Simon und die Zwillinge, sechs Jahre alt, teilten sich das mittlere Drittel, ein Burgfrieden, der von Tag zu Tag brüchiger wurde.

Im letzten Drittel des Hauses gab es einen Küchentisch aus sandfarbenen Latten, schmierig und schartig geworden durch langen und intensiven Gebrauch. Daneben stand ein Vorratsschrank aus Kiefernholz, und darin gab es Süßkartoffeln, Reis, Tüten mit Kartoffelchips und süßen Frühstücksflocken, Pekannüsse, Mehl sowie gemahlene Hirse vom Feld zwischen dem Haus der Chestnuts und ihrem nächsten Nachbarn. Ein kleiner Kühlschrank, der den Sonnenkollektoren schwer zu schaffen machte, enthielt Milch und Butter sowie Dosen mit Vorkriegs-Cola.

An der Haustür hielt eine Statue aus Benjamins Kindertagen Wacht. Es war eine Keramikfigur der Jungfrau von Guadalupe, die Hände aneinandergelegt und den Kopf gesenkt im Gebet. Eine Girlande aus gelben Mädchenaugen- und weißen Irisblüten war ihr zu Füßen gelegt, und dort stand auch der Stumpf einer Kerze mit Magnolienduft. Wenn die Blumen verwelkt waren, wurden die Kinder losgeschickt, um bei den Feldern frische zu suchen.

Nun hüpfte Sarat an dieser Statue vorüber, auf der Suche nach ihrer Schwester. Sie fand sie im hinteren Teil des Hauses, wo sie auf dem Bett ihrer Eltern stand und mit stählerner Konzentration ihr Bild im ovalen Schminkspiegel betrachtete. Sie hatte eins der Hauskleider ihrer Mutter genommen, einen einfachen ärmellosen Kittel, immer noch lila, obwohl unzählige Male gewaschen. Das kleine Mädchen steckte in der oberen Hälfte des Kleides, die ihm bis zu den Knöcheln reichte; der Rest hing einfach vom Bett herab bis zum Boden. Sie hatte, und zwar entschieden zu großzügig, den kirschroten Lippenstift ihrer Mutter aufgelegt – das wertvollste Stück unter den wenigen und nur selten benutzten Schminksachen der Mutter. Auch wenn sie sich noch so viel Mühe gegeben hatte, hatte Dana den Konturen ihrer kleinen rosa Lippen nicht folgen können und sah nun aus, als hätte sie sich gerade mit beiden Händen Erdbeertorte in den Mund gestopft.

»Komm spielen«, sagte Sarat, in Verlegenheit gebracht durch das, was ihre Zwillingsschwester dort tat.

Ärgerlich drehte Dana sich zu ihrer Schwester um. »Ich bin beschäftigt«, sagte sie.

»Aber mir ist langweilig.«

»Ich bin jetzt eine Dame!«

Dana wandte sich wieder dem Spiegel zu, versuchte, mit dem Handrücken ein wenig von dem Lippenstift fortzuwischen.

»Mama sagt, wir müssen jetzt mit Daddy frühstücken.«

»Okay. Oooo-kay«, sagte Dana. »Man hat aber auch keinen Augenblick Ruhe in diesem Haus«, fügte sie noch hinzu, ein Satz, den sie von ihrer Mutter aufgeschnappt hatte.

Sarat war die Zweitgeborene, fünfeinhalb Minuten später zur Welt gekommen als ihre Schwester. Und auch wenn ihre Eltern ihr gesagt hatten, sie und Dana seien beide Fleisch vom selben Fleische, war Dana der Liebling ihres Vaters, des Vaters mit dem unbekümmerten Humor und dem ehrlichen Lächeln. Sarat kam auf ihre Mutter: verbissen, hart und furchtlos. Sie waren Zwillinge, aber sie waren einander nicht ähnlich. Oft hörte Sarat, wie ihre Mutter sie »einen Racker« nannte. Gott hat mir zwei Kinder auf einmal gegeben, sagte sie, aber nur Mädchen genug für eine.

***

Als Dana fort war, blieb Sarat noch ein paar Minuten im Zimmer ihrer Eltern. Mit einiger Verwirrung betrachtete sie das Ding, mit dem ihre Schwester sich die Lippen beschmiert hatte. Anders als der Fluss und die Sträucher und die Tiere und Vögel in der Natur interessierte der Lippenstift sie nicht; ihr versprach er kein Abenteuer. Das war etwas für ihre Zwillingsschwester, für die, die so versessen auf das Erwachsensein war. Warum Dana sich so verzweifelt wünschte, zu den Großen zu gehören, verstand Sarat einfach nicht.

Dana kam nach draußen, immer noch im Kleid ihrer Mutter.

»Habe ich dir nicht verboten, an meine Kommode zu gehen?«, schimpfte Martina.

»Entschuldige, Mama.«

»Die Entschuldigung kannst du dir sparen – und zieh das Kleid hoch, du schleifst es überall durch den Dreck.« Martina zog ihrer Tochter das Kleid wieder aus. »Ich habe deine Schwester reingeschickt, um dich zu holen, und jetzt kommst du her, vollkommen verschandelt, und sie macht drin wahrscheinlich gerade genau das Gleiche.«

»Die kann sich nicht schminken«, sagte Dana. »Die ist hässlich.«

Martina kniete sich hin und packte ihre Tochter bei den Schultern. »Sag so etwas nie wieder, verstanden? Sag nie wieder, dass sie hässlich ist, sag nie wieder ein böses Wort über sie. Sie ist deine Schwester. Und sie ist ein schönes Mädchen.«

Dana ließ den Kopf hängen und schmollte. Martina fasste sie am Kinn, so dass sie aufblicken musste.

»Hör mir zu«, sagte sie. »Du gehst jetzt nach drinnen und sagst ihr das. Sag ihr, sie ist deine Schöne.«

Dana stapfte zurück ins Haus. Ihre Schwester steckte gerade den Lippenstift der Mutter zurück ins Schminkkästchen.

»Du bist meine Schöne!«, rief Dana, dann stürmte sie aus dem Zimmer.

Einen Moment lang stand Sarat verdattert da. Sie war ja noch ein Kind, sie wusste nicht, wozu eine Lüge gut sein sollte. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass jemand etwas sagte, obwohl er es nicht meinte. Sie lächelte.

***

Draußen bereitete Martina das Frühstück auf einem schweren Holzofen. Auf Tellern und in Schüsseln richtete sie Brötchen und Hirsemüsli und Spiegeleier und falschen Pfefferspeck an, braun gebraten in seinem eigenen Fett.

An den schlaffen Wangen, den dunklen Ringen um die Augen sah man Martina ihre neununddreißig Jahre deutlich an – mehr als man es im Gesicht ihres Mannes sah, obwohl der fünf Jahre älter war als sie und die beiden schon ihr halbes Leben zusammen waren. Sie war füllig um die Taille, aber nicht dick, ihr Körper hatte jene Art von Robustheit, die ein Leben auf dem Lande mit sich bringt und mit der sie, wenn notwendig, schwere Lasten tragen und lange Strecken gehen konnte. Anders als ihr Mann, der als Kind illegal aus Mexiko ins Land gekommen war, damals, als der Migrantenstrom noch Richtung Norden ging, war sie keine Einwanderin. Sie war da, wo sie lebte, geboren.

»Frühstück!«, rief Martina und wischte sich mit einem zerlumpten Geschirrtuch den Schweiß von der Stirn. »Alle herkommen, und zwar sofort. Ich sage es nicht noch einmal.«

Benjamin kam, frisch rasiert und geduscht, aus dem Waschhäuschen hinter dem Haus.

»Beeil dich, iss etwas, bevor er hier ist«, drängte Martina.

»Ja doch, immer mit der Ruhe«, entgegnete ihr Mann. »Hast du ihn schon je pünktlich erlebt?«

»Wo ist deine gute Krawatte?«

»Es ist doch kein Vorstellungsgespräch, es geht nur um eine Arbeitserlaubnis. Ich gehe nur ins Büro einer Behörde; nicht anders als wenn ich zur Post ginge.«

»Wann haben sich zum letzten Mal Leute gegenseitig umgebracht, um etwas von der Post zu bekommen?«

Benjamin setzte sich an den Tisch im Freien. Er war ein hagerer Mann mit einem hageren Gesicht; die beinahe zusammengewachsenen Augenbrauen bildeten die Basis für eine glatte, hohe Stirn, die umso höher wirkte, weil er zu den Schläfen hin schon ein wenig kahl wurde. Er war stets glatt rasiert, bis auf ein schmales schwarzes Schnurrbärtchen, von dem seine Frau sich immer vorstellte, Leute könnten ihn deswegen für unseriös halten.

Er küsste Sarat auf die Stirn, und als er seine andere Tochter sah, das Gesicht vom Lippenstift verschmiert, küsste er sie auch.

»Deine Mädchen sind schon wieder ungezogen gewesen«, sagte Martina. »Die lernen keine Manieren, sie tun nie, was man ihnen sagt.«

Benjamin sah Dana mit gespielter Empörung an und schüttelte den Kopf, dann beugte er sich vor und flüsterte ihr ins Ohr.

»Ich finde, du siehst gut damit aus.«

»Danke, Daddy«, flüsterte Dana zurück.

Alle versammelten sich um den Tisch. Martina rief nach Simon, und bald kam auch er um die Verandaecke und brachte das eben abgesägte Unterende der zehnsprossigen Leiter mit.

Als er sah, was für ein Gesicht seine Mutter machte, ging er sofort in die Verteidigung: »Dad wollte, dass ich das mache.«

Martina sah ihren Mann an, der unbekümmert seinen Speck aß und den sauren Kaffee trank, in dem die Körnchen noch schwebten. Es war grässliches Zeug aus Militärrationen, nur dazu da, dass die Soldaten nicht einschliefen.

»Sieh mich nicht so an«, sagte Benjamin. »Smith braucht eine Leiter. Er will neue Schindeln aufs Dach tun; die alten sind schon ganz morsch.«

»Und da gibst du ihm die Hälfte von unserer?«

»Ist doch nur fair. Schließlich ist er derjenige, der den Mann im Büro für die Arbeitsgenehmigungen kennt. Ohne ihn könnten wir genauso gut versuchen, uns den Weg über die Grenze freizuschießen.«

»Der hat Geld wie Heu, er kann sich tausend Leitern kaufen«, schimpfte Martina. »Du hast doch gesagt, er will uns einen Gefallen tun.«

Benjamin lachte. »Eine Arbeitserlaubnis für die Nordstaaten im Tausch gegen eine halbe Leiter, das ist immer noch ein Gefallen.«

Martina schüttete den Kaffeesatz auf den Boden. »Wir müssen genauso unser Dach reparieren wie die Smiths«, sagte sie.

»Aber eine Leiter mit fünf Sprossen reicht dazu«, beharrte Benjamin, »gerade wo unser Junge jetzt groß und stark genug zum Hinaufklettern ist.«

Da stimmte Simon ihm eifrig zu und versprach seiner Mutter, er werde regelmäßig nach oben klettern und Chlor in den Wassertank tun und den Vogeldreck von den Sonnenkollektoren wischen, genau wie sein Vater.

Sie aßen alle miteinander. Benjamin, sein Leben lang spindeldürr, verschlang seine Eier und Speck mit sichtlichem Vergnügen. Sein Sohn sah zu, merkte sich jede kleinste Bewegung seines Vaters, schrieb es in ein ehernes Lehrbuch, aus dem er studierte, was es hieß, ein Mann zu sein. Bald hatte auch der Junge seinen Teller mit dem Brot saubergewischt.

Die Zwillinge tranken Orangensaft aus Plastikbechern und pickten nur an den Brötchen, bis ihre Mutter sie ihnen mit ein wenig Butter und Aprikosenmarmelade schmackhafter machte, und dann aßen sie schweigsam, tief in geheime Gedanken versunken.

Martina betrachtete ihren Mann, die Augen reglos und still, ein Blick, der ihren Kindern streng vorkam, von dem aber ihr Mann wusste, dass er einfach ihr ganz normaler Ausdruck war.

Schließlich sagte sie: »Erzähl ihnen nichts über deine Arbeit für den Freien Süden.«

»Das ist kein Geheimnis«, entgegnete Benjamin. »Die wissen genau, dass jeder hier in der Gegend irgendwann mal für den Freien Süden gearbeitet hat. Das heißt ja nicht automatisch, dass ich zur Flinte gegriffen habe.«

»Aber du musst es ihnen nicht ausdrücklich sagen. Wenn du es ihnen sagst, dann müssen sie ein Kästchen auf dem Formular ankreuzen und nehmen dich mit nach nebenan und stellen dir alle möglichen Fragen. Und am Ende bekommst du keine Erlaubnis, aus Sicherheitsgründen oder wie es dann heißt. Sag, du arbeitest in der Näherei, das ist ja nicht gelogen.«

»Mach dir doch nicht dauernd so viele Sorgen«, sagte Benjamin, lehnte sich auf seiner Bank zurück und zupfte an Fleischresten zwischen den Zähnen. »Wir kriegen unsere Erlaubnis schon. Der Norden braucht Arbeiter, und wir brauchen Arbeit.«

Simon fragte: »Wieso müssen wir überhaupt in den Norden? Wir kennen doch niemanden da.«

»Da oben gibt’s Arbeit«, erklärte ihm seine Mutter. »Da gibt es Schulen. Du klagst doch immer, dass du kein Spielzeug hast und keine Freunde. Da oben gibt’s jede Menge davon.«

»Connor sagt, nur Verräter gehen in den Norden. Er sagt, die soll man aufhängen.«

Sarat hörte aufmerksam zu und merkte sich dieses seltsame neue Wort. Verräter. Es hörte sich fremdartig an. Ausländer womöglich.

»Rede kein solches Zeug«, sagte Martina. »Willst du deiner Mutter glauben oder einem zehnjährigen Jungen?«

Simon starrte auf seinen Teller und murmelte: »Connor hat das von seinem Dad.«

Das Frühstück war gegessen, und sie zogen sich alle auf die Veranda zurück. Martina setzte sich auf die Treppenstufen und wischte ihrer Tochter mit einem nassen Spültuch den Lippenstift aus dem Gesicht; das Mädchen wand sich und quengelte. Simon schmirgelte mit einem Sandpapierblock die Enden der halben Leiter glatt, stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht darauf, bis sein Vater ihm zeigte, wie es auch mit weniger Anstrengung ging.

Sarat kehrte an den Ort ihres morgendlichen Experimentes zurück, piekte in den schon fester gewordenen Honig in den Astlöchern, bestaunte die Zähflüssigkeit dieser goldgelben Masse. Es faszinierte sie, wie bereitwillig er die Umrisse seiner Umgebung annahm. Mit dem kleinen Finger durchstach sie die Kruste und leckte daran. Sie hatte erwartet, dass der Honig jetzt nach Holz schmecken würde, aber er schmeckte immer noch wie Honig.

Benjamin saß auf einem Korbstuhl, dessen Lehne sich schon auflöste. Er blickte hinaus auf den braunen, verödeten Fluss und wartete auf die Ankunft seines Gönners.

»Weißt du, was du den Leuten sagen willst, da auf dem Amt?«, fragte Martina. »Hast du dir das überlegt?«

»Ich gebe ihnen Antwort auf ihre Fragen.«

»Hast du alle Papiere beisammen?«

»Ich habe alle Papiere beisammen.«

Martina schüttelte den Kopf und spähte nun selbst hinaus, forschte nach Anzeichen eines Bootes. »Wahrscheinlich sind überhaupt keine Genehmigungen zu haben«, sagte sie. »Wahrscheinlich machen sie es genauso wie immer und schicken uns wieder weg. So machen sie es doch jedes Mal, denen sind alle hier im Süden scheißegal. Für die sind wir keine Menschen, nicht mal Tiere; als ob wir irgendwas vollkommen anderes wären. Die schicken dich einfach zurück, das weiß ich.«

Benjamin zuckte mit den Schultern. »Soll ich nun hingehen oder nicht?«

»Natürlich sollst du hingehen.«

Als sie den Lippenstift abgewischt hatte, machte Martina sich daran, Dana das Haar zu flechten. Es wuchs in langen, glatten Strähnen von tiefstem Schwarz, ganz anders als das von Sarat, das zwar die gleiche Farbe hatte, aber widerspenstig war und gegen die feuchte Luft mit wirren Kräuseln revoltierte.

»Mädels, wollt ihr wissen, was das Beste am Norden ist?«, fragte sie.

»Was?«, fragte Sarat zurück.

»Ihr wisst ja, manchmal ist es im Sommer hier so heiß, dass man es wirklich nicht aushalten kann. Man wacht nachts auf, und die Bettlaken sind nass vom Schweiß.«

»Widerlich«, sagte Dana.

»Also, wenn ihr weit genug nach Norden kommt, dann wird es niemals so heiß. Und wenn ihr in den hohen Norden kommt, dann fällt im Winter kein Regen vom Himmel – dann kommen kleine Eiskügelchen, und sie bleiben überall auf dem Boden liegen, bis man am Ende die Straßen gar nicht mehr sieht, und das Wasser in den Flüssen wird so kalt, dass es hart wird wie Stein, und ihr könnt darauf gehen.«

»So ein Blödsinn«, sagte Dana. Für ihre Begriffe konnte das nur wieder eine von den großartigen Märchengeschichten sein, die ihre Eltern sich ausdachten, die Flüsse, die fest wurden, und das Eis, das vom Himmel fiel, waren genau so etwas wie die Fische mit den großen Schnurrbärten, die angeblich früher überall im leblosen Mississippi geschwommen waren, als er noch einfach nur ein Fluss war, oder die Eidechsen aus uralten Zeiten, die in der Wüste im Westen in der Erde begraben lagen und deren Überreste einmal die ganze Welt mit Kraft versorgt hatten. Dana glaubte solche Geschichten nie.

Aber Sarat, die schon. Sarat glaubte jedes Wort davon.

»Doch, es ist wirklich so«, versicherte ihr Martina. »Kühl im Sommer, kühl im Winter. Gemäßigt nennt man das. Und dort herrscht auch Sicherheit. Kinder spielen bis spätabends auf der Straße; da werdet ihr gleich am ersten Tag Freunde finden.«

Simon schüttelte nur den Kopf. Er wusste, dass seine Mutter zwar mit den Zwillingen redete, die Worte aber eigentlich für ihn bestimmt waren. Mit allen anderen redete sie viel vernünftiger, nicht sentimental oder schwärmerisch. Doch mit ihrem einzigen Sohn, dessen geheime Gedanken sie, fürchtete sie, nie würde erraten können, sprach sie indirekt, über Mittelsleute, in einem einfältigen, leicht zu durchschauenden Code. Das machte Simon wütend. Warum konnte sie denn nicht sein wie sein Vater?, fragte er sich. Warum konnte sie nicht einfach sagen, was sie dachte?

***

Es war später Vormittag, und Benjamins Kumpel war noch immer nicht aufgetaucht. Bald glaubte Martina, dass er ihren Mann vergessen hatte. Oder vielleicht hatten sie ihn in seinem alten Boot mit Benzinmotor doch erwischt und ins Gefängnis gesteckt. Es stimmte zwar, dass die Staaten rings um das Rebellenland der Roten – ein Schutzgürtel bestehend aus Louisiana, Arkanas, Tennessee und North Carolina – große Sympathien für die Sache der Freien Südstaaten hatten. Aber diese Staaten, obwohl selbst deren Bewohner eine Genehmigung brauchten, wenn sie in den Norden ins Herzland der Blauen ziehen wollten, gehörten doch zur Union, und ein Mann, der dort mit fossilen Brennstoffen erwischt wurde, galt als Gesetzesbrecher, genau wie im Norden auch.

Ihr ging durch den Kopf, wie viel leichter es für alle wäre, wenn man all diesen Möchtegern-Kleinstaaten einfach erlauben würde, sich von der Union zu lösen, ihre eigenen Miniaturnationen entlang der Bruchlinien des Lokalpatriotismus zu bilden, der Verwerfungen des Glaubens oder der Hautfarbe oder der Ideologie. Dass es schon immer Risse gegeben hatte, wussten alle: Im Nordwesten drohten sie ständig mit der Abspaltung des stolzen, pazifistischen Kaskadien; südlich davon waren schon große Teile von Kalifornien, Nevada, Arizona und Westtexas mehr oder weniger unter Kontrolle der mexikanischen Armee, und die Landkarte dieser Gegend würde bald wieder so aussehen, wie sie vor Hunderten von Jahren ausgesehen hatte. Im Mittelwesten herrschte unter den Alteingesessenen ein kaum verhohlener Groll gegen die Abermillionen von Neuankömmlingen aus den Küstenregionen, die sich in den mittleren Landesteilen breitgemacht hatten, auf ihrer Flucht vor dem steigenden Meeresspiegel und den schweren Stürmen. Und hier im Süden hatte sich eine ganze Region für einen neuen Krieg entschieden, wollte lieber die Trennung von der Union als auf jenen verbotenen Brennstoff zu verzichten, der so viel Unglück über das Land gebracht hatte.

Manchmal kam es Martina vor, als habe es einen gemeinsamen Staat nie gegeben; vor langer Zeit hatten Leute, willkürlich oder weil sie sich einen Vorteil davon versprachen, Grenzen auf einer Landkarte gezogen, auf der es vorher keine gegeben hatte, und dabei ein großes Land geschaffen, das aus vielen verschiedenen, einzelnen bestand. Wie schlimm wäre es denn, fragte sie sich, wenn die Bundesregierung in Columbus einfach damit aufhörte, so viel Geld und Blut zu opfern, um den zerrissenen Kontinent zusammenzuhalten? Sollten die Südstaatler doch ihr altmodisches Benzin behalten, dachte sie, bis sie auch den allerletzten Tropfen Öl aus der geschundenen Erde geholt hatten.

Martina blickte hinaus auf den Fluss und wartete auf das Boot. Sie sah Sarat am Wasser, wo sie nach einem alten Garnelennetz schaute, das vor ein paar Wochen angespült worden war; die Kinder hatten damit eine Sperre gebaut, mit der sie Treibgut auffingen. Das Netz hatte ihnen schon die seltsamsten Schätze beschert: ein eisernes Kreuz, die Kopfstütze eines Frisierstuhls, ein laminiertes Bild von einer schon lange geschlossenen Leprakolonie, ein kleines Schild, auf dem »Bitte keine Unflätigkeiten in der Kantine« stand.

Sarat inspizierte die durchweichten Seiten eines Buchs, das im Netz hängengeblieben war. Das Buch hieß Die Welt im Wandel. Auf dem Umschlag war ein großer blauer Berg aus Eis zu sehen, der im Wasser schwamm. Vorsichtig blätterte sie, löste die Seiten voneinander. In dem Buch gab es Landkarten der Erde, von früher und von heute. Die neuen sahen wie die alten aus, nur dass am Rand die Kanten der Länder abgeschnitten waren – ganze Inseln waren verschwunden, die Küsten näher an die Mitte der Kontinente gerückt. Auf den alten Karten sah Amerika größer aus.

Sie spürte einen Schatten. Simon, ihr Bruder, stand hinter ihr. »Was hast du da?«, fragte er und griff nach dem Buch.

»Das geht dich nichts an«, antwortete Sarat. »Ich hab’s gefunden.« Sie riss das Buch wieder an sich und sprang auf, bereit, darum zu kämpfen, wenn es sein musste.

»Ja und wenn«, sagte Simon. »Ich will’s gar nicht haben. Ist doch nur ein blödes Buch.« Aber sie sah, wie er die aufgeschlagene Seite inspizierte.

»Weißt du überhaupt, was das ist?«, fragte er.

»Das sind Landkarten«, sagte Sarat. »Ich weiß, was Landkarten sind.«

Simon zeigte auf eine Stelle unten auf der Karte, wo das blaue Wasser im Begriff schien, ein paar dünne Streifen Land am Südrand des Kontinents zu verschlingen.

»Da sind wir, Dummchen«, sagte er. »Hier wohnen wir.«

Sarat sah sich die Stelle an, auf die Simon zeigte. Es schien etwas ganz Abstraktes, sah überhaupt nicht wie ihr Zuhause aus.

»Siehst du das ganze Wasser hier?«, fragte Simon. »Früher war das alles Land, und jetzt ist es nicht mehr da.« Er zeigte hinter sich in Richtung Haus. »Und eines Tages wird das auch alles Wasser sein. Dann müssen wir hier weg, sonst ertrinken wir.«

Sarat sah den Anflug von Grinsen auf dem Gesicht ihres Bruders und wusste genau, dass er versuchte, ihr Angst zu machen. Sie fragte sich, warum er wohl so versessen auf solche Tricks war, warum er immer wieder versuchte, Sachen zu sagen, auf die sie mit Schrecken oder mit einer Dummheit reagieren sollte. Er war fast drei Jahre älter als sie und außerdem ein Junge – eine ganz andere Lebensform. Aber trotzdem spürte sie bei ihrem Bruder eine Art Unsicherheit, so als ob er ihr nicht aus grausamem Zeitvertreib Angst einjagte, sondern als Mittel, mit dem er sich selbst etwas Wichtiges beweisen musste. Sie fragte sich, ob wohl alle Jungs so waren und ob ihre Gemeinheit einfach nur Selbstverteidigung war.

Und außerdem wusste sie, dass er log. Das Wasser würde niemals ihr Zuhause verschlucken. Vielleicht den Rest von Louisiana, vielleicht sogar den Rest der Welt, aber niemals ihr Zuhause. Ihr Haus würde auf dem Trockenen bleiben, weil das schon immer so gewesen war.

***

Am späten Vormittag tauchte Alder Smith, Benjamins Kumpel, endlich auf. Vier Stunden später als angekündigt. Das hölzerne Fischerboot schaukelte sanft auf seiner Bugwelle, und der Außenborder gurgelte und spuckte Qualm. Es war ein uraltes Ding, aber immer noch schneller und beweglicher als die Sea-Toks, die mit ihrem schwachen Solarantrieb kaum gegen die Strömung ankamen.

Es hieß etwas, wenn man ein Fahrzeug hatte, das noch mit dem verbotenen Brennstoff lief, es war ein Zeichen nicht nur von Wohlstand, sondern auch davon, dass man Verbindungen hatte, dass man etwas galt.

»Morgen«, rief Smith, als er das Boot an den Landungssteg der Chestnuts manövrierte und eine Nylonschlaufe über den Poller warf. Wie Benjamin war er ein groß gewachsener Mann, hatte allerdings breitere Schultern und noch volles braunes Haar, jetzt kupferfarben von zu viel Zeit draußen an der Sonne. Vor dem Krieg war sein Vater Eigentümer von einem Dutzend Autohandlungen zwischen New Orleans und Baton Rouge gewesen, für die Wagen von früher mit ihrem Verbrennungsmotor. Diese Betriebe gab es längst nicht mehr, aber von dem Wohlstand, den sie beschert hatten, blieb immer noch etwas, und Smith hatte ein bequemes Leben auf der anderen Seite des Flusses. Unter den Familien, die weit verstreut noch im versunkenen Süden von Louisiana und Mississippi lebten, galt er als Mann mit Verbindungen, einer, der überall Freunde hatte. Er kannte Leute bei der Regierung der Freien Südstaaten in Atlanta, und er kannte die Schmuggler an der Grenze von Mississippi nach Arkansas; er kannte Konsuln in den Büros der Nordstaaten, die es überall in den Städten jener gezähmten, bezwungenen Staaten des Südens gab, die sich auf die Seite der Union geschlagen hatten. Wenn man ihm glauben wollte, kannte er sogar Leute aus dem Stab von Senatoren und Kongressabgeordneten in der Bundeshauptstadt Columbus.

»Morgen«, erwiderte Martina. »Komm rauf, wir haben noch Sandwiches übrig, Kaffee auch.«

»Danke dir herzlich, aber wir sind schon spät dran. Auf geht’s, Ben. Die Blauen warten nicht gerne.«

Benjamin küsste seine Frau und seine Kinder zum Abschied und ging nach drinnen und küsste die Füße der Madonnenfigur. Vorsichtig stieg er zum Fluss hinunter, damit er auf dem Lehmboden nicht ausrutschte und seine gute Hose schmutzig machte. In den Händen hielt er eine alte lederne Aktenmappe und die halbe Leiter. Seine Frau schaute von der Uferkante her zu.

»Lasst das Boot auf der Südseite und geht zu Fuß in die Stadt«, schärfte sie den Männern ein. »Passt auf, dass nicht irgendwelche Beamten das Boot sehen.«

Smith lachte und startete den Motor. »Keine Sorge«, sagte er. »Nächste Woche um diese Zeit seid ihr schon auf halbem Weg nach Chicago.«

»Aber passt auf«, sagte Martina. »Seht euch vor, meine ich.«

Die zwei Männer stießen das Boot vom Ufer ab und drehten es mit der Nase in Richtung Norden, nach Baton Rouge hin. Unter grollenden Tönen strebte ihr Gefährt dem Herzen dieses mächtigen braunen Flusses zu, und bald schon blieben nur noch die beiden Bugwellen von ihm zurück.

Auszug aus:

Amtliches Handbuch für den Schulunterricht – Geschichte, achtes Modul: Der Zweite Amerikanische Bürgerkrieg

Zusammenfassung des Moduls:

Der Zweite Amerikanische Bürgerkrieg fand zwischen den Jahren 2074 und 2095 statt. Kriegsparteien waren die Union einerseits und die sezessionistischen Staaten Mississippi, Alabama, Georgia und South Carolina andererseits (bis zur Annexion durch Mexiko zudem Texas). Hauptkriegsgrund war der Widerstand des Südens gegen das Gesetz für eine nachhaltige Zukunft, das die Verwendung fossiler Brennstoffe in den gesamten Vereinigten Staaten untersagte. Das Gesetz ging auf die Initiative von Präsident Daniel Ki zurück und war eine Reaktion auf jahrzehntelange Klimaschädigungen, auf die nachlassende wirtschaftliche Bedeutung fossiler Brennstoffe sowie auf das verheerende Unglück eines Öltransportzuges in Williston, North Dakota, im Jahre 2069.

Zu den Ereignissen, die zum Kriege führten, gehörten die Ermordung von Präsident Ki durch die sezessionistische Selbstmordattentäterin Julia Templestowe in Jackson, Mississippi, im Dezember 2073 sowie der Tod von Demonstranten aus dem Süden durch Gewehrschüsse vor der Militärbasis Fort Jackson, South Carolina, im März 2074.

Die sezessionistischen Staaten (die sich unter der Bezeichnung »Freie Südstaaten« zusammenschlossen) erklärten sich am 1. Oktober 2074 für unabhängig, und dieses Datum wird oft als eigentlicher Kriegsbeginn genannt. In den ersten fünf Kriegsjahren konnte die Union eine Reihe entscheidender militärischer Erfolge für sich verbuchen – vor allem in East Texas und entlang der Nordgrenze von Mississippi, Alabama und Georgia (»das MAG«) –, danach kam es kaum noch zu Kampfhandlungen. Kommandotruppen der Rebellen verübten allerdings noch ein halbes Jahrzehnt lang Guerillaattacken, teils mit Unterstützung ausländischer Agenten und antiamerikanischer Saboteure. Nach langwierigen Verhandlungen wurde ein Friedensvertrag weitestgehend zugunsten der Union geschlossen, und der Krieg sollte in aller Form mit den Feiern zum Vereinigungstag am 3. Juli 2095 in der Bundeshauptstadt Columbus, Ohio, beendet werden. An diesem Tag gelang es einem sezessionistischen Terroristen, durch die Grenzsperren in das Territorium der Nordstaaten zu schlüpfen und einen biologischen Wirkstoff freizusetzen (»die Einheitspest«), der eine landesweite Epidemie auslöste. Die Auswirkungen dieser Seuche, die Schätzungen zufolge 110 Millionen Menschenleben forderte, lähmten das Land noch ein weiteres Jahrzehnt lang. Der Terrorist konnte bis heute nicht identifiziert werden.

2. Kapitel

Auf das Geländer der Veranda hatten die Chestnuts eine mit Öl ausgepinselte Schale als Moskitofalle gestellt. Die von der glitzernden Flüssigkeit angelockten Insekten landeten dort und blieben kleben.

Sarat stand auf der Veranda, und die Sonne brannte ihr auf die Stirn. Sie sah zu, wie die Moskitos zappelten. Es waren dicke schwarze Punkte, prall wie Weintrauben. Sie holte eins dieser Insekten heraus, fasste es zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie hielt es sich dicht vors Auge. Es hatte nichts von dem, was für das kleine Mädchen Anzeichen von Leben war; es sprach nicht, gab keinen Laut von sich, nicht wie eine Grille, die zirpte, oder die Hühner, wenn sie in Aufregung gerieten. Aber trotzdem wusste sie, dass dieses Ding zwischen ihren Fingern lebendig war.

Sarat drückte die Finger zusammen, und der Moskito zerplatzte unter dem Druck, so dass nur noch ein schwarzer Fleck übrig blieb.

»Was machst du da?«, fragte Dana, die unbemerkt aus dem Haus gekommen war.

Sarat fuhr zusammen: »Nichts«.

Dana inspizierte die Finger ihrer Schwester. »Das ist ja eklig«, sagte sie schließlich und ging davon.

Sarat wischte sich die Finger am groben Jeansstoff ihrer Latzhose ab. Die Hose war ein Erbstück ihres Bruders, die Kupferknöpfe waren schon ganz schwarz. Sie hatte nur die Hose an, nichts darunter. Wenn es sehr warm war, nahm sie die Träger ab und band sie sich um die Taille wie einen Gürtel, doch der Knoten hielt höchstens fünf Minuten, dann löste er sich, und die Träger schleiften durch den Dreck.

Sie konnte gar nicht verstehen, warum ihre Schwester überhaupt keinen Sinn für die Erforschung all der winzigen Lebewesen rings um sie her hatte; Welten, deren Myriaden Geheimnisse nur darauf warteten, dass sie ihnen auf die Spur kamen: diese fliegenden Blutbällchen, die in der Schale kleben blieben; die Astlöcher-Augen der Bodenbretter, gefüllt mit Honig; Würmer, von ihrem Vater aufgelesen und auf Haken gespießt, um den Kindern ein Ritual aus den Zeiten zu erklären, als es im Fluss noch Fische gegeben hatte. Dana fand solche Sachen langweilig und abstoßend, aber für Sarat waren sie die Adern, in denen die Geheimnisse und der Zauber des Lebens flossen.

***

Martina Chestnut stand auf dem Gras zwischen ihrem Haus und dem Hirsefeld. Sie hängte Wäsche auf eine Leine, die vom Verandapfosten zu einem in die Erde gerammten Sonnenschirmstock gespannt war. Wie die Plane, die die Kollektoren auf dem Dach schützte, war auch der Sonnenschirm ein, zwei Jahre zuvor am Ufer angespült worden und hatte sogleich Verwendung gefunden.

Martina drapierte jedes Stück über die Leine und steckte es mit Klammern fest. Von den Hosenbeinen und Hemdschößen tropfte immer etwas herunter, und hier unter der Leine war das Gras immer ein wenig grüner als anderswo.

Es waren einfache, unauffällige Kleidungsstücke: weiß und beige in verschiedenen Schattierungen; viele waren schon so lange getragen, dass sie etwas gespenstisch Durchscheinendes hatten. In manchen Gegenden des MAG, die fest in Rebellenhand waren, gab es Familien, die ihre Jeanssachen rot färbten, um keinen Ärger zu bekommen. Aber an der verschlafenen Küste von Louisiana gab es solche Sorgen bisher nicht.

Tausend Meilen weit fort, an der Ostküste, konnte man neuere Kleider bekommen, Ladungen der Hilfsschiffe, die Monat für Monat aus fernen Reichen kamen. Billige Kleider, Polohemden, Trainingsanzüge und Baseballkappen, oft mit den Emblemen der Golden Bulls, von Al Ahly oder anderen beliebten Sportclubs. Aber die Sachen verschwanden noch in dem Augenblick, in dem sie in den Häfen von Georgia an Land kamen – auf dem Papier war es verboten, sie zu verkaufen oder in Gegenden außerhalb der drei sezessionistischen Staaten Mississippi, Alabama und Georgia zu bringen. Natürlich hielt sich keiner an diese Bestimmung, aber bis die Sachen im weit entfernten Louisiana, in Arkansas oder im Westen, im mexikanischen Protektorat angelangt waren, waren sie bereits durch die Hände unzähliger Mittelsmänner gegangen und für die meisten Einheimischen unbezahlbar.

Schon seit den ersten Bürgerkriegstagen überlebten die sezessionistischen Staaten nur dank der Hilfe fremder Großmächte. Früher waren fossile Brennstoffe noch etwas wert gewesen, genug, um die Häfen von Louisiana und die Raffinerien in Texas am Leben zu halten, wenn auch das Geld längst nicht mehr so in Strömen floss wie im Jahrhundert zuvor. Doch als der Rest der Welt lernte, von Sonne und Wind und der Spaltung von Atomen zu leben, wurde der alte Brennstoff zum Relikt aus früheren Zeiten und war so gut wie wertlos. Die Raffinerien wurden geschlossen, die Ölfelder aufgegeben, selbst noch als die Rebellenstaaten zum offenen Krieg gegen das Benzinverbot aufriefen. Jetzt, wo es in diesem Krieg für den Süden immer schlechter stand und es kaum noch Ressourcen gab, waren die Menschen mehr und mehr auf die großen Schiffe angewiesen, die jeden Monat von der anderen Seite der Erde kamen, vollgepackt mit Nahrungsmitteln, Kleidern und anderen Hilfsgütern.

Die Schiffe kamen von den Großmächten der neuen Zeit: aus China und dem Bouazizireich, wobei Letzteres noch wenige Jahrzehnte zuvor nichts weiter als eine Ansammlung darbender und darniederliegender Nationen im Nahen Osten und in Nordafrika gewesen war. Doch dann hatte die Fünfte Frühlingsrevolution die alten Regimes endgültig davongefegt. Jetzt gab es an Stelle der alten, korrupten Staaten ein geeintes Reich, das sich von der Straße von Gibraltar im Staate Marokko bis zu den Ufern des Schwarzen und des Kaspischen Meers erstreckte.

––––

Am Abend, als die Hitze nachließ, kam Eliza Polk zum Essen herüber. Sie wohnte eine Meile weiter nördlich am Ufer, jenseits des Hirsefelds, und war die nächste Nachbarin der Chestnuts. Im Sommer zuvor hatte sie ihren Mann und beide Söhne, fast noch Jungen, in einem der Gefechte in East Texas verloren. Fiebernd hatte sie monatelang getrauert und trug seither nie etwas anderes als schmucklose schwarze Kleider, und die Chestnut-Kinder nannten sie hinter ihrem Rücken Santa Muerte. Den Ausdruck hatten sie von ihrem Vater.

Sie war achtundvierzig, aber sie wirkte ein ganzes Jahrzehnt älter, was an ihrem krummen Gang und der brüchigen, zittrigen Stimme lag. In dem Jahr seit ihre Familie auf den Schlachtfeldern von East Texas ausgelöscht worden war, hatte sie ganz von der Witwenrente gelebt, die eine der Rebellengruppen ihr zahlte. Außerdem bekam sie zu dieser Pension noch weitere Unterstützung. Alle paar Wochen konnte man ein Boot der Mississippi Sovereigns den Fluss hinauffahren sehen. Angekommen, brachten zwei oder drei junge Männer, die nie lächelten, den Garten in Ordnung, putzten das Haus und versorgten die schmächtige Witwe mit mehr Lebensmitteln und Kleidern, als sie je essen oder tragen konnte. Eliza gab viel von ihren überschüssigen Vorräten den Chestnuts ab – ihr Teil einer stillschweigenden Vereinbarung, in der die Familie ihr im Gegenzug ein wenig Gesellschaft an den heißen, unendlich langen Tagen bot.

Bei der Ankunft nahm Eliza ihre Nachbarin fest in den Arm und fragte als Erstes, ob sie von ihrem Mann gehört habe. Nein, antwortete Martina, das habe sie nicht.

»Es geht ihm gut, Liebes, mach dir keine Sorgen«, versicherte Eliza ihr. »Gott der Herr wird ihn beschützen, das weiß ich in meinem Herzen.«

Eliza hatte einen Schokoladenkuchen mitgebracht. Sie stellte ihn aufs Geländer der Veranda. Sie ging zur Rückseite des Hauses und begrüßte Simon, der auf der amputierten Leiter stand und versuchte, sich hinauf aufs Dach zu hieven; seine Mutter um Hilfe zu bitten verbot der Stolz. Dann nahm sie Platz auf einem der Korbstühle, wischte sich den Schweiß von der Stirn und rief nach den Zwillingen. Dana, zu beschäftigt, Familie zu spielen, blieb drinnen, aber Sarat kam heraus.

»Ja hallo, Schatz, du siehst heute aber hübsch aus«, sagte Eliza, gab Sarat einen Kuss auf die Wange und versuchte, wie so oft, das Strubbelhaar glattzustreichen.

»Hallo Santa«, sagte Sarat. Auch diesmal ging ihre Besucherin davon aus, dass sie sich den Spitznamen damit verdient hatte, dass sie ihnen so viele Geschenke mitbrachte.

Als sie mit dem Wäscheaufhängen fertig war, kam Martina ebenfalls auf die Veranda und setzte sich zu ihrem Gast. Die beiden Frauen tranken süßen Tee und sahen in dem schwindenden Tageslicht den Kindern beim Spielen zu.

Am Flussufer hatte Simon ein einfaches Floß an einem Baumstumpf vertäut. Das Floß bestand aus einer Sperrholzplatte auf leeren Ölfässern, und in der Mitte stand ein kreuzförmiger Mast aus abgeschmirgelten Ästen mit einem Betttuch als Segel. Selbst bei bestem Wind tat das Segel keinerlei Wirkung, aber mit dickem Filzstift war ein krummer Totenkopf darauf gemalt, der die Belegschaft jedes vorbeifahrenden Bootes in Angst und Schrecken versetzte; so jedenfalls stellte Simon es sich vor.

Bei ruhigem Wasser durfte Simon auf diesem Floß allein bis zur Flussmitte fahren, wozu er kräftig mit einer Schaufel paddelte. Wenn allerdings die Mädchen dabei waren, musste er näher am Ufer bleiben. Und egal, was er machte, das Floß musste immer angebunden sein.

»Ich bin sicher, den Männern geht es gut, Martina«, sagte Eliza noch einmal. »Du weißt doch, wie solche Behörden sind. Wahrscheinlich müssen sie einen Tag oder zwei warten, bis aller Papierkram erledigt ist. Wahrscheinlich übernachten sie da, damit sie nicht noch ein zweites Mal den Fluss hinauffahren müssen. Ich wette, die haben einen Heidenspaß bei ihrem Ausflug.«

Martina schüttelte den Kopf. »Er wäre nach Hause gekommen. Selbst bei drei Stunden Wartezeit wäre er nach Hause gekommen.«

Eliza nippte an ihrem Tee, war mit ihren Gedanken in der Vergangenheit, da, wo ihr Verstand den größten Teil jedes Tages verbrachte. »Weißt du, als die Rebellen kamen und mir erzählten, was mit Henry und den Jungs geschehen war, da habe ich gesagt, sie sollen mich zusammen mit den dreien begraben. Begrabt mich im selben Grab, denn allein kann ich nicht weiter. Das Leben lohnt sich nicht mehr, allein.

Aber weißt du, als ich sie dann sah, wie sie da lagen, vor der Bestattung im Heldengrab an der mexikanischen Grenze zusammen mit all den anderen tapferen Männern, da sahen sie so ruhig aus, so rein wie nie zuvor im Leben. Und auch die Wunden waren gar nicht so, wie man das auf Bildern sieht, nicht blutverschmiert und alles – es waren einfach nur kleine Löcher. Man sah sie und dachte: Wie kann denn etwas so Kleines ein Menschenleben zerstören? Vorher hatte ich solche Angst, ich stellte mir vor, dass sie schrecklich aussehen müssten, zerschmettert. Aber so war es nicht, ganz und gar nicht. Sie lagen friedlich da. Sie sahen glücklich aus, Martina.«

»Hast du nicht gesagt, meinem Mann geht es gut?«, sagte Martina.

»Aber ja, Liebes, natürlich geht es ihm gut«, versicherte ihr Eliza. Sie hielt kurz inne, dann fuhr sie mit sanfter Stimme fort: »Ich will ja nur sagen, wenn ihm – was Gott verhüten möge – wenn ihm doch etwas zugestoßen ist, wenn die Blauen ihm etwas angetan haben, dann ist daran keine Schande. Wir würden ihn als stolzen Patrioten des Südens im Gedächtnis behalten, nicht anders als meine Jungs.«

Martina schleuderte den Rest ihres süßen Tees auf die Erde. »Wir sind keine Patrioten des Südens. Wir sind überhaupt keine Patrioten. Wir versuchen … wir wollen sehen, dass wir hier rauskommen. Wir gehen in den Norden. Wir sind keine Patrioten, und bei uns gibt es auch keine Helden.«

Eliza legte Martina die Hand auf die Schulter. »Ja doch, natürlich, und es ist ja auch keine Schande fortzugehen. Ich weiß, du willst das Beste für deine Kinder, und da oben ist es sicherer, das steht fest; bei denen muss keiner das durchmachen, was wir hier erleben. Aber ihr gehört da nicht hin. Nichts Schlimmes daran, wenn man seinen Kindern ein Leben in Sicherheit bieten will – und vielleicht können sie ja, wenn sie alt genug sind, eigene Entscheidungen fällen, in ihr Vaterland zurückkehren – aber ihr gehört da nicht hin. Der Süden steckt euch in den Knochen, ihr habt den Süden im Blut. Daran wird sich nie etwas ändern.«

»Wir sind eine Familie«, sagte Martina, ihr Blick auf die Biegung im Norden geheftet, bis zu der sich der Flusslauf verfolgen ließ. »Wir gehören zusammen. Sonst gehören wir nirgendwohin.«

Von jenseits der Biegung kam ein Geräusch, etwas näherte sich. Nicht der gurgelnde Klang von Smith’ Boot mit dem Außenborder, sondern etwas, das gleichmäßig das Wasser durchpflügte, etwas Größeres. Anfangs dachte Martina, es sei eins der Schmugglerschiffe der Rebellen, schon früher am Abend als sonst üblich unterwegs. Sie rief die Kinder vom Wasser weg, und sie kamen die glitschige Uferböschung heraufgeklettert, die Füße voller Schlamm. Aber als das Boot um die Biegung kam, waren die klar umrissenen Kegel von Suchscheinwerfern aufs Wasser gerichtet; Rebellenschiffe, das wusste Martina, fuhren ohne Licht.

Es war eine Flusspatrouille, eine zwanzig Fuß lange Barkasse vom Polizeiposten in Baton Rouge. Zumindest theoretisch sollte sie helfen, die Rebellen am Waffenschmuggel über den Fluss, an ihren Fahrten zu den Ölfeldern in Texas und dem mexikanischen Protektorat zu hindern. Das Boot bewegte sich langsam, vorsichtig, mit schimmernden Solarzellenträgern, die zu beiden Seiten ausgestreckt waren wie Schmetterlingsflügel. Diese Flügel sollten den Antrieb des Bootes mit Strom versorgen, und nur in Notfällen sollte der zusätzliche Dieselmotor gestartet werden. Aber in der Praxis hatten die Beamten sehr schnell von den Sonnenzellen und ihren kraftlosen Batterien die Nase voll, und sobald sie auf dem Wasser waren, fuhren sie fast immer mit genau dem Treibstoff, dessen Verbot sie durchsetzen sollten.

Martina wusste, was für Männer auf solchen Booten arbeiteten. Sie kamen allesamt aus dem Süden, angestellt beim Amt für Gewässerschutz oder beim Katastrophenschutz oder einem Dutzend anderer solcher Behörden, die nur pro forma Einrichtungen des Staates Louisiana waren – in Wirklichkeit dienten sie ausschließlich den Kriegszielen des Nordens. Die Leute nannten diese Beamten die blauen Bullen, und nach den Begriffen der Rebellen war mit denen eine Rechnung zu begleichen. Jeden Monat verschwanden entlang der Grenze nach Mississippi ein oder zwei solche Bullen. Den Leichnam fand man dann meist ein paar Tage später am krummen Ast eines Trompetenbaums hängen, und das Futter aus den Hosentaschen war ihm in den Mund gestopft. So machte man das mit denen, die als Verräter galten – nicht nur im Sezessionistenland, sondern auch in den Nachbarstaaten, wo die Bevölkerung mit den Rebellen sympathisierte, auch wenn die Regierung sich auf die Seite des Nordens geschlagen hatte.

»Es ist Benjamin«, sagte Martina, verfolgte, wie das Boot seinen Kurs änderte, auf den Anleger der Chestnuts zukam. »Ihm ist etwas zugestoßen. Die Blauen kommen nicht so spät am Abend hier heraus, wenn sie nicht müssen.«

»Jetzt beruhige dich«, sagte Eliza, »rede dir so was nicht ein. Wahrscheinlich ist gar nichts passiert.« Aber Martina war schon aufgesprungen und lief zum Ufer. Sie kreuzte den Weg der zum Haus zurückgerufenen Kinder. Sie gingen weiter, den Blick über die Schulter auf das Boot geheftet.

»Geht nach drinnen«, sagte Martina. Die Mädchen folgten dem Kommando, Simon nicht.

»Die wollen irgendwas wegen Dad, stimmt’s? Ich bin kein Baby mehr, ich bin alt genug, um das zu hören.«

Ohne ein Wort machte Martina kehrt und gab ihrem Sohn eine Ohrfeige. Der Junge stand sprachlos da, mit schmerzender Backe, rot im Gesicht. Die Fälle, in denen sich die Härte und die Strenge im Wesen der Mutter zeigten, waren selten genug, dass er zu seinem Schaden immer wieder vergaß, dass es solche Fälle überhaupt gab.

»Geh nach drinnen«, sagte Martina noch einmal zu ihrem Sohn, in dessen Augen vor Schreck und Wut nun die ersten Tränen standen. Seine Züge wurden trotzig und hart, doch diesmal gehorchte er.

Das Boot legte am Lehmufer an, und zwei Männer in graubraunen Uniformen kamen an Land. Die Uniformen erinnerten an die eines Sheriffs, und an der Brust prangten klobige, irgendwie unecht aussehende Dienstmarken.

Der eine Mann war groß und massig. Sein Haar war so kurz geschoren, dass die rosa Kopfhaut durchschimmerte, und auch ohne hinzusehen wusste Martina, dass er Speckröllchen im Nacken hatte. Der andere war kleiner und schmächtiger und schien ungefähr zehn Jahre älter als sein Kollege, der höchstens einundzwanzig sein konnte. Der Schmächtige hatte einen dünnen Aktendeckel in der Hand, den er im Licht einer Taschenlampe mehrfach konsultierte.

»Sind Sie Martina Chestnut?«, fragte er schließlich.

»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Martina zurück.

»Ehefrau von Benjamin Chestnut?«

»Sagen Sie mir, was mit ihm geschehen ist.«

Der Beamte sprach mit lebloser, monotoner Stimme und blickte nicht ein einziges Mal von seiner Akte auf. »Miss Chestnut, um ein Uhr siebzehn am Nachmittag des 1. April 2075 zündete im Foyer des Gebäudes der Bundesverwaltung in Baton Rouge ein Attentäter der Aufständischen eine Bombe …«

Was der Beamte sonst noch sagte, ging an Martina vorbei, sie hörte nichts mehr. Ihr Blick verengte sich, ihr wurde schwarz vor Augen, so dass die Umrisse des Mannes mit dem Dunkel des Flusses hinter ihm verschmolzen. Sie spürte einen Schmerz in der Magengrube, eine Übelkeit, aber sie achtete nicht darauf. Eliza hatte ihr wieder die Hand auf die Schulter gelegt, und das vertrieb die Dumpfheit lang genug, um den Mann in seinem Vortrag zu unterbrechen.

»Bringen Sie mich zu ihm«, sagte sie. »Ich will meinen Mann sehen.«

»Ma’am …« hob der Beamte an.

»Ich habe ein Recht darauf, den Leichnam meines Mannes zu sehen. Das ist mein Recht. Fahren Sie mich zu ihm, und dann bringen Sie uns beide nach Hause. Ich will nicht, dass er irgendwo in einem Leichenschauhaus ist, er soll bei sich zu Hause sein.«

»Ma’am, ich fürchte, solange die Ermittlungen der Leute vom Katastrophenschutz nicht abgeschlossen sind …«

»Verdammte Feiglinge!«, schnauzte Martina die beiden an. »Nicht einen einzigen echten Mann gibt es bei eurer Bande. Ihr macht wirklich alles, was man euch befiehlt, oder? Dressierte Hunde, das seid ihr. Ich hoffe, eure Familie ist als Nächstes dran, das hoffe ich. Eure Familie als Nächstes.«

»Sobald die Ermittlungen abgeschlossen sind, können Sie die sterblichen Überreste einfordern.«

»Verlassen Sie mein Grundstück«, sagte Martina. Sie bückte sich, nahm eine Handvoll Schlamm und bewarf die Beamten damit. Der Schlamm landete in nassen Spritzern auf ihren Uniformen und Stiefeln. Sie bückte sich noch einmal, und diesmal traf der Schlamm den Hemdrücken der beiden, denn sie waren bereits auf dem Rückzug zu ihrem Boot.

Als er das Seil vom Poller losmachte, drehte sich der Jüngere der beiden noch einmal kurz zu Martina um. »Mein Beileid«, sagte er.

Martina blickte dem Boot auf seiner Fahrt flussaufwärts nach, bis es nicht mehr zu sehen war. Die Umrisse blitzten noch kurz auf, als es das in den Wellen tanzende Spiegelbild des Mondes passierte, dann war es hinter der Biegung verschwunden.

Sie hörte, wie Eliza sagte: »Er ist zu seinem Schöpfer gegangen. Als Held für das Vaterland gestorben, genau wie mein Henry.«

»Geh zu den Kindern«, sagte Martina. »Bring sie zu Bett. Ich komme gleich nach.«

»Liebes, ich lasse dich jetzt nicht allein.«

»Geh nach drinnen, ich komme gleich nach.«

Sie schickte Eliza ins Haus und stand eine ganze Weile allein an der schlammigen Uferböschung.

Sie betrachtete das schwarze Wasser, endlos und endlos in Bewegung. Sie ging Richtung Norden, die Erde kühl und feucht unter ihren Füßen. Bald war sie im Hirsefeld, zwischen den braunen Dolden an ihren Stengeln, die Körner hart wie Schrotkugeln. Als sie weit genug gegangen war, dass sie sicher sein konnte, dass die Kinder sie nicht hörten, ließ sie sich auf die Knie fallen und schrie.

Auszug aus:

Der Ruf unseres Blutes: Botschaften aus dem Süden der Rebellen