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Beschreibung

Zu Lebzeiten für seine emotional aufgeladenen Meereslandschaften mit Schiffen gefeiert und umworben, geriet Anton Melbye nach seinem Tod allmählich in Vergessenheit und wurde erst in den letzten Jahren wiederentdeckt. Insbesondere in seinen ab 1846 entstandenen Bildern des leeren Ozeans entwickelte der dänische Künstler das Seestück zu einem Spiegel der Seele, der Sehnsüchte und Ambitionen seiner Zeit. Erstmals in der Kunstgeschichte ohne Zeichen von Mensch, Schiff oder Küste zielt die bewegte Meeresoberfläche seiner Meereseinsamkeiten in ihrer Gleichförmigkeit, Undurchdringlichkeit und räumlichen Unendlichkeit auf die Verunsicherung der Betrachtenden und wird zur Projektionsfläche existenzieller Reflexion. Von Regine Gerhardt liegt nun das wissenschaftliche Standardwerk zum Leben und Schaffen dieses einzigartigen Malers vor. ANTON MELBYEs (1818, Kopenhagen–1875, Paris) Lebensstationen in Kopenhagen, Hamburg, Paris und Konstantinopel bilden eine Nord-Süd-Achse, anhand derer die europäische Dimension einer erfolgreichen Künstlerkarriere im 19. Jahrhunderts sichtbar wird. Neben seinen in Öl gemalten Seestücken fand er für seine technisch komplexen Kohle- und Kreidezeichnungen Anerkennung und genoss – wie auch seine Künstlerbrüder Vilhelm und Fritz Melbye – die Wertschätzung privater Kunstsammler. REGINE GERHARDT (1969–2018, Hamburg) studierte Geschichte und Kunstgeschichte in Hamburg und Dublin. Sie wirkte bis zu ihrem Tod als freie Kunsthistorikern zur bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. Ihre Promotion zu Leben und Werk Anton Melbyes erfährt mit dieser Veröffentlichung eine späte Würdigung.

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Seitenzahl: 1516

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Anton Melbye und das Seestück im 19. Jahrhundert

Anton Melbye und das Seestück im 19. Jahrhundert

Regine Gerhardt

Impressum

Herausgeber

Melbye Gesellschaft e. V.

Autorin

Regine Gerhardt

Projektmanagement

Fabian Reichel

Korrektorat

Andrea Haarer, Fabian Reichel

Gestaltungskonzept und Cover

Neil Holt

Satz

Calibar Services, Bukarest

Schrift

Arnhem

Verlagsherstellung

Alise Ausmane

Reproduktionen

DLG Graphic, Paris

© 2023 Hatje Cantz, Berlin

© Regine Gerhardt, 2023

© 2023 für die Abbildungen der Werke von Anton Melbye: bei den Institutionen und Fotografen gemäß Bildnachweis

Erschienen im

Hatje Cantz Verlag GmbH

Mommsenstraße 27

10629 Berlin

www.hatjecantz.de

Ein Unternehmen der Ganske Verlagsgruppe

isbn 978–3-7757-5521-4 (Print)

isbn 978–3-7757-5522-1 (ePub)

isbn 978–3-7757-5523-8 (ePDF)

Printed in Latvia

Umschlagabbildung:

Anton Melbye, Küstensegler auf glatter See, 1840

Inhalt

Zum Geleit: Zwischen allen Stühlen – Melbyes schwieriger Weg ins Museum

Hendrik Ziegler

Einleitung

I Künstlerische Anfänge 1838–1847 in Dänemarks »Goldenem Zeitalter«

1.Anton Melbye als Schüler von Christoffer Wilhelm Eckersberg

1.1.Naturauffassung und Perspektivlehre

1.2.Wellen und Wolken

1.3.Freilichtmalerei in Kopenhagen

2.Internationale Einflüsse – Melbyes Abkehr von der Kopenhagener Schule

2.1.Carl Friedrich von Rumohr – Impulse aus Norddeutschland

2.2.Johan Christian Clausen Dahl – Atmosphärische Landschaften

2.3.Über Dänemark hinaus – Die Schiffsreise 1844 ins Mittelmeer

2.4.Kunst in Hamburg – Vorbilder und Sammler

3.Förderer und Kritiker in Kopenhagen

3.1.Mächtige Pole – die kulturhistorische Lage

3.2.Frühe Sammler – Thorvaldsen und Thomsen

3.3.Royale Unterstützung – Christian VIII. und der dänische Hof

3.4.Die akademischen Auszeichnungen 1843 und 1846

3.5.Innovative Bildfindungen und die Kunstkritik der 1840er Jahre

II Auf neuen Wegen – Künstlerische Experimente in Paris 1847–1853

1.Annäherung an Frankreich – Traditionen und Chancen

2.Barrikaden – Das Revolutionsjahr 1848 in Malerei und Daguerreotypien

2.1.Kunst für das Juste-Milieu – Seeschlachten, Erinnerungsorte und Emotionen

2.2.Kunst in der Revolution – Dokumente von den Dächern

2.3.Kunst nach der Revolution – Hoffnung nach dem Schiffbruch?

3.Grandeur – Neue Seestücke für den Pariser Salon

3.1.Der Salon 1848 – Das Debüt

3.2.Der Salon 1849 – Die Konkurrenz

3.3.Der Salon 1850/51 und 1853 – Der Weg

3.4.Seitensprünge – Ausstellungen in Hamburg, Kopenhagen und Berlin

4.»La mer du Parisien« – An der französischen Küste

5.Auf Papier – Zeichnungen wie gemalt

5.1.Neuland – Mit weichem Bleistift und buntfarbiger Gouache

5.2.Monochrome »Traumbilder« – Mit gewischtem Bleistift und kräftiger Kohle

5.3.»Sind wir von etwas wirklich berührt worden« – Begegnung mit Corot

III In Konstantinopel und am Bosporus 1853/54 – Die Orientreise als Karrieremotor

1.Mit der französischen Flotte am Vorabend des Krimkrieges

1.1.Die Orient-Skizzenbücher – Frieden vor dem Krieg

1.2.Kohle- und Kreidezeichnungen – »interessantere Motive als bloße Schiffe«

1.3.Am Osmanischen Hof – Ölbilder, Auszeichnungen und Souvenirs

2.Zurück aus dem Orient – Wie Melbye zum Franzosen wurde

2.1.Ein Gemälde für den Kaiser – Propaganda und Ehrungen 1854

2.2.Gegenstrategien – Melbyes Antwort auf die Kunstpolitik Napoléons III.

2.3.Licht und Farben – Konzentration auf die Natur

2.4.Angekommen – Begegnung mit Camille Pissarro

IV Sturm und Stille – Seestücke und Binnenlandschaften in den späten 1850er und 1860er Jahren

1.Kritiker, Auftraggeber und Sammler – Melbyes Rezeption im Norden

1.1.Die Rückkehr nach Kopenhagen – Fremd in der Heimat

1.2.Auf der Skandinavischen Kunstausstellung 1866 – Triumph in Stockholm

1.3.Hamburg im Melbye-Fieber

2.Dramatische Inszenierungen und monumentale Leinwände – Melbyes Seestücke zwischen Repräsentation und Metapher

2.1.Schiffe im Sturm – »wie ein Byron’sches Gedicht«

2.2.Seeschlachten und Kriegsflotten – Bilder der Gegenwart

3.Lichtmalerei und abstrakte Linien

3.1.Mit der Ästhetik der Fotografie – Bilder des Lichts auf Leinwand und Papier

3.2.Reduktion und Konzentration – Die Frankreich- und Nordjütlandreisen

V Fin – Rückblick und Ausblick

Anmerkungen

Künstlerbiographie in Daten

Werkkatalog

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Editorische Notiz

Das vorliegende Werk wurde erstmalig 2017 im Rahmen des Dissertationsprojektes »La mer est ton miroir – Anton Melbye und das Seestück im 19. Jahrhundert« am Kunstgeschichtlichen Seminar der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg vorgelegt.

Für die Veröffentlichung der Dissertation wurde entschieden, alle Verweise auf Textabbildungen und deren Nummerierung aus der Originalfassung beizubehalten. Die Bilder lagen der eingereichten Fassung ursprünglich als CD bei. Es ist geplant, alle hier aufgeführten Abbildungen zukünftig als digitales Werkverzeichnis unter der Website www.melbye-art.de der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Website wurde von der Autorin etabliert. Da die Nummerierung übereinstimmt, sind Buch und digitales Werkverzeichnis zusammen lesbar. Für die Bilder, die im Buch abgedruckt sind, wurden Seitenverweise im Text ergänzt.

Zum Geleit: Zwischen allen Stühlen – Melbyes schwieriger Weg ins Museum

Hendrik Ziegler

»Nicht erst seit heute kennen wir die Marinen von Monsieur Melbye und bewundern das transparente und flüssige Wasser, das sich mit aller Wahrheit an den Flanken der Schiffe brechen wird. Monsieur Melbye ist ein geliebter Künstler, der nicht allein zu Dänemark gehört, sondern zu Europa und vor allem zu Frankreich.1 Die versierte Bildhauerin, Kunstkritikerin und feministische Schriftstellerin Marie-Noémi Cadiot (1828–1888), die meist noch unter dem männlichen Pseudonym Claude Vignon publizieren musste, beansprucht in ihrer Besprechung der 1855 in Paris ausgetragenen Weltausstellung den Beitrag Anton Melbyes nicht nur für seine dänische Heimat, sondern für Europa, ja für Frankreich. Dabei hatte sich Melbye auf der Pariser Schau mit einem ansonsten von ihm selten praktizierten Genre – dem historischen Seegefecht – präsentiert: einer monumentalen Darstellung des Siegs der dänischen über die schwedische Flotte in der Schlacht in der Køgebucht, die sich am 11. und 12. Juli 1677 zugetragen hatte (vgl. Abb. 213, S. 330). Das Bild – eine Auftragsarbeit des dänischen Königshauses – erinnerte an einen der größten Seesiege Dänemarks über die Schweden. Obwohl es sich im Aufbau an den etablierten Schemata solcher Seegefechtsdarstellungen auf ruhiger See orientierte, wie sie vor allem die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts bereithielt, traf das Gemälde durch seinen martialisch-patriotischen Gehalt den Nerv des französischen Publikums des Zweiten Kaiserreichs. Denn die Weltausstellung in Paris diente Kaiser Napoleon III. nicht zuletzt als Bühne, den expansiven Großmachtanspruch Frankreichs aller Welt vor Augen zu führen. Melbyes Evokation der militärischen Überlegenheit Dänemarks über seinen einstigen Erzrivalen im Ostseeraum ließ sich leicht in Parallele zu Frankreichs Wettlauf mit den imperialen Bestrebungen Großbritanniens bringen, der gerade an Tempo gewann.

Diese Episode beleuchtet schlaglichtartig eines der Leitthemen der vorliegenden Studie: Basierend auf eingehenden Bildanalysen und einer genauen Rekonstruktion der jeweiligen Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge gelingt es Regine Gerhardt, den Drahtseilakt nachvollziehbar zu machen, den es für den in Kopenhagen, Hamburg und Paris arbeitenden und agierenden Marinemaler bedeutet haben muss, seiner kosmopolitischen Grundhaltung gemäß zu leben, ohne dabei seine aufrichtige Anhänglichkeit zu seiner Heimat zu verleugnen.

Seit 1847 hatte Melbye seine Geburtsstadt Kopenhagen gegen die französische Metropole als Lebens- und Arbeitsort eingetauscht. In nur wenigen Jahren hatte er sich von einem Sympathisanten der Revolution von 1848 zu einem hochdekorierten offiziellen Marinemaler Napoleons III. gewandelt. In Paris sollte er bis 1858 bleiben, allerdings unterbrochen durch einen längeren Aufenthalt in Hamburg und vor allem durch eine für ihn prägende Reise an den Bosporus 1853/54. Das Pariser Jahrzehnt brachte Melbye den künstlerischen Durchbruch und den gesellschaftlichen Aufstieg, wodurch er sich in seinem Heimatland allerdings keineswegs nur Freunde machte. 1857 vermählte er sich mit einer Französin, Alice Dupré (1830–1913), mit der er im Jahr darauf zunächst versuchte, wieder in Kopenhagen Fuß zu fassen, um schließlich 1860 Hamburg zu seinen Lebensmittelpunkt zu wählen – frustriert von dem Kopenhagener Zwischenspiel. Selbst wenn er sich in den Folgejahren rege am dänischen Ausstellungsgeschehen beteiligte, blieb Melbye in Hamburg wohnen, um nach dem Deutsch-Französischen Krieg, im Herbst 1871, nach Paris zurückzukehren, wo er 1875 starb.

Trotz aller Nähe zu Frankreich ist das Werk des einst so gefeierten Marinemalers aber erstaunlicherweise in den Museen des Nachbarlandes nicht präsent. Wenn man die Räume des Pariser Musée d’Orsay durchstreift, wird man vergebens nach Gemälden von Anton Melbye Ausschau halten. Auch das Musée national de la Marine in Paris und das Musée national du château de Versailles besitzen keine Arbeiten Melbyes – beides Museen, die bereits zu Lebzeiten des Künstlers vornehmlich auf Darstellungen historischer Ereignisse spezialisiert waren. Selbst außerhalb Frankreichs befinden sich nur wenige Werke in öffentlichem Besitz: zum einen natürlich in Kopenhagen, der Geburtsstadt des Künstlers (u. a. im Statens Museum for Kunst, in der Den Hirschsprungske Samling und im Thorvaldsens Museum), zum anderen in der Hamburger Kunsthalle und im dortigen Altonaer Museum.

Diese spärliche Präsenz in den großen Schausammlungen der Gegenwart bestätigt die Einschätzung von Regine Gerhardt in der Einleitung zu ihrer Studie, nämlich dass Anton Melbye zu den heute zu Unrecht vergessenen »Wegbereitern der Moderne« gehöre, selbst wenn er nicht »zu den großen Namen der Avantgarde zu zählen« sei (S. 18). Zu der bis heute anhaltenden partiellen damnatio memoriae des Malers haben aber auch zeitspezifische Gründe beigetragen, wie die Autorin überzeugend herausarbeiten kann: Zwar hat der Däne sein Leben lang die offiziellen Salons und Weltausstellungen als Schaufenster und Verkaufsplattformen genutzt; daneben setzte er seit der zweiten Hälfte der 1850er Jahren aber auch in progressiver Weise gezielt den Kunsthandel und sein Atelier als Orte der Kommerzialisierung seiner Kunst ein. Seine Bilder waren fast nie Auftragsarbeiten, sondern meist gehobene Sammlerstücke, die für Privatkunden oder Galeristen gedacht waren. In Hamburg kooperierte er eng mit dem Kunstsalon Louis Bock & Sohn. Daher zirkulieren seine Arbeiten bis heute im Kunsthandel und befinden sich meist in Privatsammlungen. Es kann somit nicht genug gewürdigt werden, dass die Autorin in mühseliger Kleinarbeit einen Katalog zusammengetragen hat, der dem zerstreuten und schwer zugänglichen Œuvre des Künstlers überhaupt erst wieder Kontur verleiht.

Ein anderer Umstand, der schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer zurückhaltenden Integration der Werke Melbyes in öffentlichen Museen beigetragen haben wird, kommt allerdings noch hinzu – wie Regine Gerhardt überzeugend zeigen kann: Melbye hatte nicht zuletzt seinen künstlerischen und sozialen Aufstieg Napoleon III. zu verdanken. Er verherrlichte die Mittelmeerflotte, die im Krimkrieg zum Einsatz kam, durch »wenige – wenn auch entscheidende – Gemälde«, die »als Propagandabilder für die politischen Ambitionen des französischen Kaisers« gelten können (S. 249). Im Deutsch-Dänischen Krieg, 1864, hatte sich der Kaiser der Franzosen nicht hinter Dänemark gestellt, sondern die aggressive Annexionspolitik Preußens unterstützt – in der Hoffnung auf entsprechende territoriale Kompensationen. Die Autorin thematisiert die zwiespältige Rezeption, der sich Melbye in den 1860er Jahren gegenübersah: Während man in Dänemark seiner Kunst mit Skepsis begegnete, traf sie in Berlin und Hamburg auf Euphorie. Die Zurückhaltung im Heimatland lässt sich vornehmlich damit erklären, dass dort noch immer der nationalromantisch gesinnte Kunsthistoriker Niels Lauritz Høyen die Kunstkritik bestimmte. In dessen Augen hatte sich Anton Melbye von einer auf nüchterner Naturbeobachtung und korrekter Perspektivkonstruktion basierenden Malerei entfernt, wie sie dessen Lehrer Christoffer Wilhelm Eckersberg in der ersten Jahrhunderthälfte an der Kopenhagener Akademie betrieben hatte. Während Eckersberg die dänische Malerei zu ihrem Höhepunkt – einem »goldenen Zeitalter« – geführt habe, habe sich Melbye, nach Ansicht Høyens, in Frankreich zu einer gefühlsbetonten und effektsuchenden Kunst hinreißen lassen. Umfassend zeichnet Regine Gerhardt diesen nationalistisch gefärbten Kunstdiskurs nach, der maßgeblich zur ambivalenten Bewertung von Melbyes Kunst in Dänemark beigetragen hat.

Darüber hinaus deutet die Autorin allerdings noch einen weiteren – hochbrisanten – Umstand an, der dazu geführt hat, dass sich Melbye als offizieller Marinemaler des Second Empire in den Augen seiner Landsleute kompromittiert, wenn nicht sogar in den Verdacht des Landesverrats gebracht hatte. Sein Gemälde der Seeschlacht vor Helgoland – einer der wenigen Seesiege, die die dänische Flotte im Verlauf des Deutsch-Dänischen Krieges im Mai 1864 über die alliierten Flottenverbände der Österreicher und Preußen davontragen konnte – ist dafür ein sprechendes Zeugnis (Abb. 731, S. 331). Wie die Autorin herausarbeitet, hatte Melbye seine Bildversion der Seeschlacht gezielt als »‚unparteiischen‘ Kriegsbericht« abgefasst, »ohne vordringlich patriotische oder propagandistische Funktion« (S. 422–429). Das Gemälde zeigt, wie sich eine österreichische Fregatte zwischen eine bereits angeschossene weitere österreichische Fregatte und eines der feuernden dänischen Kriegsschiffe schiebt, um der angeschlagenen Fregatte den Abzug zu erleichtern. Das großformatige Gemälde gelangte denn auch nicht in eine dänische Sammlung, sondern in die eines Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten. Die Hansestadt hatte während des Krieges auf Österreichs Seite gestanden. Melbye war klug genug, sich seine deutsche Käuferschaft nicht durch eine zu lautstarke patriotische Parteinahme für sein Heimatland zu verprellen – ein fehlender Patriotismus, den ihm aber die dänische Kunstkritik verübelte.

Die dramatischen Umbrüche in Frankreich – der Sturz des Kaiserreichs nach der Niederlage von Sedan im September 1870 und die schrittweise Konstituierung der Dritten Republik – werden auch dort das Nachlassen des Interesses an den Werken des einst unter dem Second Empire geschätzten Marinemalers befördert haben – ein Verdikt, das bis heute anhält und zur mangelnden musealen Präsenz Melbyes beiträgt. Bezeichnenderweise ließ Melbye seine Werke auch nach dem Rückzug nach Paris im Herbst 1871 – nur wenige Jahre bevor sein schlechter werdender Gesundheitszustand seinem Schaffen ein Ende setzte – weiterhin über seine deutschen Verkaufskanäle vertreiben: Ausstellungen des Hamburger Kunstvereins, die hanseatische Kunsthandlung Louis Bock & Sohn und letztmalige Beteiligungen an großen öffentlichen Ausstellungen in Berlin, Kopenhagen und Wien. Der dänische Star hatte sich zwischen alle Stühle gesetzt; Hamburg wurde sein Ankerpunkt – nicht Kopenhagen oder Paris.

Es ist daher für die Rezeptionsgeschichte Anton Melbyes wohl gar nicht so verwunderlich, dass es gerade eine in der Hansestadt ansässige deutsche und keine dänische oder französische Kunsthistorikerin gewesen ist, die dem Künstler die erste monographische Gesamtdarstellung gewidmet hat. Regine Gerhardt war es auch, die Anton Melbye den Weg ins Museum ebnete: Im Verbund mit Kolleginnen und Kollegen des Altonaer Museums in Hamburg und der Den Hirschsprungske Samling in Kopenhagen sowie unterstützt durch zahlreiche engagierte Sammlerinnen und Sammler konnte sie Anton Melbye 2017/18 zu dessen 200. Geburtstag die erste monographische Museumsausstellung im genannten Hamburger Haus ausrichten.2 Die vorliegende Studie bietet nun – in Erweiterung der Ausstellung – die lang erwartete Vertiefung und Vervollständigung der Kenntnisse zum Leben, zum Werk und zur komplexen zeitgenössischen Rezeption des Künstlers.

1 Claude Vignon, Exposition universelle de 1855, Beaux-Arts, Paris 1855, S. 103–106, S. 105. Das Zitat lautet im Original: »Ce n’est pas d’aujourd’hui que nous connaissons les marines de M. Melbye, et que nous admirons ses eaux transparentes et limpides, qui viennent avec tant de vérité se briser aux flancs des navires. M. Melbye est un des artistes aimés qui n’appartiennent pas seulement au Danemark, mais à l’Europe et surtout à la France.« Vgl. S. 286, Anm. 225.

2 Vgl. AK Melbye. Maler des Meeres. Painter of the Ocean, hg. v. Anja Dauschek, Regine Gerhardt, Vanessa Hirsch, Stiftung Historische Museen Hamburg, Altonaer Museum, Hamburg 2017/18, München/Hamburg 2017.

Einleitung

Homme libre, toujours tu chériras la mer!

La mer est ton miroir; tu contemples ton âme

Dans le déroulement infini de sa lame,

Et ton esprit n’est pas un gouffre moins amer.

Charles Baudelaire, L’Homme et la Mer, 1857

»La mer est ton miroir« – Anton Melbye und das Seestück im 19. Jahrhundert

»Du freier Mensch, du liebst das Meer voll Kraft, Dein Spiegel ist’s. In seiner Wellen Mauer, Die hoch sich türmt, wogt deiner Seele Schauer, In dir und ihm der gleiche Abgrund klafft,« übersetzte Terese Robinson 1925 den ersten Vers des berühmten Gedichts L’homme et la mer von Charles Baudelaire (1821–1867).1 Erstmals 1852 erschienen die Zeilen in der Revue de Paris, fünf Jahre später nahm Baudelaire das Gedicht in seinen als Provokation angelegten Zyklus Les Fleurs du Mal auf.2 Für Baudelaire, der als emblematische Figur der französischen literarischen Moderne gilt, als skandalumwitterter Großstadtdichter, der sich an der Gegenwart abarbeitete und zugleich in der Naturerfahrung sprachgewaltige Bilder der inneren Zerrissenheit, der Verlorenheit und des Aufbegehrens des autonomen Individuums fand, war das Meer ein kraftvolles Gleichnis und zugleich unbeherrschbarer Gegenpart des leidenschaftlichen Ichs.3 Das Meer als Spiegel der menschlichen Seele entwickelt sich seit der frühen Romantik als literarischer Topos, die Lebensfahrt auf dem Meer ist eine mächtige Daseinsmetapher seit der Antike.4 In Baudelaires Gedichtzeilen zeigt sich exemplarisch und konzentriert die Aktualität des Meeres als Gegenstand künstlerischer Reflexion und seine Bedeutung zur intellektuellen Bewältigung der dynamischen Veränderungen und Umbrüche in der Mitte des 19. Jahrhunderts.5 Das literarische wie das künstlerische Bild des Meeres, sie sind die Spiegel zeitgenössischer Befindlichkeit.

Baudelaires Zeitgenosse, der dänische Künstler Anton Melbye (1818–1875), avancierte im 19. Jahrhundert in Europa zu einem der bekanntesten Maler des Meeres. »Er war der erfolgreichste Künstler, den Skandinavien seit Thorvaldsen hervorbrachte und stieg durch unwahrscheinliches Glück zum populärsten Seemaler in Europa auf«, bekannte das Londoner Magazin The Academy wenige Tage nach Melbyes Tod im Januar 1875.6 Selbst in New York erschien der ausführliche Nachruf des britischen Magazins.7 Das Kopenhagener Wochenblatt Søndags-Posten nannte Melbye 1875 »Dänemarks besten Seemaler«.8 Ein Kritiker der Berliner Kunstausstellung 1852 zählte seine Seestücke »zu den bedeutsamsten Erscheinungen auf dem Gebiete der Marinemalerei«9 und die deutsche Kunstzeitung Die Dioskuren konstatierte 1863: »Melby’s Genie ist allgemein anerkannt.«10 Der deutsche Autor und Heine-Übersetzer Adolf Strodtmann schwärmte 1873: »Der auch in Deutschland hoch gefeierte Anton Melbye repräsentiert das Glänzende, den hinreißenden Effekt und vor allem das poetische Element in der Kunst. Es ist ein großer titanischer Zug in seinen Sturmbildern, manche derselben wirken in ihrer düsteren, leidenschaftlichen Stimmung wie ein Byron’sches Gedicht.«11 Ähnlich erging es einem englischen Autor 1883, als er Melbyes Gemälde Meereseinsamkeit von 1852 (Abb. 1, S. 332)12 erblickte: »Ein Bild kann ich niemals vergessen. Es stammt vom Prinzen der dänischen Künstler, Melbye. Als ich vor ihm stand und es ansah, erregte es mich durch und durch, wie man von einem wunderbaren Stück Musik erregt wird […] Die intensive Einsamkeit wurde noch betont von einem einzelnen über die weite Wüste fliegenden Vogel.«13 Der französische Schriftsteller und Kunstkritiker Théophile Gautier nannte Melbyes Namen bereits 1852/53 in einem Atemzug mit den in Frankreich etablierten und als Malern von Seestücken gefeierten Künstlern Eugène Isabey (1803–1886), Théodore Gudin (1802–1880) und Henri Durant-Brager (1814–1889).14 Und der Berliner Journalist und Schriftsteller Theodor Fontane erwähnte Melbye en passant in seinen Artikeln und Romanen, davon ausgehend, dass der Künstler und sein Œuvre den gebildeten deutschen Lesern ganz selbstverständlich geläufig war.15

Damit erlangte Anton Melbye, wie kaum ein anderer dänischer Künstler des 19. Jahrhunderts, mit Ausnahme von Bertel Thorvaldsen (1770–1844), der als Bildhauer des Klassizismus überwiegend in Italien weilte, bereits zu Lebzeiten eine außerordentliche internationale Reputation. Zu Melbyes Förderern und Sammlern zählten nicht nur der dänische König Christian VIII. und sein Nachfolger Frederik VII., sondern ebenso der französische Kaiser Napoléon III., der osmanische Sultan Abdülmecid I. sowie der norwegisch-schwedische König Karl XV. Kaiser Wilhelm II. sammelte in seiner Jugend Reproduktionen von Melbyes Gemälden und bewunderte 1877 seine Werke in der Hamburger Kunsthalle.16 Neben staatlichen Ehrungen an den europäischen Höfen wurden Melbye Auszeichnungen an den Kunstakademien in Kopenhagen und Stockholm zuteil; regelmäßig stellte er in Kopenhagen, Hamburg und Berlin, in London, Brüssel, Le Havre und im Pariser Salon aus. Er war an den Weltausstellungen 1855, 1862, 1867 und 1873 beteiligt. In Hamburg, der Stadt, in der Melbye von Anbeginn seiner Künstlerkarriere an unter den Reedern, Kaufleuten und im gehobenen Bürgertum einen besonderen Sammlerkreis besaß, richtete man ihm zwei bedeutende Einzelausstellungen aus: Keineswegs nur für seine in Öl gemalten Seestücke, sondern ebenso für seine technisch komplexen Kohle- und Kreidezeichnungen bekannt, präsentierte Melbye 1872 allein 325 Zeichnungen mit Motiven aus Dänemark, Schweden, Frankreich und der Türkei, darunter vor allem Binnenlandschaften.17 Eine besondere Wertschätzung belegt die 1900 zu Melbyes 25. Todestag ausgerichtete Retrospektive mit 68 Ölbildern und über 100 Zeichnungen aus Hamburger Privatbesitz.18 Noch 1919 besaß die Hamburger Kunsthalle allein 21 Gemälde von Anton Melbye. Gustav Pauli, Direktor der Hamburger Kunsthalle, attestierte dem Künstler 1924: »Er hat die schwierige Aufgabe gelöst, den beweglichsten Stoff der Welt, das Meer, in trockene Formen zu bannen.«19 Mit Bedauern stellte man wiederholt in Dänemark fest, dass sich Melbyes Werke überwiegend in ausländischen Sammlungen befänden.20 Kein Nachschlagewerk und keine Übersicht zur dänischen Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts, die Melbye nicht erwähnen.

Und dennoch ist der Künstler, der als berühmtester Schüler maritimer Malerei bei Christoffer Wilhelm Eckersberg (1783–1853) studierte, sich unter dem Einfluss von Carl Friedrich von Rumohr (1785–1843) und Johan Christian Clausen Dahl (1788–1857) früh von der Kopenhagener Schule emanzipierte, keine »Schiffsbilder«, sondern emotiv aufgeladene Meereslandschaften schuf, eine eigenständige Malweise mit schnellem Strich und intensivem Kolorit entwickelte und ab Ende der 1840er Jahre in der Kunstmetropole Paris seine Künstlerkarriere erfolgreich vorantrieb, heute in fast völlige Vergessenheit geraten. Ein Grund ist die noch heute nachwirkende Einordnung Melbyes in der dänischen Kunstgeschichte als »Europäer« in Abgrenzung zu den als »Nationale« bezeichneten Künstlern, die zur dänischen Nationalromantik beitrugen und als Protagonisten und Erben des »Goldenen Zeitalters« dänischer Malerei bis heute im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen.21 Erst die Künstler des sogenannten »Modernen Durchbruchs« in der dänischen Kunst, die sich nach der künstlerischen Abschottung Dänemarks der 1850er bis 1870er Jahre im ausgehenden 19. Jahrhundert wieder mit der europäischen, allen voran der französischen Kunst auseinandersetzten, überwanden diese Spaltung.22 Die »Europäer« hingegen, die sich bereits zuvor an den europäischen Kunstströmungen orientierten und oftmals Dänemark verlassen hatten, sind bis heute weitgehend unerforscht. Auch gelang es Melbye nicht, eine charakteristische Schule zu bilden, obwohl er zu Lebzeiten vielerorts zum Qualitätsmaßstab maritimer Malerei wurde. Lehrer und Vorbild war er dennoch für Zeitgenossen und nachfolgende Generationen. Zu Melbyes wichtigsten Schülern zählen seine beiden jüngeren Brüder Vilhelm Melbye (1824–1882) und Fritz Melbye (1826–1869), die auf ihre Weise erfolgreich waren und sich stilistisch eigenständig entwickelten. Während sich Vilhelm Melbye langfristig in London niederließ, im viktorianischen England einen großen Sammlerkreis besaß und sich auf die pittoresken europäischen Küsten spezialisierte, führte Fritz Melbye als Landschaftsmaler ein unstetes Künstlerleben in der Karibik und Venezuela, begleitet von Camille Pissaro (1830–1903), in Nordamerika an der Seite von Frederic Edwin Church (1826–1900) sowie in China und Japan. Er hinterließ zahlreiche im Freien gemalte Ölskizzen und einige wenige, von intensiver Lichtwirkung geprägte Gemälde. Als erster Künstlerfreund und Lehrer von Camille Pissarro vermittelte Fritz Melbye aktuelle dänische Kunst- und Naturauffassungen und die Technik der Freilichtölstudie an den späteren Vater des Impressionismus, noch bevor dieser in Frankreich mit Camille Corot (1796–1875) zusammentraf.23 Anton Melbye unterstützte Pissarro nach seiner Ankunft in Paris 1855 durch Ankäufe, ließ den jungen Landschaftsmaler in seinem Atelier arbeiten und stimulierte ihn zu Exkursionen in die französische Natur – Pissarro selber bezeichnete sich noch bis 1866 in den Pariser Salonausstellungen als Anton Melbyes Schüler. Vom 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde Melbye von namhaften Künstlern für seine Naturwahrnehmung geschätzt. So etwa auch von dem Klassizisten Bertel Thorvaldsen, der frühe Werke von Melbye erwarb, von den Expressionisten Lyonel Feininger (1871–1956) und von Emil Nolde (1867–1956), die von Melbyes Seestücken inspiriert wurden. Der dänische Informel- und CoBrA-Künstler Asger Jorn (1914–1973) bewunderte Melbyes Emanzipation von der dominierenden Eckersberg-Schule und leitete aus seinen Werken eine »skandinavische Linie« des Symbolismus ab.24 Nicht zuletzt die politischen Entwicklungen Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten in Deutschland dazu, dass eine kunsthistorische Auseinandersetzung mit der Malerei von Meer und Schiff, im Gegensatz etwa zur Landschaftsmalerei, fast gänzlich ausblieb. Als mit der ambitionierten und verhängnisvollen Rüstungs- und Flottenpolitik Kaiser Wilhelms II. ab den 1890er Jahren die Marinemalerei politisch in Dienst genommen und als Propagandainstrument staatlich gefördert wurde, entwickelte sich mit kaisertreuen Malern, wie Carl Saltzmann (1847–1923), Hans Bohrdt (1857–1945), Willy Stöwer (1864–1931) und Hans von Petersen (1850–1914) eine Künstlerschaft, die weit weniger Gewicht auf eine innovative künstlerische Reflexion des Meeres als auf die konsequente Verherrlichung der wilhelminischen Flotte legte.25 Erneut im Nationalsozialismus wurde Marinemalerei intensiv propagandistisch zu kriegstreibenden Zwecken in Anspruch genommen.26 Diese Entwicklung prägt bis heute vielfach en bloc die Wahrnehmung der maritimen Malerei des 19. Jahrhunderts.27

Aktuell finden die Künstler des Pariser Salons und die figurative Malerei des 19. Jahrhunderts ein neues Sammler- und Forschungsinteresse.28 Eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem der populärsten Themen des Salons, dem Seestück, steht jedoch bisher noch aus. Das Seestück war bis zum zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts keineswegs ein Produkt einer vordringlich konservativen, ausschließlich politisch konnotierten Bildgattung, sondern behandelte ein Sujet, anhand dessen die außerordentlich innovativen künstlerischen Strömungen dieses Jahrhunderts entwickelt wurden. Tatsächlich war die kreative Auseinandersetzung mit Meer und Schiff in der gesamten Epoche – von der Romantik bis zum Symbolismus – von grundlegender Bedeutung für die Entstehung neuer künstlerischer Ausdrucksformen und Aussagen: So lotete z. B. Caspar David Friedrich (1774–1840) die symbolische Dimension von Meer und Schiff als romantisches Sinnbild der Lebensfahrt oder Naturallegorie des Jenseits aus, Théodore Géricault (1791–1824) instrumentalisierte das Seestück, um radikal politische Anklage zu erheben und William Turner (1775–1851) gelang die Trennung von Farbe und Form, als er die Naturgewalt des Seesturms zu fassen suchte. Eckersberg revolutionierte die akademische Ausbildung, als er an der dänischen Küste die Freilichtmalerei als neue Disziplin einführte. Gustave Courbet (1819–1877) fand am Meer zu Realismus und pastoser Malerei und die Impressionisten entwickelten ihre spezifischen Ausdrucksmittel anhand der Reflexion von Licht auf Wasser, während die Symbolisten, wie Odilon Redon (1840–1916), Traum und Unterbewusstsein in Bildern der Meerestiefen suchten. In der schöpferischen Auseinandersetzung mit den existentiellen Veränderungen des 19. Jahrhunderts wurden Meer und Schiff zu zentralen Objekten der intellektuellen Reflexion. Dieses Phänomen manifestierte sich in Musik, Literatur und bildender Kunst. Die künstlerische Eingenommenheit für die Rolle und das Bild des Meeres als lebendige, fruchtbringende, schöpferische Natur bezeichnete der Musikhistoriker Howard Isham 2004 als ein diese Epoche charakterisierendes »ozeanisches Bewusstsein«.29

In der vorliegenden Studie wird das Seestück deshalb nicht aus seefahrtstechnischer Perspektive betrachtet und auf marinegeschichtliche Inhalte reduziert, sondern der Blick wird gezielt auf Gehalt, Bedeutung und Ausdrucksmittel maritimer Malerei der Jahrhundertmitte gerichtet. Wie Charles Baudelaire, der in seinen Texten in der Konfrontation des Individuums mit der Unermesslichkeit und ständigen Bewegung des Meeres kraftvolle Sinnbilder zeitgenössischer Befindlichkeit schuf, entwickelte Melbye als naturwissenschaftlich und naturphilosophisch interessierter Künstler und ambitionierter Musiker in Auseinandersetzung mit den Naturkräften das Seestück zu einem Spiegel der Seele, der Sehnsüchte und Ambitionen seiner Zeit. Dies trifft sowohl auf seine poetisch aufgeladenen, stillen Küstenbilder, auf die dynamischen, sturmgetriebenen Meereslandschaften wie auch auf seine Bilder des ambitionierten Seehandels oder auf Melbyes künstlerische Antwort auf die politischen Umstände des Krimkrieges zu. Melbyes Zeitgenossen nahmen dies vor allem in seinen innovativen Bildern des völlig leeren, unendlichen Ozeans wahr, die ab 1846 entstanden und gleichsam eine kunsthistorische Brücke zwischen Caspar David Friedrichs Mönch am Meer (1808–1810) und Gustave Courbets ersten realistischen »paysage de mer« (1854), Victor Hugos prominenter Tuschezeichnung Ma Destinée (ca. 1867) und Courbets späteren Wellenbildern darstellen.30 Erstmals in der Kunstgeschichte ohne Zeichen von Mensch oder Schiff, ohne Strand oder Küste, zielt die bewegte Meeresoberfläche in Melbyes »Meereseinsamkeiten« (Abb. 1, S. 332) in ihrer Gleichförmigkeit, Undurchdringlichkeit und räumlichen Unendlichkeit auf die Verunsicherung des Betrachters und wird zur Projektionsfläche existentieller Reflexion.

Die vorliegende Studie arbeitet Melbyes künstlerische Entwicklung in den Kunstzentren Kopenhagen und Paris im kunsthistorischen Kontext auf, beleuchtet seine biographischen Stationen und ihre historischen Implikationen zwischen Kopenhagen, Hamburg, Paris und Konstantinopel in einer Nord-Süd-Achse und präsentiert sein vielschichtiges Œuvre erstmals im Zusammenhang. Zwischen 1839 und 1871 schuf Melbye über 600 Gemälde, über 400 Zeichnungen sowie Druckgraphiken und Daguerreotypien, füllte Skizzenbücher und veranlasste fotografische Reproduktionen seiner Werke, die für diese Analyse zusammengetragen und ausgewertet wurden. Die Studie ermöglicht, nicht nur einen vormals international hoch geschätzten Künstler und sein qualitativ hochwertiges Œuvre wiederzuentdecken, sondern einer kunsthistorischen Neubewertung zu unterziehen und gänzlich neue Seiten seines künstlerischen Schaffens aufzudecken. Dazu gehören etwa die Auseinandersetzung des bisher nur als Eckersberg-Schüler betrachteten Melbye mit der Malerei Johan Christian Clausen Dahls und den Schriften Pierre-Henri de Valenciennes’, seine Experimente mit fotografischen Techniken in der Februarrevolution 1848 in Paris, seine Rezeption der Entwicklungen in der französischen Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts, seine Hinwendung zur Landschaftsmalerei, die nahezu abstrakte Auflösung der Naturformen in seinen späten Skizzen, der Einfluss von Mesmerismus und Clairvoyance auf seine Malerei oder sein Interesse am Aquarium, im 19. Jahrhundert Sinnbild der Seele, der Imagination und des Traums.

An Melbyes Beispiel lässt sich nicht nur die für die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts entscheidende Loslösung der Kunst von nationalen und akademischen Strukturen beleuchten. Es gilt darüber hinaus, Melbye als kritischen, die künstlerischen Entwicklungen seiner Epoche reflektierenden Künstler zu entdecken und seine Werke als Resonanz auf die radikalen Umwälzungen und Bedingungen seiner Zeit zu verstehen. Auch ohne zu den großen Namen der Avantgarde zu zählen, gehört Melbye damit zu den Wegbereitern der Moderne. Sein Œuvre bietet einen neuen Zugang und neue Erkenntnisse zu Stellenwert und künstlerischen Ausdrucksmitteln maritimer Malerei. Es ermöglicht die Offenlegung der intellektuellen Dimension künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Seestück in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich über tradierte Muster hinaus in neuen, zeitspezifischen Wahrnehmungsformen von Küste, Meer und Schiff manifestiert.

Quellen- und Forschungsstand

Als der dänische Kunsthistoriker und spätere Museumsdirektor Emil Hannover (1864–1923) in Karl Madsens Kunstens Historie i Danmark (1901–1907) Anton Melbye im Vergleich zu Eckersberg – der Vaterfigur des »Goldenen Zeitalters« dänischer Kunst – jedes Naturverständnis abschrieb, besiegelte er gleichsam Melbyes Schicksal. Dem Künstler habe das Verständnis dafür gemangelt, dass »die Kunst eine bedeutsame, ernsthafte Beschäftigung und kein Spielen mit Farben, Pinseln und Fähigkeiten« sei, schrieb Hannover, dessen Text auch in deutschen und englischsprachigen Publikationen erschien.31 Im Gegensatz zu Eckersberg, der das Geheimnis der Kunst in der Natur gesucht habe, »besonders, wenn er mit dem Fernrohr den Horizont über dem Meeresspiegel erforschte«, habe Melbye geglaubt, dass »das Geheimnis im Malkasten stecke«. »Bunte Reisebilder« aus der Welt der Fantasie seien seine Werke gewesen.32 Das vernichtende Urteil wiederholt die Reaktionen, denen Melbye schon zu Lebzeiten von Seiten der Anhänger der dänischen Nationalromantik ausgesetzt war. Anfang des 20. Jahrhunderts, nachdem der »Moderne Durchbruch« in Kunst und Kultur in Dänemark bereits vollzogen war, spiegelt es überkommende Wahrnehmungen und wirkt umso drastischer. Der Avantgarde der Moderne nachgeordnet und als Antagonist zur Ikone Eckersberg gestempelt, versank Melbye forthin im Vergessen.

So gibt es zu Anton Melbye bisher weder eine Monographie, ein Werkverzeichnis noch einen eigentlichen Forschungsstand. Stattdessen überwiegen Einträge in den europäischen Nachschlagewerken und Überblicksdarstellungen.33 So etwa seit dem 19. Jahrhundert in den Auflagen der dänischen Standardwerke, wie dem Dansk Konstnerlexikon ab 1877/78 von Philip Weilbach, dem Dansk Biografisk Leksikonund dem Salomonsens store illustrerede Konversationsleksikon, en nordisk Encyklopædi oder im schwedischen Nordisk Familjebok Konversationslexikon och Realencyklopedi. Ebenso in Deutschland in Meyers Konversations-Lexikon oder in Lexika zur Kunst, wie dem Allgemeinen Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart von Ulrich Thieme und Felix Becker, in Friedrich von Boettichers Malerwerke des neunzehnten Jahrhunderts, Beitrag zur Kunstgeschichte (1891–1901) oder Ernst Rumps Lexikon der bildenden Künstler Hamburgs, Altonas und der näheren Umgebung (1912/2013). Bereits 1864 erschien ein Eintrag zu Anton Melbye in der Stuttgarter Lexikonreihe Die Künstler aller Zeiten und Völker oder Leben und Werke der berühmtesten Baumeister, Bildhauer, Maler, Kupferstecher, Formschneider, Lithographen etc. von den frühesten Kunstepochen bis zur Gegenwart. Eine beachtliche Reihe französischer Nachschlagewerke listen Melbye seit Mitte des 19. Jahrhunderts34 ebenso wie die moderneren Fachlexika Bénézit: Dictionnaire Critique et Documentaire des Peintres, Sculpteurs, Dessinateurs et Graveurs de tous les temps et de tous les paysund das Dictionnaire des Petits Maîtres de la peinture, 1820–1920 von Gérald Schurr und Pierre Cabanne. In England wird Melbye in Groves The Dictionary of Art geführt ebenso wie in The Oxford Encyclopedia of Maritime History oder dem Fachlexikon The Dictionary of Sea Painters of Europe and Americavon Edward H. H. Archibald.

Ausführlicher als viele historische und aktuelle lexikalische Kurzeinträge geben Abhandlungen in älteren dänischen kunsthistorischen Überblicksdarstellungen Auskunft, wie die eingangs zitierten Beiträge von Emil Hannover zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder die monographischen Artikel des Literatur- und Kunsthistorikers Sigurd Müller (1844–1918) in seiner Publikation Nyere Dansk Malerkunst (1884) und im Kopenhagener Kulturmagazin Højskolebladet(1892).35 Anders als Hannover versuchte Müller, bei der Vorstellung und Beurteilung von Melbyes Schaffen seiner besonderen Position in der dänischen Kunstszene gerecht zu werden. Melbyes Zeitgenosse, der dänische Maler und Schriftsteller Holger Drachmann (1846–1908), verfasste 1871 eine erste längere Abhandlung zur zeitgenössischen »Danske Sømaleri«.36 Auch sein Beitrag ist stark von nationalromantischen Ansätzen geprägt. Nicht aus kunsthistorischer, sondern aus biographischer Perspektive veröffentlichte Erik Bøgh (1822–1899) in Kopenhagen 1860, 1875/76 und nochmals 1889 längere Artikel zu Anton Melbye.37 Ins Deutsche übersetzt erschienen Teile der Beiträge in den Katalogen zu Melbyes Hamburger Ausstellungen 1872 und 1900.38 Der Theaterdirektor, Schriftsteller und Journalist Erik Bøgh war mit dem Künstler befreundet, suchte ihn vorteilhaft darzustellen und schilderte zahlreiche Details zu Melbyes Persönlichkeit. In ähnlichem Tenor hatte 1854 der französische Politiker, Kunstsammler, Kunstkritiker und Museumsstifter Achille Jubinal (1810–1875) in Paris in der Gazette des Beaux-Arts über Melbye informiert, den er schätzte und förderte.39 Ähnlich, wie Berichte über Melbye in verschiedenen Lebenserinnerungen und Tagebüchern seiner Zeitgenossen,40 spiegeln diese historischen Beiträge keinen Forschungsstand, sondern sind vielmehr wichtige Quellen zu Melbyes persönlicher und künstlerischer Biographie, zur Rezeption seiner Kunst, zur Wahrnehmung der maritimen Malerei sowie zum Kunstbetrieb und der jeweiligen lokalen Kunstszene.

Gleiches gilt für Ausstellungs- und Kunstkritiken des 19. Jahrhunderts, die in der dänischen, deutschen, französischen und englischsprachigen Presse oder als eigenständige Publikationen erschienen und für diese Studie systematisch mit Fokus auf Melbye und die maritime Malerei analysiert wurden. Zeitgenössische Ausstellungs- und Sammlungskataloge privater und institutioneller Kunstsammlungen, Nachlass- und Auktionskataloge in gedruckter Form gehören ebenso zu den wichtigen Schriftquellen, wie unediertes Quellenmaterial in Form von Briefen und Notizen von, an oder über Anton Melbye, von gewidmeten Stammbuchblättern, die das künstlerische Netzwerk aufzeigen oder persönlichen Tagebuchaufzeichnungen, die zum überwiegenden Teil erstmals für diese Studie aufgespürt und ausgewertet wurden. Auch unedierte institutionelle Protokolleinträge und Aktennotizen, wie etwa die sogenannten »Tagebücher« der Kopenhagener Kunstakademie im Riksarkivet in Kopenhagen oder die offiziellen Aufzeichnungen und Registraturen zur Vorbereitung der Pariser Salonausstellungen im Archives des musées nationaux im Louvre in Paris, bieten wertvolle und neue Erkenntnisse. Schließlich stellen die erstmals untersuchten persönlichen Dokumente aus Melbyes Nachlass, die 1931 in das Archiv der Den Hirschsprungske Samling in Kopenhagen gelangten, ein bedeutendes Quellenreservoir dar.41 Neben Briefen enthält dieses Konvolut vor allem Urkunden zu offiziellen Auszeichnungen, Mitgliedschaften und Funktionen im Kunstbetrieb, einzelne Briefe zu Kunstverkäufen und Schenkungen sowie Familiendokumente, Reisedokumente und Belege zu Rechtsgeschäften. Die Det Kongelige Bibliotek in Kopenhagen bewahrt zudem ein frühes Tagebuch, große Briefbestände und Porträtfotografien sowie einen weiteren Nachlassteil mit frühen persönlichen Notizen sowie von Melbye 1853 gesammelten Schriftstücken mit arabischen Schriftzeichen, die erstmals für diese Studie übersetzt und ausgewertet wurden.42 Neben den an dieser Stelle vorgestellten Schriftquellen sind jedoch in erster Linie Melbyes Kunstwerke, seine Gemälde, Ölstudien, Handzeichnungen, Druckgraphiken und Daguerreotypien sowie die erhaltenen Skizzenbücher grundlegende Quellen und Forschungsgegenstand der vorliegenden kunsthistorischen Analyse. Vor allem durch Legate und Schenkungen aus privaten Sammlungen, durch Verstaatlichungen oder auch durch Ankäufe in jüngster Zeit sind zahlreiche Gemälde und Papierarbeiten in öffentlichen Sammlungen erhalten. Der überwiegende Teil von Melbyes Œuvre befindet sich jedoch nach wie vor in privaten Sammlungen und wird rege auf dem internationalen Kunstmarkt gehandelt.

Die internationale Verbreitung des großen Œuvres erschwerte bisher eine genaue Aufarbeitung. In aktuelleren kunsthistorischen Publikationen findet Melbye vor allem Erwähnung als Schüler von Eckersberg. So etwa in den Katalogen zu den Ausstellungen C.W. Eckersberg og hans elever in Kopenhagen 1983 und Die Kopenhagener Schule. Meisterwerke dänischer und deutscher Malerei von 1770 bis 1850 in Kiel 2005 oder in der jüngsten Monographie der Eckersberg-Experten Kaspar Monrad und Michael Hornung: C.W. Eckersberg – dansk malerkunsts fader (2005).43 In der Überblicksdarstellung zur dänischen Marinemalerei des 19. Jahrhunderts, die 1962 von dem Kunsthistoriker Henrik Bramsen publiziert wurde, übernahm dieser im Wesentlichen die ablehnende Haltung Emil Hannovers.44 In der jüngsten, umfassenden Publikation zur dänischen Kunst im 19. Jahrhundert, die 2007 von der amerikanischen Kunsthistorikerin Patricia Gray Berman erschien, findet lediglich Vilhelm Melbye als Skagenbesucher Erwähnung.45 Spezifischer mit Anton Melbye haben sich in den letzten 50 Jahren lediglich zwei Autoren auseinandergesetzt, die seine Eigenständigkeit vor dem Hintergrund lokaler maritimer Traditionen betonen: Der deutsche Kunsthistoriker Henrik Lungagnini richtete 1972 in seinem Aufsatz Anton Melbye, ein dänischer Marinemaler in Hamburg den Blick auf Melbyes Beziehungen nach Norddeutschland, studierte erstmals einige Briefquellen aus der Det Kongelige Bibliotek in Kopenhagen und präsentierte Melbyes Werke aus der Sammlung des Altonaer Museums in Hamburg.46 1998 schließlich rückte der schwedische Kunsthistoriker Teddy Brunius in einem Aufsatz Anton Melbye und seine Brüder in Beziehung zur französischen Marinemalerei.47 Wie Asger Jorn bereits 1965 anmerkte, fehlen Studien zu den Melbye Brüdern, um ihr Verhältnis zu internationalen Kunstströmungen überhaupt bewerten zu können. Der CoBrA-Künstler sah darin einen weißen Fleck in der Einschätzung der kunsthistorischen Bedeutung und Rolle dänischer Kunst für die künstlerische Moderne über die Grenzen Dänemarks hinaus.48 Dieses Desiderat spürt auch die internationale Pissarro-Forschung, die die formativen Jahre Camille Pissarros als Wegbereiter der Moderne untersucht und bei der kunsthistorischen Einordnung von Fritz und Anton Melbye an ihre Grenzen stößt.49 Eine Ausstellung im Frühjahr 2017 in Ordrupgaard befasst sich nun explizit mit der künstlerischen Beziehung von Camille Pissarro zu Fritz Melbye.50

Nicht nur die Melbye Brüder, die gesamte als »Europäer« eingeordnete dänische Künstlerschaft ist in der aktuelleren kunsthistorischen Forschung bisher fast gänzlich unbeachtet geblieben. 1936 bis 1938 publizierte Franz von Jessen das dreibändige Werk Danske i Paris gennem Tiderne, das einen grundlegenden Überblick über dänische Volksgruppen, Persönlichkeiten, Politiker und Künstler in Paris von 800 bis 1935 gab mit dem erklärten Ziel, die Bedeutung französischer Kultur für Dänemark aufzuzeigen.51 Sigurd Schulz verfasste für Band II einen Beitrag über die dänischen Künstler in Paris von der Restauration bis zur Dritten Republik, der umfassend alle Paris-Besuche und -Aufenthalte erfasste.52 Als weitere Ausnahme hervorzuheben ist die 2009 erschienene zweibändige Monographie der Literaturwissenschaftlerin Lotte Thrane über den dänischen Künstler Lorenz Frøhlich (1820–1908), der Mitte des 19. Jahrhunderts über 20 Jahre in Paris verbrachte und heute vor allem für seine druckgraphisch umgesetzten charakteristischen Kinderzeichnungen und seine Illustrationen zu Hans Christian Andersens Märchen bekannt ist.53 Erst mit den dänischen Künstlern, die erneut ab den 1870er Jahren Kopenhagen zum Studium verließen und in Dänemark eine künstlerische Moderne mit realistischen, impressionistischen und symbolistischen Strömungen einleiteten, setzt erneut eine umfangreiche Forschung und entsprechende Beachtung im Ausstellungswesen ein.54

Auch mit Blick auf die maritime Malerei in Europa im 19. Jahrhundert zeigt sich ein ähnliches Bild. Eine der ersten historischen Betrachtungen findet sich bei Pierre-Henri de Valenciennes (1750–1819) in seinem bekannten Traktat Elemens de perspective pratique à l’usage des artistes, suivis de reflexions et conseils à un élève sur la peinture et particulièrement sur le genre du paysage (Paris 1799), das Johann Heinrich Meynier 1803 ins Deutsche übersetzte: Valenciennes lieferte nicht nur auf 12 Seiten eine Beschreibung und Anleitung zur maritimen Malerei, sondern gab einen Überblick über die Seestücke niederländischer, englischer und vor allem französischer Künstler, allen voran von Claude Joseph Vernet (1714–1789).55 Der französische Kritiker Leon de Veyran publizierte 1901 in Paris die Schrift Peintres et dessinateurs de la mer, histoire de la peinture de marinemit einem historischen Überblick nicht nur zur französischen, sondern zur weiteren europäischen Marinemalerei, in der er im Abschnitt zur dänischen Kunst Melbye als Maler historischer Marinen hervorhob.56 1911 promovierte Frederik Charles Willis in Halle mit einer Schrift Die niederländische Marinemalerei, die eine Kunstgeschichte der holländischen »Seemalerei« des 17. Jahrhunderts bot.57 Erst in den 1970er bis 1990er Jahren erschienen erneut Überblicksdarstellungen zur Marinemalerei, die eine internationale, epochenübergreifende Gesamtübersicht versuchten oder aber lokale oder periodische Entwicklungen in den Blick nahmen. So etwa die Publikationen A history of American marine painting (1968) von John Wilmerding, Marine Painting bzw. Das Schiff in der Malerei (1975) von William Gaunt, Deutsche Marinemalerei (1977) von Hans Jürgen Hansen, Maler der See, Marinemalerei in dreihundert Jahren (1980) von Jörgen Bracker, Michael North und Peter Tamm, Marinemalerei in Deutschland im 19. Jahrhundert (1981) von Boye Meyer-Friese, The Art of Nautical Illustration, A visual tribute to the achievements of the classic marine illustrators (1991) von Michael E. Leek, Marine Painting, Images of Sail, Sea and Shore (1995) von James Taylor, Maritime paintings of Early Australia 1788–1900 (1998) von Martin Terry oder For fulle seil, Marinemaleriet i norsk billedkunst (1999) von Paul Grøtvedt.58 Auch sammlungsbezogene Überblickswerke erschienen, wie etwa Kataloge zu den lokalthematischen Kunstausstellungen Art maritime auf der Hamburger Messe Hanseboot, zur Ausstellung Meisterwerke aus der Schiffahrt, Von der Ostsee in die Weltin Flensburg 1996 oder die Publikation von Russalka Nikolov und Juha Nurminen zur Ausstellung Kunst mit weitem Horizont, 400 Jahre Marinemalerei in Helsinki 2003.59 Diese Werke stellten allesamt die maritime Kunstsammlung von Peter Tamm vor, bis diese 2008 in das eigens gegründete Internationale Maritime Museum in Hamburg einzog. Vor allem die Schifffahrts- und Marinemuseen präsentieren traditionell ihre eigenen oder einschlägige fremde Kunstsammlungen in Ausstellungen und Publikationen, wie z. B. das Pariser Musée national de la Marine 1999 die Schau Navires à la mer dans les collections du musée national de la Marine et dans le fonds Augustin Normand.60 Als Direktor des Deutschen Schifffahrtsmuseums in Bremerhaven und Professor für Schifffahrtsgeschichte an der Universität Bremen bis 2012 veröffentlichte zuletzt der Historiker Lars Uwe Scholl eine Synthese zur maritimen Malerei in Deutschland mit dem Titel Deutsche Marinemalerei 1830–2000(2002).61 Die Ausstellung Schiff voraus, Marinemalerei des 14.–19. Jahrhunderts 2005 in Salzburg versuchte einen europäischen Überblick.62 Allen genannten Werken gemein ist ein starker Fokus auf die Darstellung der Schifffahrt in der bildenden Kunst. Wie Jörgen Bracker 1980 beispielhaft definierte, galt allen Autoren hier die Darstellung des Schiffes als Grundvoraussetzung für die Einordnung des Kunstwerkes zur Bildgattung der Marinemalerei überhaupt.63 Im Gegensatz etwa zu Hans Jürgen Hansen 1977 schloss Boye Meyer-Friese 1981 explizit »alle maritimen Motive der romantischen Landschaftsmalerei« in seiner Studie aus.64 Damit wurde die maritime Malerei vielfach auf die Behandlung schiffstechnischer, nautischer oder marinehistorischer Aspekte reduziert, technische und politische Entwicklungen standen im Vordergrund oder die Genauigkeit in der Darstellung von Schiff, Manöver und Witterung. Zugleich lenkt diese Perspektive die Aufmerksamkeit verstärkt auf die politischen Verflechtungen der Marinemalerei, wie sie in der deutschen Geschichte vor allem in der wilhelminischen Epoche und im Nationalsozialismus nach außen besonders deutlich wurden. Während Meer und Schiff in der aktuellen zeitgenössischen Kunst auf immanentes künstlerisches Interesse stoßen, fürchtete Lars Uwe Scholl 2002 um einen »Zweig der Malerei, der bedroht ist, sich selbst zu überleben.«65

Welche kunsthistorischen Erkenntnisse die maritime Malerei bereithält, wenn diese Engführung des Blicks und der Definition aufgegeben wird, zeigt seit längerem die Forschung zur maritimen Malerei in den Niederlanden im 16. und 17. Jahrhundert, die nicht nur das Schiff, sondern die Natur und ihre Wahrnehmungen in den Mittelpunkt der Untersuchung stellt. Stellvertretend sei auf Lawrence Otto Goeddes Studie Tempest and Shipwreck in Dutch and Flemish Art, Convention, Rhetoric, and Interpretation (1989) und Hans-Joachim Raupps Band Landschaften und Seestücke (2001) zur Niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts der SØR Rusche-Sammlung verwiesen.66 Ebenso auf die Ausstellungen Herren der Meere – Meister der Kunst, das holländische Seebild im 17. Jahrhundert in Rotterdam und Berlin 1996/97, Turmoil and Tranquillity, The sea through the eyes of Dutch and Flemish masters, 1550–1700 in London 2008 oder Segeln, was das Zeug hält, Niederländische Gemälde des Goldenen Zeitalters in Hamburg 2010.67

Vor allem kulturhistorische, philosophische und historische Annäherungen an Meer, Küste und Schiff, wie etwa Hans Blumenbergs Schrift Schiffbruch mit Zuschauer, Paradigma einer Daseinsmetapher (1979), Alain Corbins Studie Le territoire du vide, L’Occident et la plaisir du rivage 1750–1840 (1988), Hartmut Böhmes Kulturgeschichte des Wassers (1988) oder Michel Mollat du Jourdins Buch L’Europe et la mer (1993) stimulierten auch die kunsthistorischen Ansätze.68 Bereits 1970 hatte Eduard Hüttinger die Entwicklung des Bildmotivs des Schiffbruchs in der Kunst des 19. Jahrhunderts im Rahmen einer Tagung zur Motivkunde untersucht und auf die in allen Kunstströmungen anhaltende Bedeutung hingewiesen.69 Werner Timm stellte den Schiffbruch 1976 in einer Studie als maritimes Ereignisbild vor, Sabine Mertens lieferte 1987 die kunsthistorische Arbeit Seesturm und Schiffbruch, eine motivgeschichtliche Studie und Heiderose Langer veröffentliche 1993 eine ikonographische Analyse des Schiffes in der zeitgenössischen Kunst.70 Mit gezieltem Blick auf das Element Wasser, wie ihn die Kunsthistorikerin Monika Wagner bereits 1996 richtete,71 widmeten sich gerade in jüngerer Zeit mehrere Ausstellungen dem Aquatischen in der Kunst und Kulturgeschichte. So etwa die Schauen Wasser in der Kunst, Vom Mittelalter bis heute in Überlingen 2004, La mer, terreur et fascination in Paris und Brest 2004/05, Mythos und Naturgewalt Wasser – Cranach, C.D. Friedrich, Nolde, Beckmann in München 2005, Alles im Fluss in Hamburg 2006/07 und William Turner, Maler der Elemente in Hamburg, Krakau und Margate 2011/12.72 Die jüngste Ausstellung Über Wasser, Malerei und Photographie von William Turner bis Olafur Eliasson 2015 in Hamburg nahm in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle Naturbilder des Kunsthistorischen Seminars der Universität Hamburg vor allem Materialität, Aggregatzustand und Beweglichkeit des Wassers in den Blick.73 Das Wasser als thematisches Bindeglied wählte 2009 auch der norwegische Kunsthistoriker Arne Neset, der mit Fokus auf die amerikanische Kunstproduktion im 19. Jahrhundert eine Studie zu Ansichten von Flüssen, Seen, Teichen und dem Meer vorlegte, die er als »waterscapes« zusammenfasste.74

Die neue Aufmerksamkeit für das Phänomen der Entdeckung der Küste im 19. Jahrhundert, d. h. für den Blickwandel auf das Meer als Ort der Rekreation und (künstlerischen) Inspiration, wie ihn Corbin in seiner Studie 1988 eindringlich beschrieben hatte, löste in jüngerer Zeit eine ganze Reihe einschlägiger kunsthistorischer Forschung und Ausstellungen insbesondere zum französischen Impressionismus und seinen Wurzeln aus. So etwa die großangelegten Schauen Aux couleurs de la mer 1999–2000 in Paris, Manet and the Sea 2003/04 in Chicago, Philadelphia und Amsterdam, Vagues, Autour des paysages de mer de Gustave Courbet 2004 in Le Havre, Impressionists by the Sea 2007/08 in London, Washington und Hartford, Sur les quais, Ports, docks et dockers de Boudin à Marquet 2008/09 in Le Havre und Bordeaux oder, für die deutsche Kunst der Moderne, z. B. Max Beckmann, Menschen am Meer2003 in Hamburg oder Max Liebermann am Meer 2011 in Berlin.75 Die Ausstellung Shipwreck, Winslow Homer and the Life Line 2012 in Philadelphia stellte Homers Bezug zur Küste und das Seestück in der amerikanischen Malerei des 19. Jahrhunderts vor.76 Die Bedeutung des Blicks in die Tiefe des Meeres, die durch die Annäherung an die Küste, wie sie Corbin beschrieb, erst möglich wurde, untersuchte vor allem Ursula Harter in ihren Studien zum französischen Symbolismus und zur Aquarienkultur im 19. Jahrhundert, ein Themenfeld, das die Kunsthistorikerin Mareike Vennen aus wissensgeschichtlicher Perspektive verfolgt.77 Und Robert McNab veröffentlichte 2004 eine umfassende Untersuchung zur Bedeutung von Schiff und Meer im Surrealismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Ghost Ships, A Surrealist Love Triangle.78

Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hingegen fällt die Aufmerksamkeit der kunsthistorischen Forschung und Museumswelt in dieser Beziehung im Vergleich geringer aus. So waren Caspar David Friedrichs Meereslandschaften der Romantik 1970 Thema in Hüttingers Studie zum Schiffbruch und 1978 in einer Schrift von Eberhard Ruhmer, 1974 widmete Hans Jürgen Hansen Friedrichs Seestücken einen Aufsatz und Helmut R. Leppien stellte 1993 die ikonischen Gemälde aus der Sammlung der Hamburger Kunsthalle vor.79 Die Ausstellung Seestücke, Von Caspar David Friedrich bis Emil Nolde in Hamburg 2005 spannte nicht nur erstmals einen Bogen zur maritimen Malerei in Deutschland im 19. Jahrhundert, sondern stellte die künstlerische Auseinandersetzung mit Meer und Schiff in der deutschen Romantik in größerem Rahmen heraus.80 Ein ähnliches Bild zeigt sich in Dänemark: Dort beschäftigte sich Emil Hannover 1898 in einer Monographie zu Eckersberg mit den theoretischen Anweisungen zur Marinemalerei und den Seestücken des Künstlers, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden.81 Henrik Bramsen publizierte 1972 die Schrift Om C.W. Eckersberg og hans Mariner und zuletzt analysierte Niels Winkel 1976 Eckersbergs mathematisch-konstruktive Aneignung maritimer Natur.82 Die nachfolgende intensive Eckersberg-Forschung und die Ausstellungslandschaft integrierte diesen Teil allenfalls als untergeordneten Aspekt in Eckersbergs Schaffen. Auch in Frankreich liegen Publikationen und Ausstellungen zur maritimen Malerei des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts teilweise sehr lange zurück, wie etwa die Ausstellungen 1976 zu Claude Joseph Vernet in Paris oder 1997 zu Louis Garneray (1783–1857) in Dünkirchen und Honfleur.83 Zu Théodore Gudin (1802–1880), der bis Mitte des 19. Jahrhunderts als bedeutendster peintre de marine galt, gibt es bislang keine Monographie.84 Seine Tochter Henriette Fauchier, née Gudin (1825–1876), die zu den ersten Malerinnen gehörte, die Seestücke schufen, findet keine Erwähnung. Victor Hugos Affinität zum Meer hingegen interessiert nicht nur die Literaturwissenschaft, sondern verstärkt auch die Kunsthistoriker.85 In England erfährt vor allem William Turners Auseinandersetzung mit dem Naturraum Meer gerade in jüngerer Zeit besondere Beachtung, zuletzt 2013/14 in der großangelegten Ausstellung Turner and the Sea in London.86 Welche Aktualität und kunsthistorische Relevanz die Auseinandersetzung mit dem Seestück im 19. Jahrhundert bietet, zeigte auch die Ausstellung Aiwasowski – Maler des Meeres, die 2011 in Wien erstmals monographisch den armenischen Künstler Iwan Konstantinowitsch Aiwasowski (1817–1900) vorstellte.87

Im 21. Jahrhundert aktuelle Themen, wie Klimawandel, Globalisierung, Ökologie, Naturkatastrophen, Flüchtlingsströme, Piraterie, Konsum und Tourismus ergänzen die politischen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Perspektiven auf Meer und Schiff und rücken den aquatischen Naturraum in allen wissenschaftlichen Disziplinen in den Vordergrund, fordern historische Reflexion und finden künstlerische Resonanz. Auffallend sind in jüngster Zeit die zahlreichen facettenreichen kulturhistorischen und interdisziplinären Annäherungen an das Meer. So z. B. Holger Afflerbachs Abhandlung Das entfesselte Meer, Die Geschichte des Atlantik (2003), die von Alain Cabantour herausgegebene Aufsatzsammlung zur landschaftlichen Aneignung und zum Dualismus von Meer und Gebirge, Mer et Montagne dans la culture européenne (XVIe–XIXe)(2011), die von Nicole Hegener und Lars Uwe Scholl zusammengeführten Perspektiven Vom Anker zum Krähennest, Nautische Bildwelten von der Renaissance bis zum Zeitalter der Fotografie (2011) ebenso wie der von Alexander Kraus und Martina Winkler veröffentlichte Sammelband Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert (2014) oder Dieter Richters Kompendium Das Meer, Geschichte der ältesten Landschaft (2014).88 Das große Interesse gerade zeitgenössischer Künstler an Meer und Schiff zeigen nicht nur regelmäßig die Exponate der internationalen Kunstschauen und Biennalen, sondern demonstrierten auch eindrucksvoll thematische Gruppenausstellungen, wie etwa Sehfahrt 1997, Seestücke. Von Max Beckmann bis Gerhard Richter und Fish & Ships 2007 in Hamburg, Dark Waters 2014 in Paris, Havet – Det andet landskab2014/15 in Odense oder Über Wasser. Malerei und Photographie von William Turner bis Olafur Eliasson 2015 in Hamburg.89 Nachhaltig belegen die Exponate internationaler Künstler, wie die zeitgenössische Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts das Seestück geradezu revolutioniert, aktuelle Perspektiven auf Meer und Schiff thematisiert, neu assoziiert, dabei aktiv historische Bezüge aufgreift und hinterfragt, traditionelle oder neue Techniken auslotet, wie etwa Videokunst, Performances, digitale Medien oder Installationen nutzt, andere Materialien einsetzt, wie etwa Stahl, Glas, Stoff oder gar Nahrungsmittel, und damit vollständig neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten und Aussagen findet.

Das stetig zunehmende Interesse – und der Spaß – an maritimen Sujets in der internationalen Ausstellungslandschaft in den Kunstmuseen und -galerien, die aktueller wissenschaftlicher Forschung entspringen und auf großes Publikum treffen, korrespondieren nicht zuletzt auch mit jüngsten Investitionen in Museumsneubauten, wie etwa dem 2008 eröffneten Internationalen Maritimen Museum in Hamburg, dem 2009 eröffneten Museum Westküste auf der Nordseeinsel Föhr, das eine »Kunst der Küste« vom 19. bis zum 21. Jahrhundert zusammenbringt,90 dem 2013 in einem spektakulären Neubau wiedereröffneten M/S Museet for Søfart in Helsingør oder auch der wissenschaftlichen Neuausrichtung des Deutschen Schifffahrtsmuseums in Bremerhaven seit 2014. Auch an den Melbye Brüdern regt sich in jüngster Zeit bereits ein neues Museumsinteresse. Dieses spiegelt sich in Neuankäufen, wie z. B. 1999 für die Hamburger Kunsthalle, 2013 für das Statens Museum for Kunst in Kopenhagen oder 2015 für Ordrupgaard in Charlottenlund.91 Ebenso in der Annahme von Stiftungen, wie der Sammlung Christoph Müller im Pommerschen Landesmuseum Greifswald 2016, und zunehmend in öffentlichen Ausstellungsbeteiligungen. So waren Werke der Melbye Brüder z. B. jüngst in den Schauen Seestücke. Von Caspar David Friedrich bis Emil Nolde 2005 in Hamburg, Der Mond2009/10 in Köln und Houston, Kunst, Küche und Kalkül, Carl Friedrich von Rumohr (1785–1843) und die Entdeckung der Kulturgeschichte 2010 in Lübeck, Pissarro – Vater des Impressionismus 2014/15 in Wuppertal, Havet – Det andet Landskab 2014 in Odense oder Kopenhagener Malerschule, Bilder und Studien aus der Nationalgalerie und der Sammlung Christoph Müller 2016 in Berlin zu sehen.92 Im kommenden Frühjahr 2017 widmet das Kunstmuseum Ordrupgaard Camille Pissarro und Fritz Melbye eine eigene Ausstellung. Auch die Forschung zu Anton Melbye soll unmittelbar über die Kunstwerke ihren Weg in die Öffentlichkeit und in einen neuen wissenschaftlichen Diskurs finden: mit Hilfe einer Webseite, die als Plattform vorbereitet wurde und vor allem ab Herbst 2017 durch die Ausstellung Melbye. Maler des Meeres, die im Altonaer Museum in Hamburg zum 200. Geburtstag des Künstlers etwa 60 ausgewählte Gemälde und ebenso viele Papierarbeiten präsentieren wird.93

Von Seestücken und Marinen – eine Begriffsbestimmung

»Anton Melbye Marinemaler« zeichnete der Künstler seine Briefe; als solcher wurde er adressiert von privater und offizieller Seite in Kopenhagen in den 1840er Jahren und darüber hinaus.94 Das dänische Conversations-Lexicon, das der Schullehrer Hans Ancher Kofod 1816 bis 1828 in 28 Bänden in Kopenhagen herausgab, kannte weder einen dänischen Begriff des Seestücks, der Seemalerei, der Marinemalerei noch des Marinemalers.95 Noch 1838 beschrieb der dänische Kunstkritiker Karsten Friis Wiborg die Seestücke von Eckersberg, mit denen ab etwa 1820 eine dänische Tradition maritimer Malerei beginnt, als »Fremstillinger af Søen« (Darstellungen der See).96 Kurze Zeit später, 1841, tauchten bereits die Begriffe »Sømalerierne« (Seemalerei), »Søstykker« (Seestücke) und »Marinemalerier« (Marinemalerei) in Wiborgs Kunstkritik auf. Eine Unterscheidung in Bilder des Meeres als Seestücke und Bilder des Meeres mit Schiffen als Marinemalerei, die der Kritiker 1841 zunächst vorschlug, hielt er in seinem Text jedoch nicht durch.97 Etymologisch rekurrierten die dänischen Begriffe auf die holländischen Termini »zeestukken« (Seestücke) und »zeeschilder« (Seemaler), wie sie sich mit der Entwicklung der Bildgattung des Seestücks in der barocken niederländischen Malerei seit dem 17. Jahrhundert etabliert hatten.98 Noch 1868 beschrieb die holländische Enzyklopädie Algemeene Nederlandsche endyclopedie voor den beschaafden stand den Begründer der französischen Tradition maritimer Malerei, Claude Joseph Vernet, mit diesen Begriffen.99

Im Französischen hingegen bildeten sich mit Vernet seit dem 18. Jahrhundert die Bezeichnungen »peintre de marine« (Marinemaler) und »marine« (Marine) heraus, die mit der Vorbildrolle der französischen Kunst den europäischen Sprachgebrauch nachhaltig beeinflussten. In seiner Schrift Elemens de perspective pratique à l’usage des artistes, suivis de reflexions et conseils à un élève sur la peinture et particulièrement sur le genre du paysage setzte Pierre-Henri de Valenciennes 1799 diese Begriffe ein, die in der deutschen Ausgabe 1803 mit »Marinemahler« und »Seestück« übersetzt wurden.100»Obwohl die Seestücke unter die Landschaften überhaupt gehören, so haben sie doch so viel Wesentliches an sich, dass sie ein ganz eigenes Fach ausmachen«, leitete Valenciennes seine Abhandlung ein und lieferte statt einer Definition eine ausführliche Beschreibung aller möglichen Bildelemente (Wasser, Figuren, Schiffe, Häfen, Küstenlandschaften, Riffe etc.) und Sujets (Seesturm, Schiffbruch, Seeschlacht, Hafenansicht, die windstille See, das Meer im Sonnenlicht, im Nebel oder im Mondschein etc.), die gleichsam einen Motivkanon des Seestücks bildeten.101 Das Pariser Dictionnaire universel des sciences, des lettres et des arts definierte 1854 »Marines« (Marinen) als »Zeichnungen und Malerei, die maritime Objekte und Szenen darstellen.«102 Eine begriffliche Differenzierung in Abhängigkeit der Darstellung von Schiffen oder nicht, wie sie Wiborg 1841 angedeutet hatte, findet sich im Französischen nicht.103 Erst der Begründer des französischen Realismus, Gustave Courbet, grenzte seine Seestücke, die er ab Anfang der 1850er Jahre malte und in denen er sich auf die Naturerscheinung des Meeres konzentrierte, mit der Bezeichnung »paysage de mer« (Meereslandschaft) aktiv von der französischen Tradition maritimer Malerei ab.

Im Dänischen trennte Wiborg in einer Kunstkritik 1844 die Sujets »Søstykker« und »Kystpartier« (Küstenansichten), verwendete dann aber einheitlich den Begriff »Søstykker«.104 Einen Nachtrag dazu mit ganz ähnlichen Kunstwerken überschrieb er als »Marinemaleri«. Etwa zeitgleich schrieb der Kunstkritiker Peder Ludvig Møller in einer Ausstellungskritik 1842 in der Kopenhagener Zeitschrift Nye Intelligensblade ausschließlich von »Søstykkerne« und »Sømaleriet« und die dänische Tageszeitung Berlingske Tidende bezeichnete Melbye 1843 als »genial Sømaler« (genialen Seemaler).105 Der dänische Kunsthistoriker Philip Weilbach, der ab 1877 das Standardnachschlagewerk dänischer Künstler herausgab, substituierte 1867 in einer Kunstkritik in der Kopenhagener Tageszeitung Faedrelandet frei die Termini »Sømaleriet«, »Marinemaleriet«, »Søstykke«, »Søbilleder« (Seebilder), »Marinemaler« und »Sømaler«.106 Tatsächlich belegt der zeitgenössische dänische Alltagssprachgebrauch, wie ihn zahlreiche Schriftquellen spiegeln, dass die Begriffe nahezu willkürlich verwendet wurden, wobei die Bezeichnungen »Søstykken« für das Kunstwerk, »Marinemalere« für den Künstler und »Sømaleriet« als Gattungsbegriff üblich wurden. Das in Kopenhagen herausgegebene Nordisk Conversationslexikondefinierte 1861 den Artikel »Marine«: »nennt sich eine Seemacht des Staates, mit allem was dazu gehört. Marinemalerei beschäftigt sich mit der Darstellung der Küsten, des Meeres und der Gegenstände, die sich dort befinden; ihrem ganzen Charakter nach ist sie ein Teil der Landschaftsmalerei.«107 Auch Dänemarks großes Konversationslexikon, Salmonsens store illustrerede Konversations-leksikon, en nordisk Encyklopædi, verwies noch 1901 für den Begriff »Marinemaleri« auf den Begriff »Sømaleri« und dort wiederum auf den Artikel »Sø- og Landskabsmaleri«. 1906 definierte das Lexikon: »Seemalerei (Marinemalerei) hat sich allmählich als selbständiges Fach von der Landschaftskunst getrennt. Nach ihrer Natur ist die Unterscheidung dieser zwei Fächer aber so geringfügig, dass eine Abgrenzung zufällig und willkürlich bleibt.«108

Während im Dänischen dem Begriff der Seemalerei der Vorzug gegeben wurde, setzte sich im Deutschen im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend der Terminus »Marinemalerei« durch. Zunächst verankerte sich im 18. Jahrhundert auch im deutschen Sprachgebrauch die Bezeichnung »Seestück«, wie es die kunsttheoretischen Texte von Christian Ludwig von Hagedorn 1762 oder Christian Ludolph Reinhold 1786 spiegeln, die sich mit der barocken niederländischen Malerei auseinandersetzten und für das Seestück ebenfalls eine enge Verbindung zur Landschaftsmalerei zogen.109 In Paragraph 84 »Von den Seestücken« setzte Reinhold die Bildgattungen gleich: »Eine offene See mit schwimmenden Schiffen, wovon eines hierhin, das andere dorthin zu seegeln scheinet, stellet nichts weiter vor als eine alltägliche Landschaft, worauf sich Häuser, Bäume und Berge befinden.«110 Clemens Brentano und Achim von Arnim beschrieben Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer (1808–1810) als eine radikale Gefühle auslösende »Seelandschaft«.111 Aus dem Französischen fanden parallel die Begriffe »Marine« und »Marinemaler« Eingang ins Deutsche, wie bereits 1803 in der oben genannten Übersetzung von Valenciennes’ Schrift. So z. B. auch 1843 im Ausstellungskatalog des Hamburger Künstlervereins112 oder 1845 im ersten Band des in Leipzig herausgegebenen Conversations-Lexicon für Bildende Kunst. Dort hieß es zum Beispiel für den Düsseldorfer Künstler Andreas Achenbach: »hat sich als Landschafter, als Marine- und Architekturmaler hervorgetan. Bekannt sind seine Seestücke, Küstenstücke und Seegegenden.«113 Noch die vierte Auflage von Meyers Koversations-lexikon, die 1885 bis 1892 erschien, definierte »Marine (franz.), in der Malerei ein Seestück, Seebild, daher Marinemaler etc., s. Seestücke.«114 Das Seestück beschrieb die Enzyklopädie als »Gemälde, welche die See darstellen. Die See- oder Marinemalerei sucht entweder das Meer mit seinen wechselnden Erscheinungen an und für sich oder in seiner Verbindung mit dem Menschen und seinem Treiben darzustellen. Eine Abart ist das Strandbild, welches den Blick auf die See vom Land aus wiedergibt.«115 Das Brockhaus’ Konversationslexikon stellte in der 14. Auflage 1895 den Begriff »Marinemalerei« voran und definierte »Marinemalerei, Seemalerei, ein Zweig der Landschaftsmalerei, bringt Meer und Flüsse mit ihren wechselnden Erscheinungen bei Windstille und Sturm, dann in Verbindung mit Schiffen und Menschen, dem Getümmel des Hafentreibens, Seeschlachten u. dgl. zur Darstellung. Die Gemälde selbst heißen Seestücke.«116 Auch im Sprachgebrauch, wie ihn die zeitgenössischen Kunstkritiken spiegeln, erscheinen die Bezeichnungen »Marine« und »Seestück« gleichbedeutend. Wie die Definitionen der zitierten Nachschlagewerke belegen, fand auch im ausgehenden 19. Jahrhundert keineswegs eine begriffliche Abgrenzung zwischen einer maritimen »Landschaftsmalerei« als »Seemalerei« und einer vordringlich politisch motivierten »Marinemalerei« statt, wie heute retrospektiv vielfach angenommen.117 Boye Meyer-Friese betonte 1981, dass vor allem die Bezeichnungen »Marine« und »Marinemalerei« für die propagandistisch angelegten Bilder der wilhelminischen Kriegsmarine in Anspruch genommen wurden und sich die Begriffe auf diese Weise allgemein durchsetzten.118 Wie in der hier dargelegten Begriffsgeschichte sichtbar, besteht jedoch keine zwingende Ableitung. Die Termini wurden bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebrauch eingesetzt, noch bevor sich 1848 kurzzeitig erstmals eine deutsche Kriegsmarine gründete. Aus der deutschen Geschichte der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts heraus fällt es dennoch rückblickend schwer, Avantgardekünstler der klassischen Moderne, wie zum Beispiel Emil Nolde, Lyonel Feininger oder Max Beckmann, die sich eingehend künstlerisch mit Meer und Schiff auseinandersetzten,119 als Marinemaler zu bezeichnen. Politisch unverbrauchter, historisch älter und inhaltlich präzise hat sich hingegen der Begriff des Seestücks erwiesen, der dieser Studie im Titel vorangestellt ist. Der Duden DasFremdwörterbuchnahm noch 2005 den Begriff »Marine« als Fremdwort auf und erklärte: »1. Seewesen eines Staates, Flottenwesen; 2. Kriegsflotte, Flotte. 3. (Kunstwiss.) bildliche Darstellung des Meeres, der Küste od. des Hafens; Seestück.«120 Als eigenständiger Teil einer Landschaftsmalerei, die die Darstellung der Natur, des äußeren Erscheinungsbildes der Erdoberfläche zum Inhalt hat, konzentriert sich die Marine- oder Seemalerei in ihrer ursprünglichen Definition auf die maritime Landschaft, weshalb auch die Begriffe der »Meereslandschaft« oder »Küstenlandschaft« in dieser Studie wiederholt Anwendung finden, um diesen Aspekt zu betonen. Unpolitisch sind die Seestücke des 19. Jahrhunderts deswegen keineswegs, wie im Folgenden zu sehen sein wird. In Abgrenzung zum Schiffsporträt oder Kapitänsbild, das in erster Linie der porträthaften Darstellung und technisch-dokumentarischen Präsentation eines einzelnen Schiffes gilt,121 vernachlässigt das Seestück per definitionemniemals die maritime Natur.

Methode und Vorgehen

»Jeder kennt die Klage, die Beschäftigung mit der Biographie eines Künstlers drohe die mit seinem Werk zu verdrängen. Warum aber soll das bloße Werk für sich umstandslos wichtiger sein als das Individuum, das es schuf?«, fragte der Literaturwissenschaftler Wolfgang Matz 2007 in der Einführung seiner Studie, in der es um die großen Umbruchmomente der Moderne im 19. Jahrhundert geht, die sich, nach Matz, 1857 in den literarischen Werken von Flaubert, Baudelaire und Stifter manifestieren und nur in Verbindung mit ihren Schöpfern, in einem »historischen und biographischen Augenblick« vollständig erfassbar seien.122 In der kunsthistorischen Forschung erlebt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Person des Künstlers, seiner Identität und seiner (auto-)biographischen Darstellung aktuell eine neue Konjunktur.123 Die Beschäftigung mit »Leben und Werk«, wie sie im 19. Jahrhundert methodisch im jungen Fach der Kunstwissenschaft und in der Kunstkritik üblich wurde und in Künstlerbiographien als Einheit mit Werkkatalogen und -analysen oder in Autobiographien als künstlerische (Selbst-)Inszenierungen ihre Ausformung fand, geriet im 20. Jahrhundert in die Kritik als »Geschichtsschreibung großer Männer«. Der Annahme künstlerischer »Genialität«