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Die Firma zahlt trotz staatlicher Subventionen schon lange keinen Lohn mehr. Das Arbeitsamt stellt sich unwissend. Als der Betriebsrat dagegen aufbegehrt, geschieht etwas Unglaubliches. Plötzlich ist der Rechtsstaat ganz weit weg... Trotz des ernsten Themas, welches auf mehreren wahren Begebenheiten beruht, schreibt Michael Voigt leicht und mit hintergründigem Humor.
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Seitenzahl: 44
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Michael Voigt
Anhalter
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Der erste Tag
Der zweite Tag
Der dritte Tag
Der vierte Tag
Recht oder Gesetz?
Nachspiel: Es ist nie vorbei
Impressum neobooks
Es gibt Entscheidungen, die dauern nur den Bruchteil einer Sekunde, aber sie verändern dein ganzes Leben. Jener Spätnachmittag im Sommer des Jahres 2003 war so ein Moment. Die Sonne brannte heiß, das Korn stand schon hoch, und die Bauern jammerten. Okay, das tun sie eigentlich immer. Regnet es, ist die Ernte in Gefahr. Scheint die Sonne, heißt es gleich: Oh, Hilfe, das Getreide verdorrt. Nun gut. Ich aber hatte keinen Grund zum Jammern. Bis zu dem Moment, als ein Daumen am Straßenrand aufgeregt zappelte. An dem Daumen hing ein reizvolles, weibliches Wesen. Gemäß den biologischen Gesetzen meiner Gene gab mein Hirn also an den Fuß den Befehl weiter, auf die Bremse zu treten, was jener prompt tat.
Sie hieß Jenny, war 23 Jahre alt und zunächst eine recht angenehme Begleitung. Ich befand mich eigentlich auf dem Weg nach Hause. Zarte 20 Kilometer trennten mich noch von dort, als Jennys Daumen (wirklich nur der Daumen) mich zum Anhalten bewegte. Ich war weder auf ein Abenteuer aus, noch hatte ich Bedarf an diversen Flirts. Dass ich dennoch angehalten hatte, lag – und das schwöre ich – einzig und allein an meinem dämlichen Helfersyndrom, sozusagen ein genetisch bedingter Umstand bei mir.
Jenny konnte nicht nur gut aussehen. Sie konnte auch enorm schnell reden, so dass ich innerhalb weniger Minuten glaubte, ihre ganze Lebensgeschichte zu kennen:
Studentin, Halbwaise, gerade frisch vom Freund getrennt. Hätte sie ihre russisch akzentuierten Sätze etwas langsamer gesprochen und hätte mich das alles wirklich interessiert, wären mir vielleicht einige Ungereimtheiten aufgefallen. So aber schaltete ich meine Gehörgänge einfach auf Durchgang.
Als ich mich noch zwei Kilometer von meinem Heimatort entfernt befand, tauchte die Autobahnzufahrt auf, an der Jenny abgesetzt werden wollte. Doch in diesem Moment erschien noch etwas, nämlich abermals ihr Daumen. Jener befand sich in Begleitung der vier anderen Finger ihrer linken Hand. Alle fünf schlossen sich um ein blitzblankes Messer mit beachtlicher Klinge. Das Ding sah nicht unbedingt handelsüblich aus. Das war mir in dem Moment allerdings herzlich egal, denn die Klinge zielte auf meinen Hals, während meine bis dato auf Durchgang geschalteten Ohren den Befehl vernahmen: „Weiterfahren.“
Ich blinkte daher brav und bog auf die Autobahn ab. Ungefähr eine Million Gedanken schossen mir dabei durch den Kopf. Was soll das? Ist das ein dämlicher Scherz? Kann sie nicht einfach sagen, wo sie hin will? Träume ich gerade…? Irgendwann jedoch weigerte sich mein Gehirn nicht länger, die Realität zu akzeptieren. Ich wurde gerade das Opfer einer Entführung. In Krimis und Actionserien läuft so eine Sache meist spektakulär ab. Demnach müsste ich als Entführter jetzt ganz hoch pokern, indem ich den Wagen auf Höchstgeschwindigkeit bringe und dann sage: „Stich doch zu! Dann gehen wir beide drauf!“ Woraufhin die Übeltäterin zögert und ich anhalten und fliehen kann…
Die Realität sieht völlig anders aus. Wenn jemand ernsthaft dein Leben bedroht, hast du keine Lust auf Heldentaten. Du willst einfach nur den Moment überleben. Für actionreiche Spielchen bleibt da keine Zeit. Merkt euch das, ihr Drehbuchschreiber.
Während also meine sächsische Heimat an mir vorbei rauschte, gab ich Gas und fuhr so schnell, dass ich den Wagen gerade noch im Griff hatte. Das mag irrsinnig klingen. War es aber nicht. Ich wollte weder meine Entführung beschleunigen, noch die angebliche Jenny, die wohl eher Jewgenija heißen mochte, mit mir in den Tod reißen.
Mein Ziel war es vielmehr, das zu erreichen, was ich bisher durch streberhafte Fahrweise stets vermieden hatte: Ein Foto, aufgenommen an der nächsten stationären Radarfalle. Das schien mir momentan die einzige Möglichkeit zu sein, eine Art Spur zu legen. Mit viel Glück fiel ich vielleicht auch einem Streifenwagen der Polizei auf. Ich konnte es nur hoffen, denn ich ahnte, was der Zweck meiner Entführung war. Und ich wusste, dass ich nur so lange weiterleben würde, wie mein Bluff nicht aufflog.
Vier Monate zuvor
Die Leichenfledderer und merkantilen Glücksritter gaben sich in unserer Firma schon jahrelang die Klinke in die Hand. Das Unternehmen war ein mittelständiger Zulieferer für Maschinen- und Fahrzeugteile mit renommierten Kunden und vollen Auftragsbüchern. Trotzdem schrieben wir Monat für Monat tiefrote Zahlen. Das lockte so manchen selbst ernannten Sanierer an, der dann meist ein paar Leute entließ, etwas Geld einsetzte, dieses verlor und schließlich frustriert das Handtuch warf. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Geschäftsleitung aber meist schon den nächsten Investor an der Angel.
Wirklich zu leiden hatten unter dieser Geschäftspolitik nur die Arbeiter und Angestellten. Monat für Monat warteten sie vergeblich auf Löhne und Gehälter, welche wie selbstverständlich zu Gunsten anderer Verbindlichkeiten zurückbehalten wurden. Der Wechsel zu einer anderen Firma gelang den meisten Mitarbeitern nicht. Erstens hatte die Geschäftsleitung in vielen Unternehmen und selbst im Arbeitsamt gute Freunde. Zweitens, man erinnere sich, gehörte das Jahr 2003 zu der Zeit, als ein gewisser, medienverliebter Kanzler mitsamt seinen Helfershelfern die deutsche Wirtschaft gründlich gegen die Wand fuhr. Es gab also schlichtweg keine offenen Stellen.