Artemisia Gentileschi - Susanna Partsch - E-Book

Artemisia Gentileschi E-Book

Susanna Partsch

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Beschreibung

Mit nur 23 Jahren wird Artemisia Gentileschi in die Kunstakademie in der männlich dominierten Kunstwelt von Florenz aufgenommen. Sie lebte und wirkte im 17. Jahrhundert in Rom, Florenz, Venedig, Neapel und London. Erst machten Kunsthistoriker aus ihr eine frivole Schönheit, dann wurde sie von einigen Kunsthistorikerinnen als Feministin bezeichnet, die ein schweres Schicksal trug. Diese Thesen geistern bis heute durch die Literatur – und werden hier zurechtgerückt. Über die lange in Vergessenheit geratene Barockmalerin Artemisia Gentileschi, die inzwischen mit großen Einzelschauen in den wichtigsten Museen der Welt gewürdigt wird, ist auf Deutsch schon länger nichts mehr erschienen. Die Kunsthistorikerin und Bestsellerautorin Susanna Partsch schreibt nun anhand von kürzlich publizierten Dokumenten und Quellen die aufregende Vita der Künstlerin in Teilen neu.

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„Ich arbeite schnell und ununterbrochen“

Artemisia Gentileschi, 1649

Cover

Titel

Impressum

Intro

I Rom um 1600

Stadt der Künste, Künstlerwettstreit in der Cerasi-Kapelle, Irdische gegen himmlische Liebe, Amor als Sieger

II Kindheit und Jugend in Rom

Die Eltern, Die Ausbildung zur Malerin, Die Biografie von Cristofano di Ottaviano Bronzini, Susanna und die beiden Alten, Frühe Aktbilder

III Der Prozess

Agostino Tassi, Die Wohnungen der Gentileschi, Der Stupro, Artemisias Zeugenaussage, Dichtung oder Wahrheit

IV Artemisia in Florenz

Die geplante Hochzeit, Leben in Florenz, Geldgeschäfte, Florentiner Kontakte, Francesco Maria Maringhi, Die erfolgreiche Malerin, Aufnahme in die Accademia del Disegno, Judith enthauptet Holofernes, Die anderen in Florenz entstandenen Bilder, Florenz – Prato – Rom

V Rückkehr nach Rom

A quello che tanto amo – Die Briefe an Francesco Maria Maringhi aus Rom, Das Verschwinden von Pierantonio Stiattesi, Römische Künstlerkontakte, Römische Auftraggeber, Bannerträger und Damen der Gesellschaft, Judith und ihre Magd

VI Venedig

Artemisias Kontakte zu Künstlern, Artemisias Kontakte zu literarischen Zirkeln, Antoine de Ville, In Venedig gerühmte und entstandene Bilder, Esther vor Ahasver, Venezianerinnen, Familienbande und angebliches Liebesleben

VII Neapel

Die Anfänge in Neapel, Die Briefe an Cassiano Dal Pozzo, Besuch aus dem Norden, Königliche, kirchliche und fürstliche Aufträge, Artemisias Werkstatt in Neapel, Artemisias Korrespondenzen, Ruhmreiche Gedichte auf Artemisia und ihre Bilder

VIII Zwischenspiel London

Im Dienste Ihrer Majestät, Der Vater, Die Bilder für den englischen Hof, Die Allegorie der Malerei, Im Dienste der katholischen Kirche

IX Rückkehr nach Neapel

Don Antonio Ruffo, Bathseba, Die letzten Bilder, Die Werkstatt, Leben und Sterben in Neapel

X Nachleben

XI Es werden immer mehr – Künstlerinnen der Barockzeit

Künstlerinnen der Barockzeit, Die Stilllebenmalerin – Giovanna Garzoni, Diana de Rosa, Anna Maria Vaiani und Virginia Vezzi

XII Literarische, filmische und künstlerische Rezeption

Nachwort

Anmerkungen

Personenverzeichnis

Liste der im Text genannten Bilder von Artemisia Gentileschi

Abbildungsverzeichnis

Bildnachweis

Literatur

Die Autorin

Intro

„Einen kämpferischen Geist im Herzen einer Frau“

Artemisia Gentileschi, 1649

Judith enthauptet Holofernes, um 1613/14, Detail

„Ma questa è la donna terribile“, schrieb der italienische Kunsthistoriker Roberto Longhi 1916 in dem ersten, Artemisia Gentileschi gewidmeten kunsthistorischen Aufsatz. Bezogen war dieser Satz allerdings nicht nur auf die Malerin, sondern vielmehr auch auf das Bild, das sie gemalt hatte: Judith enthauptet Holofernes (Farbtafel 5) war noch nie so gewalttätig und so kaltblütig dargestellt worden – und das auch noch von einer Frau! Doch wollte Longhi damit wirklich sagen, dass Artemisia Gentileschi eine furchterregende Frau war? Wollte er nicht eher darauf hinweisen, wie außergewöhnlich sie war? Denn auch das kann das italienische Wort terribile bedeuten.

Roberto Longhi kommt das Verdienst zu, einen ersten wissenschaftlichen Aufsatz über die Malerin geschrieben zu haben, die im 17. Jahrhundert in Rom, Florenz, Venedig, Neapel und London gelebt und gewirkt hatte. Doch noch lange danach gehörte sie weiterhin zu den vergessenen Künstlerinnen in einer männlich dominierten Welt. So schrieb 1970 ein namhafter Kunsthistoriker in einem Standardwerk der Kunstgeschichte über das Rom im 17. Jahrhundert: „Wer der Malerin Artemisia Gentileschi vorgestellt zu werden das Glück hatte, lernte eine skandalumwitterte Schönheit kennen.“1 Der Katalog einer großen Kunstbibliothek verzeichnet von 1915 bis 1970 zwanzig Einträge, heute sind sie auf etwa 350 angewachsen.

Nach dem Aufsatz von 1915 blieb es also weiterhin still um die Malerin, daran änderte sich auch nichts, als die mit Longhi verheiratete Kunsthistorikerin Lucia Lopresi unter dem Pseudonym Anna Banti 1947 einen Roman über Artemisia veröffentlichte, der 1992 (!) auch auf Deutsch erschien. Doch in den 1970er-Jahren begannen vor allem US-amerikanische Kunsthistorikerinnen nach vergessenen Künstlerinnen zu suchen, und es stellte sich heraus, dass es doch eine größere Anzahl an Frauen gegeben hatte, die künstlerisch tätig gewesen waren als angenommen. Sie waren zu Lebzeiten und darüber hinaus bekannt gewesen, aber dann von den männlichen Kunsthistorikern mit Nichtachtung gestraft worden, da es Frauen angeblich an Kreativität mangelte.

Judith enthauptet Holofernes wurde zuvor nie so gewalttätig und kaltblütig dargestellt.

In den letzten Jahrzehnten wurden viele Künstlerinnen wiederentdeckt, und auch über Artemisia Gentileschi haben neue Archivfunde Erstaunliches zutage befördert, so eine zeitgenössische Biografie und eine aus dem 18. Jahrhundert, den Heiratsvertrag, Artemisias Finanzgebaren in Florenz und die Liebesbriefe an den Florentiner Bankier Francesco Maria Maringhi. Sie bestätigen ihr Selbstbewusstsein als Malerin, das sich allein schon in der Äußerung einem ihrer Mäzene gegenüber ausdrückt, dem sie 1649 versicherte, er finde bei ihr „einen kämpferischen Geist im Herzen einer Frau“.2 Damals war sie 55 Jahre alt und blickte auf ein reiches Leben zurück – und auf ein großes malerisches Werk, das nicht nur zu ihren Lebzeiten viel Beachtung fand. Erst die Kunsthistoriker machten eine frivole Schönheit aus ihr. Aus dieser Schublade haben sie die Kunsthistorikerinnen wieder befreit. Allerdings haben einige von ihnen sie zu einer Feministin gemacht, die an einem grausamen Schicksal trug, das sie mit ihren Bildern versuchte zu verarbeiten. Dieses Artemisia-Trauma geistert bis heute durch die Literatur und verstellt den Blick auf die hervorragende Malerin, die Aufträge von den großen europäischen Herrscherhäusern erhielt. Sie malte vor allem Historienbilder und entwickelte für das damals so beliebte alttestamentarische Sujet Judith und Holofernes sogar eine neue Bildsprache. Zu Recht werden die Gemälde der „donna terribile“ in den Museen inzwischen an prominenter Stelle gezeigt und sind ihr in den letzten Jahrzehnten große Ausstellungen gewidmet worden.

I

Rom um 1600

„… denn Rom ist die Stadt, wohin vor andern Städten der Maler Reise geht …“

Karel van Mander, 1604

Stadtplan von Rom, 1577

Stadt der Künste

Als Artemisia Gentileschi 1593 geboren wurde, war Rom (Abb. S. 15) eines der wichtigsten künstlerischen Zentren Italiens. Der Neubau von Sankt Peter, 1506 begonnen, war immer noch nicht vollendet. Architekten, Bildhauer, Maler, Kunsthandwerker fanden dort nach wie vor ein großes Betätigungsfeld. Außerdem bereitete sich die Stadt mit weiteren Bauvorhaben auf das Heilige Jahr 1600 vor. Aus allen Teilen Italiens, aber auch aus anderen europäischen Ländern, wie den Niederlanden, Frankreich und den deutschsprachigen Gebieten, drängten Künstler: innen in die Heilige Stadt und bildeten ihre eigenen kleinen Kolonien. Sie lebten vorwiegend in dem relativ neuen Viertel, das von der Piazza del Popolo stadteinwärts führte. Es bildeten sich Freundschaften, gemeinsam geführte Werkstätten, aber natürlich auch Rivalitäten, die häufig zu Handgreiflichkeiten führten, was in vielen Fällen durch Prozessakten belegt ist. Diese Rivalitäten waren auch durch das Überangebot an Künstlern zu erklären. Außerdem war Rom dafür bekannt und berüchtigt, dass Diebe und Raufbolde ihr Unwesen trieben und Überfälle an der Tagesordnung waren. Hinzu kam ein lockerer Lebenswandel, der auch vor den Toren des Vatikans nicht haltmachte. Und so stellte der holländische Maler, Dichter und Kunstschriftsteller Karel van Mander in seinem 1604 verfassten Schilderboek (Malerbuch) die Gefahren dar, die in Rom auf die jungen Maler warteten: „Doch ich möchte euch vollends zum Reisen ermutigen, würde ich nicht befürchten, ihr würdet abirren; denn Rom ist die Stadt, wohin vor andern Städten der Maler Reise geht; sie ist das Haupt der Malerschulen, aber auch der rechte Platz, wo Verschwender und verlorene Söhne ihre Habe durchbringen. Es bleibt gewagt, der Jugend die Reise zu erlauben.“3 Und er fuhr fort, dass manch einer arm und beraubt aus diesem „Verräternest“ zurückkehrte. Des Weiteren warnte er vor „leichtfertigen Frauenzimmern“, die einem das ganze Leben ruinieren könnten.4

Im Jahr 1577, also kurz vor Artemisias Geburt, war das besiedelte Rom relativ klein. In der Nähe der Piazza del Popolo rechts im Bild befand sich das Künstlerviertel, in dem auch die Familie Gentileschi wohnte.1 Piazza del Popolo, 2 Augustusmausoleum, 3 Porto di Ripetta, 4 Pantheon, 5 Engelsburg, 6 Petersdom

Karel van Mander hielt sich vermutlich zwischen 1575 und 1577 in Rom auf. Er traf dort unter anderem auf seinen Landsmann Bartholomäus Spranger, hatte aber natürlich auch zu italienischen Künstlern Kontakt. Orazio Gentileschi wird nicht darunter gewesen sein, der als junger Mann irgendwann zwischen 1575 und 1578 nach Rom kam und wahrscheinlich erst dort zum Maler ausgebildet wurde. Zehn Jahre später gehörte Gentileschi zu den Künstlern, die die Bibliothek im Vatikan mit Bildern ausstatteten. Von 1593, also dem Jahr, in dem seine Tochter geboren wurde, stammt sein erstes bekanntes, eigenständiges Werk.5

1593 lebte auch der aus Caravaggio bei Mailand stammende Maler Michelangelo Merisi bereits in Rom und führte ab da seinen Geburtsort im Namen. Er arbeitete erst in der Werkstatt des damals führenden römischen Malers, Giuseppe Cesari, gen. Cavalier d’Arpino, und wurde ab 1594 von Kardinal Del Monte gefördert, in dessen Haus er auch eine Weile lebte. Cesari wiederum sorgte 1594 dafür, dass einer der bekanntesten Bologneser Maler, Annibale Carracci, nach Rom kam, um dort einen großen Auftrag auszuführen.

Viele der Künstler waren in der erst 1577 initiierten und 1593 gegründeten Accademia di San Luca organisiert. Lange hatten sie dafür kämpfen müssen, nicht mehr als Handwerker einer Zunft anzugehören, in der strenge Regeln herrschten. In Florenz gelang bereits 1563 die Gründung der ersten Akademie, Rom folgte erst 30 Jahre später. Jetzt galten die Künstler und die wenigen Künstlerinnen als Gelehrte und waren freier in ihrem Handeln. Regeln für ihre Ausbildung wurden allerdings auch hier festgelegt.

Durch die Akademie gab es erstmals ein Forum, in dem die Bilder der Künstler: rinnen ausgestellt wurden. Es entstand ein freier Markt, der Beruf des Kunsthändlers oder -agenten etablierte sich. Damit wurde aber natürlich auch die Konkurrenz befördert.

Hinzu kam, dass durch die vielen Künstler aus den verschiedenen Orten (und es waren tatsächlich hauptsächlich Männer, aber davon später) die unterschiedlichsten Stilmittel Verwendung fanden. Die Niederländer malten anders als die Franzosen, die Bologneser unterschieden sich von den Florentinern und vor allem von den Römern. Diese Gemengelage besaß ein kreatives Potenzial, durch das neue Ideen entstanden. Caravaggio zum Beispiel war nicht nur ein Meister im Chiaroscuro, also in der Hell-Dunkel-Malerei, sondern er malte die Heiligen nach Modellen, die er auf der Straße kennenlernte – Bettler, Diebe, Prostituierte, deren Gesichter man in den Bildern wiedererkannte. Und er malte sie mit nackten, dreckigen Füßen.6 Skandalös und faszinierend zugleich. Im Gegensatz dazu bediente sich der aus Bologna stammende Annibale Carracci einer ganz anderen Malweise. Mit seinen meist hellen Bildern in klaren, strahlenden Farben und einer seinen Gestalten innewohnenden andächtigen Frömmigkeit kam er zu vollkommen anderen Ergebnissen.

Künstlerwettstreit in der Cerasi-Kapelle

Die unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen faszinierten den Kunstsammler Vincenzo Giustiniani, einen Förderer Caravaggios. Als Berater des römischen Juristen und päpstlichen Schatzmeisters Tiberio Cerasi schlug er diesem vor, seine Grabkapelle in Santa Maria del Popolo von jenen beiden Künstlern ausstatten zu lassen. Im Sommer 1600 hatte Cerasi die Zusage der Augustiner erhalten, die links vom Chor gelegene Kapelle nutzen zu dürfen. Kurz darauf erhielt Annibale Carracci den Auftrag für die Deckenfresken und das Altarbild mit der Himmelfahrt Mariens (Abb. S. 18), am 24. September wurde dann Caravaggio beauftragt, die beiden seitlichen Gemälde mit der Bekehrung des heiligen Paulus (Abb. S. 19) und der Kreuzigung des heiligen Petrus auszuführen.

Cerasi erlebte die Vollendung seiner Kapelle nicht mehr, er starb bereits am 3. Mai 1601. Die Bilder waren zwar schon fertig, doch die Umbaumaßnahmen und die Ausstattung der Kapelle selbst dauerten an, sodass sie erst im November 1605 offiziell eingeweiht wurde. Die Bilder waren im Mai 1605 montiert worden und konnten jetzt den Wettstreit miteinander aufnehmen. Doch die dazugehörigen Hauptverantwortlichen fehlten. Der Auftraggeber, der wahrscheinlich stolz die Konfrontation der damals besten Maler in Rom hatte präsentieren wollen, lebte nicht mehr. Caravaggio verließ die Stadt noch vor der offiziellen Einweihung der Kapelle fluchtartig nach einem Streit, der für die Gegenseite tödlich endete und damit den Maler zum Mörder machte. Carracci hingegen hatte sich 1604 krankheitsbedingt aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

Auf dem Altarbild mit der Himmelfahrt Mariens von Annibale Carracci sind die Apostel Petrus und Paulus besonders prominent in Szene gesetzt.

Die Kreuzigung Petri und die Bekehrung des Paulus von Caravaggio rahmen bis heute Carraccis Altarbild in der Cerasi-Kapelle von Santa Maria del Popolo in Rom.

Natürlich wurde die Kapelle in der römischen Öffentlichkeit wahrgenommen, und auch heute noch kann man in der Cerasi-Kapelle von Santa Maria del Popolo die drei Werke betrachten. Bei der Himmelfahrt Mariens fallen die leuchtenden klaren Farben auf. Maria, in ein rotes Gewand gehüllt, das teilweise von ihrem blauen Mantel bedeckt ist, hat die Arme ausgestreckt und strebt dem Himmel entgegen, begleitet von Engeln, die sie nach oben tragen. Die Apostel blicken ihr nach. Exponiert am unteren Bildrand und größer als die anderen befinden sich Petrus in Blau mit gelbem Mantel und Paulus in Grün mit einem leicht ins Violette changierenden roten Mantel. Diese Farben übernahm Caravaggio zwar in seinen Bildern, sie leuchten aber nicht so wie bei Carracci, weil Caravaggio entgegen der im Auftrag formulierten Absprache, Zedernholz zu verwenden, es vorgezogen hatte, die Bilder auf Leinwand zu malen.

Das Gemälde der Kreuzigung des heiligen Petrus befindet sich auf der linken Seite der Kapelle und damit auch auf jener Seite, wo der Heilige in der Himmelfahrt dargestellt ist. Der ans Kreuz genagelte Petrus wird kopfüber aufgestellt, weil er nicht in derselben Position sterben wollte wie Christus. Sein nackter Oberkörper, das strahlend weiße Lendentuch und sein Gesicht sind von einer Lichtquelle beleuchtet, die sich außerhalb des Bildes befindet. Sie scheint von der Himmelfahrt Mariens zu stammen. Die Schergen, die das Kreuz aufrichten, bleiben im Schatten, das Gesicht des linken ist kaum zu erkennen, die Köpfe der anderen beiden nur von hinten zu sehen. Der Schmerz spiegelt sich im Gesicht des alten Petrus, der auf den einen Nagel starrt, der seine Hand durchbohrt hat. Die Muskeln der Schergen sind angespannt, sie brauchen all ihre Kraft, das Kreuz aufzurichten. Der blaue Mantel des Petrus liegt am Boden, die Kleidung der Schergen ist in Rot, Gelb und Grün gehalten.

Ebenfalls von der Himmelfahrt beleuchtet ist das andere Bild, das die Bekehrung des Saulus zum Paulus thematisiert. Der aus Tarsus stammende Saulus verfolgte die Anhänger von Jesus Christus, bis dieser ihm in einer Vision erschien. Überwältigt von dem Ereignis stürzte er vom Pferd, blieb drei Tage blind und wurde danach gläubig (sehend). Als Paulus wurde er zum ersten Missionar des Christentums. Caravaggio hat in seinem Bild den Moment eingefangen, als Saulus vom Pferd gestürzt ist und mit ausgebreiteten Armen auf seinem roten Mantel am Boden liegt. Seine Armhaltung entspricht der Mariens, es ist, also ob sie sich umarmen wollten und er damit Aufnahme in die Kirche erhielte. Das Licht bescheint auch den Körper des Pferdes, vom Stallknecht, der der Szene beiwohnt, sind nur die Beine und das verschattete Gesicht zu erkennen.

Auch wenn eine gewisse Konkurrenz mit Sicherheit zwischen den beiden Malern bestanden hat, so haben sie sich aber auch gegenseitig respektiert und geschätzt. Von Caravaggio ist unter anderem die Aussage überliefert, dass er Annibale Carracci für einen Meister ersten Ranges hielt. Das sagte er in einem Verhör, das 1603 stattfand, nachdem er im Gefängnis gelandet war. Der Verhaftung waren Streitigkeiten vorausgegangen, die im damaligen Rom auf der Tagesordnung standen und die so gar nicht zu den frommen Bildern passen wollen. In diesem Fall haben sich die Gerichtsakten erhalten, wodurch ein Bild der Rivalität überliefert ist, wie sie sich im damaligen Rom häufiger abspielte.

Irdische gegen himmlische Liebe

1601/02 hatte Caravaggio für Vincenzo Giustiniani das Bild eines Amors als Sieger (Abb. S. 26) gemalt, das einen nackten Jungen mit Flügeln zeigt. Die Pfeile in seiner Hand weisen ihn als Liebesgott aus. Auf dem Fußboden liegen Musikinstrumente und Notenblätter, außerdem Winkel und Zirkel, ein Lorbeerkranz sowie Teile eines sternenbesetzten Globus. Amor hat sein linkes Bein elegant auf ein Tuch gelegt, das über einem Bett oder einer Tischkante hängt. Dahinter sind noch Krone und Zepter zu erkennen, die Insignien der weltlichen Macht.

Kurz danach malte sein Widersacher Giovanni Baglione als Antwort auf diesen seine Nacktheit zur Schau stellenden Jungen das Bild Der himmlische Amor besiegt den irdischen Amor (Abb. S. 22) und schenkte es dem Bruder von Caravaggios Auftraggeber, dem Kardinal Benedetto Giustiniani, nachdem er es in der jährlich stattfindenden Ausstellung in der Kirche S. Giovanni Decollato gezeigt hatte. Für dieses Bild eines gerüsteten Engels, der einen wehrlosen Knaben mit seinem Flammenschwert bedroht, hatte Baglione vom Kardinal eine goldene Kette erhalten. Außerdem bekam er den Auftrag von den Jesuiten, eine Auferstehung Christi zu malen, die zu Ostern 1603 präsentiert wurde.

Für das Gemälde Der himmlische Amor besiegt den irdischen Amor erhielt Giovanni Baglione zwar eine goldene Kette, wurde aber von etlichen Malerkollegen verspottet.

Nur wenig später machten zwei Spottverse in Rom die Runde. Der erste von ihnen lautet:

„Giovanni ‚Krempel‘, Du hast keine Ahnung.

Deine Gemälde sind große Schmierereien [Weiberwerk]

Ich möchte sehen, wie Du mit ihnen auch nur einen Heller verdienst, um Dir (genügend) Stoff für ein Paar Hosen zu leisten.

So wird jeder Deinen Arsch sehen können.

Also trage Deine Zeichnungen und Kartons, die Du gemacht hast, zu Andrea, dem Wurstverkäufer, [damit er seine Salami darin einwickeln kann].

Oder wisch Dir den Arsch damit ab, oder stopfe der Frau von Mao [das ist Tomaso Salini]

(damit) die Fotze, damit er die Fotze, damit er sie mit seinem Maultierschwanz nicht mehr fickt.

Vergib mir Maler, wenn ich Dir nicht schmeichle, weil Du der Kette unwürdig bist, die Du trägst und der Malerei eine Schande“.7

Es sind deftige Worte, derer sich der Verfasser bediente, und im zweiten, längeren, Gedicht nimmt er ebenfalls kein Blatt vor den Mund, kritisiert wieder die Malweise von Baglione und spielt noch einmal auf die Kette an, die besser um seine Füße passen würde als um seinen Hals.

Einzelne Anspielungen sind erklärungsbedürftig. So wird in der ersten Zeile der Name Baglione in Bagaglia verändert, was Gepäck bedeutet oder eben wertloser Krempel. Dieser Begriff wird in drastischer Form auf seine Gemälde und Zeichnungen übertragen, um dann Bagliones Schüler und Mitarbeiter Tommaso Salini (Mao) und dessen Frau zu diffamieren. Salini gehörte dann auch im folgenden Prozess zu den wichtigsten Zeugen, war er es doch, der die Gedichte von dem Maler Filippo Trisegni erhalten hatte. Im Austausch hatte sich der junge Trisegni erhofft, dass Salini ihm bestimmte Maltechniken zeigen würde. Dann gäbe er auch die Namen der Verfasser preis. Doch dazu kam es nicht mehr, denn Salini zeigte die Gedichte Baglione, der daraufhin am 28. August 1603 Strafanzeige stellte. Am 11. September wurden Caravaggio, Orazio Gentileschi und Trisegni verhaftet und in zwei verschiedene Gefängnisse gesteckt, damit sie keine Absprachen treffen konnten. Caravaggio und Trisegni landeten im Carcere Torre di Nona, Gentileschi in demjenigen, das Corte Savella hieß.8

Der Prozess verlief im Sand. Gentileschi wurde als unschuldig entlassen und Caravaggio wenig später zu Hausarrest verurteilt. Doch die Verfasser der Spottverse konnten nicht ermittelt werden, zumal noch ein junger Mann an den Geschehnissen beteiligt war, den man nicht mehr befragen konnte, weil er am 6. September gestorben war.9 Auch wenn sich das alles nicht mehr ergründen lassen wird, bleiben die Aussagen von Gentileschi und Caravaggio interessant, weil sie ein Bild der damaligen Künstlerszene in Rom zeichnen.

Orazio Gentileschi wurde am 14. September verhört und erst einmal nach den in seinen Augen wichtigsten Künstlern Roms befragt. Daraufhin nannte er unter anderen den Cavalier d’Arpino, also Giuseppe Cesari, Annibale Carracci, Pomarancio, Caravaggio, Giovanni Baglione „und andere, an die ich mich nicht erinnere, die zur ersten Klasse gehören.“ Und dann fuhr er fort, als er nach seinem Verhältnis zu diesen Malern befragt wurde, dass er mit ihnen befreundet sei, es aber natürlich auch eine gewisse Konkurrenz zwischen ihnen gäbe. Als er das Bild eines Erzengels Michael in San Giovanni dei Fiorentini10 ausstellte, hing diesem genau gegenüber ein Gemälde von Giovanni Baglione, ein göttlicher Amor, „den er wiederum in Konkurrenz zu einem irdischen Amor von Michelangelo da Caravaggio gemacht hatte; jenen göttlichen Amor hatte er Kardinal Giustiniani gewidmet, und obwohl besagtes Bild nicht so sehr gefiel wie dasjenige von Caravaggio, so schenkte ihm der Kardinal trotzdem, zumindest soweit zu erfahren ist, eine Kette; dieses Bild hatte viele Unzulänglichkeiten, auf die ich ihn hinwies, so zum Beispiel, dass er einen großen bewaffneten Mann gemacht habe, anstelle eines nackten Knaben, und so fertigte er daraufhin ein anderes Bild, wo er dann ganz nackt war.“11 Er bezichtigte Baglione außerdem des Hochmuts, da er von ihm, Gentileschi, erwarte, dass er als Erster den Hut zum Gruß ziehe, wenn sie sich träfen.

Caravaggio war schon einen Tag früher befragt worden und hatte wiederum die Maler aufgezählt, die er in Rom kannte, aber nicht mit allen befreundet sei und außerdem nur wenige für begabt hielte. Als valent’huomini, also als Meister ersten Ranges nannte er Giuseppe Cesari, Annibale Carracci, Pomarancio und Federico Zuccari. Gentileschi gehörte für ihn nicht dazu und er behauptete auch, dass er seit drei Jahren keinen Kontakt zu ihm gehabt hätte. Das widersprach zwar der Aussage Gentileschis, er sei mit Caravaggio befreundet, doch auch er wollte seit Monaten nicht mehr mit ihm geredet, ihm jedoch unlängst ein Kapuzinergewand und Flügel geliehen haben. Solch ein Austausch von Requisiten als Vorlagen für Bilder war unter Malern damals durchaus üblich. Da die beiden ihren engen Kontakt herunterspielen wollten, um die Sache mit den Gedichten aus der Welt zu schaffen, dienten ihre diesbezüglichen Aussagen in den Verhören nicht unbedingt der Wahrheitsfindung und können auch heute nicht als Fakten herhalten.

Amor als Sieger

Noch einmal zurück zu dem Bild (Abb. S. 26), das die ganze Debatte auslöste und schließlich zu den Gedichten und dem Prozess führte.12 Die Nacktheit des Knaben wurde später als aufreizend empfunden und durch einige Kunsthistoriker homoerotisch gedeutet. So kam es dann wohl auch zu dem Gerücht, das Bild sei durch einen schwarzen Vorhang verdeckt gewesen und nur ausgesuchten Besuchern unter bestimmten Bedingungen gezeigt worden. Den Vorhang hatte es tatsächlich gegeben, doch aus einem ganz anderen Grund. Er war auf Anraten des deutschen Malers und Kunstschriftstellers Joachim von Sandrart angebracht worden, weil das so hervorragende Gemälde sonst alle anderen Werke überstrahlt hätte. Erst wenn die Besucher alle anderen Bilder zur Genüge gesehen hatten, wurde ganz zuletzt auch dieses Bild gezeigt.13

Doch auch heute noch provoziert dieses Bild. 2014 fand gegen einen Bundestags-Abgeordneten ein Ermittlungsverfahren wegen Besitzes von kinderpornografischem Material statt. In der daraufhin geführten Debatte rückte auch das Bild Caravaggios in den Fokus einiger Personen, die in der öffentlichen Präsentation eine Gefahr sahen, weil es pädophile Gefühle wecken könne. Die Berliner Gemäldegalerie erhielt einen offenen Brief, in dem die verantwortlichen Kurator: innen aufgefordert wurden, das Bild ins Depot zu verbannen.

Amor als Sieger von Caravaggio provozierte bei seiner Entstehung Giovanni Baglione und im 21. Jahrhundert gestrenge Sittenwächter.

Die Begründung lautete: „… die ausdrücklich obszöne Szene dient zweifellos der Erregung des Betrachters; unter Rücksicht auf das Alter des ‚Modells‘ ist dieses ‚künstlerische Produkt‘ höchst verwerflich.“14 Der damalige Direktor der Gemäldegalerie wies das Verlangen der nicht bekannten Verfasser: innen des Briefes mit dem Argument der Kunstfreiheit zurück. Außerdem gehöre zur Darstellung des Liebesgottes Amor nun mal die Nacktheit ebenso wie die Jugend. Schon kurz davor war in der Berliner Zeitung zu lesen: „Auf solch eine Idee kam nicht mal der prüde Kaiser Wilhelm, derweil er Realisten und Impressionisten ‚Rinnsteinkünstler‘ schimpfte. Und nahm etwa die Barock-Epoche all ihre Putten-Bildnisse (auch in Kirchen) mit obszönen Hintergedanken auf? Kunst gerät unter Verdacht. So müssten nun gar alle Museen – von Dresden über Prag, Paris bis London – ihre Bildwerke mit nackten Kindern verbannen.“15

Als Orazio Gentileschi verhaftet wurde, war seine Tochter Artemisia zehn Jahre alt. Zwei Jahre danach starb ihre Mutter und wurde in der Kirche Santa Maria del Popolo begraben, dort, wo die Bilder von Caravaggio und Carracci bereits zu sehen waren. Sie dürften auch Artemisia beeindruckt haben, die wohl nur wenig später ihre Ausbildung zur Malerin beim Vater begann. Denn Orazio hatte offensichtlich das Talent seiner Tochter erkannt. Außerdem war es nicht unüblich, dass alle in der Familie in der Werkstatt eines Malers mithalfen. Ob aus ihnen dann tatsächlich gute Malenr: innen wurden, blieb allerdings abzuwarten.

II

Kindheit und Jugend in Rom

„Der Wunsch, eine professionelle Malerin zu werden“

Cristofano di Ottaviano Bronzini, um 1618/19

Susanna und die beiden Alten, 1610, Detail

Die Eltern

Artemisia Gentileschi wurde am 8. Juli 1593 in Rom geboren und zwei Tage später in der Kirche San Lorenzo in Lucina getauft. Sie war die älteste von vier überlebenden Kindern. Ihr Vater war der Maler Orazio Gentileschi, die Mutter Prudenzia (Abb. S. 32) eine gebürtige Montoni. Das Ehepaar lebte in der Via di Ripetta, die von der Piazza del Popolo zum Tiber führt und damals noch zum gleichnamigen Hafen, dem Porto di Ripetta (Abb. S. 31).

Orazio Gentileschi stammte aus Pisa. Sein Vater, der Goldschmied Giovanni Battista di Bartolomeo Lomi, war aus Florenz nach Pisa gekommen, um dort zu arbeiten. Orazios Brüder, Aurelio und Baccio Lomi, wurden ebenfalls Maler. Orazio begann möglicherweise noch eine Lehre beim Vater und ging nach dessen Tod irgendwann zwischen 1575 und 1578 nach Rom, vielleicht sogar begleitet von dem älteren Bruder Aurelio. Dort lebte er bei einem Onkel mütterlicherseits und nannte sich nach diesem Gentileschi. Ob Orazio in den ersten Jahren in Rom als Lehrling in einer Malerwerkstatt arbeitete, ist ebenso wenig überliefert wie seine anschließenden Tätigkeiten. Man weiß, dass Aurelio 1587 noch einmal nach Rom kam, beim Bruder lebte und eine Kapelle in der Kirche Santa Maria in Vallicella mit Fresken ausstattete. Möglicherweise ging Orazio ihm dabei zur Hand. Erst danach, 1588/89, ist er mit vielen anderen Malern an der Ausstattung der Bibliothek im Vatikan beteiligt,16 allerdings wohl nur als Gehilfe.17

Prudenzia stammte aus einer angesehenen römischen Familie und war mit dem Maler Sebastiano Guerra verlobt, der, als er 1591 starb, sie vorher testamentarisch als Alleinerbin eingesetzt hatte. Dadurch erhielt Orazio mit der Heirat eine komplett eingerichtete Werkstatt, was vielleicht auch zu dem ersten eigenständigen Auftrag geführt hatte. Paten von Artemisia waren der spätere päpstliche Nuntius Offredo Offredi und die Patrizierin Artemisia Capizucchi, von der sie ihren Namen erhielt.

Der römische Porto di Ripetta am Tiberufer vor seinem Umbau in den Jahren 1702/03.

Die Eltern von Artemisia Gentileschi: Anthonis van Dyck zeichnete Orazio um 1627/35, wahrscheinlich in ihrer gemeinsamen Londoner Zeit, die Zeichnung von Prudenzia Montoni fertigte Ottavio Leoni bereits um 1600.

Eineinhalb Jahre nach Artemisias Geburt wurde der erste ihrer Brüder geboren. Dieser Giovanni Battista überlebte nur wenige Jahre, ebenso wie ein zweiter Bruder dieses Namens. Doch die Brüder Francesco, Giulio und Marco wuchsen gemeinsam mit ihr auf und begleiteten sie auch später in ihrem Leben immer wieder. Die größer werdende Familie zog mehrfach um, blieb aber lange im Künstlerviertel wohnen. Ab 1597 lebten sie in der Nähe der Piazza di Spagna, ab 1601 in der Via Paolina (heute Via del Babuino), 1611 in der Via Margutta, dann in der Via della Croce. Im Juli zogen sie dann aber auf die andere Seite des Tiber, in den Borgo Santo Spirito oberhalb des Ospedale di Santo Spirito in Sassia.

Als Orazio 1592 oder 1593 die zwölf Jahre jüngere Römerin Prudenzia heiratete, arbeitete er gerade an seinem ersten eigenständigen und dokumentierten Auftrag.18 In den nächsten Jahren folgten weitere Aufträge, die meisten in Rom, einer in Farfa in den Sabiner Bergen. Doch die Familie blieb in Rom. Um 1600 dürfte Orazio Bekanntschaft mit Caravaggio gemacht haben. 1604 wurde er Mitglied in der Accademia di San Luca, und ein Jahr später wurde ihm die Ehre zuteil, in die Congregazione dei Virtuosi al Pantheon aufgenommen zu werden, der bis heute bestehenden päpstlichen Akademie der schönen Künste. Damit zählte Orazio zu den bedeutenderen Malern Roms, was sich auch in den Aufträgen der nächsten Jahre niederschlug. Als 1611 seine Zusammenarbeit mit Agostino Tassi begann, war Artemisia 18 Jahre alt. Ein Jahr später, im Februar 1612, klagte Orazio Agostino Tassi an, seine Tochter Artemisia am 6. Mai 1611 gewaltsam entjungfert zu haben. Der daraufhin angestrengte Prozess dauerte vom 2. März bis zum 28. November. Die Prozessakten haben sich erhalten und sind mehrfach publiziert und unterschiedlich interpretiert worden (s. Kapitel III).

Die Ausbildung zur Malerin

Im Sommer 1605 fand Artemisias Firmung in San Giovanni in Laterano statt, der eigentlichen Papstkirche. Im Dezember starb die Mutter Prudenzia im Kindbett. Der kleine Bruder Marco war gerade einmal eineinhalb Jahre alt. Artemisia mit ihren zwölf Jahren war dagegen nach damaligen Verhältnissen der Kindheit entwachsen und dürfte spätestens ab jetzt im Haushalt tätig gewesen sein, ab 1607 unterstützt von ihrer Tante Lucrezia, einer verwitweten Schwester von Orazio. Gleichzeitig machte sie vermutlich auch ihre ersten Malversuche. Denn auch, wenn sie als Frau nicht offiziell bei ihrem Vater in die Lehre gehen konnte, so hat er sie doch unterrichtet, wie er in einem Brief im Juli 1612 an die Großherzogin der Toskana schrieb. Darin pries er die Malkünste seiner Tochter, die in drei Jahren das Malerhandwerk gelernt habe und heute besser malen könne als einige der großen Meister.19 Den Brief hatte Orazio zwar 1612 abgefasst, darin aber nicht geschrieben, dass Artemisia vor drei Jahren begonnen hatte, zu malen, sondern eben in drei Jahren das Malerhandwerk gelernt hatte. Spätestens 1607 hatte sie angefangen zu malen und drei Jahre später, 1610, ihr erstes Bild signiert, Susanna und die beiden Alten (Farbtafel 1), ihr (wenn auch nicht offizielles) Gesellenstück. Vielleicht war Orazio auch deshalb auf die Hilfe der Schwester Lucrezia angewiesen, weil Artemisia als Ersatzmutter und Hausfrau ausfiel. Am Tag, nachdem Agostino Tassi schuldig gesprochen war, sie gewaltsam entjungfert zu haben, also am 29. November 1612, heiratete Artemisia den Apotheker Pierantonio Stiattesi aus Florenz. Gemeinsam verließen sie Rom und lebten spätestens ab dem 11. Januar 1613 in der Stadt am Arno.

Die Biografie von Cristofano di Ottaviano Bronzini

2018 wurde eine bisher unbekannte Biografie von Artemisia publiziert, die der Literat Cristofano di Ottaviano Bronzini um 1618/19 verfasst hatte. Sie ist Teil eines 32-bändigen Manuskripts, das hauptsächlich zwischen 1615 und 1622 entstand und das von bemerkenswerten Frauen handelt.20 Von 1622 bis 1632 wurden Teile davon in vier Büchern publiziert, doch bei seinem Tod blieb der größte Teil des Manuskripts unveröffentlicht, darunter auch derjenige mit den Biografien von Malerinnen, Bildhauerinnen und Stickerinnen, der ungefähr 50 Seiten umfasst.

Der in Ancona geborene Bronzini lebte wohl von etwa 1591 bis 1615 in Rom und zog anschließend nach Florenz, wo er auch das Traktat schrieb. In dem den Künstlerinnen gewidmeten Teil nimmt die Biografie über Artemisia einen relativ großen Umfang ein.

„Hier lebt heute (und mag sie noch viele Jahrhunderte leben) Mizia, die von Florentiner Vorfahren abstammt, aber in Rom geboren wurde. Eines Tages, als sie etwa zwölf Jahre alt war, wollte sie einen Rock tragen, den ihre Mutter ihr ein paar Jahre früher genäht hatte.“ Da der Rock zu kurz war, verlängerte sie ihn und fügte dann „Stickereien hinzu, die sie selbst entworfen hatte.“ Diesen Rock begutachteten „Experten auf dem Gebiet von Malerei und Zeichnung“, die davon überzeugt waren, „dass dieses junge Mädchen ein Potenzial für diese Künste besaß. Sie sprachen mit Artemisias Vater und versuchten ihn zu überzeugen, sie Malerei studieren zu lassen, aber er wollte davon nichts hören.“ Der Vater weigerte sich nicht nur, „sie selbst zu unterrichten, er wollte sie auch davon abhalten, eine Künstlerin zu werden, und schickte sie deshalb für ihre weitere Erziehung in das Kloster von Sant’Apollonia in Trastevere.“ Doch im Konvent wurde der Wunsch, eine professionelle Malerin zu werden, noch stärker „und sie bat die Äbtissin, ihr zu erlauben, das gute Werk eines bekannten Meisters zu studieren. Die Äbtissin brachte ihr mehrere Gemälde, darunter eine Susanna von Caravaggio, ein Künstler, von dem einstmals behauptet wurde, er wäre der größte lebende Maler. Die Kopien, die Artemisia von diesen Gemälden machte, waren so hervorragend (besonders die der Susanna), dass alle erstaunt waren, allen voran ihr Vater.“ Orazio war von den Kopien zwar beeindruckt, zweifelte aber trotz der Versicherung, dass sie von seiner Tochter stammten, an ihrer Urheberschaft. Deshalb „schickte er seiner Tochter weitere Gemälde zum Kopieren, diesmal wirklich große Formate, alle von Caravaggio (dessen Stil sie immer zu imitieren versuchte als denjenigen, der ihr am meisten gefiel). Nachdem sie die Kopien meisterhaft vollendet hatte, erlangte sie dafür Preise von 300, 500, sogar 600 [scudi] und mehr, obwohl es ihre ersten Bilder waren.“ Nachdem sie einen Florentiner geheiratet hatte, zog sie mit ihm in seine Geburtsstadt. „Die Gemälde und Porträts, die sie hier machte, wurden nicht weniger bewundert als diejenigen der Lalla Cizicena [Iaia von Kyzikos, eine griechische Malerin aus dem 1. Jahrhundert v. Chr., d. V.], und sie zierten und zieren noch die Räume der wichtigsten und respektierten Herren und die Hallen der berühmtesten und edelsten Prinzen, die heute in Florenz leben.“21

Diese Biografie hat mit derjenigen, die uns aus den Dokumenten überliefert ist, wenig zu tun, abgesehen von der Tatsache, dass Artemisia in Rom geboren wurde, die Familie aber ursprünglich aus Florenz stammte, wohin sie mit ihrem Mann dann zog. Die anderen Geschichten hat Bronzini vermutlich von Artemisia erzählt bekommen, denn in Florenz dürften sie genügend Berührungspunkte gehabt haben, um sich kennenzulernen. Bei der Geschichte mit dem Rock sind zwei Aspekte bemerkenswert: Als Artemisia zwölf Jahre alt war, starb ihre Mutter, die diesen Rock genäht hatte. Sie musste ihn selbst verändern, wollte sie ihn noch einmal tragen. Aufgrund ihres großen Talentes fügte sie aber selbst entworfene Stickereien hinzu, die so schön waren, dass die Experten die Künstlerin in ihr erkannten. Das künstlerische Talent, das den Künstlern von der Natur (oder von Gott) gegeben ist, ist ein Topos, der sich in der gesamten Künstlerbiografik findet und den auch Bronzini kannte. Berühmtes Beispiel ist der Hirtenjunge Giotto, der auf einen Stein ein Schaf so zu zeichnen versteht, dass der große Cimabue, als er das entdeckt, Giotto mit zu sich nach Florenz nimmt und ihn zum Maler ausbildet. An dieser Geschichte stimmt nichts, außer dass es die Maler wirklich gegeben hat.

Ebenso ist die von Artemisia geschaffene Stickerei ein Beweis für ihr außerordentliches Talent. Interessanterweise wollten die Experten (wer auch immer damit gemeint war) aber nicht, dass sie zur Stickerin ausgebildet wurde, einem für Frauen angemessenen Beruf, sondern zur Malerin. Dass sich ihr Vater, der berühmte Maler, dagegen wehrte, ist ein weiterer Topos. Artemisia setzte trotz aller widrigen Umstände durch, Malerin zu werden, weil sie den inneren Drang dazu besaß und damit auch den Willen, ihm zu folgen. Außerdem konnte sie sich durch diese Geschichte ins Kloster verabschieden, womit sie fernab der Männer lebte und damit auch Agostino Tassi nicht begegnen konnte. Und damit verschwand auch der Prozess aus ihrer Biografie. Dass sowohl die Äbtissin als auch Orazio Zugriff auf Bilder von Caravaggio hatten, ist relativ unwahrscheinlich, zeigt aber, dass Artemisia sich auf die Kunst Caravaggios berief. Artemisia hatte einige seiner Bilder in Rom aus eigener Anschauung kennengelernt wie diejenigen in Santa Maria del Popolo, aber auch in anderen Kirchen oder vermittelt durch Orazio in privaten Sammlungen. Vielleicht kannte sie auch das nicht erhaltene Gemälde Susanna mit den beiden Alten von Caravaggio, das Bronzini als einziges mit dem Titel nennt. Ein Bezug auf Artemisias 1610 geschaffenes Bild (Farbtafel 1) ist nicht von der Hand zu weisen. Die Preise, die Artemisia für Kopien erzielt haben soll, sind exorbitant, vergleicht man sie mit den Lebenshaltungskosten im damaligen Rom, in denen ein Landarbeiter im Jahr 50 scudi verdiente, aber auch mit denen anderer Künstler. Caravaggio erhielt für beide Gemälde in Santa Maria del Popolo zusammen 300 scudi und war damals ein berühmter Maler.22