Anna Mahler - Gabriele Reiterer - E-Book

Anna Mahler E-Book

Gabriele Reiterer

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Beschreibung

Anna Mahlers Leben gleicht einem Geflecht aus Herkunft und Zeit. Der berühmte Vater Gustav Mahler und die übermächtigen Mutter Alma prägten ihr bildhauerisches Werk. Dem Studium der Malerei in Rom und in Paris folgte die Ausbildung zur Steinbildhauerei in Wien. In den 1930er-Jahren war ihr Wiener Atelier ein Zentrum der Begegnung, wo sich Literaten, Komponisten und Maler trafen (z. B. Elias Canetti, Fritz Wotruba). Anna Mahler begegnen wir als Bildhauerin und als Reisende, verwoben mit Wien, Rom, Venedig, Paris, London, Los Angeles und Spoleto in Italien. Die Biografie über Anna Mahler (1904–1988) erzählt vom Leben einer beeindruckenden – und fast vergessenen – Frau und spannt einen großen Bogen über 100 Jahre österreichische Kunst- und Geistesgeschichte.

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„Musik war Teil des Lebens, und wenn man einmal Musik in sich so gelebt hat, ist es eine Krankheit, die man nie wieder loswird.“

Intro

I Wien – New York – Wien. Die frühen Jahre

Einsamkeit, Isolation, Abschied, Musik

II Das Tusculum am Semmering

Johann Sebastian Bach statt Richard Wagner, Mamis Lebenshunger, Eine neue Familie, Frühe Ehe, Hungerstreik

III Ein neues Leben in Berlin

Neue Liebe, Ein begabter Komponist, Die Casa Mahler in Venedig und der italienische Faschismus, Breitensteiner Idyll, Die Ehefrau des Komponisten, Klavierauszüge, Ausbruch aus der Ehe

IV Unterricht in Rom und Paris

Römische Freiheit, Kein Leben ohne Musik, Krankheit in Paris

V Wien und die Steinbildhauerei

Das Wohnatelier, Eine erzwungene Ehe, Die Operngassenbühne, Fritz Wotruba, Ein fragwürdiges Verhältnis, Manons Tod, Einzelgängertum, Internationaler Erfolg, Abschied und Flucht

VI Exil in London

Zwischenstation Paris, Wieder Boden unter den Füßen, Künstlertreff in Hampstead, Zwischen Haushalt und Glasatelier, Entscheidung

VII USA

Lecturer for Art, Der Zaubergarten, Die Kunst der Fuge, Totenmasken, Götterdämmerung

VIII Rückkehr nach Italien

Spoleto und das Festival dei Due Mondi, Fernöstliche Weisheit und Spiritualität, Das Portrait des Vaters

IX Der musikalische Urgrund

Bildhauerei und Musik, Späte Anerkennung

Anmerkungen

Personenverzeichnis

Verwendete Literatur

Bildnachweis

Dank

Die Autorin

Impressum

Intro

Die kleine Anna im weißen Sommerkleid spielt im Garten.

Wer war Anna, die dritte Mahler?

Als Tochter eines berühmten Vaters und einer übermächtigen Mutter nahm ihr Leben seinen Ausgang von der versunkenen Welt des Wiener Fin de Siècle. Von der einstigen Reichshauptstadt aus verbanden sich die geografischen Koordinaten ihres Lebens: Anna Mahler begegnen wir auf ihrem Weg durch Zeitläufte und Räume, als Bildhauerin und als Reisende, verwoben mit Städten und Kulturen. London, Venedig, Los Angeles und Spoleto in Umbrien sind Orte, an denen sie als Künstlerin lebte und arbeitete.

Nach dem Studium der Malerei bei Giorgio de Chirico in Rom, Wassili Schuchajew in Paris und Cuno Amiet in der Schweiz wandte sich Anna Mahler in den 1930er-Jahren in Wien der – für eine Frau in jener Zeit ungewöhnlichen – Steinbildhauerei zu. Fritz Wotruba war ihr Lehrer.

Von frühen Jahren an war Musik Teil ihres Lebens und übertrug sich auf ihre Kunst. Annas Erfolg und teilweise Anerkennung setzten erst im hohen Alter ein.

Die Frage nach dem gebührenden kunsthistorischen Rang von Anna Mahlers künstlerischem Schaffen im Kontext der Kunst des 20. Jahrhunderts ist nicht ganz einfach zu beantworten. Zählt sie zur ersten oder zur zweiten Reihe? Manche ihrer Skulpturen sind ausdrucksstark und zeugen von hohem Niveau, andere wiederum atmen den Hauch des Laientums. Zu ihren Stärken zählten Portraitköpfe, die sie von vielen berühmten zeitgenössischen Personen fertigte. Auf beharrliche, ja fast störrische Weise hat sie zeitlebens auf die Darstellung der menschlichen Figur bestanden. Abstraktion war ihre Sache nicht.

Anna Mahlers künstlerisches Schaffen umspannt über zweihundert Positionen. Ihr Frühwerk aus der Wiener Zeit wurde im Krieg zerstört. Die weiteren Arbeiten befinden sich im Besitz der Haupterbin oder sind verstreut. Eine systematische, kunstwissenschaftliche Klassifikation und Würdigung ihrer Kunst hat bislang nicht stattgefunden, ihr Werk ist nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten.

Anna Mahlers Kunst erschließt sich nur im Gesamtbild ihres Lebens: der Prägung durch ihre Herkunft, der Erfahrung des Exils und in der Folge einer nomadisch-kosmopolitischen Existenz. Die Biografie nimmt diese Gesamtheit in den Blick und zeichnet ein mehr als bewegtes Leben nach.

In der Erzählweise wurden quellenbezogene, intuitive Schwerpunkte gesetzt. So sind beispielsweise die Breitensteiner Aufenthalte von Anna und Ernst Krenek von 1922 und 1923 – teils – zusammengeführt. Größeren Raum nimmt die Begegnung mit dem Dichter Rainer Maria Rilke im Schweizer Wallis ein.

Die Häuser und Ateliers, in denen Anna lebte und arbeitete, gibt es zum Teil nicht mehr oder sie wurden inzwischen verändert. Beschreibungen, wie etwa jene von Annas Wiener Atelier, der Wohnung und dem Treibhausatelier in London, entstammen zeitgenössischen Zeitungsberichten. Haus und Garten in Spoleto, Italien waren anhand zeitgenössischer Videoaufnahmen und Berichten von Besucherinnen und Besuchern rekonstruierbar. Annas Haus in Los Angeles in der Oletha Lane erschloss sich ebenfalls durch Fotos und Beschreibungen von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen bildhaft.

Die den einzelnen Kapiteln vorangestellten Zitate stammen aus den Interviews von Wilhelm Matejka mit Anna Mahler aus dem Jahr 1984, dem Radiofeature „Menschenbilder“ von Patrizia Velikay und dem bemerkenswerten Videointerview von Peter Stephan Jungk mit der Künstlerin aus dem Jahr 1987.

Die Briefe ihrer Mutter Alma hat Anna zu Lebzeiten vernichtet. Aus zahlreichen Quellen wie Gesprächen mit jenen Menschen, die Anna Mahler noch begegnet sind, Briefen in Annas oft schwer zu entziffernder Schrift und meist undatiert, Features, Filmen und schließlich ihren eigenen Aussagen in Interviews – wobei sie sich zu ihrer Kunst kaum äußerte –, entstand jedoch die Geschichte einer faszinierenden, mutigen, selbstbestimmten, aber auch belasteten Frau, die den Bogen eines ganzen Jahrhunderts verkörperte.

Die Wiener Staatsoper um die Jahrhundertwende

I Wien – New York – Wien. Die frühen Jahre

„Die prominenten Eltern würde ich sehr in den Hintergrund stellen, weil ich sehr früh von zu Hause weg bin.“

Anna erhielt ihrer ausdrucksvollen veilchenblauen Augen wegen von ihren Eltern den Kosenamen Gucki.

Als Anna älter war, erfuhr sie von ihrer Mutter die Geschichte ihrer Geburt.

Die Wehen setzten in einer Juninacht ein, erzählte Alma. Sie öffnete die Fenster und draußen „blühte, rauschte, sang“ alles. Sie hatte keine Angst, obwohl die Geburt der ersten Tochter Maria schwierig gewesen war. Als die Wehen im Morgengrauen stärker wurden, weckte Alma Gustav, der sich rasch ankleidete und die Hebamme holte. Als er zurückkehrte, begann er, Alma Immanuel Kant vorzulesen, um ihre Schmerzen „wegzusuggerieren“. Er las und las mit monotoner Stimme, bis ihn die Hebamme schließlich hinauswarf.1

Das Kind kam um die Mittagszeit des 15. Juni 1904. Gleich nach der Geburt, erinnerte sich Alma, schlug die Kleine „unerschrocken“ ein Paar „riesengroße, veilchenblaue Augen“ auf. Gustav und Alma nannten ihre zweite Tochter Gucki – dieser ausdrucksvollen Augen wegen.2

Annas eigene Erinnerung reichte in das Alter von vier, vielleicht drei Jahren zurück. Sie entsann sich an ein Gefühl gedrückter Atmosphäre. Würde man die Schwere durch ein richtiges Wort oder vielleicht ein Lachen brechen können? Anna ortete zwischen ihren Eltern Disharmonien, wie fein gesponnene Netze.3

Gustav verlangte konsequentes Schweigen. Bei Tisch durfte grundsätzlich nicht gesprochen werden, um seine Gedanken nicht zu stören.4 Mahlers straff geplantem Arbeitsleben ordneten sich alle unter. Seine freie Zeit war ausnahmslos der Arbeit an den Kompositionen vorbehalten. Splendid isolation, so seine Worte, war dafür eine wichtige Voraussetzung.

Anna erinnerte sich später in einem „Schimmer“ daran, dass ihre um zwei Jahre ältere Schwester „wild“ war und sie „offenbar sehr schlecht behandelte“.5 Schemenhaft entsann sie sich daran, dass Gustav ihr Maria vorzog. Er liebte offensichtlich das Temperament und die wilde Lebendigkeit der älteren Tochter. Putzi war sein Liebkind. „Wunderschön und trotzig. Schwarze Locken, große blaue Augen“, erzählte Alma.6 Selten durfte auch Anna zu ihm ins Arbeitszimmer und ihm zusehen. Anna beobachtete ihn, wie er konzentriert über das Blatt gebeugt arbeitete.7 Manchmal blickte er auf. Als ob er sich in diesen Momenten entsann, ein zweites Kind zu haben, ging ein Lächeln über sein Gesicht und er war unendlich lieb zu ihr.8

Zu dieser Zeit hatte Gustav Mahler die Arbeit an der Vertonung von Friedrich Rückerts Kindertodtenlieder wieder aufgenommen. Er war mit dem Tod auf beklemmende Weise vertraut, sechs seiner dreizehn Geschwister waren im Kindesalter gestorben. „Ich kann es nicht verstehen, dass man den Tod besingen kann, wenn man sie noch eine halbe Stunde vorher heiter und gesund geherzt und geküsst hat“, schrieb ihm Alma entsetzt. Und sie tobte: „Um Gottes Willen, du malst den Teufel an die Wand.“9

Einsamkeit

„Ich möchte keine Note sein, weil du mich dann ausradieren würdest.“

Als Anna drei Jahre alt war, markierten mehrere Ereignisse in rascher Abfolge eine Zäsur. Sie begann damit, dass Gustav Mahler als Hofoperndirektor demissionierte und das k. u. k Hofoperntheater verließ, nachdem er „zehn Jahre lang Routine, Nepotismus, Verschlampung, Intrigen und Dummheit die Stirn geboten“ hatte.10 Seinen Schritt kommentierte er mit den knappen Worten, er könne „das Gesindel nicht mehr aushalten“. Gustav Mahlers Jahre an der Hofoper waren von Anfeindungen und Intrigen begleitet. Ein Schlaglicht auf den herrschenden Antisemitismus werfen Aussagen aus dem kulturellen und aristokratischen Umfeld im Jahr 1907, in denen vom Wunsch der „Überrumpelung“ der „Judenklike“ (sic) um Mahler, der auch dazugehöre, die Rede war. Dann könne Felix Mottl, Cosima Wagners Lieblingsdirigent und erklärter Antisemit, berufen werden.

Am 21. Juni 1907 unterzeichnete Mahler einen lukrativen Vertrag an der Metropolitan Opera in New York, ein Engagement, das ihm mehr Geld und vor allem mehr freie Zeit einbrachte, die er für die Arbeit an seinen Kompositionen nutzen wollte. Seine Nachfolge an der Hofoper trat Felix von Weingartner an.

Im Mai desselben Jahres erkrankte Anna an Scharlach. Sie erholte sich rasch und war bereits im Juni wieder gesund. Zehn Tage nach Gustavs Vertragsunterzeichnung reiste die Familie nach Maiernigg in Kärnten, wo sie die Monate Juli und August in ihrem Sommerhaus verbringen wollten. Gustav hatte das Grundstück bald nach seinem Antritt an der Hofoper gekauft und im Jahr 1900 darauf eine Villa als Sommersitz errichten lassen. Das blassgelb gestrichene Haus am Südufer des Wörthersees verfügte über eine Loggia und eine darüber liegende Terrasse. Im obersten Geschoß lag Mahlers Balkon mit weitem Blick über den See. Daneben befanden sich ein großes Arbeitszimmer und ein Toilettenzimmerchen. Das Fremdenzimmer wurde bald zum Kinderzimmer umfunktioniert.11

Gucki und ihre ältere Schwester Maria, genannt Putzi, in einem der raren gemeinsamen Momente mit ihrem Vater Gustav.

Hinter dem Haus lag der Wald mit Fichten und hohen Tannen. Eine kleine steile Wegstrecke durch den Wald oberhalb der Villa befand sich Gustavs Komponierhäuschen. Es war innen denkbar einfach gehalten. Im dreifenstrigen Raum stand ein Flügel und auf den schlichten Regalen lagen Bücher von Johann Wolfgang von Goethe und – Immanuel Kant. Die einzigen Noten waren jene von Johann Sebastian Bach.12 Hier konnte Gustav ungestört an seinen Kompositionen arbeiten.

In Maiernigg aß Mahler gerne, trank „baierisches Flaschenbier“, schwamm, ruderte, unternahm Ausflüge in die Dolomiten und nutzte die Zeit für seine Arbeit. Die Monate der Sommerfrische waren Almas Erinnerungen nach einerseits voll innig-glücklicher Momente, in denen sich Gustav in raren Momenten auch den Kindern zuwandte. Nach Annas Geburt ließ er ein „Spielplatzl“ neben dem Haus errichten, das er selbst entworfen hatte, und freute sich, dass die „Putzerln“ sich darauf austoben konnten. Die Eheleute waren sich abwechselnd nahe und dann wieder stöhnte Alma über ihr rigides Leben, das allein der Kunst ihres Mannes unterworfen war, der sich ausnahmslos alle Familienmitglieder unterordnen mussten. „Alles ging auf Zehenspitzen. Die armen Kinder durften weder laut lachen noch schreien. Wir waren alle seiner Arbeit versklavt …“13

Nach der Ankunft in der Villa an einem späten Nachmittag jenes Sommers 1907, sie fuhren wie immer mit dem Zug von Wien nach Krumpendorf und setzten mit dem Boot auf dem „glitzernden, hitzespeienden See“ nach Maiernigg über, wurden im Haus alle Fenster weit geöffnet. Am Abend des Ankunftstages bereitete die Köchin die blassen Teigtaschen mit gedrehten Rändern zu, aus denen gekräuterte Erdäpfel und Topfen quollen und die Nudeln hießen, obwohl sie Taschen waren. Die Schweigeregel bei Tisch galt auch am See.

Am übernächsten Morgen standen Alma, Gustav und Doktor Blumenthal am Bett der fünfjährigen Maria. Der Arzt war im Morgengrauen aus Klagenfurt gekommen. Noch am selben Tag quartierten sie Maria in ein anderes Zimmer um und Anna durfte nicht mehr zu ihr. Sie hörte das giftig klingende, lang gezogene Wort Diphterie. Marias Atemwege begannen sich durch die Schwellung zu verschließen. In der Nacht von 10. auf den 11. Juli führte Blumenthal einen Luftröhrenschnitt durch, eine in der Notfallmedizin als Koniotomie bekannte Maßnahme. Die Durchtrennung der Membran zwischen Ring- und Schildknorpel des Kehlkopfes war die einzige Möglichkeit, den drohenden Erstickungstod zu verhindern. Die dreijährige Anna stand in ihrem Zimmer am Fenster. Gustav hatte sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Stunden vergingen.14 Dann verließ Blumenthal das Haus. Ein heller Kindersarg wurde hinausgetragen.

Alma und Gustav Mahler verkauften das Haus in Maiernigg und fuhren nie mehr an den Wörthersee.

Nach Marias Tod verspürte nicht nur ihre Mutter ambivalente Gefühle. Die Emotionen eines Kindes, das durch den Tod des älteren Geschwisterchens traumatisiert ist, durch den Verlust aber gleichzeitig in der Bedeutung für die Eltern aufsteigt, lassen sich in ihren Auswirkungen auf die Entwicklung kaum erahnen. Annas Gefühlslage muss komplex gewesen sein.

Jedenfalls „entdeckte“ Gustav nunmehr seine zweite Tochter. Da er nur mehr ein Kind hatte, wandte er sich ihr zu. Ab nun genoss sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Am Morgen durfte jetzt Gucki, nachdem die Gouvernante, die „Engländerin“, sie angekleidet hatte, in sein Arbeitszimmer.15 Sie öffnete vorsichtig die Tür. Gustav saß an seinem Schreibtisch. Er sah sie und ein Lächeln verwandelte seine Strenge in Wärme und Liebenswürdigkeit.16 Anna ging mit vorsichtigen Schritten auf ihn zu und stellte sich an seinen Schreibtisch. Gustav beugte sich wieder über seine Notenblätter. Anna war in seiner Gegenwart befangen. Sie stand reglos da und beobachtete seine Hände, deren Form und „die Flachheit seiner Finger vom vielen Spielen“. Sie blickte auf das Blatt, an dem er arbeitete, und sah „die Form des Messers, das er gebrauchte, um Noten wegzuschaben“.17 Die Atmosphäre höchster Konzentration im atmosphärisch verdichteten Schweigen gaben ihr früh eine Ahnung davon, was Kunst bedeutete. In diesem jungen Alter erwerben Kinder wichtige Erkenntnisse und Erfahrungen weniger über den Verstand, sondern über Stimmungen und Gefühle. In Annas späteren Erinnerungen tauchte die konzentrierte Atmosphäre um den Vater als eine Essenz des Daseins immer wieder auf. Seinen eigenen Worten zufolge begriff sich Mahler als Schöpfer eines großen Werks, „in welchem sich in der Tat die ganze Welt spiegelt – man ist sozusagen selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt“.18

Isolation

„Ich habe eine einsame Kindheit gehabt, bin ganz stumm und ruhig gewesen.“

Ob Alma an ihrer Tochter Anna, wie sie in ihren Erinnerungen schrieb, wirklich vom ersten Moment an „große Freude“ empfand? Fotoaufnahmen aus jenen Jahren zeigen sie matronenhaft und mit alles anderer als glücklicher Miene. Alma hatte ein Kind verloren und trauerte vermutlich sehr. Für ihre Gefühle blieb wenig Raum. Gustav forderte von seiner Ehefrau die bedingungslose Akzeptanz seiner Lebensform. Alles drehte sich ausschließlich um seine Stellung an der Oper, seine Konzertreisen und kulminierte schließlich in den Jahren des Engagements in New York. Mahler hatte stets das Gefühl, die Zeit liefe ihm davon, und taktete aus diesem Grund sein Leben minuziös. Die Zeit, in der er komponierte, war heilig. Jede Störung war bei „Todesstrafe“ verboten.19

Almas eigene kompositorische Ambition – bis heute ist in der Fachwelt umstritten, ob sie Talent hatte – musste sie in einem Versprechen, das ihr Gustav vor der Eheschließung abnahm, aufgeben. Wenige Wochen vor der Hochzeit forderte Gustav Mahler im berühmten, die Verhältnisse klarstellenden und vor Entwertungen nicht zurückschreckenden Brief, der als das „Kompositionsverbot“ in die Geschichte eingegangen ist, vom „Almakind“ unumwunden: „Du hast von nun an nur einen Beruf: mich glücklich zu machen!“20 In so einer Ehe wurde sie allerdings nicht glücklich. Das Leben an Gustavs Seite und die Mutterschaft überforderten Alma immer wieder. Sie empfand ihr Leben wenig ausgefüllt, was aus vielen ihrer Aufzeichnungen hervorgeht.

Annas Mutter war eine facettenreiche, begabte, aber auch komplexbeladene und berechnende Frau, die allein in der Rolle der Künstlergattin ihr Glück nicht fand.21 Wen wundert es? Dazu war Alma schlichtweg eine zu starke und faszinierende Persönlichkeit. Als Tochter des Landschaftsmaler Emil Jakob Schindler und seiner Frau, der Hamburger Sängerin Anna Sofie Bergen, war sie für jene Zeit in relativ freien Verhältnissen aufgewachsen. Die Familienverhältnisse waren kompliziert. Annas Mutter hatte während der Ehe mit Schindler ein Verhältnis, aus dem Almas Halbschwester entstammte. Als Almas Vater starb, heiratete ihre Mutter den Maler Carl Moll, mit dem sie noch während der Ehe mit Schindler ein Verhältnis begonnen hatte. Almas zweite, später geborene Halbschwester war die Tochter von Carl Moll. Im Hause Schindler, später Moll, verkehrten viele Künstler, unter ihnen viele Sezessionisten des Wiener Fin de Siècle. Alma wuchs umgeben von Kunst und Kultur auf. Sie erwarb früh umfassende musikalische Fähigkeiten. Mahler fand in ihr eine Gefährtin, mit der er sich auf seinem Niveau austauschen konnte. Almas „musikbezogenes Tun“ während der Ehe mit Mahler bestand nicht nur im häufigen gemeinsamen, vierhändigen Klavierspiel.22 Sie verfolgte Proben, fertigte Aufzeichnungen dazu an, kopierte Partituren, nahm an der kompositorischen Arbeit Anteil und erlebte die Entstehung von Mahlers Werken mit.23

Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass um die Jahrhundertwende klare gesellschaftliche Regeln herrschten und das weibliche Rollenverständnis, selbst in noch so aufgeklärten Kreisen, jenes der dienenden Ehefrau war. Dabei blieb es auch zwischen Gustav und Alma. Alma akzeptierte unter inneren Kämpfen ihren Lebensentwurf und ihre Aufgabe, sich ihrem Mann unterzuordnen. Sie erkannte früh, dass ihr Ehemann sie „anders, ganz anders“ wollte. Fast schmerzt es, in ihren Tagebüchern von ihrer Selbstüberwindung zu lesen. „Ich muss die Andere bannen. Die, die bis jetzt geherrscht hat – sie muss hinab. Ich muss alles thun, um Mensch zu werden. Alles – mit mir geschehen lassen.“24 Diese Worte sind Ausdruck eines Identitätskonfliktes, der als Schlüssel zum Verständnis von Almas Persönlichkeit aufgefasst werden kann.

Almas Tun folgte einem Muster für weiblichen Einfluss, das im 19. Jahrhundert häufig im Zusammenhang mit dem Geniebegriff anzutreffen war. Berühmte Vorgängerinnen waren unter anderen Marie D’Agoult und Caroline zu Sayn-Wittgenstein, beide (nacheinander) Geliebte und Lebensgefährtinnen von Franz Liszt. Diese Frauen, selbst hochgebildet und begabt, verwirklichten sich durch einen männlichen Künstler. Während jedoch beide den Geniekult nach einiger Zeit verwarfen, Liszt verließen und sich wieder auf ihren eigenen Weg konzentrierten, gab es weibliche Biografien, die sich in der völligen Selbstaufgabe für das Genie an ihrer Seite feierten. Cosima, die Frau von Richard Wagner, trieb diese aufopfernde weibliche Hingabe an die Kunst des Ehemanns auf die Spitze. Verlogenheit, emotionale Grausamkeit und verquere familiäre Welten waren die Folge. Selbst wenn, wie bei Cosima, die Aufopferung durchgehalten wurde, wies die Beziehung zum Ehepartner – aber auch zu den Kindern – einen verstörenden Mangel an Authentizität und Liebe auf. Die Art und Weise der Inszenierung einer Ehe könnte Alma durchaus als Vorbild für ihre Beziehung mit Mahler gedient haben.

Sie habe nur „ein Ziel“, hielt Alma in ihren Lebenserinnerungen fest, nämlich ihr „Glück für das eines anderen zu opfern und vielleicht dadurch selber glücklich zu werden“.25 Einen selbstbestimmten Weg zog sie nie ernsthaft in Erwägung. Ihre unausgelebte (künstlerische) Seite nagte jedoch immer wieder an ihr. Diese innere Ambivalenz ist ein Schlüssel zu Alma Mahlers Charakter, zu ihrer Ehe mit Gustav und schließlich zur Beziehung zu ihrer Tochter Anna. Zwischen dem auferlegten Zwang, als Frau und Mutter ihr Glück zu finden, und dem inneren Widerstreben einer Reduktion auf diese Rolle entwickelte sie gegenüber Anna häufig zwiespältige Gefühle, die nicht selten in eine Entwertung der Tochter mündeten.

Begabte Frauen jener Epoche mussten die Beschneidung ihrer Entwicklung – der Weg einer unabhängigen, freien Existenz war nahezu unmöglich – zwangsläufig als Tragik empfinden. Innere Konflikte, ein Gefühl der Leere und ein halbausgefülltes Leben waren die Folge. Dieses geschlechtsspezifische Thema zieht sich bis in das 20. Jahrhundert und ist – obwohl wir inzwischen im 21. Jahrhundert angekommen sind – nach wie vor ein brisantes Thema im Zusammenhang mit weiblichen Biografien.

Abschied

„Ich kann mich nur an sein letztes Gesicht erinnern, das war sehr rührend, wirklich warm, und ich weiß sein Lächeln ganz genau.“

Am 11. November 1908 reiste Gustav Mahler mit „Weib, Engländerin und Kind behaftet“ von Cuxhaven mit dem Dampfer zur Saison nach New York. Erstmals war Anna dabei, bei früheren Reisen war sie bei den Großeltern Moll in Wien geblieben. In New York ging sie in den Kindergarten, bekam Englischunterricht, Klavierstunden und war „kreuzfidel“. Eine dort aufgenommene Fotografie zeigt Anna am Klavier sitzend, dem Betrachter halb zugewandt. Die Aufnahme muss zwischen 1908 und 1911 entstanden sein, Anna war demnach sechs oder sieben Jahre alt. Ihr Haar ist eine Spur kürzer als kinnlang und der Pagenkopf bereits eine Andeutung an jene Frisur, die sie als Erwachsene in den Wiener Jahren trug. Ein einfaches Kittelkleid mit Borten reicht ihr bis unter die Knie. Die Füße mit den Lederstiefeletten sind in einer sachten Andeutung übereinandergeschlagen. Die Hände liegen auf den Tasten des Klaviers. Insgesamt wirkt die Aufnahme sehr natürlich und Anna erweckt am Klavier einen Eindruck angenehmer Selbstverständlichkeit, ganz anders als die sichtbare Erzwungenheit, mit der Kinder oftmals an Musikinstrumenten zu sehen sind. Anna schien das Klavierspiel zu gefallen.

In der letzten Saison 1910/11 wohnten die Mahlers im unmittelbar am Central Park gelegenen Hotel Savoy, dem „ruhigen neicen Tusculum“.26 Gustav ging häufig mit Anna in den Park. Alma sah ihnen vom Hotelfenster aus zu, wie sie vergnügt miteinander tobten und Schneeballschlachten veranstalteten.27 Gustav verliebte sich mehr und mehr in das Kind.

Doch Annas Zeit mit ihrem Vater sollte nicht mehr lange dauern. Bereits 1907 war bei Mahler eine Herzschwäche festgestellt worden. Im Februar 1911 erkrankte er an einer Herzinnenhautinfektion. Mahler wurde von New York nach Paris und von dort bereits todkrank nach Wien gebracht. Die Reise mit der Bahn gestaltete sich zu einem öffentlichen Ereignis. „Es war in einem speziellen Waggon. Ich erinnere mich an nichts. Die Erinnerung ist eine komische Sache. Man erinnert Momente, Fetzen, die wichtigen Dinge sind weggewischt, zu stark“, erzählte Anna später. Sie wurde in Wien noch einmal zu ihm gebracht. Sie „wartete vor dem Zimmer und wurde an sein Bett geführt, um sich zu verabschieden“. Gustav umarmte sie, und als ihre Mutter ihr erklären wollte, er würde sterben, wehrte die Siebenjährige ab und entgegnete „nicht. ich weiß.“28

Der Tod des ehemaligen Hofoperndirektors am 18. Mai 1911 löste eine Welle der Anteilnahme aus. Plötzlich huldigte ganz Wien dem Dirigenten und Komponisten Mahler. Die Nachrufe waren sich in der Würdigung Mahlers als größtem Genius, im Lob seiner unvergleichlichen suggestiven Kraft und anderen Superlativen einig. Der Hofoperndirektor war direkt dem Kaiser und dessen erstem Beamten, dem Obersthofmeister, unterstanden, die ihn gewähren ließen. Künstlerisch unumstritten, setzte er gewaltige Forderungen im Hofoperntheater durch. Es hieß, er habe in den zehn Jahren nicht nur die Wiener Oper „regeneriert“, sondern die „Oper als Kunstform überhaupt“. Mahler war die Antwort auf „Jahrzehnte leerer Ariensingerei“, erinnerte sich Berta Zuckerkandl.29 Richard Wagners Opern wurden vor der Ära Mahler gekürzt aufgeführt. Er hingegen dirigierte den Ring 1898 dem begeisterten Wiener Publikum erstmals ohne Striche. Mit der ungekürzten Aufführung der Meistersinger 1899 festigte der Hofoperndirektor seinen Ruf als Genie mit ungeheurer Suggestivkraft am Dirigentenpult. Man erzählte sich, dass Mahler es vermochte, „tiefe, echte Kunstwahrheit“ in den Musikern und im Publikum wiederzuerwecken.30

Mahler ging noch weiter und schaffte kurzerhand die „Claque“ ab. Nunmehr durfte nur mehr am Ende der Symphonien applaudiert werden. Schließlich sperrte er Zuspätkommende von der Ouvertüre oder dem ersten Akt aus. Sie mussten bis zur ersten Pause auf Einlass warten.31 Auch seine Verbindung mit dem sezessionistischen Bühnenbildner Alfred Roller war legendär. Kaiser Franz Joseph I., der Mahler in dessen erstem Jahr als Hofoperndirektor in Audienz empfing, kam nicht umhin, einige Jahre später anerkennend und zugleich amüsiert zu bemerken, dass es Mahler wohl gelungen sei, „sich zum Herrn der Verhältnisse im Opernhause zu machen“.32

Gustav Mahlers angeblich so schwierige Persönlichkeit war vielen Nachrufen eine Erwähnung wert. Seine eigenen Kompositionen erfuhren jedoch, vor allem in den Wiener Nachrufen, ambivalente Einschätzung bis hin zu Ablehnung. Die breite Anerkennung seiner Musik hatte (noch) nicht eingesetzt.33

Musik

„Es war ihr vollkommen gleichgültig, ob ich eine Erziehung genieße oder die Schule besuche.“

Nach dem Tod von Gustav änderte sich die Wohnsituation für Alma und ihre Tochter. Die Wohnung in der Auenbruggergasse hatten Alma und Gustav bereits vor dem Aufenthalt in Amerika aufgelöst. Die wenigen Wochen in Wien, zwischen der Saison in New York und den Monaten der Sommerfrische, verbrachten sie in der Villa der Moll auf der Hohen Warte. In dem von Josef Hoffmann erbauten Haus gab es genug Platz für alle.

Nun mietete Alma eine Wohnung in der Pokornygasse in Döbling unweit der Hohen Warte. Sie möblierte sie mit Stücken aus der Wiener Werkstätte, Gemälden zeitgenössischer Künstler, Bildern ihres Vaters Schindler und dem reliquienhaften Schreibtisch Mahlers voller Fotografien des Verstorbenen. Eine Köchin und ein Mädchen besorgten den Haushalt.34

Anna ging nicht zur Schule, sondern erhielt sporadischen Unterricht durch ihren Hauslehrer. Ihre Mutter legte jedoch größten Wert auf regelmäßigen Klavierunterricht, den Anna von wechselnden Lehrern und später von Richard Robert, einem ausgezeichneten Lehrer und Musikpädagogen, erhielt.35 Die Tage in der Pokornygasse nahmen bald einen seltsamen Verlauf. Bereits in den Morgenstunden setzte sich Anna mit ihrer Mutter ans Klavier. Sie spielten gemeinsam stundenlang. Irgendwann erschien die Köchin, die sich, so Alma, „wunderte, dass sie beide vor jedem Gericht vom Klavier zum Essen holen musste“.36

Gustav Mahler; Porträtaufnahme von Moritz Nähr um 1907

Nach der Mahlzeit und den gehaltvollen Wiener Mehlspeisen stürzten beide wieder zum Instrument, um weiter zu musizieren. Anna las Noten und sang „Partien mühelos vom Blatt“. Alma empfand ihr kleines „Kind in jedem Sinne, vor allem aber in der Musik“ als „Freude und Mitfühlende“ und verstand sich mit „ihrer grundmusikalischen Tochter kolossal“.37

Anna begann, Cello und Geige zu spielen. So vergingen Tage, Wochen und Monate. Wenn sie nicht gemeinsam am Klavier spielten, verbrachte Alma in ihrer Trauer viele Stunden im Bett liegend. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt die junge Frau in einem Messingbett zwischen Kissen und Decken liegend. Von der Matrone in den Ehejahren mit Gustav ist nichts mehr übrig geblieben. Die schöne Witwe wirkt ernst und in der Andeutung von Traurigkeit, die ihrem Ausdruck Tiefe verleiht, ungemein anziehend. Neben ihr im Bett kauert Anna. Sie stützt sich auf ihren linken Arm und es scheint, als würde sie sich vorsichtshalber nicht zu nahe an die Mutter lehnen wollen. Zugleich vermittelt das Bild eine fast eingeschworene Nähe zweier Menschen. Das Setting weckt fast voyeuristische Gefühle, mit dem Unterschied, dass die abgebildeten Menschen auf dem Bild Mutter und Tochter sind. Im Zentrum der Szenerie steht eindeutig die Mutter. Aufgenommen wurde das Foto von Helene Berg – Alma erlaubte ihrer Freundin das fotografische Festhalten intimer Momente.38

Alma schloss sich eng an ihre kleine Tochter und Anna wurde zu ihrer Vertrauten. Erneut erfuhr das kleine Mädchen, dass sich durch den Tod die Zuwendung eines Elternteils zu ihr änderte. Diesmal betraf es die Beziehung zur Mutter. Ein Kind als Reaktion auf den Verlust eines Ehepartners übermäßig an sich zu ziehen, kann dessen Trauerprozess beeinflussen und eine Überforderung der kindlichen Psyche bedeuten. Kinder entwickeln dann leicht ein Gefühl emotionaler Verantwortung und sehen sich so vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Almas Inbesitznahme ihres Kindes dürfte von grenzverletzender Natur für die kleine Anna gewesen sein. Hier liegt eine weitere Wurzel der komplexen Beziehung zwischen Anna und ihrer Mutter. Zu diesem Zeitpunkt setzte ein, was Anna später unumwunden benannte: „Mami verstand es, Sklaven zu machen.“39

In den folgenden Jahren ging Alma, deren Lebenshunger zurückgekehrt war, eine Reihe von Liebschaften ein. Die symbiotische Zweisamkeit mit ihrer kleinen Tochter fand damit ein abruptes Ende. Mit dem deutschen Architekten Walter Gropius, der 1911 mit dem Fagus-Werk in Alfeld an der Leine in Niedersachsen einen Solitär der frühen Moderne entwarf, hatte sie noch zu Gustav Mahlers Lebzeiten ein Verhältnis begonnen. Nummer zwei ihrer Liebhaber war Paul Kammerer, der „Krötenküsser“ und grenzgängerische Biologe, der später mit manipulierten Studien zur Vererbungslehre anhand der Geburtshelferkröte zweifelhafte Berühmtheit erlangte. Während der kurzen Affäre hantierte Alma als seine Assistentin im Vivarium, dem Forschungsinstitut in Wiener Praternähe, und verfütterte angewidert Mehlwürmer an Gottesanbeterinnen.40 Es folgte die wilde Liebesbeziehung mit dem Maler Oskar Kokoschka, den Alma bei den Molls kennengelernt hatte, abwechselnd mit der Affäre mit Gropius. Anna wurde nicht nur einmal in die Dramen, die sich der Maler und ihre Mutter regelmäßig lieferten, hineingezogen.

Als Kokoschka im Juli 1913 in Wien-Döbling drängend das Aufgebot bestellte, flüchtete Alma mit ihrer mittlerweile neunjährigen Tochter in das westböhmische Franzensbad. Kokoschka eilte ihr aufgebracht nach. Von den Szenen ihrer Mutter mit dem Maler blieb Anna eine „tiefe Abneigung“ vor Auseinandersetzungen dieser Natur, die sie jedoch „später unbeteiligt, nicht wie ihre Mutter, auch im eigenen Leben“ provozieren sollte.41 Trotzdem war Annas Beziehung zu Kokoschka, dessen künstlerisches Wesen ihren kindlich magischen Welten viel Verständnis entgegenbrachte, warm und herzlich.42 Kokoschka mochte Gucki – und bei Weitem nicht nur als Verbindung zu seiner Geliebten – sehr. Alma lieferte nunmehr ihre Tochter oft bei ihm ab, um selbst ungestört zu sein, und Anna verbrachte Stunden in Kokoschkas Atelier.

Das Wesen ihrer Tochter beschrieb Alma als wenig warmherzig und eher kühl. „In ihrer Kindheit war Anna ausgeglichen, aber sehr schweigsam. Sie konnte stundenlang auf einer Baumkrone sitzen, bewegungslos, oder zuschauen, wortlos, wie Oskar Kokoschka malte. Ab und zu jedoch konnte sie dazu übergehen, zu plappern und alles Mögliche zu erzählen, ob es passte oder nicht.“43 Man könnte aber auch durchaus sagen, es sei nicht unbedingt ein liebevoller Blick auf die Spontanität und Lebendigkeit des eigenen Kindes.

II Das Tusculum am Semmering

„Ich kann nicht kämpfen, aber ich bin sehr widerspenstig.“

Anna wächst heran. Sie erhält nur sporadisch Unterricht, auf die musikalische Erziehung wird jedoch größten Wert gelegt und rasch stellt sich heraus, dass sie talentiert ist.

Die Fahrt auf den Semmering war für Anna jedes Mal ein spektakuläres Erlebnis: Der Zug schlängelte sich aus dem Wiener Südbahnhof durch den Vorort Liesing, passierte die Stadtgrenze und glitt durch das Wiener Becken. Er fuhr vorbei an Baden und dem idyllischen Winzerdorf Gumpoldskirchen mit seinen sanft ansteigenden Weinbergen.

Dann nahm die Bahn rasch an Fahrt auf und es dauerte nicht lange, bis sie Wiener Neustadt erreichten. Bald nachdem sie den seltsamen Namensableger der Reichshauptstadt hinter sich gelassen hatten, änderte sich die Landschaft. Aus dem Zugfenster sah man die ersten hügeligen Kuppen. Die Lok drosselte das Tempo. Die Bahn lief nunmehr auf einem Viadukt und schraubte sich bergan. Links und rechts wurde der Wald immer dichter und die Berge wurden höher. Wenn es in der Nacht geregnet hatte, hingen früh am Morgen Nebelschwaden wie zarte weiße Bäusche zwischen den Baumwipfeln. Die ersten Sonnenstrahlen durchwirkten das rauchige Licht.

Mit der Planung der alpinen Bahnstrecke, die Wien mit Triest verbinden sollte, war dem albanisch-venezianischen Ingenieur Carl von Ghega eine Pionierleistung im Ingenieurbau gelungen. Auf fast tausend Meter Höhe hielt die Bahn in Breitenstein, der letzten Station vor dem Semmering. Bis Franz Werfel später das Automobil steuerte, brachte ein Bauer die Mitglieder der Familie oder die Gäste gegen ein kleines Entgelt mit einem Pferdefuhrwerk vom Bahnhof zum Haus. Der Weg zwischen zerklüfteten Felsen und Waldstücken wurde im Schritttempo zurückgelegt. Die letzten Meter führten über einen kleinen gewundenen Waldweg, an dessen Ende sich plötzlich die Sicht weitete.

Der Platz für die Villa war gut gewählt. Er bot einen atemberaubenden Blick auf die umliegende Bergwelt von Schneeberg und Rax. Das Haus, nach wie vor an Ort und Stelle, hat eine eigenwillige Form mit weit herabgezogenem und geknicktem Dach, ist jedoch insgesamt gut proportioniert. Über die lange westliche Eingangsseite und die Nordseite laufen Kollonnaden und bilden eine breite Veranda, sodass das Haus von vorn betrachtet einer amerikanischen Südstaatenvilla gleicht. Manche behaupteten, der Säulenvorbau an der Westseite verhindere, dass Licht einfalle, und die Räume seien daher düster und trübsinnig, was nicht den Tatsachen entspricht.44

Das von allen geliebte „Hauserl“ in Breitenstein in der Nähe des Semmering wurde zur Zuflucht in den Kriegszeiten.

Almas Stiefvater Carl Moll hatte das Grundstück am Kreuzbergrücken noch gemeinsam mit Gustav Mahler ausgesucht. Das Haus war als Erholungsort und Refugium im Alter gedacht. Dazu sollte es für Mahler nicht mehr kommen. Zwei Jahre nach seinem Tod ließ Alma die Villa im Jahr 1913 von den Architekten Hartwig Fischel, Rudolf Bredl und Karl J. Stöger entwerfen.45 Auch Walter Gropius hatte Teilentwürfe beigesteuert, aber die Gesamtkonzeption war auf ungewöhnlichem Weg entstanden. Alma gab vor, sie wünsche sich ein um einen Kamin gebautes Haus.

Als das „Hauserl“ fertiggestellt war, malte Oskar Kokoschka über dem Sims des besagten, riesig ausgefallenen Kamins ein vier Meter breites, etwas skurriles Fresko mit Alma – wem sonst? – als Lichtgestalt im Zentrum des Geschehens. Das Wandbild gab der damals zehnjährigen Anna Anlass zu bemerken: „Kannst du denn nichts anderes malen als Mami?“46 Arthur Schnitzler, der Anna und Alma im „wunderbaren, herrlich gelegenen Haus“ öfter Tagesbesuche abstattete, fand das Kaminfresko „nicht schön, z.Th. interessant, aber irgendwie bösartig“.47 Anna mochte das Haus und fand es „wunderbar“. Innen „holzgetäfelt“ und anfangs „noch ganz ohne elektrisches Licht“, nur im Speisezimmer eine Petroleumlampe, verbrachten sie herrliche Abende. Im Kaminzimmer spendeten nur das lodernde Feuer und die vielen brennenden Kerzen Licht.48

Nicht weit entfernt von Wien bot die alpine Landschaft im Süden Niederösterreichs ein wahres Paradies. Der Semmering war nicht irgendeine Gebirgsgegend. Im Zuge der Errichtung der Südstrecke setzten in den 1880er-Jahren findige Investoren ein Projekt der Superlative um. Sie errichteten eine touristische Infrastruktur mit Grandhotels wie dem Hotel Panhans und dem Südbahnhotel sowie zahlreichen Villen und konstruierten eine Erholungswelt nahe der Residenzstadt. Stefan Zweig warf in seiner Novelle Brennendes Geheimnis von 1911 einen psychologistischen Blick auf den gesellschaftlichen Parcours am Semmering und den Zeitgeist am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Der Semmering war eine flirrende Inszenierung. Die egalitäre Bühne des künstlich erzeugten Paradieses stand allen, die das nötige Geld besaßen, offen und wurde zum Begegnungsraum zwischen zwei Klassen. Das vermögende Bürgertum, die sogenannte „zweite“ Gesellschaft, und der Adel begegneten sich in den großen Hotels, den Restaurants, den Tennisplätzen und spielten Landleben auf hohem Niveau.

Das Tusculum in Breitenstein, das auf angenehme Weise abseits lag, sollte sich bald als Zuflucht in den Zeitläuften erweisen. Ein Jahr nachdem Alma es bauen ließ, lieferte das Attentat auf Franz Ferdinand den Auftakt zum finale furioso der habsburgischen Monarchie. Als am 28. Juni 1914 in Sarajewo der habsburgische Thronfolger und seine morganatische Ehefrau Sophie Chotek mit mehreren Pistolenschüssen vom 19-jährigen Gymnasiasten Gavrilo Princip ermordet wurden, waren das Haus Habsburg und die Monarchie innerlich bereits am Ende.49 Die Reaktionen auf den Tod des verhassten Thronfolgers waren ambivalent. „Wir sind übereingekommen, meine Landsleute und ich, dass wir froh sein können, wenn das Schwein hin ist“, lässt Joseph Roth den ungarischen Graf Benkyö in seinem Schwanengesang Radetzkymarsch schreien, und seine betrunkenen Gäste und Musiker tanzen zu den Klängen des Trauermarsches von Chopin.50

Als zwei Jahre später Kaiser Franz Joseph I., der allein in seiner vergreisten Person das morsche und brüchige Gerüst der habsburgischen Monarchie noch zusammenhielt, in Schönbrunn sein Leben aushauchte, befand sich Europa bereits mitten im Krieg. Der junge Nachfolger, Franz Josephs Großneffe Karl, übernahm 1916 ein zum Scheitern verurteiltes System, dessen erste Risse bereits Dekaden vor seiner Zeit aufgetreten waren. Noch inmitten des flirrenden Glanzes des 19. Jahrhunderts begann gleich einem Perpendikel im steten Gleichmaß und mit unsichtbarer Kraft ein tiefgreifender Prozess gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Veränderung. Das Bürgertum übernahm das Ruder und häufte immense Vermögen an.51 Der Niedergang des Adels durch die neue Herrscherklasse brachte vollkommen veränderte Maßstäbe. Die industrielle Produktion hatte die Manufakturen ersetzt und die serielle Produktion das Handwerk. In der Wissenschaft kam es zu einem gewaltigen Paradigmenwechsel, die neuen Naturwissenschaften lieferten mit Methode und Messung empirische Erklärungen. Die Philosophie landete aus dem Reich des Geistes auf dem Boden der neuen Wissenschaften der Natur. Gegenströmungen blieben nicht aus. Die Kunst reagierte seismografisch auf die Sensationen eines nervösen Jahrhunderts.52 Der Kunstwille der Gesellschaft des Fin de Siècle war immens. Eine neue, vermögende Schicht war bereit, Kunst zu fördern, denn sie diente ihr als Ausdrucksform auf der Suche nach Identität.

Die zentrale Rolle in der Kunst spielte jedoch die Musik von Richard Wagner. Die (Kultur-)Geschichte des 19. Jahrhunderts kann aus der Musik Wagners geschrieben werden – und umgekehrt. Wagner lieferte in einem Gesamtkunstwerk von Klang und epischer Erzählung leidenschaftliche archetypische Konstellationen. Teil davon war die Inszenierung seines eigenen Lebens. Die Passion für Wagner, dem alle huldigten, war mehr als reine Begeisterung für Musik, sie war eine berauschende Lebenshaltung. Den Geschichtsbezug, der in der Architektur des Historismus eine so bedeutende Rolle spielte, führte Wagner in seiner Musik zu einer gewaltigen kompositorischen Inszenatorik, die alle Grenzen sprengte. Alles an Wagner war sinnlich und entgrenzt, atmete Leidenschaft und Erotik und traf in das Zentrum des Zeitgeistes.

Auch Annas Mutter Alma verkörperte die Wagnerpassion, wie viele zu jener Zeit, als Credo zu Kunst, Liebe und Leidenschaft in ihrem Leben. Vor allem der Tristan, Almas erklärte Lieblingsoper, barg Sehnsucht, Sinnlichkeit, Erregung, Genuss, Begehren, Melancholie, Schmerz und eine tiefe Lust. Die Musik Wagners war eine Droge und ein „auskomponierter Orgasmus“.53