Ariella Kaeslin – Leiden im Licht - Christof Gertsch - E-Book

Ariella Kaeslin – Leiden im Licht E-Book

Christof Gertsch

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Beschreibung

Ariella Kaeslin, geboren 1987, war das 'Schätzchen der Nation': Europameisterin, WM-Zweite, Olympiafünfte und dreimal 'Schweizer Sportlerin des Jahres'. Sie führte ein Leben im Scheinwerferlicht. In den Augen des Publikums war sie die Unzerstörbare, die zuerst die Entlassung des unmenschlichen Nationaltrainers durchsetzte und dann in der Weltsportart Turnen Erfolge feierte, obwohl sie älter und schwerer als ihre Konkurrentinnen war. Doch das, was die Öffentlichkeit sah, stimmte nicht. Ariella Kaeslin litt. Sie litt unter der Isolierung im nationalen Leistungszentrum in Magglingen, sie litt unter den Erwartungen des Publikums, und sie litt unter den Nachwirkungen des Mobbings, dem sie in Magglingen jahrelang ausgesetzt gewesen war. Als sie im Sommer 2011 unerwartet zurücktrat, begleitet von medialem Getöse und nur ein Jahr vor den Olympischen Spielen in London, erzählte sie von all dem nichts. Jetzt wagt sie den Tabubruch. Ariella Kaeslin erzählt, was es heisst, Turnerin zu sein und in einem Körper zu leben, der Frau werden will, aber Mädchen bleiben muss. Sie erzählt, wie es abseits des Scheinwerferlichts aussieht, auf der dunklen Seite des Monds.

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Christof Gertsch, Benjamin Steffen

Ariella Kaeslin – Leiden im Licht

Die wahre Geschichte einer Turnerin

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek   Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Titelabbildung: Ariella Kaeslin, November 2014. Foto © Simon Tanner   © 2015 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2015 (ISBN 978-3-03810-027-0).   Titelgestaltung: GYSIN | Konzept + Gestaltung, Chur Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.   ISBN E-Book 978-3-03810-116-1  www.nzz-libro.ch

Inhalt

Das erste Wort

Ihre Geschichte

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Ihre Bilder

Ihre Gespräche

Steff la Cheffe, Rapperin

Nadine Strittmatter, Model

Dina Burger, ehemalige Boxerin

Das erste Wort

Liebe Susi,

alles, was ich als Turnerin war, hat mit dir angefangen. Und vieles von dem, was ich als Turnerin konnte, habe ich bei dir gelernt.

Du warst die erste richtige Trainerin, die ich als Turnerin hatte. Und du bist die Trainerin, die am längsten mit mir gearbeitet hat, zehn Jahre lang.

Ich glaube, dass ich nie Europameisterin und Weltmeisterschaftszweite und Olympiafünfte geworden wäre, wenn ich dir nicht begegnet wäre. Vielleicht wäre aus mir nicht einmal eine richtige Turnerin geworden, wenn es dich nicht gegeben hätte.

Ist das gut? Ist das schlecht? Wäre es besser gewesen, wenn ich mir eine andere Sportart ausgesucht hätte? Oder wenn ich gar keinen Sport gemacht hätte und stattdessen normal zur Schule gegangen wäre und vielleicht ein Instrument zu spielen gelernt hätte?

Ein paar Jahre nach dem Ende meiner Karriere im Sommer 2011 fragtest du mich, ob ich dir böse sei. Du fragtest das, weil du nach meinem Abschied von dir im Sommer 2001 aus der Ferne hattest mitansehen müssen, wie ich litt. Ich litt, obwohl ich Erfolg hatte. Oder weil ich Erfolg hatte. Ich litt, weil ich den Erfolg wollte und alles mit mir machen liess.

Als du mich fragtest, ob ich dir böse sei, versuchte ich, dir eine Antwort zu geben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es mir gelungen ist, bis heute nicht. Vielleicht schaffe ich es mit diesem Buch.

Dieses Buch ist auch für dich. Es ist für dich und all die anderen Trainerinnen und Trainer. Für all die Kinder, die von einer Karriere im Sport träumen. Und für deren Mütter und Väter. Es ist für die Funktionäre in den Verbänden. Und für die Menschen, die den Sportlerinnen und Sportlern zujubeln. Die Menschen, die sich freuen, wenn wir auf dem Podest stehen und Medaillen bekommen – und die nicht wissen, dass auch Schatten ist, wo sie Licht sehen.

Liebe Susi, hast du dich auch schon gefragt, wozu Sport gut ist? Ich meine nicht den Sport, den wir betrieben haben, als ich noch klein war, den Sport, bei dem es um den Spass an der Bewegung und die Freude am Zusammensein geht. Ich meine den anderen Sport, den Sport, der darauf folgte. Ich meine den Sport, bei dem der Erfolg über allem steht. Den Sport, für den sich die Sportlerinnen und Sportler so lange schinden, bis sie sich im schlimmsten Fall selbst aufgeben.

Hast du dich auch schon gefragt: Wozu all das? Wozu Europameisterschaften, Weltmeisterschaften, Olympische Spiele? Wozu die Medaillen? Wozu die Berichterstattung über Sport?

Wenn die Antwort darauf ist, dass es den Spitzensport gibt, um dem Breitensport ein Vorbild zu sein, und dass es Spitzensportlerinnen und Spitzensportler gibt, um den Kindern Idole zu sein – wenn das die Antwort ist, will ich jetzt ein Vorbild sein. Wenn die Grossen dazu da sind, den Kleinen einen Traum in den Kopf zu setzen, will ich jetzt eine Grosse sein. Eine, die erzählt, wie sich ihre Geschichte wirklich abgespielt hat.

In diesem Buch ist jedes Wort wahr. Es erzählt die Geschichte einer Turnerin, die immer öfter gewann, sich selbst aber immer mehr verlor. Mit jedem Erfolg kannten sie mehr Menschen, nur sie selbst wusste immer weniger über sich.

Das ist meine Geschichte. So, wie ich sie erlebt habe. Und ich mache niemanden verantwortlich dafür, was geschehen und passiert ist. Ich bin allen Menschen dankbar, die mich auf meinem Weg unterstützt haben, auch all jenen, die in diesem Buch keine Erwähnung finden.

Die Geschichte aufgeschrieben haben die Journalisten Christof Gertsch und Benjamin Steffen. Sie haben mich und die Menschen um mich herum seit dem Ende meiner Karriere im Sommer 2011 begleitet – auch in den Phasen, als ich und sie dachten, dieses Buch würde nie erscheinen. Ich war mir lange nicht sicher, ob ich bereit sei, alles zu erzählen, was ich erlebt habe.

Jetzt bin ich es.

Ariella

Ihre Geschichte

Kapitel eins

… in dem erzählt wird, warum Ariella ein ungewöhnliches Mädchen war … und was es heisst, einen Traum zu jagen

1987–2001   Der Schmerz durchfuhr den kleinen Körper wie ein lauter Schrei. Auf einmal war er da, ohne Vorwarnung; er nistete sich ein, einer Plage gleich.

Die Turnerin hatte den Schmerz ebenso wenig kommen sehen wie das Missgeschick, das ihm vorausgegangen war. Die Möglichkeit, zu versagen, hatte keinen Platz gehabt in ihren Vorstellungen. Aus ihrem Gesicht sprach Leid, aber sie weinte nicht.

Millionen Augenpaare waren auf sie gerichtet. Die Augenpaare der Kampfrichter, Trainer und Teamkolleginnen, die Augenpaare der Zuschauer in der Halle und vor den Fernsehern auf der ganzen Welt.

Die Turnerin war 142Zentimeter gross und 37Kilo schwer, klein und leicht. Sie hatte die Landung verpatzt und sich den linken Fuss verknackst, und daher kam der Schmerz.

Das war beim ersten Versuch gewesen.

Und nun nahm sie tatsächlich noch ein zweites Mal Anlauf, 75Fuss oder 22,86Meter bis zum Pferdsprung, dem Gerät, auf das sie spezialisiert war, 75Fuss oder 22,86Meter – eine Unendlichkeit in diesem Augenblick. Jeder gewöhnliche Mensch hätte den Wettkampf unter diesen Umständen abgebrochen. Aber die Turnerin war kein gewöhnlicher Mensch, und es war kein gewöhnlicher Wettkampf. Es war der Team-Wettkampf bei den Olympischen Spielen. Es ging um Gold.

Um alles also.

Kein Wunder, dass es für die Turnerin nicht infrage kam aufzugeben. Sie hatte das Warnsignal gehört nach diesem Missgeschick, das sie ereilt hatte, aber sie ignorierte es. Vierzehn Schritte bis zum Pferdsprung, sieben mit dem linken Bein, sieben mit dem rechten. Sieben Mal knallte sie den linken Fuss in den Boden, sieben Mal Pein. Ein achtes Mal beim beidbeinigen Absprung vor dem Pferdsprung, ein neuntes Mal bei der Landung.

Neun Mal Pein.

Aber sie schrie nicht auf, höchstens innerlich. Sie riss sich zusammen.

Auf einem Bein, auf dem rechten, humpelte sie eine halbe Drehung um die eigene Achse, in Richtung des Kampfgerichts, und lächelte gequält; und noch ehe das Ergebnis feststand, 9,712 von 10 möglichen Punkten, fiel sie in die Knie und in sich zusammen. Auf den Knien krabbelte sie von der Matte, ein Häufchen Elend, und später liess sie sich auf den Armen ihres Trainers aufs Podest tragen.

Gold für das Häufchen Elend, das sich überwunden hatte.

Gold für die verletzte Turnerin, den Fuss in eine Schiene gelegt und einbandagiert, und ihre sechs Kolleginnen. Wieder versuchte sie zu lächeln, und der Trainer fuhr ihr durch die Haare. Es sah aus, als zwinge sie sich nur seinetwegen zu einem halbwegs fröhlichen Ausdruck.

Erleichterung machte sich breit, aber nicht nur im Publikum in der Halle in Atlanta, USA, sondern auch in der Schweiz, im Wohnzimmer eines Einfamilienhauses im Luzerner Haldenquartier, grosses Grundstück, prächtige Aussicht auf den Vierwaldstättersee, ein kleines Paradies.

Aber Ariella hatte nur Augen für den Fernseher.

Hatte nur Augen für die sieben Amerikanerinnen, «The Magnificent Seven», wie die Medien sie später tauften, und die unterlegenen Russinnen.

Hatte nur Augen für die verletzte amerikanische Turnerin, Kerri Strug.

Ariella war hingerissen. Nicht von der Qual, natürlich nicht, aber von dem Kampf, den Kerri Strug mit ihrem Körper geführt hatte. Ariella fühlte sich, als erfahre sie das Leid der Turnerin am eigenen Leib.

Es war Sommer 1996. Sie war knapp neun Jahre alt – aber so jung sie auch war, sie hatte bereits eine Ahnung, was es bedeuten konnte, die Schmerzen einer Turnerin zu empfinden. Sie war ein ungewöhnliches Mädchen, sie trainierte jede Woche viele Stunden und galt im Land als eine der besten Turnerinnen ihres Jahrgangs. Aber in diesem Moment sass sie auf dem Sofa in einem behütenden Berg aus Kissen und Decken und staunte einfach, zu welcher Leistung die kleinen Körper imstande waren.

Zügellose Energie, totale Aufopferung.

Ariella wusste nicht, dass sie selbst einmal in einem solchen Körper stecken würde, in einem Körper, der Frau sein wollte, aber Mädchen bleiben musste. In einem dieser Körper, die das professionelle Turnen forderte. Doch sie wusste, dass sie sich nichts lieber wünschte. Der Fernseher hatte einen Traum transportiert, und Ariella hatte ihn eingefangen. Es war der Traum von der Olympiateilnahme. Vielleicht hätte sie sich gegen den Traum, dem sie sich von da an immer ungestümer hingab, gewehrt, wenn sie geahnt hätte, was er ihr antun würde.

Aber sie lechzte nach Geschichten, wie sie die Zeitungen am Tag darauf erzählten, auch die Zeitungen in der Schweiz. Von einem hollywoodreifen Drama war die Rede, das sich im Georgia Dome in Atlanta abgespielt habe, vor 32048 mehrheitlich amerikanischen Zuschauerinnen und Zuschauern, vor dicken Vätern in grünen Poloshirts und braunen Kakihosen, vor dünnen Müttern in weiten Blusen und kurzen Jeans, der Saum ausgefranst. Weil Ariella Schulferien hatte, hatte sie viel Zeit, sich in die Berichterstattung zu vertiefen, so gut es in ihrem Alter eben ging. Sie mochte es, wenn sie Bilder von Turnerinnen in der Zeitung sah, die ihre Eltern abonniert hatten. Aber noch mehr mochte sie es, die Zeitung bis zu den Resultatspalten durchzublättern. Dort stand:

Turnen. Mannschaften Frauen, Final-Kür: 1. USA (Borden, Phelps, Chow, Miller, Dawes, Moceanu, Strug) 389,225Punkte. 2. Russland (Kusnetsowa, Liapina, Groschewa, Chorkina, Dolgopolowa, Kochetkowa, Galiewa) 388,404. 3. Rumänien (Loaies, Tugurlan, Gogean, Marinescu, Milosovici, Amanar) 388,246. 4. China 385,867. 5. Ukraine 385,841. 6. Weissrussland 381,263. 7. Spanien 378,081. 8. Frankreich 377,715. 9. Ungarn 377,464. 10. Australien 375,415. 11. Griechenland 371,291. 12. Japan 367,062.

Ariella sass beim Frühstück, den Kopf über die Zeitung gebeugt. Ihr gefiel die Schlichtheit, mit der sich ein Sportereignis nur anhand von Zahlen, Namen und Stichworten beschreiben liess, diese totale Abwesenheit von Firlefanz. Sie studierte die Rangliste rauf und runter, in einer für ein Mädchen mit ihrer Lebendigkeit wirklich erstaunlichen Gemütsruhe, und machte zwei Feststellungen.

Erstens: Die Schweiz war nicht im Final vertreten gewesen. Die einzige Schweizerin, die überhaupt zur Mehrkampf-Qualifikation angetreten war, hatte Platz 59 bei 104Teilnehmerinnen belegt.

Und zweitens: So weit weg ihr die Olympischen Spiele auch schienen und so wenig der Georgia Dome in Atlanta mit den Turnhallen in Luzern gemein hatte, die sie kannte – heruntergebrochen auf eine Rangliste in den Resultatspalten der Zeitung sah die fremde Welt wie die ihre aus.

Turnen. Kunstturnerinnentag in Basel. Die Resultate des BTV Luzern. Niveau 1: 2. Ariella Kaeslin 33,9. 7. Flavia Crameri 31,95. 13. Joy Studer 30,10. 21. Caroline Lustenberger 26,6. – Niveau 2: 1. Tabea Bürkli 36,9. 4. Lena Rüfer 34,95. 7. Melanie Schüwig 34,35. 8. Sara Bachmann 34,20. – Niveau 3: 5. Nina Bachmann 34,1. 8. Fabienne Meier 33,55.

So hatte es im Frühling davor, am 21.März 1995, auf der Frontseite des Regionalsportbundes der Luzerner Neusten Nachrichten gestanden. Ariellas Mutter hatte die Notiz herausgerissen und zu den anderen gelegt. Die Zeitungsausschnitte lagen in einer Kiste auf dem Boden in Ariellas Zimmer. Und bald sollten an der Wand über der Kiste Medaillen hängen, festgezurrt an einer Stange, Medaillen mit rot-weissen und Medaillen mit blau-weissen Bändeln, rechteckige Medaillen und runde, grosse und kleine, goldene und silberne und bronzene. Doch schon damals, als sie gerade erst vier oder fünf Medaillen gewonnen hatte, bedeutete Ariella die einzelne Medaille wenig. Sie empfand die Medaillen als etwas, das aus der Vergangenheit berichtete.

Im Sport zählt nur, was in der Zukunft liegt.

Ariella wollte als Turnerin zu den Olympischen Spielen. Dieser Traum verlangte von ihr, dass sie sich auf die Zukunft konzentrierte. Der Traum mochte aus dem Nichts über sie hereingebrochen sein, aber es war nicht so, dass sie sich überrumpelt vorgekommen wäre. Es war eher so, dass sie auf den Traum gewartet hatte – ohne genau zu wissen, was er enthalten würde. Denn Ariella war Turnerin, seit sie sich entsinnen konnte. Sie war zur Turnerin geboren.

Sie war fünf Monate alt, als sie ihre ersten Stehversuche wagte. Und sie war acht Monate alt, als sie ihre ersten Schritte ging.

Sie begann gleichzeitig wie andere Kinder oder nur unmerklich später zu reden, aber viel früher als andere Kinder zu laufen. Ihr Körper wollte, was der Kopf noch gar nicht nachzuvollziehen fähig war.

Weil ihr Vater, ein Zahnarzt, ganztags arbeitete, kümmerte sich die meiste Zeit ihre Mutter um sie, eine Pädagogin, die ihren Job bald kündigte und Hausfrau wurde. Der Vater hiess Rolf, die Mutter Heidi.

Es fiel der Mutter nicht schwer zu erkennen, dass Ariella ein Bewegungstalent war. Niemandem wäre das schwergefallen. Ariella kletterte in der Küche auf die Ablage und im Esszimmer auf die Anrichte, und sie hievte sich im Wohnzimmer auf die Rückenlehne des Sofas. Wenn sie zu Boden fiel, lachte sie vor Aufregung. Sie verhielt sich, als gehörte die Welt, die sie gerade aufspürte, ihr. Sie erkundete sie mit einem Eifer, dass es für alle, die ihr zusahen, eine Freude war – selbst für ihre Mutter, die sich zuerst Sorgen machte, aber bald merkte, dass ihrer Tochter die paar Schrammen, die sie sich bei ihren Entdeckungen holte, nicht schadeten. Ihre Tochter hatte einen Drang. Den Drang nach Bewegung.

Er war einfach da. Kaum steuerbar, nicht bremsbar.

Um ihm nachzugeben, genügte Ariella in den Anfängen ein Ausflug auf das Dach des Holzhauses auf dem Spielplatz, von wo aus sie die anderen Kinder beobachtete, wie sie am Boden herumkrabbelten und sich von ihren Eltern in die Schaukel heben liessen. Wenn ihre Mutter sie suchte und dort oben sah, wie sie mit frechem Blick die Aussicht genoss, fragte sie sich manchmal, wie Ariella ihr schon wieder hatte entwischen können.

Aber eigentlich kannte sie die Antwort. Ariella war zügellos und unermüdlich, und sie war ungeduldig. Sie war eine, die es eilig hatte. Schon bei der Geburt. Ihre Mutter war drei Stunden im Spital gewesen, als Ariella am 11.Oktober zur Welt gekommen war, an einem Sonntagmittag des Jahres 1987. Später pflegte ihre Mutter im Spass zu sagen, dass sie pünktlich zum Nachmittagstee wieder hätte daheim sein können.

Ariella war das erste von zwei Kindern der Kaeslins, ein Mädchen, das manchmal lieber ein Junge gewesen wäre. Sie spielte nie mit Puppen und trug die Haare kurz, wie aus Protest. Sie war eine Draufgängerin. Und ein Dickkopf. Wenn ihr nicht gefiel, was ihr zum Anziehen hingelegt wurde, wühlte sie sich selbst durch den Kleiderschrank und hinterliess ein einziges Durcheinander. Und wenn sie sich danach zum Frühstückstisch begab und dem gespielt vorwurfsvollen Blick ihrer Mutter begegnete, tat sie, als wäre nichts. Ariella war keine, die sich viel sagen, geschweige denn von etwas zurückhalten liess. Nicht als Kind. Und nicht als Turnerin.

Nicht als Kindersportlerin.

Ariella wurde Turnerin, als sie knapp vier Jahre alt war, im Spätsommer des Jahres 1991. Zuvor hatte ihre Mutter zwei erfolglose Versuche unternommen, dem Drang ihrer Tochter nach Bewegung gerecht zu werden: einmal mit Muki-Turnen, einmal mit Ballett. Beide Kurse hatten Ariella Spass gemacht, aber beide hatten ihr zu wenig Aufregung geboten. Ihre Mutter, eine ehemalige Sportlerin, Schweizer Meisterin im Rollschuhlaufen und Europameisterin im Wasserskifahren, hörte sich um auf der Suche nach einem Verein, der für Kleinkinder über ein einigermassen strukturiertes Angebot verfügte. Sie bekam lauter Absagen, ausser vom BTV Luzern, einem Turnverein. Sie fragte ihren Mann, auch er ein ehemaliger Sportler, Schweizer Meister im Wasserskifahren, was er davon halte.

Ariellas Vater sagte: «Mach du, entscheide du. Du tust das Richtige.» Er war stolz auf sein Mädchen und ihre Talente, und er war ihr eine Stütze, wann immer sie ihn brauchte. Aber solche Entscheidungen überliess er der Mutter.

Die Mutter hatte eine Vorstellung davon, was es bedeuten konnte, Kindersportlerin zu sein. Sie war selbst nie Kindersportlerin gewesen, weil der Sport in ihrer Kindheit keine Priorität gehabt und sie erst spät zum Rollschuhlaufen und noch später zum Wasserskifahren gefunden hatte. Doch sie ahnte, dass sich dahinter eine Welt verbarg, die ihre eigenen Regeln hatte. Eine Welt, die sich nicht reinreden liess und selbst von einer Mutter kaum zu kontrollieren war.

Die sogenannten Kindersportarten bauen auf die Beweglichkeit und die Biegsamkeit des Körpers und die Wendigkeit der Sportlerin. Je jünger der Körper, desto beweglicher und biegsamer ist er. Und je jünger die Sportlerin, desto wendiger ist sie. Typische Kindersportarten sind Eiskunstlaufen, Rhythmische Gymnastik, Wasserspringen, Turnen. Im Kindersport werden kleine Menschen zu Sportlern – oft in einem Umfeld, das den Kindern das Kindsein erschwert und zumindest teilweise fragwürdige leistungssportliche Methoden pflegt. Manche Kinder haben das Glück, dass sich Menschen um sie kümmern, die den Sport mit spielerischen Aspekten zu vermitteln versuchen und Wert darauf legen, dass die Kinder schrittweise an die Herausforderungen herangeführt werden. Aber so ist es längst nicht in allen Fällen. Eine der zentralen Eigenschaften von Kindersportarten ist, dass Sportlerinnen ihre besten Leistungen erreichen, ehe sie volljährig sind, mitten in der Pubertät.

Ariella hatte einen Drang.

Die Mutter hatte eine Vorstellung davon, was es bedeuten konnte, Kindersportlerin zu sein.

Und der Vater hatte gesagt: «Mach du, entscheide du. Du tust das Richtige.»

Das Richtige?

Was war das Richtige? Das war die Frage.

Die Zukunft ein Rätsel.

Die Mutter wusste nicht, was das Richtige war. Musste sie vom Schlimmsten ausgehen, nur weil sie eine Ahnung davon hatte, was es bedeuten konnte, Kindersportlerin zu sein?

Was war: das Schlimmste?

Oder musste sie auf Ariella hören, die sich langweilte und einen Drang hatte? Sollte sie selbst entscheiden – oder sollte sie Ariellas Drang entscheiden lassen?

Was ist wichtiger: Der Drang des Kindes? Oder die Sorgen der Mutter?

Was ist das Richtige?

Ariella war keine, die sich viel sagen liess.

Aber wäre Ariella selbst auf die Idee gekommen, Turnerin zu werden?

Soll eine Mutter ein Kind aufhalten, nur weil allenfalls ein Unglück droht, allenfalls, vielleicht, womöglich? Oder muss das Kind die Erfahrung, nach der es lechzt oder nach der es zu lechzen scheint, selbst machen – selbst wenn es von der Erfahrung allenfalls ins Elend gestürzt wird, allenfalls, vielleicht, womöglich?

Ariella hatte einen Drang.

Die Mutter hatte eine Vorstellung davon, was es bedeuten konnte, Kindersportlerin zu sein.

Und der Vater hatte gesagt: «Mach du, entscheide du. Du tust das Richtige.»

Die Mutter brachte Ariella in die Turnerinnen-Riege des BTV.

Und die Geschichte nahm ihren Lauf.

Ein halbes Jahr später begegnete Ariella der Trainerin Susi Stettler. Oder Susi Stettler begegnete ihr.

Die Begegnung war ein Einschnitt in beider Leben.

Susi Stettler, oder Frau Stettler, wie Ariella sie noch lange nennen sollte, war selbst Turnerin gewesen. Sie hatte eine schöne, aber eher kurze Karriere gehabt, eine Karriere ohne Höhepunkte. Sie hatte sich mehr gewünscht für sich selbst, und weil das nicht mehr möglich war, wünschte sie sich mehr für ihre Turnerinnen. Sie hatte schon in den 1980er-Jahren, unmittelbar nach ihrem Rücktritt, als Trainerin gearbeitet, ein paar ihrer Mädchen hatten es bis zu den Sichtungstests für das Nationalkader der Juniorinnen geschafft. Aber sie fragte sich immerzu, ob das alles gewesen war. Sie fragte sich, ob es möglich wäre, alle Aspekte des Turnens zu vereinen, die ihr wichtig waren. Frau Stettler wollte mit ihren Mädchen Erfolg haben, aber sie wollte ihnen auch Freude vermitteln. Und sie wollte auf gar keinen Fall, dass sich die Mädchen verletzten.

Erfolg, Freude, Gesundheit – geht das zusammen?

Ja, meinte Frau Stettler.

Frau Stettler war gross gewachsen und schlank, gleichzeitig erstaunlich kräftig, 28Jahre alt. Man sah ihr an, dass sie viele Stunden des Trainings in ihren Körper investiert hatte. Ihr Gesicht war gezeichnet von einer besonderen Mischung aus feinen und harten Zügen. Sie strahlte eine Durchschlagskraft aus, wie sie sich nicht erarbeiten lässt.

Bevor sie im Frühling des Jahres 1992, nach einer Auszeit als Trainerin, zurück in die Turnhalle kam, stellte sie sich eine Regel auf: Sie wollte wieder Trainerin sein, aber unter der Bedingung, dass sich Mädchen finden liessen, die nicht immerfort motiviert werden mussten. Mädchen, die ihr ähnlich waren. Mädchen also, die Lust darauf hatten, etwas härter zu trainieren, etwas besser hinzuhören, etwas ehrgeiziger zu sein. Mädchen, die die Energie aufbrachten, Frau Stettlers Erwartungen standzuhalten.

Die Verantwortlichen im BTV Luzern hatten Frau Stettler seit Monaten gedrängt, eine Gruppe zu übernehmen. Doch sie hatte sich geziert, genauer: Sie hatte kein Mädchen gesehen, dessen Voraussetzungen ihrer Vorstellung entsprachen.

Bis sie in der Turnhalle Ariella sah. Ariella war schlank, kräftig, zäh. Frau Stettler erkannte auf Anhieb, dass Ariellas Körper ein Körper war, der sich zum Körper einer Turnerin formen liesse. Sie hatte einen Blick dafür, darauf war sie stolz. Und es war nicht nur der Körper, der sie beeindruckte, mit der Zeit war es auch Ariellas Charakter, der ihr auffiel, Ariellas Dickkopf.

Ariella und die anderen Mädchen standen Schlange vor dem Barren. Eines nach dem anderen absolvierte seine Übung und ordnete sich hinten ein. Nur Ariella nicht, sie hielt sich nicht an die Vorgaben. Sie turnte, und als sie fertig war, stellte sie sich vorne hin. Es gefiel ihr, was sie machte, und es war für sie das Selbstverständlichste auf der Welt, dass sie nicht warten musste, sondern gleich wieder an die Reihe kommen durfte.

Die Szene dauerte nicht länger als ein paar Minuten, aber mehr brauchte Frau Stettler auch nicht zu sehen. Von da an schaute sie immer öfter im Training vorbei, und immer öfter fragte sie die Mädchen: «Wer will heute mit mir trainieren?» Und sie freute sich, dass Ariella immer öfter zu denen gehörte, die die Hand in die Luft streckten und riefen: «Ich! Ich! Ich!» Frau Stettler bot sich als neue Trainerin an, und mit der Zeit bildete sich um sie herum eine Gruppe von zuerst zehn, acht und schliesslich noch sechs Mädchen, die mit ihr arbeiten wollten. Nur mit ihr.

Ariella war 4½-jährig, als Frau Stettler ihre Trainerin wurde.

Und Frau Stettler war, wie sich herausstellen sollte, eine herausragende Trainerin. Das hatten Ariella und die anderen Mädchen richtig eingeschätzt. So, wie man von den Mädchen sagte, dass sie talentierte Turnerinnen waren, konnte man von Frau Stettler sagen, dass sie eine talentierte Trainerin war. Ihre Hingabe war bekannt, und was sie nicht als Turnerin oder in Trainerkursen gelernt hatte, brachte sie sich fortan im Selbststudium bei. Je älter ihre Turnerinnen wurden und je komplizierter deren Übungen, desto öfter ging Frau Stettler am Abend nach dem Training nicht gleich ins Bett, sondern richtete sich am Küchentisch ein und holte nach, was sie tagsüber versäumt hatte: Sie arbeitete für die Schule, an der sie als Lehrerin angestellt war. Oder sie setzte sich aufs Sofa, was sie natürlich viel lieber tat. Und widmete sich nicht der Schule, sondern dem Turnen. Sie konnte stundenlang vor dem Fernseher sitzen und den professionellen Turnerinnen bei Wettkämpfen zusehen.