Anja lernt reiten - Lise Gast - E-Book

Anja lernt reiten E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Anja möchte unbedingt reiten lernen und zusammen mit ihrer Freundin Petra in die Reitstunde. Unglücklicherweise hat Anjas Mutter Angst, dass ihr beim Reiten etwas zustossen könnte und verbietet ihr deshalb die Reitere. Heimlich beginnt Anja trotzdem auf dem Reiterhof Eulengut Reitstunden zu nehmen. Erst als es Petra gelingt ihren kleinen Bruder vor einer grossen Gefahr zu schützen, sind die Eltern davon überzeugt, dass sie sich um Anja keine Sorgen machen müssen... - Eine humorvolle Geschichte, die in sanften Tönen über die Lieblichkeit des Lebens berichtet.Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-

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Lise Gast

Anja lernt reiten

Drei Geschichtenvon Mädchen und Pferden

Saga

Anja lernt reiten

German

© 1996 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711508275

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Anja hat nur einen Wunsch

Alles wird anders

„Anja! Anja, wo steckst du?“

Das war Mutter. Immerzu rief sie, immerzu sollte man etwas, hier nur mal anfassen und dort zugreifen, den Koffer holen und das Paket aufschnüren – nicht eine Sekunde blieb einem für sich selbst. Und Anja hatte sich so darauf gefreut, daß nun alles anders, besser, schöner würde.

Mutter hatte wieder geheiratet. Einen jungen, freundlichen, netten Mann – es war nichts gegen ihn zu sagen. Und als sie dann nach einem Jahr Zwillinge bekam, zwei kleine Brüder für Anja, hatte die sich auch gefreut – immer hatte sie sich Geschwister gewünscht. Und nun war die Familie auch noch umgezogen, hatte ein hübsches Reihenhaus am Rand der Stadt gemietet, sogar mit einer Art Garten drum herum, auch das hatte sich Anja gewünscht. Daß man in einem neuen Haus nicht von heute auf morgen eingerichtet sein konnte, sondern erst einmal in einem Wust von Koffern, Kartons, Taschen und aufeinandergestapelten Umzugskisten unterging, das hatte sie nicht voraussehen können; es war ja der erste Umzug, den sie erlebte. So lange sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie mit Mutter in einer kleinen Etagenwohnung in der Stadt gewohnt. Beinah wünschte sie sich jetzt, es wäre alles beim alten geblieben.

Nein, das doch nicht. In der alten Wohnung war es sehr eng, und auf der Straße konnte man nur auf dem Fußweg gehen, und auch dort nur an der Häuserseite, so eng war alles, so nahe rauschten die Autos vorbei. Hier lief die Hauptstraße ein ganzes Stück entfernt vorüber, man hörte die Autos zwar, aber nur wie ein schwaches Zischen. Die Straße, in die sie gezogen waren, lag abseits, und wenn ein Auto kam, dann gehörte es hierher und fuhr langsam.

Vor dem Haus, das nun „ihr“ Haus sein würde, öffnete sich sogar ein kleiner Platz, auf dessen gegenüberliegender Seite sich ein niedriger Einkaufsladen befand. Und ein Stück entfernt, aber doch nahe genug, daß man sagen konnte „bei uns“, stand eine moderne Kirche, grau, mit bunten Fenstern und einem Turm, der ein Stück vom Hauptgebäude entfernt aufragte. Anja fand die Kirche von Anfang an wunderbar.

Mutter hatte aufgehört zu rufen. Na schön, da brauchte man also nicht zu antworten. Anja drückte sich am Zaun entlang davon. Bald hörten die Häuser auf, und man kam auf freies Gelände. Das war neu für sie, die mitten aus der Stadt kam, und hatte etwas Aufregendes, Erregendes an sich, so, als wäre plötzlich eine alte Haut von einem abgefallen. Ähnlich war ihr zumute gewesen, als sie zehn Jahre alt wurde, den ersten Geburtstag mit zwei Zahlen feierte. Zehn – das war mehr als ein Jahr älter, das war ein Schritt in eine neue Landschaft.

So war es auch jetzt und hier. Anja ging langsam und wie tastend um das letzte Haus herum, kroch unter einem Zaun durch, der hier eine weite freie Fläche abgrenzte, und stand auf einer Wiese. Drüben, ziemlich weit entfernt, sah man einen Bahndamm, darüber die Autostraße, dahinter, aufsteigend, den Wald. Das Ganze hell, weit – ein wenig blaß – die Sonne hatte um diese Jahreszeit keine große Kraft mehr – und fremd. Anja blieb stehen. Nein, nicht weiter, nicht ganz allein in dieser Weite sein müssen. Lieber hielt sie sich am Zaun. Bis sie etwas sah ...

Auf der Wiese, nicht weit von ihr entfernt, stand etwas Großes, Dunkles, Lebendiges – Anja holte kurz Atem: ein Pferd. Ein richtiges Pferd, dunkelbraun mit einer gelblichen Mähne, die teils rechts, teils links am Hals herunterhing, in groben Wellen, die wie Bindfäden aussahen. Anja merkte nicht, wie sie sich in Bewegung gesetzt hatte und, wie magnetisch angezogen, auf das Pferd zuging, Schritt für Schritt. Jetzt wandte es den Kopf und sah zu ihr her.

„Ja, du, wie heißt du denn?“ hörte Anja sich selbst halblaut fragen. „Heißt du Fury? Nein, sicher nicht. Fury sieht anders aus, ganz anders. Darf man dich streicheln?“

Es war kein schönes Pferd, kein Bild auf Glanzpostkarte mit rassigem Kopf und wildschönen Augen. Und es stampfte nicht feurig mit den Vorderbeinen, sondern stand still und ein wenig x-beinig da, schlug ein bißchen mit dem Schweif, daß er an den Flanken entlangstrich, und war bei aller Größe und Breite ziemlich mager. Die Knochen rechts und links an der Kruppe stachen vor, man sah auch die Rippen. Und auf der Nase entlang zog sich ein heller Streifen, er ging von der Stirn bis auf die Oberlippe herunter. (Man nennt das „Laterne“, wie Anja später erfuhr.) Um die Nüstern herum hatte es einzelnstehende, ziemlich grobe Haare. Anja streckte schüchtern die Hand aus.

Zucker müßte man haben oder Brot oder eine Mohrrübe. Das Pferd sah sie so zutraulich an, so überzeugt davon, daß sie ihm etwas brachte. Ganz schnell fuhr sie mit beiden Händen in die Taschen ihrer Jeans. Vielleicht war doch ... richtig, Hustenbonbons! Vater – der neue Vater – hatte ihr gestern welche gekauft.

„Süßigkeiten sind nichts Gutes, aber wenn man so schrecklichen Husten hat wie du ...“ Er blinzelte sie vergnügt an, während er ihr die Tüte zusteckte. Sie hatte ein einziges Mal gehustet, und das nur, weil sie sich verschluckt hatte.

Mit ein wenig fahrigen Fingern wickelte sie das erste Bonbon aus und steckte das Papier in die Tasche zurück.

„Komm, hier, siehst du? Magst du so was?“ schmeichelte sie und hielt es dem Pferd auf der flachen Hand entgegen. Daß man das so macht, wußte sie, sie hatte ja schon oft Pferde mit Zucker gefüttert, wenn sie mit Mutter spazierengegangen war.

Die Lippen des Tieres fuhren suchend über ihre Hand, nahmen das Bonbon, und dann knirschte es zwischen den Zähnen. Anja wickelte das nächste aus. Und dann, während das Pferd dieses zerbiß, trat sie näher heran und legte den Arm um den herniedergebogenen Pferdehals. „Bist mein Gutes, Gutes“, flüsterte sie zärtlich.

Lockere, warme, blanke Haut. Ein Geruch, mit keinem anderen zu vergleichen. Ein leises Schnauben, das „Ja!“ hieß, ganz deutlich „Ja!“. Anja lächelte zu dem Pferdekopf empor.

Später hörte sie Schritte. Jemand kam auf sie und das Pferd zu, ruhig, langsam, so, daß man nicht erschrak. Anja nahm den Arm nicht vom Hals des Pferdes, sie sah zu dem Mann auf, der herangetreten und neben ihr stehengeblieben war.

„Na, da hat ja unser Kerlchen jemanden gefunden, der mit ihm schmust“, sagte eine freundliche Stimme. Anja lächelte und drückte ihre Wange noch fester an den Pferdehals.

„Heißt er Kerlchen?“ fragte sie. Sie war überhaupt nicht schüchtern wie sonst, wenn sie mit fremden Leuten zusammenkam, sondern ganz und gar einverstanden damit, daß sie sich hier mit einem fremden Menschen unterhielt. Er sah sie aufmerksam an.

„Eigentlich heißt er Rodi. Aber ich sage immer Kerlchen zu ihm, weil er so – so ein armes Kerlchen ist.“ Der Mann lächelte. Sein Gesicht wurde dadurch unwahrscheinlich freundlich, dieses altersgraue, mit tiefen Falten durchsetzte Männergesicht. Es war nicht schön, aber unbeschreiblich angenehm, es strahlte eine tiefe und überzeugende Fröhlichkeit aus – Anja hatte so etwas noch nie erlebt.

„Ja?“ fragte sie halblaut, beglückt.

„Ja. Das gefällt ihm, daß du ihn liebhast.“

Sie standen ein Weilchen, Anja streichelte das Pferd, und der alte Mann sah ihr dabei zu. Dann fragte er:

„Willst du mal rauf?“ Dabei deutete er mit dem Kinn nach dem Rücken des Pferdes.

„Oh! Wenn ich darf?“

„Natürlich darfst du. Er ist ganz brav.“ Er trat an sie heran. „So, nun pack mal die Mähne, dort, ja, siehst du, du erreichst sie gerade. Und jetzt – mach mal mit dem linken Bein so –“ Er zeigte ihr, wie sie das Bein anwinkeln sollte. Sie tat es ihm nach. Ganz sanft legte er zwei Finger der einen Hand unter ihren Spann und gab ihr einen fast unmerklichen federleichten Druck von unten nach oben. Ohne sonstige Hilfe, sich an der Mähne haltend, glitt sie auf den Rücken des Pferdes, saß oben, das rechte Bein darübergeschwungen, als wäre sie schon hundertmal so aufgestiegen. „Hach!“ seufzte sie unwillkürlich.

„Nicht wahr?“ Er lächelte zu ihr hinauf. „Breit ist er ja, und man sitzt gut, wenn er auch mager ist. Ich kriege und kriege nichts auf seine Rippen, sosehr ich mich auch mühe. Dabei frißt er ganz ordentlich.“

Anja antwortete nicht. Eine Erinnerung, längst verweht, streifte sie – oder war es ein Traum, den sie irgendwann einmal geträumt und dann wieder vergessen hatte, der sich jetzt meldete? Sie hatte das schon einmal erlebt, das warme Fell an der Innenseite ihrer Beine, den merkwürdig schwebenden und doch irgendwie ansaugenden Sitz.

„Schön, nicht? Und wie weit man sieht.“

„Ja. Viel weiter als von unten.“

„So, nun muß ich ihn mitnehmen, er muß heim. Es wird dunkel. Morgen kommt er wieder“, sagte der freundliche Mann und hob den Arm, um Anja herunterzuheben.

„Danke, nein, ich kann allein.“ Sie hatte das rechte Bein zurück über die Kruppe geschwungen und ließ sich an der linken Seite des Pferdes heruntergleiten. Bums, da stand sie. Er sah sie lächelnd an.

„Gut gemacht. Bis morgen also. Wie heißt du denn?“

„Anja. Und Sie?“

„Anders. Nein, so meinte ich es nicht –“ Er lachte jetzt ganz richtig. „Ich heiße ‚Anders‘. Mit dem Familiennamen. Bin Pferdepfleger im Reitverein, da drüben. Auf dem Eulengut. Kennst du es nicht?“

„Nein. Wir sind erst hierhergezogen.“

„Aha. Du bist neu. Sonst hätte ich dich ja auch schon gesehen.“ Herr Anders hatte Kerlchen an der Mähne gefaßt und ging mit ihm los, im gleichen Schritt. Anja lief nebenher.

„Gute Nacht, Kerlchen! Schlaf schön – gute Nacht, Herr Anders. Und danke fürs Aufsitzen!“

„Bitte. Bist du morgen wieder da?“

Er hätte nicht zu fragen brauchen.

„Mutter, ich hab’ ein Pferd kennengelernt, es heißt Rodi, aber es wird Kerlchen genannt. So groß – und so lieb –“ Anja erzählte und erzählte. Mutter wickelte gerade den einen der kleinen Buben in eine schimmernd weiße, weiche Windel.

„Das ist aber schön! Ein Pferd – da können die kleinen Brüder später reiten lernen –“

„Ich – ich bin schon – nein, ich hab’ nur drauf gesessen. Geritten bin ich nicht, aber drauf durfte ich ...“

„Weißt du, was Anja erlebt hat? Sie erzählte es mir vorhin, strahlend und glühend vor Glück. Sie hat auf einem Pferd gesessen, hier irgendwo muß ein Reitverein sein.“ Mutter goß Tee ein und lächelte, während sie ihrem Mann die Tasse hinüberreichte. Er klopfte ihr zärtlich auf die Hand, sah sie an.

„Vielleicht findet sie dort Freundinnen. Na, jetzt hat sie ja auch Brüder. Sie schließt sich schwer an, oder?“

„Ja, das typische Einzelkind. Gewesen, gottlob, wenn die Brüder auch sehr viel jünger sind. Aber – du, weißt du, woran ich denken mußte, als sie mir das vorhin erzählte? Ich ahne ja nicht, wie weit Erinnerungen zurückgehen können, aber ... Ihr Vater, Walter also, hat sie mal auf ein Pferd gesetzt, als sie ungefähr ein Jahr alt war oder etwas darüber, ich weiß es nicht genau. Er liebte ja Tiere so, am meisten Pferde. Immer sagte er, Anja würde mal eine große Reiterin. Und da hat er sie auf ein Pferd gehoben, und sie wollte absolut nicht wieder runter, klammerte sich fest und schrie: ‚Leiben! Leiben!‘ Das hieß ‚bleiben‘. Und als er sie schließlich herunternahm, hat sie bitterlich geweint. Meinst du, daß sie sich daran noch erinnert?“

„Bewußt sicher nicht. Aber vielleicht unbewußt. Es muß aber nicht sein. Das erstemal auf einem Pferd zu sitzen, das ist auf alle Fälle ein Erlebnis. Ach ja, unsere kleine, große Anja – ob die Jungen später auch mal so verrückt auf Pferde sein werden? Mir wär’ es jedenfalls lieber als auf Motorräder.“ Beide lachten.

„Mir wahrhaftig auch! Nein, nur nicht Motorräder. Ach, ein Glück, daß sie noch so klein sind ...“

Anja wachte auf, ehe Mutter sie weckte. Es war noch ganz dunkel. Sie lag still und versuchte, sich an das zu erinnern, was sie geträumt hatte.

Von etwas Großem, Warmem, Lebendigem – von Kerlchen natürlich! Er stand und schnoberte an ihr herum, und sie zog eine Mohrrübe nach der andern aus der Tasche. Anja lachte. Das mußte kein Traum bleiben. Wenn sie heute hinlief, um ihn zu treffen, würde sie bestimmt Mohrrüben mitnehmen. Erst aber kam die Schule. O weh.

Eine neue Schule, eine neue Klasse, in der sie kein Kind kannte, und alle untereinander kannten sich – das war keine schöne Aussicht. Ob Mutter sie hinbringen würde? Hoffentlich. Oder Vater?

Es wäre vielleicht besser, Vater ginge mit, da würden die andern gleich sehen, daß sie einen Vater hatte. So lange hatte sie keinen gehabt. Es brauchte ja niemand zu wissen, daß es ihr zweiter Vater war. „Stiefvater“ wollte sie nicht denken, das war ein häßliches Wort. Und Vater war wirklich kein böser Stiefvater.

Auf einmal merkte Anja, daß sie weinte. Es weinte einfach aus ihr heraus, sie hatte gar nicht gemerkt, wann es anfing. Schleunigst kroch sie mit dem Gesicht unter das Deckbett, zog es mit beiden Händen über sich und hielt die Zipfel fest. Wenn Mutter kam und sie wecken wollte und merkte, daß sie weinte, und dann fragte ...

Sie konnte ja nicht erklären, warum sie weinte, das wußte sie genau. Sie hatte Angst – vor der neuen Schule, vor der neuen Klasse, vor dem neuen Leben. Nicht aufstehen müssen, nicht in die neue Schule gehen – wenn Mutter kam, würde sie sagen, sie hätte Kopfschmerzen oder ihr wäre schlecht – oder –

Dann aber konnte sie nachmittags nicht zu Kerlchen laufen. Er würde stehen und auf sie warten, umsonst – sicherlich würde er das. Wenn sie ihm auch nur Hustenbonbons gebracht hatte. Nein, sie mußte aufstehen, sie mußte in die Schule. Es half nichts. Zu Kerlchen wollte sie.

Sie hatte aufgehört zu weinen, zog das Deckbett vom Gesicht und guckte zum Fenster hinüber. Das war jetzt ein graues Viereck, es begann zu dämmern. Gleich würde Mutter kommen.

Aber Mutter kam nicht. Anja hörte sie hin und her gehen, zur Küche und zurück ins Schlafzimmer, hörte sie zärtlich beruhigend reden mit den kleinen Jungen, denen sie die Flasche gab, mit Vater lachen. Warum kam sie nicht? Sicherlich war es doch höchste Zeit.

Anja gab sich einen Ruck und kroch aus dem Bett. Im Schlafanzug und barfuß tappte sie durchs Zimmer, machte die Tür einen Spaltbreit auf.

„Mutter?“

„Ja, Anja! Bist du wach? Komm schnell, du frierst doch.“

In der Küche war es warm, Mutter stellte gerade die Kaffeekanne auf den Tisch. Vater stand am Herd und ließ ein Ei nach dem andern ins zischende Fett gleiten. Sein Gesicht war vergnügt, er nickte Anja zu.

„Heute frühstücken wir amerikanisch, mit Speck und Eiern, magst du das?“ fragte er munter. Anja mochte es nicht, sie nickte aber trotzdem.

„Setz dich. Du kannst nachher duschen, damit wir zusammen frühstücken können. Komm, hier ist Platz für dich.“

Die Küche war schon ganz gemütlich, Vater und Mutter mußten gestern noch fleißig gewerkelt haben. Der viereckige Tisch stand vor der Eckbank, eine bunte Decke darauf – Vater nahm gerade die roten Teller vom Bord. Sogar das Tellerbord hatte er schon angeschraubt, die Küche sah wohnlich und reizend aus.

„Nicht wahr? Wir haben die schönste Küche der Welt“, sagte er und ließ ein Spiegelei auf Anjas Teller rutschen. „Dort ist Brot – was willst du trinken? Kakao? Hier ist dein Becher.“

„Muß ich nicht in die Schule?“ fragte Anja nun doch. Sie hatte es so lange bei sich behalten, wie es ging, jetzt aber meinte sie, sie verpaßte die Zeit, wenn sie noch länger schwieg. Mutter hatte sich gerade gesetzt, sie sah so jung und eifrig und rotbackig aus, ein bißchen zerrauft, aber das stand ihr gut.

„Ach, heute noch nicht“, sagte sie und goß sich Milch in den heißen Kaffee, „du fängst doch diesen Herbst mit der höheren Schule an. Da lohnt es nicht mehr, in eine andere Volksschule zu gehen. Die Arbeiten zur Aufnahmeprüfung habt ihr in der alten Schule doch schon geschrieben.“

„Und da brauch’ ich jetzt nicht ...“ Anja sah Mutter mit weit aufgerissenen Augen an.

„Nein. Nächsten Montag bringt dich Vater ins Gymnasium, dann sind dort die mündlichen Prüfungen. Nach dem, was du schriftlich geleistet hast, brauchen wir keine Angst zu haben“, sagte Mutter. „Er war bei deiner Klassenlehrerin. Es wird schon alles klappen, Anja. Nun iß – nachher läufst du mir rasch zum Einkaufen. Gegenüber, weißt du, das Geschäft am Platz. Ist das nicht praktisch für uns, es so nahe zu haben?“ Mutter plauderte weiter. Anja saß und schluckte an dem Stück Brot, das sie sich abgebröckelt hatte, schluckte und schluckte. Es wurde immer mehr im Mund.

Vielleicht bin ich wirklich krank, oder ich werde krank, ich ziehe einen Bären, wie Mutter das früher nannte, wenn ich mich schlecht fühlte. Nächste Woche in die höhere Schule, Aufnahmeprüfung, lauter neue Kinder, die einander noch nicht kannten. Das war doch dann nicht so schlimm, oder es war für alle gleich schlimm.

Sie versuchte, sich das einzureden. Sie wollte auch nicht krank werden. So verlockend die Vorstellung war, zurück ins Bett zu kriechen und die Decke über den Kopf zu ziehen, zu sagen: „Mir ist nicht gut ...“ – der Gedanke an Kerlchen, der auf sie wartete, war stärker. Nein, nicht krank werden! Sie wollte Mutter gern helfen, wenn sie nachmittags wieder hinauslaufen und Kerlchen füttern konnte, vielleicht wieder aufsitzen, vielleicht ein Stück reiten ...

Eins aber wußte sie genau, wenn sie es auch nicht denken mochte. Jetzt war alles, alles anders als früher. Nicht nur die Wohnung, die Wohngegend, die Schule – alles war anders, das ganze Leben. Erschreckend, beängstigend, bedrückend anders, sie kam nicht daran vorbei. Aber inmitten dieser fremden und gefährlichen Weite stand etwas Warmes, Lebendiges, Gutes, etwas, das auf sie, Anja, wartete.

Petra

Der Regen fegte schräg herab, es war abscheulich kalt. Anja hatte sich nicht die Zeit genommen, den Wintermantel herauszusuchen, sondern war in ihren Sommeranorak geschlüpft, um endlich fortzukommen. Der Anorak war dünn, vorn und an den Schultern glänzte er dunkel vor Nässe. Schnell, schnell in den Stall hinein!

Wenn nur der Reitlehrer nicht drin war! Der konnte es gar nicht leiden, daß man kam, ohne zur Stunde angemeldet zu sein. „Hier ist kein Spielplatz für Kleinkinder“, hatte er einmal gebrummt, als sie sich gerade mit Othello neckte. „Oder reitest du heute?“

„Nein, ich –“, hatte sie gestammelt und nicht weitergewußt. Da aber kam Herr Anders mit der Karre und gab ihr die Gabel in die Hand.

„Anja hilft, sie ist furchtbar tüchtig“, sagte er und lächelte den Reitlehrer an. Der zögerte eine Sekunde und ging dann hinaus. Anja hatte den Atem angehalten. Herr Anders lachte leise.

„Natürlich darfst du bleiben, so fleißig wie du bist.“

Aber Respekt vor dem Reitlehrer hatte sie eben doch noch. Es wäre jedenfalls besser, wenn er nicht da wäre.

Sie luchste durch den Türspalt. Die Stallgasse war leer. Gottlob! Hineingeschlüpft, Anorak aus, über den Pfosten geworfen. Warme, ein wenig feuchte, dunstige Luft, Geruch nach Heu, Stroh, Mist – und Pferden. Wunderbarer Geruch.

„Grüß dich, Anja. Wieder mal durchgebrannt zu Hause?“

Das war Herr Anders. Er trat aus dem Stand von Faruk, die Mütze ein wenig schief auf dem Kopf, und lächelte Anja an. Sie lachte ihm zu, jetzt ganz selbstvergessen und glücklich.

„Ja, das heißt – ich darf! Mutter hat gesagt, ich kann laufen, weil ich vormittags fleißig war. Wenn ich vormittags helfe, darf ich nachmittags her, wissen Sie.“

„Dann hilf nur vormittags tüchtig. Damit ich nachmittags hier Hilfe hab’.“

Herr Anders war früher Lehrer gewesen, eine der Reitschülerinnen hatte ihr das erzählt. Lehrer an einer Sonderschule, also bei schwachbegabten Kindern, jahrelang. Und dann war er pensioniert worden und als Pferdepfleger hierhergekommen.

„Prima, nicht?“ sagte Petra, die schon zwölf Jahre alt war und seit längerem hier ritt. „Ich werd’ auch Pferdepfleger, aber schon eher. Nicht erst mit sechzig.“ Petra lachte, in ihren Augen tanzten die Funken. Sie trug neuerdings ihr Haar ganz kurz, abgeschoren wie ein Schäfchen, nur vorn über der Nasenwurzel war es ein ganz klein wenig länger und stand im Wirbel empor. „Was glaubst du, wie meine Mutter geschimpft hat, als ich so nach Hause kam“, erzählte sie und kratzte dem Condor den Huf aus, „steh still, alter Zausel, ich tu’ dir schon nicht weh! Aber es war nicht mehr zu ändern, was ab ist, ist ab. Ich habe es ja nur abschneiden lassen, weil er“ – damit meinte sie den Reitlehrer – „dauernd über meine langen Haare schimpfte. Er behauptete, ich hörte nichts, wenn sie mir so über die Ohren wüchsen, und es wäre kein Wunder, wenn ich keine richtige Antwort geben könnte. Beim Reiten müßte man denken, und wenn man denken wollte, müßte man hören, was er sagte.“ Sie lachte, ihre Augen wurden zu ganz schmalen Schlitzen über den prallen runden Wangen. Petra lachte eigentlich immer, sogar, wenn sie runterflog, noch in der Luft, so hatte es Anja erlebt.

Gerade kam sie hereingeschusselt, das Gesicht so naß vom Regen wie Anja vorhin, und vergnügt!

„Bist du schon da? Na prima. Du wohnst aber auch nahe, ich muß mit dem Fahrrad herstrampeln. Wen krieg’ ich denn heute? Die Wanda? Das darf doch nicht wahr sein!“

„Doch, die Wanda“, sagte Herr Anders und hob eine Gabel voll Mist auf die Karre, „die Wanda hat ja monatelang nichts getan, die dicke Kuh.“

„Du bist keine Kuh, hör ja nicht drauf!“ lachte Petra und schob die dralle Kruppe der Haflingerstute an die Seite, um in ihren Stand hineinzukönnen, „dick bist du, wahrhaftig, aber deshalb noch lange keine Kuh.“

Wanda und Bubi standen in einem Behelfsstand am Ende der Stallgasse, sie waren die einzigen Haflinger im Stall, alles andere Großpferde. Dadurch wirkten sie kleiner und gedrungener, als sie waren, speckfett und stramm. Petra klatschte Wandas Hals.

„Dich soll ich in der Halle um den Hufschlag bringen? Lieber Himmel, da brauch’ ich ja Sporen. Dich vorwärts zu kriegen, dazu gehört Kraft!“

„Sag das nicht. Die Wanda ist schnell“, sagte Herr Anders und blieb am Stand stehen, „sie hat lange nichts getan, war bis jetzt Besitzerpferd, und der hatte nie Zeit. Vorige Woche hat der Reitverein sie übernommen.“

„Und ich bekomme also die ehrenvolle Aufgabe, sie zu reiten?“ sagte Petra. „Na, gute Luft. Komm her, erst wollen wir dich mal schönmachen.“

Anja stand, in einer Hand den Striegel, in der andern die Kardätsche, und sah Petra an. Sie bewunderte die Ältere, ohne es zu wissen, hingegeben und sehnsüchtig. Petra machte sich aus nichts etwas draus, aus keinem Anpfiff des Reitlehrers und keiner Schelte zu Hause. Sie ging in jeden Stand hinein, ohne sich in acht zu nehmen, sprach das jeweilige Pferd zwar an, wie man es tun soll, aber es machte ihr überhaupt nichts aus, wenn es unruhig hin und her trat oder sie an den Rand drängte. Petra benahm sich überall, als sei sie zu Hause, beneidenswert, fand Anja. Wenn Petra in ihre Klasse ginge ...

Aber die war natürlich zwei Jahre über ihr. Anja strich den Gedanken an die Schule schnell wieder aus und ging zu Kerlchen in den Stand, um ihn zu putzen. Sie putzte ihn jeden Tag, Herr Anders sagte, das täte ihm gut, auch wenn er nicht geritten würde. Gut geputzt ist halb gefüttert, eine alte Weisheit. „Jaja, du bist doch mein Bester.“

Petra schimpfte mit Wanda, Anja hörte es bis hierher.

„Steh still, alte Scharteke, oder es setzt was. Na, weißt du, der unterste ist meiner. Runter von meinem Fuß!“

Herr Anders lachte, leise amüsiert. Man hörte, wie er die Karre absetzte. „Geh rum – so ist’s schön.“

Anja reckte sich, um auf Kerlchens Rücken hinaufzureichen. Es war ein so gutes Gefühl, mit der Bürste über das blanke Fell zu fahren, mit Druck, trotzdem sanft. Nur mit dem Striegel kratzte sie nicht gern, sie hatte immer Angst, dem Pferd damit weh zu tun. An manchen Stellen aber ging es nicht ohne Striegel, vor allem, wenn Kerlchen draußen gewesen war. Die Wiese hatte lehmige Stellen, und dann klebte der Schmutz in den langen Fesselhaaren, wenn er getrocknet war, so daß man ihn kaum herausbekam.

„So schön, so brav – hoi!“ Anja tat einen kleinen Schrei, jemand hatte sie von hinten geschubst, und sie war gegen die Flanke des Pferdes gefallen. Jemand? Othello natürlich, der Zwergziegenbock. Wie in vielen Reitställen gab es auch hier einen Ziegenbock, halb als Maskottchen, halb aus dem alten Aberglauben heraus, daß Pferde nicht krank werden, solange ein Ziegenbock im Stall ist.

Wieweit das stimmte, wußte Anja nicht. Herr Anders hatte es ihr damit erklärt, daß Ziegenböcke sehr stark röchen, sehr scharf, und Ratten könnten diesen Geruch nicht leiden. Ratten übertragen oft ansteckende Krankheiten. Wo Hafer ist, stellen sich Ratten und Mäuse automatisch ein, also wäre es schlau, einen Ziegenbock zu halten und dieses Ungeziefer damit fernzuhalten. Auch Katzen gab es in fast allen Reitställen, und viele Reiter und Reiterinnen brachten ihnen regelmäßig etwas mit, Wurstreste oder auch Fisch. Anja hatte das bei einer Reiterin erlebt, die nur einmal die Woche kam, um zu reiten. Sie war nicht sehr groß, schlank wie ein Junge und von einer frischen Resolutheit, die Anja gefiel.

„Die? Die ist Ärztin“, hatte Petra berichtet, als Anja sich nach ihr erkundigte. „Soll sehr tüchtig sein, hat deshalb wenig Zeit. Cornelia nennen wir sie. Ich weiß nicht, ob das stimmt, sie sagte es so, daß man nicht wußte, ob sie Spaß macht. Und sie wäre fünfhundert Jahre alt, hat sie geantwortet, als Elke sie nach ihrem Alter fragte.“

„Geh weg, du Ekel“, sagte Anja jetzt und versuchte Othello aus dem Stand zu schieben. Sie konnte ihn gut leiden, den kleinen schwarzen Teufel mit den winzigen spitzen Hörnern. Othello ging im Stall umher, als gehörte der ihm allein, bei jedem Pferd im Stand schlief er, wie es ihm gerade paßte, stahl sich Hafer und griff alle, die er nicht leiden konnte, von Zeit zu Zeit an, wütend, die Hörner gesenkt, oft auch Männchen machend, was sehr drollig aussah. Aber mitunter tat er einem auch richtig weh, wenn er einen unvermutet schubste und man gegen etwas Härteres flog als gegen Kerlchens weiche Flanke. Ein einziges Glück, daß dieser nicht erschrocken war, als Anja gegen ihn fiel.

Aber Kerlchen ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, schnoberte nur ein wenig zu ihr hin, indem er den Hals drehte, und pustete dann wieder in seine leere Krippe hinein.

„Ja, ich hab’ dir doch was mitgebracht.“ Anja grub in ihrer Hosentasche und ließ ein paar Möhrenstückchen in die Krippe fallen, die Kerlchen sogleich mit den Lippen aufnahm und zu kauen begann. Ein Glück, daß die kleinen Brüder jetzt schon Möhrenbrei bekamen.

Da blieb immer etwas beim Putzen zurück, und das steckte Anja sofort ein. Sie erzählte das Petra, während sie beide um die Wette striegelten.

„Und wenn die Jungen erst Spinat bekommen ...“, lachte Petra. „Mein kleiner Bruder bekam immer Spinat, na, der spuckte was zusammen!“

„Du hast auch einen kleinen Bruder?“ fragte Anja. „Ich hab’ zwei. Zwillinge, noch ganz klein.“

„Meiner ist schon neun, aber gräßlich verwöhnt“, sagte Petra. Man hörte ihre Stimme dumpf von unten kommen, sie kratzte Wanda gerade den Bauch sauber. „So was von Heulemeier. Denkst du, der reitet? Der brüllt, wenn man ihn aufs Pferd setzt.“ Abgrundtiefe Verachtung klang aus ihrer Stimme. „Aber das kommt davon, wenn sich Eltern wie verrückt Söhne wünschen. Wir sind drei Schwestern, zwei sind größer als ich, die reiten schon lange. Aber der Herr Kronprinz, nicht um die Welt!“

„Vielleicht ist er mal tüchtig abgeschmiert?“ fragte jetzt eine andere Stimme dazwischen. Anja und Petra hoben die Köpfe. Ach so, Cornelia.

„Heut ist doch nicht Mittwoch“, sagte Petra verwundert. Sie hatte die Stundenpläne der Reitenden haarscharf im Kopf. Die Ältere lachte.

„Ich reite trotzdem, wenn du gestattest. Wen krieg’ ich denn?“

„Ich seh’ nach.“ Petra schoß aus dem Stand heraus und durch die Tür, hinüber zur Baracke. Dort lagen die Nummern der Pferde aus, zusammen mit den Namen der Reiter für diesen Tag.

„Den Creon“, berichtete sie, wieder hereinflitzend, und strahlte Cornelia an. „Soll ich ihn Ihnen satteln?“

„Menschenskind, Petra! Ist nett gemeint, aber seh’ ich aus wie jemand, der sich das Pferd satteln läßt?“

„Oh, Entschuldigung, nein. Ich meinte nur –“

„Du meintest es gut. Na, Creon, wie ist das mit uns beiden? Werden wir uns vertragen?“

„Reiten Sie mit uns? Jetzt, um zwei?“ fragte Petra atemlos. Cornelia lachte.

„Wenn der Gestrenge mich in eure fortgeschrittene Abteilung hineinnimmt?“

„Och, Sie können doch viel mehr. Sie reiten doch sicherlich schon fünf Jahre!“

„Aber meist nur einmal die Woche, wenn überhaupt. Wer tut sonst noch mit? Paul und Thielo und – du auch, Anja?“ Sie fragte es freundlich und gar nicht spottend. Anja wurde feuerrot.

„Ich reite überhaupt noch nicht – ich –“

„Du hilfst nur? Siehst du, so hab’ ich auch angefangen“, sagte Cornelia freundlich und hob den Sattel vom Bock, „immer im Reitstall herumgekrochen und geputzt und ausgemistet, bis ich die Eltern so weit hatte, daß sie es erlaubten. Und den Reitlehrer, daß er mich nahm.“

„Warum wollte er denn nicht?“ fragte Petra und griff nach der Decke, die Cornelia eben entfaltet hatte und neu zusammenlegen wollte, „warten Sie, ich helf’ Ihnen.“

„Weil ich kein Junge bin. Damals durften nur Jungen reiten, jedenfalls dort, wo ich anfing.“

„Gemein“, sagte Petra tief überzeugt. „Man kann doch nichts dafür, daß man kein Junge ist. Ich wäre nämlich gern einer. Ich sollte unbedingt ein Sohn werden, Peter sollte ich heißen.“

„Sei froh, daß du eine Tochter bist. Wenn Töchter brav und sanft sind und Puppenkleider nähen, sind die Eltern froh, und wenn sie lieber reiten oder herumtoben, sind sie auch froh – und stolz.“ Cornelia lachte leise, während sie die gefaltete Decke auf Creons Rücken legte.

„Puppenkleider nähen!“ murmelte Petra, „komm, Wanda, mein Püppchen, soll ich dich auf den Arm nehmen?“

Anja hielt die Tür auf, als Petra mit Wanda und Cornelia mit Creon hinauswollten. Es regnete im Augenblick nicht, sie kamen trocken hinunter zur Halle. Paul und Thielo waren schon darin und bewegten ihre Pferde. Sie ritten Besitzerpferde, Paul einen etwas massigen Schimmel, Wisky, und Thielo seinen Skanda. Anja lief durch die trockene Lohe und setzte sich jenseits der Bande auf die Bank. Von hier aus konnte sie die Halle gut übersehen. Gleich darauf erschien der Reitlehrer.

Er hatte schlechte Laune, wie man sogleich merkte. Nein, Anja war doch froh, daß sie noch nicht mitritt. Was würde er ihr alles an den Kopf werfen, wenn sie sich anfangs dumm anstellte, wo er schon bei Petra dauernd etwas auszusetzen fand!

Die kam mit ihrer Wanda auch wirklich nicht zurecht. Erst ließ die Stute nicht aufsitzen, trat hin und her, und Petra, schon im linken Bügel, mußte den Fuß wieder herausnehmen. Und dann, als sie sich beim zweiten Versuch rasch und geschickt hochgezogen hatte, ging Wanda los wie das Donnerwetter und ließ sich nicht aufnehmen. Der Reitlehrer tobte und brüllte etwas von Gernegroß und Pferde reiten wollen, mit denen man nicht fertig wird ...

Als ob Petra sich das Pferd ausgesucht hätte! Anja fühlte eine dumpfe Wut in sich aufsteigen, wie immer, wenn sie Ungerechtigkeiten erlebte – sie konnte es einfach nicht ertragen, wenn jemand für etwas angepfiffen wurde, wofür er nichts konnte. Vielleicht kam das daher, daß ihre Mutter immer sehr darauf bedacht gewesen war, gerecht zu sein.

Petra ließ sich nichts anmerken. Sie ritt mit zusammengebissenen Zähnen und einem verschlossenen Gesicht, sah jetzt viel älter aus, als sie war. Nachdem sie Wanda in die Abteilung hineingebracht hatte – hinter Paul, dessen Wisky ruhig und unerregt ging –, schien es besser zu werden. Wanda schnaubte zwar noch aufgeregt und versuchte sich auf das Gebiß zu legen, aber Petra war auf der Hut. Sie gab nach und nahm den Zügel wieder an, weich und fast unmerklich – Wanda versuchte es noch ein paarmal, wurde dann vernünftiger. Anja hatte beide Daumen in die Fäuste gepreßt und stand so da, an die Bande gelehnt, die Zähne in die Unterlippe gegraben.

Es wurde keine gute Stunde. Beim Angaloppieren ging Skanda seinem Reiter davon, überholte einfach die anderen und riß Creon, der bis dahin ganz gut gegangen war, mit sich. Cornelia verlor den einen Bügel und mußte schwer schaffen, um ihr Pferd durchzuparieren, ohne allzu hart zu werden. Creon ließ sich keine harte Zügelfaust gefallen, er wurde dann bockig und fing an, rückwärts zu schieben – setzte man die Gerte ein, erst recht.

„Das ist keine Abteilung, das ist ein Sauhaufen“, knirschte der Reitlehrer. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgeschoben, und Herr Anders kam, „Tür frei?“ fragend, herein, die Florett am Zügel. Manchmal unterrichtete der Reitlehrer vom Sattel aus, das schien heute geplant zu sein. Anja hatte es noch nicht erlebt.

Herr Anders führte das Pferd in die Mitte der Halle, der Reitlehrer kam herüber, prüfte den Gurt, zog ihn nach und saß dann auf. Freilich, man sah sofort, daß er ein guter, ein hervorragender Reiter war. Florett schien es auch zu merken, sie ging sanft und geschmeidig unter ihm, vom ersten Schritt an. Er ließ sie an die Spitze der Abteilung gehen, hinter ihm ritt Cornelia, dann Petra, dann die beiden Jungen. Auf einmal war Ordnung in der Abteilung. Petra grinste verstohlen, als sie an Anja vorbeiritt. Anja verstand: Wenn er die Abteilung führte, konnte er nicht alles sehen. Insofern war das günstig.

Ach ja, reiten müßte man können! Nicht nur draufsitzen, nicht nur das Pferd rundum mitlaufen lassen – Anja fühlte genau den Unterschied, wenn sie so die Reitenden miteinander verglich. Auch Cornelia, die einen sehr guten Sitz hatte, war mit dem Reitlehrer nicht zu vergleichen. Petra hielt sich wacker auf ihrer widerspenstigen Wanda, mehr aber brachte sie nicht zustande. Als das Schlußkommando kam: „Rechts dreht, links marschiert auf!“, waren alle außer dem Lehrer verschwitzt und atemlos, Anja merkte es genau. Sie sprang in die Halle hinunter und streichelte erst Wisky, dann die anderen – nach der Stunde durfte man das. Cornelia schob die Reitkappe aus der Stirn und blies die Backen auf.

„Puh! Na, ein Vergnügen war das nicht!“

Beim Hinausführen der Pferde passierte es dann. Petra, jetzt wohl nicht mehr so achtsam wie die ganze Stunde lang, führte ihre Wanda durch die Tür, als ein Hund heransprang; er gehörte wohl einem Reitschüler, der eben erst gekommen war und aus dem Auto stieg. Der Hund, ein ziemlich großer, schwarzer, zottiger Kerl, sprang ohne böse Absicht heran, jappend, nicht einmal richtig bellend, aber Wanda erschrak anscheinend sehr. Sie riß den Kopf hoch, Petras Arm mit, duckte sich dann und fegte davon, am Misthaufen entlang zur Außenbahn, die jetzt nicht benützt wurde und zur Hälfte unter Wasser stand. Petra, im Augenblick nicht darauf gefaßt, ließ den Zügel nicht los, wurde mitgerissen und versuchte, Wandas Tempo zu halten. Das gelang ihr anfangs auch. Man merkte, daß sie eine gute Läuferin war, vor allem eine, die sich auf Blitzstarts verstand. Alle, die es sahen, verfolgten die beiden mit weit aufgerissenen Augen – erst sah es bedrohlich aus, dann so, als würde es doch glimpflich ablaufen, eben, weil Petra so gut zu Fuß war, dann aber konnte man genau sehen, daß es auf die Dauer nicht gutgehen konnte. Das durch Wochen ausgeruhte, wenn auch gedrungene Pferd war erheblich schneller als seine Reiterin, und nun schlug Wanda auch noch einen unvermuteten Bogen, und Petra stürzte, noch immer den Zügel haltend. Sie landete mit ausgestrecktem Arm auf dem Bauch, wurde noch ein Stück mitgerissen, dann gab sie den Zügel frei.

„Liegen lassen!“ rief Cornelia mit klarer, befehlender Stimme, als sie sah, daß der Hundebesitzer hinüberrannte und sich über Petra beugte.

Anja fühlte den Zügel von Creon in der Hand – hatte Cornelia ihn ihr gegeben, oder hatte sie selbst zugegriffen? Sie wußte es später nicht mehr – Cornelia spurtete den Hang hinunter. Petra rührte sich soeben, versuchte sich aufzurichten und fiel ächzend zurück. Jetzt war auch der Reitlehrer da.

„Nichts passiert. Nichts Schlimmes“, hörte man Cornelias Stimme. „Aber bleib liegen, Petra, rühr dich nicht. Warte ab.“

„Die Wanda! Daß sie uns aber nicht auf die Straße läuft!“ rief Petra halblaut. Cornelia machte eine beruhigende Handbewegung.

„Keine Angst, wir sind genug Leute, um sie einzufangen. Bleib liegen.“ Sie rannte über den Reitplatz, das Wasser spritzte hoch. Wanda hatte an der schmalen Seite des Platzes gebremst, schien zu überlegen, ob sie weiterlaufen sollte, wandte sich dann um.

Cornelia fiel sofort in Schritt, grub in der Hosentasche und ging dann mit ausgestreckter Hand auf die Stute zu. „Ruhig, ruhig! Ja, du bist doch die Beste! Komm, hier ...“

Wanda legte die Ohren zurück, während sie den Hals streckte – sie sah wahrhaftig nicht wie „die Beste“ aus, sondern ausgesprochen tückisch und boshaft. Jetzt zog sie auch noch die Oberlippe zurück und bleckte die braungefleckten Zähne.

„Olga, das Mistvieh, wie es leibt und lebt“, murmelte Cornelia den Titel eines Buches mit Pferdeanekdoten vor sich hin, auf dessen Umschlag ein solches Tier abgebildet war, schob sich aber vorsichtig näher. „Komm, komm, meine Gute, ich hab’ was für dich.“

Nein, Wanda widerstand der Versuchung nicht. Sie machte sich lang und länger, um den Zucker zu erreichen – und als sie ihn hatte, hatte auch Cornelia ihr Backenstück erwischt. Ganz langsam und behutsam schloß sie die Finger darum, damit Wanda ja keinen Ruck spürte, und führte sie dann, freundlich mit ihr sprechend, zurück zu den anderen.

„So, da hätten wir dich also. Ja, Thielo, kannst du sie nehmen? Ich will mich mal um Petra kümmern.“

Es war dann ein Schlüsselbeinbruch, „die übliche Reiterfraktur“. Cornelia sagte das so und klopfte Petra freundlich auf die Wange. „Ist nicht die erste, nein? Na siehst du. Und wird nicht die letzte sein. Eigentlich holt man sich solch einen Bruch meistens, wenn man im Hechtsprung vom Pferd schießt, nicht beim Nebenherhoppeln. Egal, ehrenvoll ist es doch, oder nicht? Wenn du jetzt nicht in die Schule kannst, klingt das gut: ein Reitunfall. Alle werden dich beneiden. Ein Glück, daß es rechts ist.“

„Na, wahrhaftig.“ Petra saß auf dem Tisch in der Baracke, sie hatten ihr Pullover und Bluse vorsichtig abgezogen, und Cornelia war dabei, ihr eine elastische Binde umzuwickeln. An der heilen Schulter fing sie an, führte die Binde über den Rücken zur rechten, schlang sie dort herum und wieder kreuzweise zur anderen. „Merkst du, daß es stützt? Ist wahrscheinlich nur angebrochen.“ Sie tastete noch einmal mit den Fingerspitzen vorn, dort, wo das Schlüsselbein die Verbindung zwischen Brustbein und Schulter bildet. „Na, vielleicht doch ganz durch, man merkt hier eine Stufe. Die kann aber auch vom vorigen Mal sein. Wann war denn das? Und auch rechts?“

„Vor zwei Jahren. Auch rechts.“ Petra nickte mit zusammengepreßten Zähnen.

Cornelia lachte.

„Und wie oft hat Helga Köhler das Schlüsselbein gebrochen? Weißt du das?“

„Neunzehnmal“, brummte Thielos Baß von hinten. „Du hast also noch siebzehnmal vor dir, Petruschka.“

„Danke schön – ihr habt gut lachen!“ Petra versuchte es auch. Aber es wurde mehr ein Grinsen, das nicht sehr fröhlich aussah. Cornelia blickte sie unauffällig prüfend an.

„Wird dir schlecht?“ fragte sie leise.

„Ist schon“, meldete Petra und verzog das Gesicht. Paul sprang mit einem Eimer zu. Petra würgte.

„Aha. Also auch eine Gehirnerschütterung“, stellte Cornelia fest. „Am besten, ich bring’ dich selbst nach Hause. Wirst du Krach kriegen? Reitverbot für zehn Jahre? Oder ‚Du Armes!‘ und Küßchen und derartige Köstlichkeiten, die man so gern hat?“

„Keins von beiden. Meine Eltern sind Kummer gewöhnt. Die beiden Schwestern von mir haben – pfui Teufel!“ Sie würgte wieder. Cornelia hielt ihr die Stirn.

„Jaja. ‚Das Pferd ist ein gefährliches Tier, das dem Reiter nach dem Leben trachtet‘ – so steht es in vielen Reithallen angeschrieben. Geht’s wieder? Dann komm, ich bring’ dich heim. Wenn jemand meinen Creon absattelt –“

„Der wird weiter geritten, von drei bis vier“, sagte Thielo und hielt ihr die Tür auf. Sie hatte Petra auf den Arm gehoben, geschickt und geübt, und trug sie zum Auto. „Bis bald, Struwwelpeter!“ rief Thielo Petra noch nach. „Komm ja bald wieder! Wir weinen uns die Augen nach dir aus!“

Petra war schon wieder so weit getröstet, daß sie ihm die Zunge herausstrecken konnte.

Solche Tage gibt es

„Wie weit bist du mit den Schularbeiten, Anja?“

„Hab’ keine auf.“

„Keine auf? Auch kein Latein?“ Mutter wunderte sich. Anja hatte die ganzen Wochen lang, die sie nun schon in die neue Schule ging, täglich gestöhnt, sie bekämen so viel auf. Mutter hatte nie Latein gelernt, sie hielt das für geistiges Steineklopfen, und ihre kleine Tochter tat ihr leid. Um so erstaunter war sie heute sowohl über das „Hab’ keine auf“ wie über den Ton, in dem Anja es gerufen hatte. Es klang gar nicht fröhlich und erleichtert, im Gegenteil. „Da stimmt doch was nicht“, dachte Mutter und ging nun doch in Anjas Zimmer. Bisher hatte sie von der Küche aus gerufen. Anja war in Mantel und Mütze.

„Wolltest du weggehen?“

„Ja.“

„Und weshalb hast du nichts auf?“

„Ach, ich hatte schon. Ich hab’ es in der Schule gemacht. Wir hatten eine Hohlstunde.“

„Eine Hohlstunde? Aha, eine ohne Unterricht, oder? Du, Anja, wenn du nichts aufhast und sowieso gerade raus wolltest – es ist ja so schön heute, der reinste Frühling –, da könntest du doch die Jungen mitnehmen. Im neuen Wagen. Ich hab’ so viel zu tun.“

Am kommenden Sonntag sollte die Taufe stattfinden, in der schönen neuen Kirche. Vier Paten waren eingeladen worden und wollten auch kommen, für jeden Jungen zwei. Anja konnte es schon nicht mehr hören. Geschwister hatte sie sich wohl gewünscht, als sie noch mit Mutter allein war, aber welche zum Spielen und Rumspringen, gleichaltrige, mit denen man radeln und Verstecken spielen und sonstwas unternehmen konnte. Aber keine, die man „behalten“ mußte, stundenlang.

„Ich – ich wollte –“

„Was wolltest du denn?“ Mutters Stimme klang ungeduldig. In letzter Zeit war das oft so. „Immer“, dachte Anja rebellisch. „Immer ist Mutter jetzt ungeduldig, immer hat sie keine Zeit, immer ist wichtiger, was sie will, als das, was ich möchte.“ Sie kam sich schlecht behandelt vor.

„In den Reitverein“, sagte sie patzig. „Du hast doch gesagt, wenn ich mit den Schularbeiten fertig bin, kann ich gehen.“

„Aber Anja, du warst doch gestern erst dort und vorgestern – überhaupt die ganze Woche. Sag, hast du die Klapper gesehen, die Volker so gern hat? Die mit dem weißen Griff? Wenn er die in der Hand hat, ist er zufrieden. Ach, dort liegt sie. Gib sie doch mal rüber! Und mach mir die Tür auf ...“

Anja gehorchte stumm. Mutter hatte die beiden kleinen Jungen fertig angezogen und in den neuen Wagen gelegt. Es war kein wirklich neuer, sondern ein gebraucht gekaufter, breiter als ein gewöhnlicher Kinderwagen, man sah sofort, daß es ein Zwillingswagen war.

Anja fand das gräßlich. Jeder, dem man auf der Straße begegnete, machte den Hals lang und guckte hinein. Kinderwagen schieben war überhaupt nur für Mütter schön, und nun gar einen so auffallenden ...

Sie sagte das nicht. Schweigend half sie Mutter, den Wagen vom Flur über die kleine Treppe hinunterzutragen, und öffnete das Gartenpförtchen.

„Ja, jetzt habt ihr es schön! Anja führt euch! Daß wir noch solche Tage bekommen, ehe es richtig kalt wird“ – schwatzte Mutter und zupfte den beiden die Kapuzen zurecht. „Ja, da lachst du, kleiner Mann, nicht wahr? Das gefällt dir.“

„Wie lange muß ich denn ...“, fragte Anja maulig. Mutter sah auf ihre Armbanduhr.

„Um fünf wird es dunkel. Sagen wir bis fünf. Ich hab’ so viel zu tun, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Aber jetzt los.“

Sie winkte den beiden Kleinen zu, lachend und zärtlich, ehe sie ins Haus zurückhuschte.

Anja war die Petersilie verhagelt. Bis fünf – das kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Der ganze Nachmittag war hin – sie schluckte, einmal, noch mal, ein drittes Mal. Der Klumpen, der ihr im Hals saß, ging nicht hinunter.

Immerzu die beiden Kleinen. Immerzu: „Komm, faß mal an, halt mal, hilf mal.“ Erst hatte sie es auf den Umzug geschoben. Daß beim Umzug mehr zu tun war als gewöhnlich, das war ihr klar. Aber jetzt war der Umzug doch vorbei. Dafür kamen jetzt die Taufe und der viele Besuch, und dann kam vermutlich wieder etwas, und –

Nun würde Kerlchen umsonst warten. Herr Anders hatte ihn bestimmt auf die Weide gebracht, wenn es dort auch nicht mehr viel zu knabbern gab. Aber er bekam Luft und Sonne, der arme alte Kerl, und nun stand er und wartete, und sie kam nicht. Mißmutig schob sie den Kinderwagen den Fußweg entlang.

An der Ecke der Straße stand ein Telefonhäuschen. Es war neu, leuchtend gelb – Anja sah es an, gleich darauf fuhr sie mit der Hand in die Tasche. Der Geldbeutel – nein, sie hatte ihn nicht mit. Nur Möhrenstückchen und Zucker waren in der Tasche, die brauchte sie nun nicht, und sie halfen ihr nicht. So was Dummes! Da hätte sie doch wenigstens Petra anrufen können.

Petra lag tagsüber, das wußte Anja genau, daheim im Wohnzimmer auf der Couch, direkt neben dem Telefon. Cornelia hatte ihr das erzählt, gleich am Tag nach dem Unfall.

„Man kann sie also jederzeit anrufen, ist das nicht prima? Eine Gehirnerschütterung ausliegen, das dauert mindestens zehn Tage. Und da langweilt man sich schrecklich, weil man ja nicht fühlt, daß man krank ist. Ruf sie doch mal an, sie freut sich bestimmt.“

Und nun hatte sie kein Geld dabei! Heute ging auch alles schief.

Das mit den fertigen Schularbeiten stimmte nämlich auch nicht, jedenfalls nicht so ganz. Sie hatte in der Freistunde in der Schule zwar etwas getan – die Vokabeln, die sie lernen sollten, herausgeschrieben –, aber richtig gelernt hatte sie sie noch nicht. Zum richtigen Lernen kam man in der Hohlstunde nicht, die Jungen nützten die Zeit immer aus, um Unfug zu treiben – in ihrer Klasse des Gymnasiums waren mehr Jungen als Mädchen, und die paar Mädchen – drei außer ihr – mochte sie nicht sehr. Keine von ihnen hatte Interesse an Pferden.

Wenn sie doch in Petras Klasse wäre! Aber Petra war zwei Jahre über ihr, und selbst, wenn sie sitzenblieb – sie sagte manchmal, dieses Jahr würde es sie erwischen, ihre Schwestern wären auch mal sitzengeblieben, na was denn! –, selbst dann wäre noch ein Jahrgang zwischen ihnen. Anja hatte das Gefühl, als gäbe es überhaupt keinen Lichtpunkt mehr für sie, auf den sie zuleben, nichts, auf das sie sich freuen könnte. Trübe sah es aus.

„Na, du machst ja ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter“, hörte sie plötzlich jemanden sagen, und gleich darauf strahlte ihr Gesicht auf: Cornelia. Sie kam den Fußweg entlang, in Cordhosen und Gummireitstiefeln, die Schultertasche links, in der rechten Hand eine überdimensionale Tüte vom Supermarkt. Ihr Wagen parkte am Gehsteig gegenüber, ein alter, roter, nicht sehr eleganter VW. Aber er paßte so richtig zu Cornelia.

„Ach. Weil ich –“ Sie wies mit dem Kinn auf ihre Kinderwagenfracht. „Immer muß ich die kleinen Brüder ausfahren, das ist so langweilig.“

„Immer? Ach, so oft doch vielleicht nicht. Gestern warst du doch den ganzen Nachmittag im Reitverein.“ Cornelias Stimme klang munter, und sie hatte solch einen flotten, vergnügten Schritt – Anja schloß sich unwillkürlich ihrem Tempo an.

„Sind Sie heute geritten?“ fragte sie. Cornelia nickte.

„Ausnahmsweise. Was glaubst du, wie schwierig es ist, daß ich mal zwei Tage hintereinander kann. Eigentlich langt es nicht auf einmal. Wie geht’s Petra? Hast du sie angerufen?“

„Nein, ich wollte. Aber ich hab’ mein Geld zu Hause liegengelassen.“ Anja schwieg und gab sich dann einen Stoß. „Könnten Sie mir bitte zwei Zehner borgen? Dann würde ich –“

Cornelia lachte. Sie blieb stehen, setzte die Tüte ab – ein paar Apfelsinen rollten heraus, Anja sprang hinterher und fing sie ein – und riß die Schultertasche auf.

„Da. Nicht geborgt, geschenkt. Ruf sie an und grüß von mir. Ich käme mal vorbei. Ich hab’ sowieso ein miserables Gewissen, daß ich noch nicht wieder dort war. Unser Peterlein, mußte ihr das passieren! Sie wollte so gern das Nikolausreiten mitmachen!“

„Danke!“ Anja nahm die zwei Groschen und schloß die Faust drum. „Vielen Dank. Ich grüß’ sie. Und Sie meinen, sie kann das nun nicht? Es ist doch aber noch lange bis zum Nikolaus!“

„Ja, aber vorher muß trainiert werden. Ein paar Wochen schon. Sie sollte das erste Mal mitreiten.“ Cornelia wartete am Bordstein, bis die Straße frei war. „Ich muß fort, tschüs, wie gut, daß ich dich getroffen hab’!“

Sie lief rüber. Anja sah ihr nach.