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Ruth Klüger

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Beschreibung

Vielfältigkeit des Denkens und Schreibens der Autorin von "weiter leben". Diese Auswahl literaturwissenschaftlicher Essays von Ruth Klüger versammelt eine Reihe von unveröffentlichten oder an abgelegener Stelle publizierten Texten, Essays und Vorträgen. Im Zentrum steht die Deutung jüdischer Autoren wie auch jüdischer Figuren in literarischen Texten. In Untersuchungen zu Heinrich Heine, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig werden präzise Textanalysen mit einer historischen Kontextualisierung verbunden. Auf epische Texte von Wilhelm Raabe, Marie von Ebner-Eschenbach und Herta Müller fällt aus dieser Perspektive neues Licht, ergänzt durch Essays und Vorträge zu Autorinnen des 20. Jahrhunderts, u. a. zu Anna Seghers, MarieLuise Fleißer, Grete Weil, Marie Luise Kaschnitz und Ingeborg Bachmann. Grundlegend ist Klügers Essay "Dichten über die Shoa. Zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord" (1992).

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Ruth Klüger

anders lesen

Juden und Frauenin der deutschsprachigen Literaturdes 19. und 20. Jahrhunderts

Herausgegeben von Gesa Dane

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2023

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Marion Wiebel, Wallstein Verlag unter Verwendung einer handschriftlichen Notiz von Ruth Klüger.ISBN (Print) 978-3-8353-5343-5

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8466-8

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8467-5

Inhalt

Dichten über die Shoah. Zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord

Zeugensprache: Koeppen und Andersch

Kitsch ist immer plausibel. Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann

Die Säkularisierung des Judenhasses am Beispiel von Wilhelm Raabes Der Hungerpastor

Zwickmühle oder Symbiose: War Heinrich Heine ein Geisteswissenschaftler?

Heinrich Heine’s Last Poems

»Ein alter Mann ist stets ein König Lear«. Alte Menschen in der Dichtung

Marie von Ebner-Eschenbach: Anwältin der Unterdrückten

Kafka and Sacher-Masoch: A note on Die Verwandlung

Schnitzlers Damen, Weiber, Mädeln, Frauen

Ödipale Konfrontationen in Hofmannsthals Der Rosenkavalier

Selbstverhängte Einzelhaft: DieSchachnovelle und ihre Vorgänger

Der haltbare Satz im »Bimbam von Worten«: Ingeborg Bachmanns Wahrheit und Dichtung

Die beiden Ichs in der Lyrik von Marie Luise Kaschnitz

Nachwort

Nachweise

Dichten über die Shoah

Zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord

Amerikaner haben den Ruf, gewohnheitsmäßig ihre Vorträge mit einer Anekdote oder einem Witz zu beginnen. Dieses Thema eignet sich kaum für gute Witze, folglich ist der Witz, den ich Ihnen erzähle, ein schlechter Witz. Unter den mir bekannten jüdischen Witzen würde ich ihn in die Riege der zweitschlechtesten einreihen.

Das ganze Unterfangen mag befremdlich und unpassend erscheinen, aber das gehört schon zum Thema und ist ein Aspekt der Problematik der Holocaustliteratur. Eine weitverbreitete Kritik an dieser Literatur ist die, dass Massenmord und Belletristik nicht zusammenpassen. Dafür wird in Deutschland gern Theodor W. Adorno mit seinem Ausspruch ›nach Auschwitz keine Gedichte mehr‹ benutzt.[1] Aber wir brauchen Adorno nicht, um das Problem von Verstand und Phantasie beim Thema der großen Judenverfolgung in den Griff zu bekommen. Das Unbehagen, das ich mit meinem schlechten Witz verursache, ist beabsichtigt, und auch die Auseinandersetzung mit diesem Unbehagen.

Dieser schlechte Witz spielt in der Zeit, als die Synagogen nicht mehr brannten, weil sie schon verbrannt waren, also irgendwann nach der Kristallnacht, und irgendwo im Hitler-Europa. Da findet ein frommer Jude in einer fremden Stadt zu seiner Freude ein Häuflein Gleichgesinnter, die in einem Keller einen Gottesdienst veranstalten. Ein jüdischer Gottesdienst kann stattfinden, wo immer zehn religionsmündige Männer beisammen sind. Eines Geistlichen bedarf es nicht. Er tritt also ein und ist erstaunt, dass nur im Flüsterton gebetet wird. »Warum«, fragt er, »sprecht ihr nicht mit normaler Lautstärke? Die Straße ist leer, im Haus wohnen nur Juden, was soll das unverständliche Geflüster?« »Sei schon ruhig«, antwortet man ihm verärgert, »wenn du weiter so schreist, wird ER uns noch hören, und wenn ER herausfindet, dass es uns noch gibt, sind wir erledigt.«

Sie werden den Witz nicht zum Lachen finden, genau wie vorauszusehen war. Die Pointe ist teilweise gotteslästerlich und besteht natürlich darin, dass ER, also Adonoi Elohenu, unser Herrgott, sich auf die Seite der Nazis geschlagen hat und dementsprechend das tiefste Misstrauen hervorruft. Gleichzeitig wird er nach wie vor im Geheimen verehrt.

Nun beruht, oder beruhte, ein religiöses jüdisches Selbstverständnis darauf, dass Gott einen Bund mit seinem auserwählten Volk geschlossen hatte. Dieser Bund, im Regenbogen bestätigt, verpflichtete die Nachkommen von Noahs Erstgeborenem, den Namen Gottes zu verkünden und seine Gesetze zu befolgen. Gott hingegen verpflichtete sich seinerseits, sein Volk zu schützen und es am Leben zu erhalten. So ging es lange Zeit ganz gut, beide Parteien hielten ihren Kontrakt, von gelegentlichen und vielleicht unvermeidlichen Entgleisungen abgesehen. Mit Hitler aber kam etwas Neues in die Geschichte: Das Volk war Gott treu geblieben und befolgte weiterhin seine Gesetze, Gott aber hatte sein Volk verraten.

Und damit sind wir bei der Vergabelung der Pointe in meinem hochliterarischen Witz: Das Glaubensritual verläuft weiterhin in den alten Bahnen, obwohl den Gläubigen das Vertrauen in Gott abhandengekommen ist. Die Gemeinde behilft sich, so gut es geht. Ihr Ausweg aus dieser Auswegslosigkeit ist der, dass die Menschen Gebete sprechen, die Gott jedoch möglichst nicht hören soll.

Dieser Witz ist nicht dumm, er ist nur schlecht, denn er behandelt mehr, als ein Witz sich erlauben darf, hier das Paradoxon des Gläubigen, der sich zu einem Gott bekennt, der sein Wort nicht hält. Seine Tiefsinnigkeit sprengt den Rahmen dessen, was sich innerhalb dieser sehr kleinen und bescheidenen literarischen Gattung schickt. Und wenn solche Ausdrücke wie ›sich schicken‹ und ›was man sich erlauben darf‹ nicht behagen, weil sie als Maßstab für ein ästhetisches Urteil veraltet klingen, so ist die Frage, ob es nicht doch damit seine Richtigkeit hat, und ob unsere Großeltern nicht doch vielleicht Unrecht hatten, als sie sich über unsere Urgroßeltern lustig machten, wenn diese mit der Literatur zu Gericht gingen, als sei der gute Geschmack ein objektiver Maßstab. Dieser ›gute Geschmack‹ richtet sich nämlich häufig an außerästhetischen Grundsätzen aus. Um seinem seichten Moralismus gegenzusteuern, wurde von einer längst veralteten Avantgarde kategorisch erklärt, dass moralische Werturteile nichts in der Kunst zu suchen hätten.

Wie aber, wenn eine ganze Literatur oder doch ein Korpus von Werken entsteht, die gegen den guten Geschmack verstoßen? Und wenn diejenigen, die es nicht tun, diejenigen, die sich auch in der guten Stube ausstrahlen lassen, ohne dass man die reifere Jugend verfrüht ins Bett schicken muss, also z. B. die amerikanische Filmserie Holocaust, das Außerordentliche bis zur Trivialisierung vereinfachen, die Frage nach dem Bösen bis zum Kitsch sentimentalisieren? Damit sind wir mitten in den literarischen Problemen, die in der sogenannten Holocaustliteratur behandelt werden, und bei der Frage, in welchem Rahmen deren Behandlung möglich ist.

Ein Beispiel einer gelungenen Verarbeitung des Themas ist André Schwarz-Barts Roman Der Letzte der Gerechten (1959), der mit großer Konsequenz das erwähnte Motiv der Gottverlassenheit behandelt. Einer jüdischen Legende zufolge lässt Gott die Welt in ihrer Schlechtigkeit nur deshalb weiter bestehen, weil es immer 36 Gerechte gibt, die die Sünden der anderen Menschen wettmachen. Zu diesen Lamed Waw (hebräisch: 36) gehört der Held der Geschichte, Ernie Levy. Er steht am Ende einer langen Generationenreihe, die sich für auserwählt hielt.

Gershom Scholem hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Autor die Legende nicht getreu angewandt hat, denn die Gerechten sollten sich nicht, wie Ernie Levy und seine Vorfahren, bewusst sein, dass sie auserwählt sind.[2] Zudem vererbt sich das Märtyrertum nicht. Gershom Scholem hatte recht und dann auch wieder unrecht. Denn der Roman handelt von der verinnerlichten, selbsterfundenen Auserwähltheit einer Gruppe Menschen. Der Roman wirft die Frage auf, ob diese Menschen sich nicht nur einbilden, auserwählt zu sein, und sich gerade dadurch mit Unglück belasten. Ihre Mission, die Pflichten, die sie sich auferlegen, haben vielleicht gar nichts mit einer himmlischen Berufung zu tun und sind also von einem objektiven Standpunkt aus sinnlos, führen nur zu Unglück und Leiden. Damit wird die Bedeutung der Legende von den Lamed Waw zur Bedeutung des Judentums schlechthin ausgeweitet. Sie wird nicht einfach ausgeschmückt, oder, wie Scholem meinte, mit dichterischer Freiheit nacherzählt, sondern sie wird zu einem lebendigen Mythos, geprüft im Feuer der Judenverfolgungen, bald verneint und bald bejaht, und eigentlich bis ans Ende in Schwebe gehalten. Ein Gerechter zu sein, ist eine geistige Lebensform, aber letzten Endes eine physische Lebensunmöglichkeit, in der Zeit der Shoah bleibt dem Gerechten als letzte Konsequenz nichts anderes übrig, als freiwillig in den Zug nach Auschwitz zu steigen, denn die Alternative wäre eine tierische Existenz der Selbstverleugnung.

»Nur eben: Was soll ein Jude tun, der keiner mehr ist, um nicht auf alle viere zu fallen?«[3] Dieser Roman ist meines Wissens nach einzigartig, darum habe ich ihn gleich zu Anfang erwähnt. Es ist das einzige Buch, das den Holocaust in eine Kette von Judenverfolgungen einbettet und gleichzeitig das jüdische Selbstverständnis in jedem Kapitel hinterfragt. Es ist so, als ob man abwechselnd den Gedanken fasst, es gäbe gar nichts Abgeschmackteres als Judesein, und auf der nächsten Seite erkennt, dass es gar nichts anderes gibt, das Sinn macht.

Diese Ambivalenz verdichtet sich noch einmal auf der letzten Seite des Romans. Da steht ein blasphemisches Gebet: »Und gelobt. Auschwitz. Sei. Maidanek. Der Ewige. Treblinka. Und gelobt. Buchenwald. Sei. Mauthausen. Der Ewige. Belzec.«[4] Es folgen noch ein Dutzend weiterer Namen, die sich steigern, alle im Rahmen der paar Worte, mit denen jeder jüdische Segensspruch anfängt, »Baruch ato Adonai Elohenu« – »gesegnet (oder gelobt) seist du, o Herr«. Also ein verneinendes Ende, möchte man annehmen. Doch in den letzten Sätzen des Romans wird auch diese Abkehr aufgehoben, denn da taucht unvermutet ein erzählerisches Ich auf, in dem Ernie Levy, der Letzte der Gerechten, aber auch der Repräsentant aller Ermordeten, in jedem Regentropfen gegenwärtig ist und bleibt. Also doch Bejahung?

Die Problematik dieses Romans, die ihm eigentümliche Spannung, ist also das Selbstverständnis der Juden. Diese Spannung bildet den Vordergrund. Das Gegebene, der Hintergrund, ist das ihnen zugefügte Böse.

Eine solche oder ähnliche Spannung ist in allen Werken zu finden, die als Literatur gelten. Es ist das eigentlich literarische Element in den besten autobiografischen Berichten. Die religiöse Problematik, das Lob eines Herrn, der seine Kreaturen nicht schützt, findet sich zum Beispiel auch bei Elie Wiesel. Wiesel ist in den Vereinigten Staaten eine Art Kultfigur. Wenn es ihm einfällt, von der Bibel zu lesen, sammelt sich das Volk um ihn wie um einen Propheten. Wenn er an einer Universität einen Vortrag hält, ist meist Belagerungszustand vor der Rednerhalle, und drinnen hängen die Hörer von der Decke.

Von einem schmalen Band, den er zehn Jahre nach dem Krieg schrieb, hat inzwischen eine Generation junger Juden ihre Eindrücke über Auschwitz empfangen, und aus diesem Band, der weltweit eine Millionenauflage hat, wird regelmäßig am Yom haShoah, dem Gedenktag der Judenvernichtung, in ganz Amerika vorgelesen. Wiesel hat dieses Buch ursprünglich auf Jiddisch mit dem Titel Un die Welt hat geschwign geschrieben und es dann ins Französische übersetzt. Er schreibt seither nur auf Französisch.

Eine deutsche Übersetzung von Nacht gibt es seit vielen Jahren, leider in einem Band mit zwei Romanen, sodass sich der Leser nicht Rechenschaft darüber geben muss, was Dichtung und was Wahrheit ist.[5] Das ist vielleicht ein Grund, warum der Text in Deutschland nicht viel gelesen wird. Es schildert ein Jahr im Leben eines Halbwüchsigen in Auschwitz und Buchenwald und geht durch seine Intensität und geraffte Thematisierung weit über das Dokumentarische hinaus, ohne es jedoch je zu verlassen. Verschränkt mit dem verlorenen Gott lesen wir von der Vater-Sohn-Beziehung, bei der der Vater anfänglich als überragende Autorität auftritt, dann im Laufe des Lagerlebens immer schwächer wird, sodass sich die Beziehung umkehrt und der junge Eliezer für den Vater sorgt, ihn aber gelegentlich auch als Last empfindet. Am Ende stirbt der Vater, und der Sohn, für immer verändert und belastet, wird von den Alliierten befreit. Das Gerüst von Wiesels Erinnerungsbuch bildet also die spannungsreiche familiäre Beziehung zum Vater und die nicht minder problematische geistige Auseinandersetzung mit der Religion der Kindheit. Das sind die Eigenschaften, die es über das rein Dokumentarische hinausheben. In Primo Levis Auschwitzbuch geht es hingegen nicht um Verwandtschaften, sondern um Freundschaften und das Gegenteil von Freundschaften, die Aberkennung der Menschlichkeit. Bezeichnend für dieses Anliegen nennt er sein Erinnerungsbuch Ist das ein Mensch?[6]

Diese Bücher handeln in erster Linie von den Lagern; sie dokumentieren das Leben und Leiden der Insassen, aber was sie von reinen Dokumenten unterscheidet, was sie zu literarischen Werken macht, ist der Zugang zu dem Beschriebenen, der Griff, mit dem sie diese perverse Welt bewältigen, anstatt sich von einer Masse unverständlicher Einzelheiten überwältigen zu lassen.

Primo Levi hat sein Buch gleich nach dem Krieg, im Jahr nach seiner Rückkehr aus Auschwitz, geschrieben. Er war als Erwachsener hingekommen, ein junger Chemiker, Rationalist, Atheist, aus einer Gesellschaft, in der ein Jude, wie er sagte, dein Nachbar war, der sonntags nicht zur Messe ging.[7] Er wurde als Partisan, als antifaschistischer Kämpfer, nicht als Jude verhaftet. Diesen Aspekt seiner Erlebnisse spielt er bemerkenswerterweise herunter, nicht nur weil die Deutschen ihn nach der Verhaftung als Juden, nicht als Politischen, behandeln, sondern auch aus einem wachsenden Gefühl der Zugehörigkeit zu den Juden heraus.

Dabei ist Gott kein Problem für diesen Autor. Im Gegenteil: Er schreibt mit Verachtung von Häftlingen, die ihr Vertrauen in Gott setzen, der sie persönlich verschonen soll und andere ins Gas schicken wird. Bei Levi geht es um keine Glaubenskrise, sondern eher um so etwas wie die Krise des Humanismus.

Das Außerordentliche an Levis Ist das ein Mensch? ist das Spiel und Gegenspiel von menschlichen und antihumanen Beziehungen und Strukturen. Das ist es, was ich einen literarischen Umgang mit Auschwitz nennen würde. Dass es Levi selbst so empfunden hat, bestätigt er, wenn er ein großes Dantezitat in das Kapitel einbaut, in dem er einem jungen Franzosen näherzukommen sucht.[8] Die Ablehnung des Menschen erfolgt in Szenen, in denen der Erzähler verdinglicht wird, etwa wenn ein Kapo sich die Hand an seiner Schulter abwischt, oder wenn ein deutscher Chemiker durch ihn hindurchsieht, als sei er kein Mensch, geschweige denn ein Kollege, obwohl gerade seine chemische Ausbildung gebraucht wird. Levis Analyse der Arbeitsbedingungen und der wirtschaftlichen Organisation des Lagers schließt sich nahtlos an diese Kontakte und Anti-Kontakte an. Historische, analytische und emotionale Aspekte seines Auschwitzjahres verschränken sich, und diese Unauflöslichkeit des Persönlichen und Allgemeinen ist das Besondere von Ist das ein Mensch?

Primo Levi hat sich vor einigen Jahren das Leben genommen. Er war hochgeachtet und als Schriftsteller ein großer Erfolg. Die Frage, was ein Mensch ist, hat ihn offenbar nie losgelassen. In den letzten Monaten soll er immer wieder geklagt haben, dass niemand ihm zuhöre, niemand ihn verstehe und dass ihm vor allem die Mentalität der Deutschen ein unbegreifliches Rätsel sei.

Noch ein drittes dieser Erinnerungsbücher, Cordelia Edvardsons Gebranntes Kind sucht das Feuer, sei hier erwähnt.[9] Der Titel, in seiner Verkehrung des Sprichworts, enthält eine Anspielung auf einen psychischen Heilungsprozess und den therapeutischen Wert einer Auseinandersetzung mit der traumatischen Vergangenheit. Es ist also einerseits der gelungene Versuch, eine traumatische Kindheit assoziativ zusammenzustückeln, und andererseits ist es ein Buch über Theresienstadt und Auschwitz, über die unseligen Transporte zu Kriegsende und über Schweden und Israel als zweite und dritte Heimat. Seine private Struktur ist die der Trennung von Mutter und Tochter, wie es bei Wiesel um Vater und Sohn ging, und gleichzeitig ist auch hier die Loslösung von einem Glauben nachgezeichnet, der in diesem Fall der Katholizismus und das mütterliche Erbe ist. Die Mutter war die katholische Dichterin und Schriftstellerin Elisabeth Langgässer.

Die Memoirenliteratur hat den Nachteil, dass sie von Überlebenden handelt. Man klammert sich beim Lesen an das Schicksal des Einzelnen, wünscht ihm alles Gute, ist erleichtert, dass er (oder sie) es schafft, zu entkommen. Dadurch wird die Aufmerksamkeit abgelenkt von dem Außerordentlichen dieser Erfahrungen, dem so schwer beizukommen ist, und auf bekannte Schienen gelenkt. Die besten solcher Memoiren schmälern diesen Triumph des Überlebens, so gut es geht: Elie Wiesel etwa durch das eigene Spiegelbild, das ihn auf der letzten Seite fremd anstarrt; Primo Levi durch die Beschreibung der verzweifelten Lage der Überlebenden in Auschwitz, zwischen dem Rückzug der Deutschen und der Ankunft der russischen Befreier; Cordelia Edvardson durch Leerstellen im Gedächtnis, die sich wie gewaltsame Risse durch ihr Buch ziehen. Aber es bleibt ein unvermeidlicher Nachteil dieser Erlebnisbücher, dass die Identifikationsgestalt, also der Icherzähler, mit dem Leben davonkommt, während diese Bücher eigentlich geschrieben wurden, um von denen zu erzählen, die nicht überlebt haben. Es besteht also das Paradox, dass in solchen autobiografischen Berichten das Entsetzen über den Massenmord gerade durch den entsetzten Erzähler, der ja nicht ermordet wurde, geschwächt wird.

Was tun? Die Tradition in unserer westlichen Literatur ist eine Entwicklung in Richtung Individualpsychologie. Mit immer feineren Nuancen der Empfindungen des Einzelnen hatten die realistischen Autoren die Literatur des 19. Jahrhunderts geprägt. Auch als der Realismus umkippte in die Experimente, die wir mit den Werken von James Joyce und Franz Kafka verbinden, ging es noch immer darum, eine Bewusstseinslage, ›stream of consciousness‹ wie in Ulysses, oder die Projektionen von Alpträumen, wie etwa in Der Prozeß, darzustellen. Der tragische Held wird zwar ad absurdum geführt, aber dann kommen die Probleme der kläglichen Helden, immer noch Probleme der einzelnen Seele innerhalb einer Gesellschaft, die auf gewisse Stichworte hin ansprechbar, verständlich wird. Doch solche Methoden sind unzulänglich, wenn die Gesellschaft, wie in den KZs, unansprechbar und unverständlich ist, und wie eine unerwartete Katastrophe über ihre Opfer herfällt.

Von solchen Überlegungen ausgehend könnte man meinen, dass eine experimentelle Literatur den Anforderungen eines anonymen Leidens noch am ehesten gerecht wird. Es gibt solche Versuche, darunter besonders bemerkenswert die Erzählungen von Aharon Appelfeld, einem israelischen Schriftsteller aus Czernowitz, Paul Celans Geburtsstadt. Badenheim 1939 schildert einen Kurort, in dem wie in einer Art Vorhölle auf den Transport in ein Todeslager gewartet wird. Die einzelnen Gestalten verschwimmen dem Leser, die Gruppe wird zum Kollektivhelden, das Warten zum Thema; die Atmosphäre entzieht sich der Wirklichkeit und steckt doch knietief in der Geschichte, wie auch die Jahreszahl im Titel Geschichte bedeutet.[10]

Doch Appelfeld ist nicht jedermanns Geschmack. Manche Leser finden, dass man mit narrativen Experimenten dem Sachverhalt ausweicht und der Deutung nicht näher kommt. Wir, das heißt Menschen, die mit Büchern umgehen, fanden uns nach 1945 mit Sachverhalten konfrontiert, die sich unserem Zugriff entzogen. Wir kamen aus einem Krieg, in dem mehr als 50 Millionen Menschen umgekommen waren, darunter auch die Millionen, die jenem Auschwitz zum Opfer fielen, für das wir immer noch kein richtiges Wort haben, dafür gleich mehrere unpassende, wie ›Endlösung‹, ›Holocaust‹, ›Shoah‹. Wenn Literatur überhaupt etwas mit menschlichen Lebensbedingungen zu tun hat, also die Wirklichkeit auf wie auch immer geartete Weise deuten soll, so musste oder muss sie sich mit diesen Geschehnissen auseinandersetzen. Doch weiß unsere literarische Tradition nur sehr schlecht, wie man solche Massenereignisse darstellt.

Übrigens ist keines der bis jetzt erwähnten Bücher auf Deutsch geschrieben, sondern auf Französisch, Jiddisch, Italienisch, Hebräisch und Schwedisch. Es ist eine internationale Literatur. Der Holocaust ist literarisch kein deutsches Thema geworden. Die besten Werke sind nicht auf Deutsch verfasst worden, und die wenigen deutschen sind von deutschen Juden, die nach dem Krieg im Ausland lebten, wie etwa Paul Celan und Peter Weiss, oder Juden, die nach dem Krieg in Deutschland erzogen wurden, wie Jurek Becker.

Peter Weiss hat in seinem Drama Die Ermittlung versucht, eine Form zu finden, in der sich nicht das Schicksal der Einzelnen, sondern das der Millionen widerspiegelt. Er hat den Auschwitzprozess dramatisiert und gewissermaßen abstrahiert.[11] Merkwürdigerweise ist das Stück gerade dafür kritisiert worden: Man verliere das Leiden des Einzelnen aus dem Auge über den Vielen, von denen die Rede ist. Aber das ist gerade der Punkt, das ist die so schwer zu lösende Aufgabe, die dieses Material dem Schreibenden stellt. Weiss’ völlig legitimes Experiment bleibt unberührt von dieser Kritik. Der zweite Vorwurf gegen Die Ermittlung ist des Autors marxistische Deutung des KZs. Für Weiss ist Auschwitz der letzte extreme Schritt des Kapitalismus in seinem Bestreben, den Menschen zu verdinglichen.

Der Marxismus verhilft dem Autor, das verkehrte Verhältnis von Ding und Mensch in Auschwitz in die Sicht zu bekommen, das auch Levis Hauptthema ist. Auschwitz als eine Art Schatzkammer, wo alle Luxusartikel noch mitten im Krieg zu finden waren, jede Menge von Gold und Edelsteinen, dazu die Körperkräfte der Menschen, solange sie noch verwendbar waren, danach ihre Haut und ihre Haare, Vision vom hunderttausendfachen Tod als Materie, erstarrt in Dingen, entseelt. Durch diese Deutung wird das Stück zu dem Inferno, das es durch seine Dante-Anspielungen darstellen will, und geht über das reine Dokumentardrama hinaus, auch wenn man seiner marxistischen Auschwitz-Deutung nicht beipflichtet.

Den Gegenpol dazu bildet etwa Rolf Hochhuths Der Stellvertreter.[12] Auch hier ein politisches Werk mit seiner Anklage gegen den Papst, der sich den Juden gegenüber hätte christlicher verhalten können; eine Feststellung, die übrigens in der jüdischen Geschichte nichts Neues brachte. Hochhuth verließ sich offenbar auf den Sachverhalt und machte es sich sonst recht einfach. Da ist ein faustischer Doktor, der sich dem Bösen verschrieben hat, und dazu eine herablassende und nur flüchtig skizzierte Gestaltung der jüdischen Opfer. Für die wahren Helden, die ihr Leben riskieren, war Schiller das Vorbild, dessen Vorstellungskraft aber weiter von den KZs entfernt war als Dante, den Levi und Weiss sich als Modell vornahmen. Letzten Endes dank der Oberflächlichkeit der Darstellung ist Hochhuths Drama nicht frei von der in ihrer Selbstherrlichkeit infamen Zweiteilung Übermenschen-Untermenschen. Dabei soll das politische Engagement des Autors und seine gute Absicht nicht in Frage gestellt werden. Der Text spricht eben eine andere, unbeabsichtigte Sprache.

Eine andere Art von Gegensatz zu Weiss’ bis aufs Skelett reduzierten Darstellung des Massenvernichtungsprozesses war der schon erwähnte Fernsehfilm Holocaust. Auch hier ist die gute Absicht spürbar, und daher wurde diese amerikanische Serie von vielen, die ihre Schwächen sehr wohl begriffen, gelobt oder zumindest verteidigt. Weit verbreitet war die Behauptung, dass durch diese Serie Zuschauer in aller Herren Länder über die Naziverbrechen erstmals informiert worden seien. Es sei daher gleichgültig, ob das Werk einem verfeinerten literarischen Geschmack entspräche oder nicht, denn es sei für Massenkonsum und Volkserziehung gedacht und gedreht worden.

Diese Serie handelt von zwei Familien, einer Nazifamilie und einer jüdische Familie, Täter und Opfer, ihr Leben und Sterben in den Hitlerjahren. Alles Schwierige, Problematische wird auf den einfachsten Nenner gebracht. Die Juden emigrieren nicht rechtzeitig, weil ihre Frauen die deutschen Lieder so lieben; die Deutschen ihrerseits treten der SS bei, weil ihre Frauen ehrgeizig sind, alles geht auf in einem Brei von Trivialpsychologie, und nichts ist so entsetzlich, dass es nicht noch einen hohen Unterhaltungswert hätte. Der erlaubt dem Beschauer, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen und sich in seiner eigenen Sensibilität und Gutherzigkeit wiederzuerkennen. Das heißt: Alle etwaigen Denkprobleme, die uns das einzigartige Phänomen der Shoah stellt, lösen sich glatt auf in einer Buttersauce von Sentimentalität. Am Ende spielt der Held, der an einem Lageraufstand teilgenommen hat, mit griechischen Waisenkindern Fußball. Er ist auf dem Weg nach Israel mit eben diesen Waisenkindern. Vorhang überm Happy End.

Wer die Verbreitung von Information in jeder Verpackung gutheißt, wird sich über den Erfolg des Films freuen. Doch darf man darüber nicht vergessen, dass er nicht nur Geschichte, sondern auch fragwürdige Sensationen vermittelte. So wurde berichtet, dass nach der Ausstrahlung in Deutschland die Schulkinder ›Gasofen‹ spielten und als ›Nazioffiziere‹ Puppen verbrannten. Die Faszination ging von den Nazis, nicht von ihren Opfern aus. Wie auch anders? Täter sind interessanter als Opfer. Und so war es vielleicht die Darstellung einer unerhörten Macht über Leben und Tod, die die Zuschauer gefesselt hielt, zumal die Täter nicht unattraktiv und nur als strauchelnde Sünder konzipiert waren.

Im Kontrast zu der Meinung, dass Beschreibungen des Holocaust dem beschränkten Aufnahmevermögen des Normalverbrauchers gerecht werden sollen, steht die Forderung, man möge überhaupt nicht literarisch – und das heißt doch wohl interpretierend – mit der Sache umgehen, sondern nur die Dokumente sprechen lassen. Nun sprechen Dokumente aber nicht. Die Interpretationen werden so oder so mitgeliefert, am häufigsten in der verordneten Rührung. Wenn wir die literarische Verarbeitung ablehnen, so lehnen wir eigentlich nur die bessere, differenziertere Deutung ab, nicht aber die Deutung schlechthin. Wir denken und deuten ja auch, wenn wir die Dokumente sehen.

Darüber hinaus verdammt das Misstrauen gegen den literarischen Umgang mit dem Massenmord diesen zum Vergessen, zumindest zum ungenügenden Erinnern. Eine neue Ghettoisierung setzt ein; das Erleben der KZ-Häftlinge soll nicht durch die dichterische Einfühlung den Nachgeborenen vermittelt werden. Von allen anderen Bäumen dürft ihr essen, von diesem nicht. Von Gut und Böse sollt ihr nichts wissen und auf keinen Fall davon dichten. Ich glaube, wir dürfen getrost sagen, dass die, die solche Forderungen in der Nachkriegszeit stellten, nicht mit der Vergangenheit konfrontiert werden wollten oder sich die Alleininterpretation der Begebenheiten zubilligten.

Es ist nicht gleichgültig, ob man sich den Fernsehfilm Holocaust ansieht oder Claude Lanzmanns nicht minder langen Film Shoah. Während bei dem Holocaustfilm überhaupt keine Überlebenden der KZs befragt wurden oder mitspielten, ist Lanzmanns Film hohe Dokumentarkunst. Ähnlich wie Peter Weiss konfrontiert Lanzmann den Zuschauer mit Zeugenaussagen. Lanzmann thematisiert die Konfrontation an sich durch Interviews, in denen das Erzählte und die Art des Erzählens so wenig zueinander passen, dass gerade dies das Mittel ist, um das Unerklärliche dieses Massenmords zum Ausdruck zu bringen. Da ist z. B. ein Herr Suchomel, Aufseher in Treblinka, gefilmt von einem Team, von dem er nichts weiß.[13] Er glaubt, dass es sich um ein anonymes Interview ohne Aufnahmen handelt. Lanzmann überlässt es den Zuschauern, ihn, den Filmdirektor, für den Betrug zu verurteilen oder zu beklatschen – als ich den Film in New York sah, jauchzte und klatschte das Publikum. Suchomel und seine Leute hatten dichterische Ambitionen und erfanden eine Variante des bekannten Buchenwaldlieds. Die neuen Ankömmlinge mussten dieses ›Treblinkalied‹ lernen, das Herr Suchomel auf Lanzmanns Bitte hin dahergrölt. Es handelt von Pflicht und Gehorsam. Lanzmann bittet den Mann, das Lied nochmals zu singen. Er tut’s mit offensichtlichem Vergnügen. Dann seufzt er und sagt, wie traurig das doch alles war und dass sie nun hier sitzen und lachen. Dann Lanzmanns Stimme auf Deutsch mit französischem Akzent und sehr ernst: »Niemand lacht.«[14] Es stimmt, keiner der beiden ist besonders heiter gewesen. Was Suchomel sagen will, ist vermutlich, dass er sich wohlfühlt mit seinen Erinnerungen, und dass ihm das auch ein bisschen leidtut, denn es war doch alles so schrecklich. Aber da er es ja für einen Dokumentarfilm, also für Geschichtswissenschaft, tut, muss es in Ordnung sein.

Wichtigtuerisch erklärt er Lanzmann, dass kein Jude mehr lebt, der dieses Treblinkalied gekannt hat – ein einmaliges Geschenk für den Herrn, der ihn aufgesucht hat in seinem bescheidenen Heim. Lanzmann zeigt sich beeindruckt. Suchomel merkt natürlich nicht, dass das einmalig Historische nicht diese kläglichen Verse sind, sondern dieser Müll aus Grausamkeit, Sentimentalität, Selbstgefühl, der in seinem Kopf herumspukt und in dem er sich offensichtlich sehr zu Hause fühlt (hierin vergleichbar mit Franz Schönhuber in Ich war dabei).[15] Diesen Suchomel wird ein Jugendlicher nicht so leicht hochstilisieren und sich mit ihm identifizieren können.

Das radikalste Auschwitzbuch stammt von dem Polen Tadeusz Borowski. Es heißt auf Deutsch Die steinerne Welt oder, in der letzten Ausgabe Bei uns in Auschwitz.[16] Borowski steckte nach ein paar Jahren Freiheit den Kopf in seinen privaten Gasofen, nachdem er einem ähnlichen Tod im Lager entgangen war. Mich erinnert er ein wenig an Georg Büchner, in seiner absoluten Kritik an herkömmlichen Wertvorstellungen und seiner unbestechlichen Analyse der grenzenlosen Korruptionsmöglichkeiten der Menschen im Lager.

Er hat es vorgezogen, Kurzgeschichten statt Erinnerungen zu schreiben, und man muss sich vorsehen, die Ich- Erzähler dieser Fiktionen nicht mit ihrem Schöpfer zu verwechseln. Denn diese Erzählungen spielen in der Welt der Sonderkommandos, der Kapos, der kleinen Funktionäre unter den Gefangenen, die die anderen ausnützten und ihnen zu ihrem Tod verhalfen. Die Transporte werden nach ihrem ›Wert‹, d. h. nach den Lebensmitteln, die sie mitbringen, beurteilt. Konservendosen auf der einen Seite, Leichen auf der anderen; die Maßstäbe verschwinden. Die Neuankömmlinge sind in der Hierarchie des Lagers ganz unten. Ein Fußballspiel endet, während so ein Transport im Gas verschwindet und niemand sich darüber kränkt. Doch hoffen die Gefangenen nach wie vor auf ein Leben nach dem Krieg, und das bewegt den Erzähler, eine Art Gegenprogramm zum Prinzip Hoffnung zu entwerfen:

Die Hoffnung ist es, die den Menschen befiehlt, gleichgültig in die Gaskammer zu gehen; die sie davon abhält, Aufruhr zu planen; Hoffnung macht sie tot und stumpf. […] Die Hoffnung treibt sie dazu, um jeden weiteren Tag des Lebens zu kämpfen, weil es gerade der kommende Tag sein könnte, der die Freiheit bringt. […] Noch nie war die Hoffnung stärker als der Mensch, aber noch nie hat sie soviel Böses heraufbeschworen wie in diesem Krieg, wie in diesem Lager. Man hat uns gelehrt, die Hoffnung nie aufzugeben. Deswegen sterben wir im Gas.[17]

Borowski war noch keine 25, als er sich das Leben nahm.

Es ist kein Wunder, dass Menschen aus Polen sich zu den extremen literarischen Experimenten hingezogen fühlen, um die großen Verfolgungen zu beschreiben. Jerzy Kosinski war in Polen aufgewachsen, bevor er in Amerika seinen Roman Der bemalte Vogel auf Englisch schrieb.[18] Das ist eine Art Schelmenroman, in dem sich ein kleiner Junge, dessen Eltern verschleppt wurden, auf dem Lande durchschlägt unter Menschen, die aus Not und physischem Elend mitleidslos geworden sind, nicht nur mit diesem Kind, sondern auch miteinander. Jede Szene beschreibt eine neue Gewalttätigkeit. Der Roman versetzt dem Leser einen Schock nach dem anderen. Das Kind verliert sich selbst, sein Gefühl von Identität lässt nach; schließlich verliert es die Sprache, wird stumm. Kosinski hat gelegentlich gesagt, er habe alles, was er beschreibt, selbst erlebt, und dann wieder behauptet, er hätte das alles erfunden. Er wollte sowohl das Typische als auch das Tatsächliche betonen.

Obwohl Der bemalte Vogel ein mutiges, originelles und anspruchsvolles Buch ist, habe ich es schließlich nicht mehr im Unterricht in amerikanischen Collegeklassen verwendet. Ich konnte die Frage nicht lösen, ob dieser Roman, der aufwecken soll, nicht umkippt in Pornografie und Nahrung für Sensationslust liefert. Es gab immer einige männliche Studenten, die zu viel Spaß daran hatten, die, ohne es zu beabsichtigen, die Freuden der Brutalität genossen. Das ist eine Gefahr, die sich nicht leicht beheben lässt, derer man sich als Lehrer besonders bewusst sein sollte. Auch die besten dieser Bücher, und manchmal gerade die besten, können ›verkehrt‹ gelesen werden.

Auch dieser Autor beging Selbstmord.

Nach diesen Beispielen sollte es klar sein, warum Anna Seghers’ Das siebte Kreuz, so beliebt und berühmt es ist, nicht in die Literatur gehört, von der hier die Rede ist. Denn dieser Roman handelt von nichts anderem als von der Flucht, bricht also die Schranken des KZs mit jedem Satz. Er ist ein gut geschriebener Abenteuerroman, eine Gattung, gegen die nichts einzuwenden ist. Doch hilft er dem Leser eher, das KZ zu vergessen, als uns daran zu erinnern. Der Roman handelt von dem Fluchtversuch von sieben Häftlingen. Sechs werden gefangen, einer entkommt, dank der Solidarität seiner Freunde und Kameraden in der Arbeiterklasse. Dieses Gelingen wird zum Symbol der Hoffnung und eines gerechtfertigten Optimismus für die Zukunft der Menschheit. Eine einfache, rührende Geschichte, nicht mehr und nicht weniger, unbelastet von kontroversem Material.

Es gibt auch Bücher von Opfern, die nicht überlebt haben. Wir haben eine ganz eigentümliche Beziehung zu diesen Schriften, die abhängig ist von dem, was nicht im Buch steht. Da gibt es z. B. Memoiren des Warschauer Ghettos, vor dem Aufstand geschrieben, doch für den Leser unweigerlich vom Licht des Aufstands umflackert. Das berühmteste Buch dieser Art ist Das Tagebuch der Anne Frank, das meistgelesene Buch über die jüdische Katastrophe.[19]

Dieser weltweite Erfolg rührt gewiss nicht nur von dem unzweifelhaften Scharfsinn und der genauen Beobachtungsgabe her, mit denen die junge Autorin Menschen beschrieben hat, die im engsten Raum aufeinander angewiesen sind. Vielmehr rührt der Erfolg vor allem von dem, was nicht im Tagebuch steht, von dem, was sie nicht wusste, von dem, was nachher kam, nämlich der Zeit in Auschwitz und Bergen-Belsen, die mit ihrem Tod endete. Hätte sie überlebt, so hätte ihr Tagebuch nicht dieselbe Bedeutung für die Nachkriegswelt gehabt. Das lässt sich nicht ändern und ist vielleicht das beste Beispiel für die Beschränktheit einer werkimmanenten Methode, die den Wert eines literarischen Textes nur im Text selbst sucht. In Büchern über den Holocaust genügt der Text allein nicht, wir wollen, ja müssen wissen, wie die Leute, von denen diese Bücher handeln und die sie schrieben, mit den Ereignissen zusammenhingen. Ein Tagebuch aus der Nazizeit schleppt seinen Kontext mit sich, der sich nicht ignorieren lässt. Damit wird die Frage aufgeworfen, welche Texte denn überhaupt in einem rhetorischen Leerraum gelesen werden können und sollen.

Andererseits hat der Tod der Anne Frank sie uns auch irgendwie ausgeliefert, sie unserer sentimentalen ›Lüsternheit‹, kleine Mädchen zu beweinen, preisgegeben. Man liest das Tagebuch gerührt, daher unkritisch; es bietet keine Reibungsflächen. Die grundgescheiten Sätze sind unserem Mitleid, unserem Besserwissen so wehrlos anheimgegeben, dass ihnen die Spitze abgebrochen wird.

Wie könnte man das Tagebuch der Anne Frank kritisch lesen? Zum Beispiel, indem man sich mit Bruno Bettelheims Vorwürfen[20] auseinandersetzt. Bettelheim fand, dass Otto Frank seine Familie ganz unnötigerweise in ein Rattenloch gesteckt hatte, aus dem es keinen Ausweg gab. Sein Argument: Die Juden, denen es gelang, die Nazizeit in Holland zu überleben, wohnten zerstreut bei Familien, die sie versteckt hielten. Papa Frank hätte sich von seinen Töchtern trennen müssen: Wären sie einzeln untergetaucht, dann hätten sie eine Chance gehabt. Doch für so einen Schritt war der alte Frank zu sehr der traditionelle, patriarchalische Vater.

Wer die damaligen holländischen Verhältnisse ein wenig kennt, und wer dieses ausweglose Hinterhaus in Amsterdam, das heute Anne-Frank-Museum heißt, besichtigt hat, wird Bettelheim zustimmen müssen. Es ergibt sich plötzlich ein anderer historischer Kontext als der gewohnte. Bei einem solchen Querlesen des Textes setzt die Rührung aus, und der Verstand springt an. Man stellt sich neue Fragen, man setzt sich mit Problemen auseinander.

Gerade das geschieht wenig in Deutschland. Die Bücher, die ich erwähnt habe, sind alle auf deutsch erhältlich, werden aber relativ wenig gelesen. Dabei gibt es in Deutschland eine sehr genaue Aufarbeitung der Vergangenheit, die sich in überaus verlässlichen historischen Werken niedergeschlagen hat, ganz anders als die rührselige Vergangenheitsbewältigung in der gängigen Literatur, in der, meist gute, Deutsche in den Hitlerjahren gefährdete Kinder und junge Mädchen retten.

Ich habe hier einige der hervorragendsten oder bekanntesten literarischen Werke herausgegriffen, die in den vergangenen Jahrzehnten entstanden sind, die sich mit der Shoah, der großen jüdischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, befassen, um anhand dieser Werke die Probleme zu zeigen, die sie dem Leser und Lehrer stellen. Letzten Endes sind diese Probleme allgemeingültig für die literarische Verarbeitung von erstmaligen Erfahrungen, wo es noch keine ausgetretenen Wege gibt und wo man neue Methoden finden muss. Denn das alte Cliché, alles sei schon einmal dagewesen und wiederhole sich nur, stimmt nicht, wie wir spätestens im Zweiten Weltkrieg gelernt haben. Ein Anliegen der Holocaustliteratur ist es, dem Leser keine erschütterte Starre, die früher oder später in Ressentiment und Verdrängung umschlägt, zu gönnen.

Das Thema lässt sich nicht abrunden und ist keineswegs abgeschlossen. Jedes Jahr erscheinen neue Bücher in mehreren Sprachen zur Holocaustliteratur. Statt sich mit Unbehagen und Ekel davon abzuwenden – eine Reaktion, die unweigerlich zu Missverständnissen und Sentimentalitäten führt –, könnte man sich beteiligen, indem man die eigene Einstellung zum literarischen Thema macht. Die Holocaustliteratur scheint die Leser auszuschließen, doch ist sie tatsächlich so wie andere Literatur auf deren aktives Mitwirken eingestellt.

Wenn ich eine frei erfundene Geschichte zum Thema der jüdischen Katastrophe schreiben müsste, so würde ich keinen realistischen Rahmen wählen. Ich würde eine Gespenstergeschichte erfinden, denn ein Gespenst ist etwas Ungelöstes, besonders ein verletztes Tabu, ein unverarbeitetes Verbrechen. Hier ist ein Anfang zu einer solchen Gespenstergeschichte, den ich zum beliebigen Weiterspinnen freigebe.

In einen Hörsaal kommt der Geist eines der vielen Erschlagenen, angezogen vom Thema, erfreut, dass seiner gedacht wird. Er setzt sich aufs Podium vorne hin, lässt die Beine baumeln, wie die Demonstranten auf der Berliner Mauer. Das Publikum starrt ihn mit glasigen Augen an, ohne ihn zu sehen. Der oder die Vortragende spricht vom Unsäglichen, vom Unvorstellbaren, vom Unaussprechlichen. Das Gespenst fragt sich, warum der an ihm verübte Mord unsäglich ist. Es gäbe doch ein deutsches Wort dafür: Genickschuss. Und warum unvorstellbar, wenn es doch keineswegs ein Mysterium war, sondern eine blutige Sauerei, am helllichten Tag.

Das Gespenst merkt langsam, dass von ihm gar nicht die Rede ist, sondern nur von der Erschütterung des Sprechers, der seine Fähigkeit zum Mitgefühl dem Publikum zur Schau stellt. Und während vom Pult her die Rede ist von der teuflischen Umnachtung der Mörder, denkt das Gespenst an seinen sonnenhellen Todestag und an die Schützen, die ganz gewöhnlich und keine Dämonen waren. Ich denke mir, dass mein Gespenst langsam merkt, dass das Publikum es mit glasigen Augen anstarrt, ohne es zu sehen. Es gibt eben nicht viel Geisterseher. Aber einer sieht es doch, ein gepflegter Herr, Jahrgang 1920, der in der hinteren Reihe sitzt, einer der damaligen Schützen. Der sieht ihn.

Und dann würde ich noch eine junge Studentin erfinden, ersten Semesters, die treuherzig und aus einer echten Beunruhigung über die Parteiabzeichen in der Schatulle auf Großvaters Schreibtisch zu uns gekommen ist. Die Worthülsen des Sprechers haben sie eingeschläfert, trotz ihrer standhaften Bemühungen, gut zuzuhören. Sie sieht durch geschlossene Augenlider unser geknicktes und gekränktes Gespenst den Saal verlassen. Sie steht auf und folgt ihm; der gepflegte Herr aus der hinteren Reihe tut dasselbe, durch eine andere Tür. Der oder die Vortragende hat das Gespenst natürlich auch nicht wahrgenommen und ärgert sich nur über die beiden Zuhörer, die den Saal vorzeitig verlassen haben.

Das wäre so ein Ansatz, den jeder mit ein wenig Phantasie und Verstand aus eigenem Unbehagen und Mitgefühl fortsetzen kann. Ein unfertiges Bruchstück über die Vergangenheit für die offenen Fragen des Weiterlebens.

Anmerkungen

1      Vgl. Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1976, 7-31; hier 31.

2      Vgl. Gershom Scholem: Die 36 verborgenen Gerechten in der jüdischen Tradition. In: Judaica. Frankfurt/M. 1963, 216-225.

3      André Schwarz-Bart: Der Letzte der Gerechten. Aus dem Französischen übersetzt von Mirjam Josephson. Frankfurt/M. 1979, 96 [zuerst unter dem Titel Le Dernier des Justes. 1959].

4      Ebd., 376.

5      Elie Wiesel: Nacht. In: Die Nacht zu begraben, Elischa. Aus dem Französischen von Curt Meyer-Clason. Frankfurt/M. 1988, 17-153 [zuerst unter dem Titel Nuit. 1958].

6      Primo Levi: Ist das ein Mensch? Übersetzt von Heinz Riedt. In: Ist das ein Mensch? Atempause. München 1988, 17-175 [zuerst unter dem Titel Se questo è un uomo. 1958].

7      Vgl. Primo Levi: Se questo è un ebreo fortunato ditelo voi. In: Opere Complete II. Hg. Marco Belpoliti. Turin 2016, 1625-1627; hier 1625 [zuerst 1985 Rez. zu: Vittorio Segre: Storia di un ebro fortunato. Milano 1985].

8      Vgl. Levi: Ist das ein Mensch (Anm. 6), 118 f.

9      Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer. Deutsch von Anne-Liese Kornitzky. München 1986 [zuerst unter dem Titel Bränt barn söker till elden. 1984].

10    Aharon Appelfelds Roman erschien 1978 auf Hebräisch, die amerikanische Übersetzung unter dem Titel Badenheim 1939 folgte im Jahr 1980; in der deutschen Übersetzung ist die Jahreszahl 1939 ausgelassen. Vgl.: Aharon Appelfeld: Badenheim. Aus dem Englischen von Martin Kluger. Berlin/Frankfurt/M. 1982.

11    Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt/M. 1965.

12    Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel. Reinbek bei Hamburg 1963.

13    Vgl. Claude Lanzmann: Shoah. Vorwort von Simone de Beauvoir. Aus dem Französischen von Nina Börnsen und Anna Kamp. Düsseldorf 1986; hier ist der Wortlaut aller Interviews nachzulesen; das Interview mit dem SS-Unterscharführer Franz Suchomel 145-152.

14    Ebd., 145.

15    Franz Schönhuber: Ich war dabei. München 1981.

16    Tadeusz Borowski: Bei uns in Auschwitz. Erzählungen. Aus dem Polnischen von Vera Cerny. München 1982 [zuerst unter dem Titel Die steinerne Welt. Erzählungen. 1963].

17    Ebd., 160 f.

18    Jerzy Kosinski: Der bemalte Vogel. Aus dem Amerikanischen von Herbert Roch. Zürich 1965 [zuerst unter dem Titel The Painted Bird. 1965].

19    Bereits 1949 lag eine erste Version vor: Das Tagebuch der Anne Frank. Übertragung aus dem Niederländischen von Anneliese Schütz. Heidelberg 1949. Es folgten weitere Ausgaben, z. B: Anne Frank Tagebuch. Einzig autorisierte Fassung. Hg. Otto H. Frank und Mirjam Pressler. Frankfurt/M. 1991; Anne Frank. Gesamtausgabe. Tagebücher. Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus. Erzählungen. Briefe […]. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. Frankfurt/M. 2013.

20    Vgl. Bruno Bettelheim: Anne Frank – eine verpaßte Lektion. In: Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation. Stuttgart 1980, 252-265 [zuerst: The Ignored Lesson of Anne Frank. In: Surviving and Other Essays. New York 1979, 246-257].

Zeugensprache: Koeppen und Andersch

Es liegen zwei Texte vor, von denen die Rede sein soll: Wolfgang Koeppens Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch, ein Buch der ersten Nachkriegsjahre, und Alfred Anderschs Efraim, ein Roman der 1960er Jahre. Bevor ich auf diese Texte komme, möchte ich das Problem umreißen, auf das es mir hier ankommt, nämlich das Problem des Ich-Erzählers. Das ist scheinbar das abgedroschenste Problem der Literaturwissenschaft, eine Frage von Technik und Theorie, über die es zahllose Monographien und Aufsätze gibt. Der zeitgeschichtliche Rahmen von Judenverfolgung und Rassismus und Vergangenheitsbewältigung rückt jedoch die Frage: ›Wer sagt hier Ich?‹ in neue Zusammenhänge, nicht mehr die rein belletristischen, sondern die der Wahrheitsfindung und der Zeugenaussage.

In meinem Duden steht, ein Ich-Erzähler sei ein »in einem literarischen Werk als Erzähler auftretendes Ich (das aber mit der Person des Autors nicht identisch ist)«[1]. Diese geläufige Interpretation wollen wir hinterfragen. Die Ich-Form ist die angemessene Form der formalen Zeugenaussage. Wer vor Gericht steht, wird gefragt, was er oder sie gesehen, gehört, erlebt hat, und jede wahrheitsgemäße Antwort zu solcher Befragung hat ein ›Ich‹ als Anfang oder Zentrum. Nun ist die Exil- und Holocaustliteratur weitgehend Zeugenliteratur – wurde als solche geschrieben, wird als solche gelesen. Abweichungen von der Wirklichkeit werden ihr als Fehler angekreidet, was bei der reinen Belletristik nicht der Fall zu sein pflegt. Der Autor ist mit dem Erzähler sehr wohl identisch, und daraus entwickelt sich in manchen Werken eine solche Schwere des Ich-Gefühls, dass sich die Autoren von diesem Ich ganz absetzen. So schreibt Louis Begley seinen Roman Lügen in Zeiten des Krieges[2] in der dritten Person über seine Kindheit in polnischen Verstecken. Oder sie spalten dieses Ich, wie es zum Beispiel Cordelia Edvardson tut in ihrem Buch Gebranntes Kind sucht das Feuer[3], in dem »ich« und »das Mädchen« sich abwechseln. Dadurch entsteht Vermittlung für die pathologischen Zustände und die vielen Gedächtnislücken, von denen Edvardson berichtet. Mir war dieses Buch vorbildlich für meine eigene Autobiographie, und auch ich empfand eine große Distanz, auch Befremdung, gegenüber dem Kind, das ich gewesen war und das ich nicht besonders mochte, als ich über sie zu schreiben begann. Sympathisch war sie mir nicht, dieses ausgegrenzte, eigenbrötlerische, unangepasste Mädchen im Hitler-Wien, im Lager, in der Nachkriegszeit. Als Tochter hätte ich sie mir nicht gewünscht, da waren mir meine eigenen Kinder schon lieber. Hugo von Hofmannsthals Verse spukten mir im Kopf:

Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,