An t-aos òg agus ceòl - Traditionelle Musik in der Rezeption schottischer Jugendlicher - Martin Schröder - E-Book

An t-aos òg agus ceòl - Traditionelle Musik in der Rezeption schottischer Jugendlicher E-Book

Martin Schröder

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Beschreibung

Examensarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Musik - Sonstiges, Note: 1,2, Hochschule für Musik und Theater Rostock (Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik), Sprache: Deutsch, Abstract: Musik existiert niemals für sich allein. Sie wird von Menschen für Menschen gemacht. Dieser Schaffens – und Rezeptionsprozess findet immer in kulturellen,gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen statt. Der Prozess der Musikrezeption und die Herausbildung musikalischer Einstellungen beeinflussen sich gegenseitig und sind ihrerseits das Produkt der musikalischen Sozialisation. Diese vollzieht sich auf verschiedenen Instanzen und wird von einer Reihe von Faktoren wie Alter, Geschlecht, Sozialstatus und regionaler Herkunft beeinflusst, doch insbesondere der Einfluss regionaler Faktoren auf die Musikrezeption ist bisher noch nicht ausreichend untersucht worden. Die polnische Musikwissenschaftlerin Zofia LISSA weist auf die Bedeutung dieser Faktoren hin. So zeigen nach LISSA verschiedene gesellschaftliche Gruppen einer Nation spezifische rezeptorische Haltungen. An t-aos òg agus ceòl – Jugend und Musik. Diese gälischen Worte erfassen trotz ihrer Kürze das Thema der Arbeit und weisen durch die gewählte Sprache auf die Art der zu untersuchenden Musik hin –die traditionelle Musik Schottlands. Im ersten Kapitel werden zentrale Begriffe definiert und die theoretischen Aspekte jugendlicher Musikrezeption näher beleuchtet. In einem zweiten Kapitel wird die enorme Vielfalt der traditionellen Musik Schottlands vorgestellt. Neben allgemeinen Charakteristika werden vor allem die verschiedenen Stile der Musik in ihrer historischen und gegenwärtigen Ausprägung beschrieben. Das Verhältnis der Schotten zur ihrer musikalischen Tradition und dessen Entwicklung seit Beginn des 20. Jh. ist Gegenstand eines weiteren Kapitels. Dabei steht insbesondere auch die gälische Liedtradition im Fokus. Im darauf folgenden Abschnitt wird, bezugnehmend auf die These Zofia LISSAS, versucht, nachzuweisen, dass in den Regionen der Highlands und Lowlands distinkte Rezeptionsweisen vorherrschen, die gesellschaftlich, sprachlich,wirtschaftlich und historisch begründet sind. Die Existenz und Gestalt dieser unterschiedlichen Rezeptionsweisen sollen im Anschluss durch eine quantitative Befragung unter schottischen Sekundarschülern empirisch nachgewiesen werden. Auch wenn durch die Untersuchung nur ein kleiner Einblick in die Unterrichtspraxis gewonnen werden konnte, ist es anhand der Eindrücke dennoch möglich, Vorschläge für eine verbesserte Didaktik traditioneller Musik im Schulunterricht zu unterbreiten. Diese Anregungen werden in einem abschließenden Kapitel vorgestellt.

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung S.
1. Theoretische Aspekte zur Musikrezeption Jugendlicher
1.1 Funktion und Bedeutung von Musik für Jugendliche und junge
Erwachsene S.
1.2 Zum Begriff der Musikrezeption
1.3 Musikgeschmack oder Musikpräferenz?
1.4 Musikalische Sozialisation und ihre Einflussfaktoren
1.4.1 Begriffsdefinition
1.4.2 Einflussfaktoren auf den Sozialisationsprozess
1.4.3 Sozialisationsinstanzen
1.5 Zusammenfassung
2. Die traditionelle Musik Schottlands im Überblick
2.1 Zur Problematik einer Definition
2.2 Allgemeine Merkmale schottischer Musik
2.3 Typische Liedformen und Instrumente
2.3.1 Die Ballade
2.3.2 Gaelic und Scots Song
2.3.3 Clarsach
2.3.4 Fiddle
2.3.5 Bagpipe
2.4 Zusammenfassung
3. Das Verhältnis der Schotten zur eigenen musikalischen Tradition
3.1 Die Situation zu Beginn des Jahrhunderts
3.2 Das Second Folk Song Revival in Schottland
3.3 Die Entwicklung der traditionellen Musik seit den 1970er Jahren
3.4 Die Entwicklung der gälischen Liedkultur im 20. Jahrhundert
3.5 Zusammenfassung
4. Einflussfaktoren auf eine distinkte Rezeption und Pflege der
4.1 Die Highland Line
4.2 Lebensweise und soziale Strukturen
4.3 Sprache
4.4 Infrastruktur
4.5 Industrialisierung
4.6.1 Der Jakobitenaufstand von 1745
4.6.2 Die Highland Clearances
4.7 Zusammenfassung und Folgerungen
5. Empirische Untersuchung zum musikalischen Rezeptionsverhalten
5.1 Problemstellung und Relevanz der Untersuchung
5.2 Zur Forschungsmethode
5.2.1 Vergleich qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden
5.2.2 Begründung der angewandten Forschungsmethode
5.2.3 Beschreibung der Forschungsmethode
5.3 Datenerhebung
5.3.1 Durchführung der Untersuchung
5.3.2 Konzeption des Fragebogens
5.3.3 Forschungsleitende Fragestellungen
5.3.4 Arbeitshypothesen
5.3.5 Kriterien für die Auswahl der Stichprobe
5.4 Untersuchungsergebnisse
5.4.1 Einstellung zu traditioneller Musik
5.4.2 Einfluss musikalischer Fertigkeiten auf das Präferenzverhalten
5.4.3 Einfluss der gälischen Sprachkompetenz auf das Präferenzverhalten
5.4.4 Konsumverhalten
5.4.5 Besuch von Festivals und Konzerten
5.4.6 Präferierte Stile traditioneller Musik
5.5 Zusammenfassung
6. Anregungen für eine verbesserte Didaktik traditioneller Musik im
6.1 Historische Entwicklung
6.2 Die Situation heute
6.2.1 Probleme
6.2.2 Mögliche Maßnahmen
6.3 Zusammenfassung
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
8.1 Primärliteratur
8.2 Sekundärliteratur
8.2.1 Lexika und Bibliographien
8.2.2 Monographien und Beiträge in Sammelbänden
8.2.3 Zeitschriftenaufsätze
8.2.4 Websites
8.3 Tonträger
9. Abbildungsverzeichnis
10. Diagrammverzeichnis
11. Anhang

Page 1

Page 6

“Thig crioch air an t-saoghal, ach mairidh gaol is ceòl.”

“The world will end, but love and music will endure forever.”

Gälisches Sprichwort

Page 3

Einleitung

„Die Existenz eines Musikwerkes [ist] in der konkreten Wirklichkeit trotz seiner klanglichen Realisation solange nicht wirklich vollkommen, bis es zu einem gemeinsamen Empfang des Werkes kommt, der sein

Dasein konstituiert.“1

Étienne SOURIAU

Musik existiert niemals für sich allein. Sie wird von MenschenfürMenschen gemacht. Dieser Schaffens - und Rezeptionsprozess findet immer in kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen statt. Komponist bzw. Interpret

und Hörer lassen sich nicht aus diesem Kontext wegdenken.2Der Prozess der Musikrezeption und die Herausbildung musikalischerEinstellungenbeeinflussen sich gegenseitig und sind ihrerseits das Produkt dermusikalischen Sozialisation.Diese vollzieht sich auf verschiedenen Instanzen und wird von einer Reihe von Faktoren wie Alter, Geschlecht, Sozialstatus und regionaler Herkunft beeinflusst, doch insbesondere der Einfluss regionaler Faktoren auf die Musikrezeption ist bisher noch nicht ausreichend untersucht worden.

Die polnische Musikwissenschaftlerin Zofia LISSA weist auf die Bedeutung dieser Faktoren hin. So zeigen nach LISSA verschiedene gesellschaftliche Gruppen einer Nation spezifische rezeptorische Haltungen. Die Art der Musikaufnahme sei die Folge

der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturtyp.3

Die vorliegende Arbeit untersucht die Rezeption der eigenen traditionellen Musik in Schottland. In Deutschland ist subjektiv eine große Vorliebe für Musik zu beobachten, die an dieser Stelle grob vereinfacht unter dem Namen „Celtic Music“ zusammengefasst werden soll. Dazu zählt insbesondere die traditionelle Musik aus Irland und Schottland. Möglicherweise ist diese Affinität aus der (vermeintlichen) Verbindung von Musik und Nationalstolz heraus zu erklären, aus der Sehnsucht nach einer einheitlichen nationalen Musik und dem Bedürfnis, einen Stolz auf „Land und Leben“ zu entwickeln, der jedoch

nach den Schrecken der NS-Zeit immer einen schalen Beigeschmack haben wird.4

1Zitiert nach: LISSA, Zofia: Neue Aufsätze zur Musikästhetik. Wilhelmshaven 1975. S. 111.

2LISSA, Zofia: Neue Aufsätze zur Musikästhetik. (wie Anm. 1). 132.

3Ebenda, S. 117.

4MURPHY, Robert: Die Kultur der schottischen Musik. In: SIEBERS, Winfried; ZAGRATZKI, Uwe [Hsg.]: Deutsche Schottlandbilder - Beiträge zur Kulturgeschichte. Osnabrück 1998. S. 100.

Page 4

Die Schotten selbst besitzen solch einen patriotischen Stolz, der sich nicht zuletzt aus geschichtlichen Ereignissen speist, einer Geschichte von oft blutigen Auseinandersetzungen mit dem südlichen Nachbarn England. Doch geht die Liebe zur schottischen Heimat gleichzeitig auch mit der Rezeption traditioneller Musik einher? Gibt es innerhalb Schottlands regionale Faktoren und kulturelle Einflüsse, die sich auf die Musikrezeption auswirken, und können diese empirisch nachgewiesen werden? Diese und andere Fragen versucht die vorliegende Arbeit zu beantworten. Dafür wurden gezielt die musikalischen Rezeptionsweisen von Jugendlichen in verschiedenen Regionen Schottlands untersucht, ist doch die Jugend ein Indikator für den Zustand, in dem sich die traditionelle Musik Schottlands gegenwärtig befindet. Diese wird häufig als „lebendige Tradition“ bezeichnet. Doch ist dies tatsächlich gerechtfertigt? Lebendig ist eine Tradition nur dann, wenn sie weitergegeben wirdentweder schriftlich oder mündlich. Die Jugend nimmt eine Schlüsselposition in diesem Transmissionsprozess ein. Ihr kommt die Aufgabe zu, musikalische Traditionen auch in Zukunft zu pflegen. Nimmt sie diese nicht an, wird der Prozess unterbrochen und die Traditionen laufen Gefahr mit den Generationen der Eltern und Großeltern auszusterben.

Um den Umgang mit der schottischen Musik in einem größeren Kontext zu betrachten, wurde bewusst die Rezeption von Sekundarschülern untersucht. Die Schule steht für die Weitergabe bestimmter Werte und reflektiert ihre Bedeutung innerhalb einer Gesellschaft. Der Bildungsforscher Hamish M. PATERSON erklärt hierzu:

„But the ways in which a nation arranges and organises the schooling of adolescents - that is, young people between the ages of 12 and 18, which is how I define secondary education […] - give perhaps the clearest indications of these cultural values. Secondary education is also the clearest institutional embodiment of the inevitable contradictions

and conflicts in that culture […]”5

5PATERSON, Hamish M.: Secondary Education. In: Holmes, Heather [Hsg.]: Scottish Life and Society -A Compendium of Scottish Ethnology: Institutions of Scotland - Education. East Linton 2000. S. 136.

Page 5

An t-aos òg agus ceòl- Jugend und Musik. Diese gälischen Worte erfassen trotz ihrer Kürze das Thema der Arbeit und weisen durch die gewählte Sprache auf die Art der zu

untersuchenden Musik hin - die traditionelle Musik Schottlands.6Die WorteJugendundMusikihrerseits stehen für ein komplexes Themengebiet, dem sich zu nähern, sich als nicht ganz leicht herausgestellt hat. Um dennoch einen möglichst breiten Einblick in die Problematik jugendlicher Musikrezeption in Schottland geben zu können, wurde sich verschiedener Teilbereiche musikalischer Forschung bedient, so der systematischen und historischen Musikwissenschaft aber auch der Musikethnologie und Musikpädagogik. Darüber hinaus wurde zur Erhellung einzelner Aspekte die Hilfe anderer Wissenschaften wie der Geschichts-, Sprach- und Sozialwissenschaft in Anspruch genommen.

So werden im ersten Kapitel zentrale Begriffe definiert und die theoretischen Aspekte jugendlicher Musikrezeption näher beleuchtet. In einem zweiten Kapitel wird die enorme Vielfalt der traditionellen Musik Schottlands vorgestellt. Neben allgemeinen Charakteristika werden vor allem die verschiedenen Stile der Musik in ihrer historischen und gegenwärtigen Ausprägung beschrieben. Das Verhältnis der Schotten zur ihrer musikalischen Tradition und dessen Entwicklung seit Beginn des 20. Jh. ist Gegenstand eines weiteren Kapitels. Dabei steht insbesondere auch die gälische Liedtradition im Fokus. Im darauf folgenden Abschnitt wird, bezugnehmend auf die These Zofia LISSAS, versucht, nachzuweisen, dass in den Regionen der Highlands und Lowlands distinkte Rezeptionsweisen vorherrschen, die gesellschaftlich, sprachlich, wirtschaftlich und historisch begründet sind. Die Existenz und Gestalt dieser unterschiedlichen Rezeptionsweisen sollen im Anschluss durch eine quantitative Befragung unter schottischen Sekundarschülern empirisch nachgewiesen werden. Auch wenn durch die Untersuchung nur ein kleiner Einblick in die Unterrichtspraxis gewonnen werden konnte, ist es anhand der Eindrücke dennoch möglich, Vorschläge für eine verbesserte Didaktik traditioneller Musik im Schulunterricht zu unterbreiten. Diese Anregungen werden in einem abschließenden Kapitel vorgestellt. Die vorliegende Arbeit steht nicht für sich allein, sondern basiert auf Erkenntnissen langjähriger nationaler und internationaler Forschungstätigkeit zum musikalischen Rezeptions- und Präferenzverhalten Jugendlicher. Dieses wird insbesondere durch dieMusikpsychologieundMusiksoziologieuntersucht. Die Forschungsliteratur hierzu ist mannigfaltig und kann an dieser Stelle nur in Auswahl angegeben werden.

6Wobei sich der Terminus „traditionelle Musik“ selbstverständlich nicht nur auf die gälischsprachige Musik bezieht.

Page 6

Zur Musikpräferenz und ihrer Veränderlichkeit sei auf nationaler Ebene vor allem auf die Arbeiten HelgaDE LAMOTTE-HABERS, Josef KLOPPENBURGS, Klaus-Ernst BEHNES

und Rainer DOLLASES hingewiesen.7Die verschiedenen Aspekte musikalischer Sozialisation haben in ihrer Forschungstätigkeit unter anderem HelgaDE LAMOTTE-HABER, Hans NEUHOFF, Günter KLEINEN und Renate MÜLLER beleuchtet. MÜLLER hatte in den 1990er Jahren das Konzept derSelbstsozialisationvon der Soziologie auf die Musikpädagogik übertragen. NEUHOFF steht der Vorstellung von einer

selbstorganisierten Sozialisation Jugendlicher hingegen kritisch gegenüber.8Zu dem Thema „Jugend und Musik“ sind seit den 1960er Jahren eine ganze Reihe von Studien und Publikationen veröffentlicht worden, die sich primär mit der Popularmusikrezeption Jugendlicher befasst haben. Ein guter Überblick über das Themengebiet und die Forschungsentwicklung in der Retrospektive lässt sich bei Dieter BAACKE und Winfried PAPE finden.9

Aus der internationalen Forschungsliteratur zur Musikrezeption ist insbesondere das Werk „The Social Psychology of Music“ von David J. HARGREAVES und Adrian C. NORTH hervorzuheben. Dieses Standardwerk befasst sich mit allen wesentlichen Fragen zum Umgang mit Musik unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten.10Die

vielseitigen Aspekte der Umgehensweisen britischer Jugendlicher mit (Popular-)Musik bezüglich der Ausbildung von Subkulturen, des Gebrauchs und des Einflusses von Musikmedien und des Musikkonsums im öffentlichen Raum untersuchte Dan LAUGHEY

7KLOPPENBURG, Josef: Soziale Determinanten des Musikgeschmacks Jugendlicher. In: de la Motte-Haber, Helga [Hsg.]: Psychologische Grundlagen des Musiklernens. Handbuch der Musikpädagogik Bd. 4. Kassel 1987. S. 186-220. Vgl. KLOPPENBURG, Josef: Musikpräferenzen - Einstellungen, Vorurteile, Einstellungsänderung. In:DE LAMOTTE-HABER, Helga; RÖTTER, Günther [Hsg.]: Musikpsychologie. Laaber 2005. S. 357-393. Vgl. BEHNE, Klaus-Ernst: Musikpräferenzen und Musikgeschmack. In: BRUHN, Herbert; OERTER, Rolf; RÖSING, Helmut [Hsg.]: Musikpsychologie. Hamburg 1993. S. 339-353. Vgl. BEHNE, Klaus-Ernst: Aspekte einer Sozialpsychologie des Musikgeschmacks. In:DE LAMOTTE-HABER, Helga; NEUHOFF, Hans [Hsg.]: Musiksoziologie. Laaber 2007. S. 418-437. Vgl. DOLLASE, Rainer: Musikpräferenzen und Musikgeschmack Jugendlicher. In: BAACKE, Dieter [Hsg.]: Handbuch Jugend und Musik. Opladen 1998. S. 341-368.

8KLEINEN, Günter: Musikalische Sozialisation. In: BRUHN, Herbert; KOPIEZ, Reinhard; LEHMANN, Andreas C. [Hsg.]: Musikpsychologie. Hamburg 2008. S. 37-66. Vgl. NEUHOFF, Hans;DE LAMOTTE-HABER, Helga: Musikalische Sozialisation. In:DE LAMOTTE-HABER, Helga; NEUHOFF, Hans [Hsg.]: Musiksoziologie. Laaber 2007. S. 389-417. Vgl. MÜLLER, Renate: Soziale Bedingungen der Umgehensweisen Jugendlicher mit Musik - Theoretische und empirisch-statistische Untersuchung zur Musikpädagogik. Musikwissenschaft/Musikpädagogik in der Blauen Eule. Bd. 5. Essen 1990. Vgl. MÜLLER, Renate; GLOGNER, Patrick; RHEIN, Stefanie: Die Theorie musikalischer Selbstsozialisation: Elf Jahre ... und ein bisschen weiser? In: AUHAGEN, Wolfgang; BULLERJAHN, Claudia; HÖGE, Holger [Hsg.]: Musikalische Sozialisation im Kindes- und Jugendalter. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie. Bd 19. Göttingen 2007. S. 11-30.

9PAPE, Winfried: Jugend und Musik. In:DE LAMOTTE-HABER, Helga; NEUHOFF, Hans [Hsg.]: Musiksoziologie. Laaber 2007. Vgl. BAACKE, Dieter [Hsg.]: Handbuch Jugend und Musik. Opladen 1998. S. 456-472.

10HARGREAVES, David J.; NORTH, Adrian C. [Hsg.]: The Social Psychology of Music. Oxford 2000.

Page 7

in einer Reihe von qualitativen Befragungen an britischen High Schools und Colleges.11Dabei baut er auch auf den Arbeiten anderer Autoren auf, wie beispielsweise Simon FRITHS „The Sociology of Rock“ (1978) und „Sound Effects - Youth, Leisure and the Politics of Rock’n’Roll“ (1981), zwei der ersten ernsthaften wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Rockmusik als Massenphänomen und Ausdruck einer

Jugendkultur.12

Ein Großteil der Forschungsliteratur zur jugendlichen Rezeption nicht-westlicher Musik stammt aus den USA. Hier sind insbesondere die Werke zur interkulturellen Musikpädagogik Bennett REIMERS und die Artikel und Aufsätze zum Einfluss musikalischer Parameter auf das Rezeptionsverhalten Jugendlicher von Chi-Keung

Victor FUNG und Albert LEBLANC zu nennen.13

11LAUGHEY, Dan: Music & Youth Culture. Edinburgh 2006.

12FRITH, Simon: The Sociology of Rock. London 1978. Vgl. FRITH, Simon: Sound Effects - Youth, Leisure and the Politics of Rock’n‘Roll. New York 1981.

13REIMER, Bennett [Hsg.]: World Musics and Music Education - Facing the Issues. Reston 2002. Vgl. Reimer, Bennett: A Philosophy of Music Education - Advancing the Vision. Upper Saddle River/New Jersey 2003. Vgl. FUNG, C. Victor: A Review of Studies on Non-Western Music Preference. In: Update Appl Res Music Educ 12/1 (1993). S. 26-32. Vgl. FUNG, C. Victor: College Student’s Preferences for World Music. In: Contrib Music Educ 21 (1994). S. 46-63. Vgl. LEBLANC, Albert; FUNG, C. Victor; BOAL-PALHEIROS, Graça M. u.a.: Effect of Strength of Rhythmic Beat on Preferences of Young Music Listeners in Brazil, Greece, Japan, Portugal, and the United States. In: B Coun Res Music Ed 153/154 (2002). S. 36-41. Vgl. LEBLANC, Albert u.a.: Tempo Preferences of Different Age Music Listeners. In: J Res Music Educ 36/3 (1988). S. 156-168.

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1. Theoretische Aspekte zur Musikrezeption Jugendlicher

1.1 Funktion und Bedeutung von Musik für Jugendliche und junge

Erwachsene

Um sich dem komplexen Themenbereich „Jugend und Musik“ zu nähern erscheint es zunächst sinnvoll, den Begriff der „Jugend“ kurz zu umreißen. Die Jugend ist der Lebensabschnitt zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Diese Übergangsphase wird in der Psychologie und Soziologie auch alsAdoleszenzbezeichnet. Geprägt von wichtigen Meilensteinen der persönlichen Entwicklung wie der Ablösung vom Elternhaus, des Aufbaus einer Lebensperspektive und der Suche nach dem Platz in der Gesellschaft und der eigenen Identität, ist sie für den heranwachsenden Menschen von enormer Bedeutung.

Während es vom Begriff der Jugend relativ klare Definitionen gibt, erscheint die zeitliche Eingrenzung je nach Betrachtungsweise ungleich problematischer. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) bestimmt in § 7 zum Jugendlichen, wer 14 aber noch nicht 18 Jahre alt ist.14Aus entwicklungspsychologischer Sicht lässt sich der Beginn der Adoleszenz mit dem Eintritt des Individuums in die Pubertät kennzeichnen. Dieser findet bei den Jungen mit 12,5 Jahren gegenüber den Mädchen mit 11,5 Jahren

für gewöhnlich leicht retardiert statt.15Das Ende der Jugendzeit ist nicht klar zu bestimmen. Während MUUS das Ende der Adoleszenz noch bei 20 Jahren sieht16, haben die ökonomischen, kulturellen und bildungspolitischen Veränderungen seit den 1960er

Jahren eine Verlängerung der Jugendphase bewirkt.17Die vorliegende Arbeit wird sich daher an den Vorgaben der 15. Shell Jugendstudie aus dem Jahre 2006 orientieren,

welche für die Jugend den Lebensabschnitt von 12-25 Jahre definiert.18

14§ 7 Abs. 1 Ziff. 2 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe).

15PAPE, Winfried: Jugend und Musik. (wie Anm. 9). S. 456.

16MUUS, Rolf E.; PREYER, Klaus: Adoleszenz. Stuttgart 1971. S. 8.

17PAPE, Winfried: Jugend und Musik. S. 456f.

18HURRELMANN, Klaus; ALBERT, Mathias u.a.: Jugend 2006 - 15. Shell Jugendstudie. http://www.shell.com/static/de-de/downloads/society_environment/shell_youth_study/2006/youth_study_2006_exposee.pdf, Stand: 17.02.2009.

Page 9

Wie in mehreren Studien nachgewiesen werden konnte, spielt Musik im Leben von Jugendlichen eine überaus große Rolle. So ist der Studie von Jürgen ZINNECKER aus dem Jahre 2001 zu entnehmen, dass das Hören von Musik die am weitesten verbreitete Freizeitbeschäftigung von Jugendlichen darstellt.19Wenngleich die Studie auf Probanden aus Nordrhein-Westfalen begrenzt war, werden die Ergebnisse durch andere Untersuchungen wie der von FITZGERALD (1995) und RENTFROW & GOSLING (2002) an

amerikanischen Studenten bestätigt.20

Dabei übernimmt die Musik wichtige Funktionen bei der individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Sie hat maßgeblichen Einfluss auf die Herausbildung der eigenen Identität und besitzt eine Zuordnungsfunktion zu jugendlichen Sub- und Teilkulturen, welche sich selbstverständlich unter anderem auch durch einen eigenen

Sprach- und Kleidungsstil manifestieren.21Renate MÜLLER spricht in diesem Zusammenhang von einer „sozialen Integrationsfunktion“.22Dabei dient die Musik gleichzeitig der sozialen Distinktion vor allem gegenüber dem Elternhaus und anderen

Jugendszenen.23Gerade für britische Jugendliche hatte Musik als Möglichkeit der Zuordnung zu bzw. Abgrenzung von Peer Groups schon immer eine große Bedeutung.24Die Ergebnisse neuerer Untersuchungen zur Präferenzforschung schreiben der Musik weiterhin eine Eskapismusfunktion zu. Das heißt, Jugendliche sehen in ihr eine Möglichkeit, der Realität mit all ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Problemen zu

entfliehen und sich eine Art musikalische Traumwelt zu konstruieren.25Darüber hinaus wird Musik zur Stimmungsregulierung (mood-management) eingesetzt.26Sie fungiert

somit als emotionales Ausgleichsmedium. Günther KLEINEN konstatiert somit völlig richtig:

19Umfrage unter 8000 Jugendlichen 10-18 Jahre, zitiert nach: PAPE, Winfried: Jugend und Musik. S. 458.

20Studie von FITZGERALD zitiert nach: ZILLMANN, Dolf; GAN, Su-lin: Musical Taste in Adolescence. In: HARGREAVES, David J.; NORTH, Adrian C. [Hsg.]: The Social Psychology of Music. Oxford 2000. S. 162. Vgl. RENTFROW, Peter J.; GOSLING, Samuel D.: The Do Re Mi’s of Everyday Life - The Structure and Personality Correlates of Music Preferences. In: JPSP 84/6 (2003). S. 1236-1256.

21NEUHOFF, Hans;DE LAMOTTE-HABER, Helga: Musikalische Sozialisation. (wie Anm. 8). S. 394f. Vgl. CAMPBELL, Patricia S.: Teaching Music Globally. Oxford-New York 2004. S. 236.

22Zitiert nach: PAPE, Winfried: Jugend und Musik. S. 465.

23DOLLASE, Rainer: Musikpräferenzen und Musikgeschmack Jugendlicher. (wie Anm. 7). S. 363f. Anm.: Eine Vertiefung des Themas „Jugendszenen“ kann in der vorliegenden Arbeit nicht erfolgen, da nicht die Musikrezeption einzelner Szenen untersucht, sondern spezifische musikalische Aspekte über Milieu- und geographische Grenzen hinaus betrachtet werden. Zum Thema „Jugendszenen“ siehe HITZLER, Ronald; BUCHER, Thomas; NIEDERBACHER, Arne: Leben in Szenen - Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute. Opladen 2001.

24FRITH, Simon: Sound Effects (wie Anm. 12). S. 215f.

25DOLLASE, Rainer: Musikpräferenzen. S. 363f.

26ZILLMANN, Dolf; GAN, Sulin: Musical Taste in Adolescence. (wie Anm. 20). S. 177.

Page 10

„Musik [hat] die höchste individuelle und soziale, somit auch

entwicklungspsychologische Relevanz in der Jugendphase.“27

1.2 Zum Begriff der Musikrezeption

Der Komplex der Aufnahme und Verarbeitung sowie der Beurteilung von Musik wird in der wissenschaftlichen Forschung alsMusikrezeption(lat.recipere„aufnehmen“)

bezeichnet.28Die „Rezeption“ muss jedoch von dem Begriff der „Perzeption“ (lat.percipere„wahrnehmen“) unterschieden werden, welcher die primär unbewusste Wahrnehmung von Informationen über die Sinnesorgane und die Genese von Vorstellungsbildern als neurophysiologischen Prozess beschreibt. Auf die Subjektivität als signifikantes Unterscheidungsmerkmal weist Zofia LISSA in ihren Aufsätzen zur Musikästhetik hin. Perzeption sei der individuelle Empfang eines Werkes innherhalb eines gesellschaftlich-kulturellen und historischen Kontextes, das musikalische Erleben eines konkreten Hörers. Die Rezeption hingegen umfasst

„die Gesamtheit der Merkmale der Perzeption, die einer [...] gesellschaftlich bestimmten Gruppe gemeinsam sind und sich von denjenigen anderer Gruppen unterscheiden.“29

Da die vorliegende Arbeit die Aufnahme und Beurteilung traditioneller Musik durch schottische Jugendliche als gesellschaftlich spezifische Gruppe thematisiert, ist es in der Folge daher geboten, von Musikrezeption zu sprechen.

Nach LISSA ist diese Unterscheidung von anderen gesellschaftlichen Gruppen in der Rezeption von Musik ursächlich für die verschiedenen Musikpräferenzen. Rezeptionsforschung sei immer auch eine Untersuchung der Präferenzen, welche zu einem Werturteil und einer musikalischen Stellungnahme der untersuchten Gruppe führe.30

Dass die Entstehung von Musikpräferenzen immer auch ein höchst individueller Prozess ist, soll im Folgenden verdeutlicht werden.

27KLEINEN, Günter: Musikalische Sozialisation. (wie Anm. 8). S. 58.

28NIKETTA, Reiner: Urteils- und Meinungsbildung. In: BRUHN, Herbert; OERTER, Rolf; RÖSING, Helmut [Hsg.]: Musikpsychologie. Hamburg 1993. S. 331.

29LISSA, Zofia: Neue Aufsätze zur Musikästhetik. S. 112f.

30Ebenda, S. 113. Vgl. MÜLLER, Renate: Soziale Bedingungen der Umgehensweisen Jugendlicher mit Musik. (wie Anm. 8). S. 136f.

Page 11

1.3 Musikgeschmack oder Musikpräferenz?

Ob ein Musikstück für gut oder schlecht befunden und welch individuelle Bedeutung und subjektiver Wert ihm beigemessen wird, hängt maßgeblich vom Musikgeschmack des Hörers ab. Obwohl es in der Forschungsliteratur keine einheitlichen Definitionen gibt, wird in der Musikpsychologie und systematischen Musikwissenschaft meist der Begriff der Musikpräferenz oder Einstellung verwendet, da der Ausdruck

„Musikgeschmack“ zu umgangssprachlich und diffus sei.31Klaus-Ernst BEHNE ist der Ansicht, Musikpräferenz sei „das, was jemand musikalisch bevorzugt.“32Andreas KUNZ ist der gleichen Auffassung, bevorzugt allerdings den Begriff des „Musikgeschmacks“ als Grundlage für die Herausbildung von Musikpräferenzen und

Werturteilen.33Somit scheint es nach BEHNE und KUNZ zwei Bedeutungsebenen zu geben. Die internale Ebene des „Musikgeschmacks“ und die externale, objektivierte und messbare Ebene der musikalischen Präferenz in einer konkreten Situation. Ekkehard JOST beschrieb bereits zu Beginn der 1980er Jahre die sozialpsychologischen Einflüsse auf das musikalische Verhalten und betrachtete die Musikpräferenz als „positive Subjekt-Objekt-Relation“, als eine Beziehung zwischen Subjekt und musikalischem Objekt, welches als Komponist, Werk, Stil oder Interpret in Erscheinung treten könne. Nach JOST befindet sich zwischen dem Reiz (Objekt) und dem Individuum (Subjekt) die musikalische Präferenz oder Einstellung als Mittlerinstanz, welche Einfluss auf die affektiven, kognitiven und verhaltensmäßigen Reaktionen des

34Dabei bezieht sich JOST auf das Individuums gegenüber dem Objekt ausübt.

Dreikomponentenmodell von ROSENBERG und HOVLAND aus dem Jahre 1960.35Aufgrund der begrenzten Verarbeitungskapazität des menschlichen Gehirns findet bei der internen Verarbeitung musikalischer Reize immer auch eine Generalisierung und Kategorisierung statt. Musik wird mit spezifischen Attributen versehen und in „Schubladen“ gepackt (z.B. traditionelle schottische Musik sei langweilig und nur etwas für alte Leute), was die individuelle Urteilsbildung erheblich vereinfacht, auch wenn

dabei häufig Klischees zum Tragen kommen.36

31KLOPPENBURG, Josef: Musikpräferenzen (wie Anm. 7). S. 357.

32Zitiert nach: DOLLASE, Rainer: Musikpräferenzen. S. 342.

33KUNZ, Andreas: Aspekte der Entwicklung des persönlichen Musikgeschmacks. Friedensauer Schriftenreihe. Reihe C - Musik - Kirche - Kultur. Bd. 1. Frankfurt/Main 1998. S. 22.34JOST, Ekkehard: Sozialpsychologische Dimensionen des musikalischen Geschmacks. In: DAHLHAUS,

Carl;DE LAMOTTE-HABER, Helga [Hsg.]: Systematische Musikwissenschaft. Neues Handbuch der Musikwissenschaft Bd. 10. Wiesbaden 1982. S. 262ff.

35KLOPPENBURG, Josef: Musikpräferenzen. S. 359.

36Ebenda, S. 360.

Page 12

Es bleibt jedoch festzustellen, dass aus einer inneren Einstellung heraus nicht automatisch eine spezifische musikalische Reaktion erfolgen muss. Nur weil jemand aufgrund seiner Präferenz eine Musikgruppe besonders gerne hört, heißt das nicht unbedingt, dass er auch ihre CDs kauft.

Es kristallisieren sich bei der Frage nach dem Wesen der musikalischen Präferenz also zwei unterschiedliche Positionen heraus. BEHNE sieht die Musikpräferenz als wahrnehmbare Konsequenz innerer Entscheidungsprozesse, für JOST ist die Musikpräferenz als eigene Instanz in diese Entscheidungsprozesse mit eingebunden. Aufgrund der Schlüssigkeit seines Konzepts folge ich im Übrigen der Auffassung JOSTS. Musikpräferenzen sind relativ beständig, aber nicht unveränderbar. Einstellungsänderungen erfolgen durch Lernprozesse oder musikalische

Schlüsselerlebnisse.37Wird die Person dabei selbst tätig oder auf affektiver Ebene angesprochen, kann von einer besonderen Nachhaltigkeit des Lernprozesses ausgegangen werden. Dies ist insbesondere bei der pädagogischen Arbeit zu beachten. Musikpräferenzen sind nicht angeboren. Sie müssen erst durch Erfahrungen im Laufe einesSozialisationsprozesseserworben werden.

Abb. 2:Dreikomponentenmodell der Einstellung (nach Milton J. ROSENBERG & Carl Iver HOVLAND,

1960)

37Ebenda, S. 358.

Page 13

1.4 Musikalische Sozialisation und ihre Einflussfaktoren

1.4.1 Begriffsdefinition

Sozialisation ist ein komplexer undlebenslangerProzess. Sie bedeutet

„das Hineinwachsen einer Person in die Gesellschaft und Kultur, die [...] Entwicklung der handlungsfähigen Persönlichkeit und die Ausbildung der sozialen und personalen Identität.“38

Dabei werden ab dem frühesten Kindesalter Normen, Werte und Regeln vermittelt, welche der Person erst ihren Handlungsspielraum innerhalb der Gesellschaft ermöglichen.

Lange Zeit war es üblich, den Sozialisationsprozess in die Phasen derPrimär- und Sekundärsozialisationzu unterteilen. Dabei wurde die frühe Sozialisation in der Familie als primär und die nachfolgenden Sozialisationsprozesse innerhalb der Familie, Schule und Peergroups als sekundär bezeichnet. Alle weiteren persönlichkeitsverändernden Prozesse wurden gelegentlich unter dem BegriffTertiärsozialisationsubsumiert. Da vor allem bei der Unterscheidung in nur zwei Phasen der Eindruck entstehen kann, die Persönlichkeitsentwicklung und die Vergesellschaftung sei mit dem Ende der Sekundärsozialisation abgeschlossen, wird heutzutage

„der Sozialisationsprozess [...] mit Blick auf die gesamte Lebensspanne und die jeweils dominanten ‚altersspezifischen‘ Probleme und Entwicklungsaufgaben thematisiert.“39

Sozialisation ist ein dynamischer Prozess, während dessen sich Bezugspersonen und die Intensität des Vorgangs ändern können. Sie ist eng mit dem Begriff der „Enkulturation“ verbunden, welcher den Erwerb kultureller Kompetenzen und Fähigkeiten beschreibt.40Wie schon bei der Frage, inwiefern Präferenzen Einfluss auf unsere musikalischen Ansichten und Verhaltensweisen ausüben, gibt es auch bezüglich des

38NEUHOFF, Hans;DE LAMOTTE-HABER, Helga: Musikalische Sozialisation. S. 389.

39VEITH, Hermann: Sozialisation. München 2008. S. 15. Vgl. TILLMANN, Klaus-Jürgen: Sozialisationstheorien - Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung. Hamburg 1994. S. 19.

40NEUHOFF, Hans;DE LAMOTTE-HABER, Helga: Musikalische Sozialisation. S. 389.

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Sozialisationsvorgangs keinen Konsens in der Forschungsliteratur. Ob die Sozialisation des Menschen ein passiver oder aktiver Prozess ist, wird nach wie vor kontrovers diskut iert. Die „Position“ des passiven Vorgangs, wie sie unter anderem Hans NEUHOFF vertritt, unterscheidet sich grundlegend von dem Konzept der „Selbstsozialisation“, bei welchem dem Subjekt eine aktive Rolle bei der Übernahme von Merkmalen der Gesellschaft zugeschrieben wird. Es orientiert sich maßgeblich an der Entwicklungstheorie der stufenförmigen Selbstkonstruktion des Menschen von Jean PIAGET.41Zu den Vertretern der aktiven Rolle des Individuums während seiner Sozialisation gehören unter anderem die Präferenzforscher Günter KLEINEN und Renate MÜLLER.42Sinnvoll erscheint eine Synthese beider Positionen. Gerade während der Primär- und frühen Sekundärphase haben Kinder aufgrund der Abhängigkeit vom Elternhaus nur geringen Einfluss auf den eigenen Sozialisationsprozess. Mit wachsender Eigenständigkeit und Hinwendung zu Gleichaltrigen, den Peers, ab der Pubertät können und sollten Jugendliche jedoch eine aktive Rolle bei der Übernahme gesellschaftlicher Merkmale und deren individueller Modifikation spielen. Auf die Musik bezogen, bedeutet Sozialisation die Entstehung und Entwicklung musikbezogener Handlungsformen und Kompetenzen. Wichtige Aspekte sind dabei neben der Entwicklung eines Rhythmus- und Tempoempfindens und eines Gespürs für Tonalität die Herausbildung musikalischer Präferenzen, Neigungen, Abneigungen und43Hörgewohnheiten sowie die Entwicklung musikalischer Urteilsfähigkeit. Musik hat

somit einen erheblichen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Die musikalische Sozialisation vollzieht sich auf verschiedenen Instanzen und wird durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst.

41KUNZ, Andreas: Aspekte der Entwicklung des persönlichen Musikgeschmacks. (wie Anm. 33). S. 23.

42NEUHOFF, Hans;DE LAMOTTE-HABER, Helga: Musikalische Sozialisation. S. 389. Vgl. KLEINEN, Günter: Musikalische Sozialisation. (wie Anm. 27). S. 43. Vgl. MÜLLER, Renate; GLOGNER, Patrick; RHEIN, Stefanie: Die Theorie musikalischer Selbstsozialisation. (wie Anm. 8). S. 11-30.43NEUHOFF, Hans;DE LAMOTTE-HABER, Helga: Musikalische Sozialisation. S. 390. Vgl. GEMBRIS, Heiner: Die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten. In:DE LAMOTTE-HABER, Helga; RÖTTER, Günther [Hsg.]: Musikpsychologie. Laaber 2005. S. 394-456.

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1.4.2 Einflussfaktoren auf den Sozialisationsprozess

Das Alter:

Die am häufigsten benannte Einflussgröße ist dasAlterder Person. Dabei muss zwischenbiologischemundsozialemAlter unterschieden werden. Das biologische Alter betrifft die körperlichen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse im Lebenslauf, das soziale Alter ist ein Indikator dafür, wie alt eine Person von der Gesellschaft „gemacht“ wird.44Einem 15-jähriges Mädchen in Deutschland werden von der Familie für gewöhnlich andere Pflichten übertragen als einem gleichaltrigen Mädchen in einem indischen Dorf. Das indische Mädchen hat ein höheres soziales Alter und somit beispielsweise in der Regel weniger Zeit, Musik zu konsumieren, selbst wenn sie das Bedürfnis und die technischen Voraussetzungen dazu hätte. Musikalische Präferenzen ändern sich in Abhängigkeit vom biologischen Alter. So neigen Jugendliche vorwiegend zu schnellen Tempi, was mit erhöhtem Bewegungsbedarf aufgrund körperlicher Veränderungsprozesse und der Entwicklung45Die Neigung zu geistlicher Musik eines Körperbewusstseins begründet werden kann.

nimmt im Alter zu, die für Heavy Metal hingegen für gewöhnlich ab. Gleichzeitig ist in vielen Untersuchungen auch eine Stabilität der in der Jugend herausgebildeten Musikpräferenz beobachtet worden. Dies gilt insbesondere für die Popularmusik.46Fans

von Elvis Presley dürften sich somit überdurchschnittlich häufiger in der Gruppe der 60 bis 70-jährigen Hörer finden lassen. Seinen musikalischen Höhepunkt hatte Elvis in den späten 1950ern und frühen 1960ern, also in der Zeit, in die die Jugendphase der oben angesprochenen Altersgruppe fällt. Diese auch alsKohorteneffektbezeichnete Erscheinung unterstreicht erneut die Bedeutung der Musik für Jugendliche. Die musikalische Präferenzentwicklung Jugendlicher kann grundsätzlich in drei Phasen unterteilt werden. Bis zu einem Alter von etwa 9-10 Jahren ist der Musikgeschmack der47Eltern besonders prägend für das Kind. Gleichzeitig besitzt jenes eine besonders

ausgeprägte Toleranz gegenüber unbekannter, ihm fremdartig erscheinender Musik. Diese „Offenohrigkeit“ für ein breites musikalisches Spektrum nimmt im Alter von 8-9

44Ebenda, S. 404f.

45Ebenda, S. 405. Vgl. ZILLMANN und BRYANT wiesen die Präferenz schnellerer Tempi bereits in einem Alter von 6-7 Jahren nach. Zitiert nach: ZILLMANN, Dolf; GAN, Sulin: Musical Taste in Adolescence. S. 170.

46RUSSELL, Phillip A.: Musical Tastes and Society. In: HARGREAVES, David J.; NORTH, Adrian C. [Hsg.]: The Social Psychology of Music. Oxford 2000. S. 146.47KLOPPENBURG, Josef: Musikpräferenzen. S. 366.

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Jahren signifikant ab, wie Heiner GEMBRIS und Gabriele SCHELLENBERG in verschiedenen Studien nachweisen konnten.48Es beginnen sich bereits musikalische Präferenzen herauszubilden.49Ab einem Alter von etwa 10 Jahren beginnt die sogenannteAnstiegsphase.Sie ist gekennzeichnet durch den Anstieg des Musikinteresses, insbesondere an Pop-Rock-Musik. Dies kann möglicherweise durch eine erhöhte emotionale Ansprechbarkeit aufgrund der beginnenden hormonellen Umstellung beim Kind erklärt werden.50Die musikalische Offenheit verringert sich weiter. Mit dem Eintritt in die Pubertät nimmt das kognitive Hören (konzentriertes Zuhören) zugunsten einer körperorientierten Hörweise (stimulatives Hören) ab. Der Einfluss der Eltern auf die Musikpräferenz des Kindes sinkt. Es orientiert sich vorwiegend an den Peers und weist eine hohe Konformität mit diesen auf. Bereits im Alter von 12 Jahren haben sich stabile musikalische Präferenzmuster herausgebildet.51Die sogenanntePlateauphaseerstreckt sich von einem Alter ab 13/14 Jahren bis etwa Mitte 20. Während dieser etablieren sich individuelle Musikpräferenzen und Interessenprofile. Der Einfluss von Peers sinkt zunehmend. Das musikalische Interesse wird mit anderen Lebensbereichen verbunden. Der Musikkonsum unterliegt einer stärkeren sozialen und kognitiven Funktionalisierung und wird in den Lebensalltag integriert.52In der sich anschließendenAbschwungphaseverringert sich das Interesse an Musik und die Dauer des Musikhörens nimmt ab. Dies geschieht zum Einen aus zeitlichen Gründen, da Jugendliche ab ca. 25 Jahren in das Erwachsenenalter übergehen, sich beruflich etablieren und familiär binden, was naturgemäß gewisse Verpflichtungen mit sich bringt, zum Anderen verliert die Musik die Funktion der Identitätsbildung. Die persönliche Selbstverwirklichung weicht anderen Sachzwängen.53

48GEMBRIS, Heiner: Die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten. (wie Anm. 43). S. 432. Vgl. KLOPPENBURG, Josef: Musikpräferenzen. S. 391.

49GEMBRIS, Heiner: Die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten. S. 432.

50DOLLASE, Rainer: Musikpräferenzen. S. 357. Vgl. KLOPPENBURG, Josef: Musikpräferenzen. S. 366.

51KLOPPENBURG, Josef: Musikpräferenzen. S. 367.

52DOLLASE, Rainer: Musikpräferenzen. S. 359f. Vgl. GEMBRIS, Heiner: Die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten. S. 433.

53KLOPPENBURG, Josef: Musikpräferenzen. S. 366. Vgl. DOLLASE, Rainer: Musikpräferenzen. S. 359f. Vgl. GEMBRIS, Heiner: Die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten. S. 433.

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Geschlecht:

Ab dem fünften Lebensjahr begreifen Kinder, dass ihr Geschlecht ein dauerhaftes Merkmal ihrer Persönlichkeit ist. Die Folgezeit ist daher durch eine „Befestigung der Geschlechtsidentität“ bestimmt.54

Was die Musikpräferenz betrifft, lassen sich geschlechtsspezifisch signifikante Unterschiede feststellen. In ihrer Umfrage unter 12-18-jährigen Jugendlichen aus dem Jahre 1982 stellten CROWTHER & DURKIN eine allgemein positivere Einstellung der Mädchen zur Musik fest. Auch das Schulfach Musik wurde von den weiblichen Probanden positiver beurteilt als von den männlichen. Als mögliche Erklärung gaben die Forscher die Tatsache an, dass das Fach im Gegensatz zu Sport oder Mathematik häufig mit dem Attribut „weiblich“ versehen wird und daher vornehmlich von Mädchen geschätzt wird.55

Bezüglich der Hörgewohnheiten neigen Jungen nach BEHNE statistisch gesehen häufiger zum Konsum härterer, aggressiverer und körperbetonterer Musik, Mädchen bevorzugen dagegen weichere, gefühlsbentonte Musik, welche sie auch in stärkerem Maße als die Jungen zur Gefühlsregulierung benutzen.56

Vielmehr noch als die Hörgewohnheiten beeinflusst das Geschlecht die Wahl des Musikinstruments. Jungen präferieren Trompete, Gitarre und Schlagzeug, wohingegen Mädchen sich häufiger für das Klavier, die Geige, Flöte und Klarinette entscheiden.57Selbstverständlich kommen dabei auch immer gesellschaftlich bedingte Rollenmodelle zum Tragen.