Astrid Lindgren. Ihr Leben - Jens Andersen - E-Book
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Astrid Lindgren. Ihr Leben E-Book

Jens Andersen

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Beschreibung

»Eine Biografie, die alle bislang erschienenen in den Schatten stellt, auch weil darin eine Geschichte von Moderne und Modernisierung erzählt wird.« (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung)

Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, Ronja Räubertochter und viele weitere – Astrid Lindgrens Figuren revolutionierten die Kinderliteratur. Schon zu Lebzeiten ließen sie die Autorin zu einer Legende werden, die als junge Frau ihren unehelichen Sohn zu Pflegeltern geben musste. Jahrzehntelang begleitete sie dieser Schmerz, sie engagierte sich bis ins hohe Alter für Frieden, Gerechtigkeit und die Rechte von Kindern und hat mit ihre Büchern Millionen Kinder glücklich gemacht.

Jens Andersen blickt in dieser ersten umfassenden Biografie nach Astrid Lindgrens Tod 2002 hinter die Fassade des weltweiten Erfolgs und erzählt das Leben der allseits geliebten Bestsellerautorin neu. Ein einfühlsam-respektvolles Buch, das uns den Menschen Astrid Lindgren zeigt, die bekannteste Geschichtenerzählerin der Welt, eine bedeutende politische Autorin und die Kämpferin für Menschenrechte.

Mit zahlreichen Abbildungen

»Ich finde, man sollte jeden Tag so behandeln, als wäre es der Einzige, den man hat. ›Dieser Tag, ein Leben.‹« Astrid Lindgren

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Seitenzahl: 565

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Jens Andersen

Astrid Lindgren

Vor siebzig Jahren begann Astrid Lindgrens außerordentliche Karriere als Schriftstellerin. Auf Pippi Langstrumpf folgten Bücher, die die Kinderliteratur revolutionierten – und ihre Autorin schon zu Lebzeiten zu einer Legende werden ließen. 2002 verstarb Lindgren 94-jährig; noch heute lesen Millionen Kinder ihre Bücher.

Jens Andersen erzählt in seiner preisgekrönten Biografie »ihr Werk und Leben erschreckend neu« (Süddeutsche Zeitung). Über Jahre hinweg studierte er unveröffentlichte Quellen und führte zahllose Gespräche mit langjährigen Vertrauten wie der Tochter Karin Nyman. So erhielt er Zugang zu den verborgenen Seiten dieser Autorin, die nicht nur weltweit Erfolge feiern durfte, sondern Einsamkeit und Trauer kannte und ein Leben lang von Schuldgefühlen geplagt war, weil sie ihren unehelichen Sohn in seinen ersten Lebensjahren bei Pflegeeltern in Dänemark hatte unterbringen müssen.

Zugleich aber erzählt Jens Andersen eine faszinierende Geschichte von Moderne und Modernisierung. Astrid Lindgren war eine Frau, die das ganze 20. Jahrhundert miterlebt und mitgeprägt hat, die sich unbeirrt engagierte für die Rechte von Kindern, für Frieden, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, eine menschenfreundliche Intellektuelle und politische Autorin, die den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam und als »Schwedin des Jahrhunderts« ausgezeichnet wurde.

JENS ANDERSEN, geboren 1955, hat sein Studium der Nordistik mit einer Promotion abgeschlossen, arbeitete viele Jahre als Literaturkritiker für dänische Zeitungen und lebt nun als Autor in Kopenhagen. Seit 1990 veröffentlicht er Biografien skandinavischer Persönlichkeiten, u. a. 2012 über Königin Margrethe II.; 2005 erschien auf Deutsch sein viel beachtetes Buch Hans Christian Andersen, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde. Jens Andersen erhielt u. a. den Georg-Brandes-Preis, den Søren-Gyldendal-Preis und den Preis des dänischen Schriftstellerverbands. Für Astrid Lindgren. Ihr Leben wurde er 2015 in Dänemark mit dem renommierten Politikens Litteraturpris ausgezeichnet; das Buch, das in Schweden als »eines der besten Sachbücher des Jahres« (Dagens Nyheter) gilt, wurde zum Bestseller.

© Privatbesitz/Saltkråkan AB

Jens Andersen

Astrid Lindgren

Ihr Leben

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

Deutsche Verlags-Anstalt

»Was der Sinn des Lebens nicht ist, das weiß ich. Geld und anderes Zeug zusammenzukratzen, ein Promileben zu führen, auf den entsprechenden Seiten der Frauenzeitschriften zu posieren und solch eine Angst vor Einsamkeit und Stille zu haben, dass man nie in Ruhe und Frieden über die Frage nachdenken kann: Was mache ich mit meiner kurzen Zeit auf Erden?«

ASTRID LINDGREN, 1983

Inhalt

Fanpost an die Autorin

À la Garçonne

Mysterien der Fortpflanzung

Allee der Hoffnung

Eure Kinder sind nicht eure Kinder

Mütter aller Länder, vereinigt euch!

Revolution im Kinderzimmer

Trauervögel und Singvögel

Die Poesie der hellen Nächte

Der Kampf um die Fantasie

Ich habe in meiner Einsamkeit getanzt

Danksagung

ANHANG

Bibliografie zum Gesamtwerk Astrid Lindgrens in deutscher Übersetzung

Quellenverzeichnis

Personenregister

Fanpost an die Autorin

In den Siebzigerjahren hatten die Beamten des Postamts an der Ecke Dalagatan und Odengatan in Stockholm immer mehr zu tun. Es lag an einer älteren Dame, die vielen älteren Damen glich, denen man im Stadtteil Vasastan auf der Straße, im Park, im Lebensmittelgeschäft oder in einer der Konditoreien begegnete. Über Jahre hinweg war täglich eine Handvoll Briefe durch den Briefschlitz dieser älteren Dame gefallen, doch als sie 1977, 1987 und 1997 runde Geburtstage feierte, mussten die Postboten an der Tür der Dalagatan 46 klingeln, um säckeweise Post mit Marken aus aller Welt abzuliefern. Waren die vielen Sendungen gelesen und beantwortet, wurden sie in Pappkartons auf dem Dachboden aufbewahrt. Sie enthielten nicht nur Glückwünsche und bunte Kinderzeichnungen, sondern auch Grüße von Staatsmännern und königlichen Hoheiten sowie Briefe von Menschen, die ein Autogramm wollten oder aber um Geld oder moralische Unterstützung in irgendeiner politischen Sache baten.

Die meisten Menschen allerdings, die sich an die am 14. November 1907 geborene Astrid Lindgren wandten, wollten vor allem ihre Begeisterung und Bewunderung ausdrücken. Häufig nutzten sie die Gelegenheit, der Autorin die eine oder andere Frage zu stellen. Und nicht immer waren diese Fragen so unschuldig wie die einer schwedischen Kindergartengruppe, die wissen wollte, ob Pferde wirklich Eis essen, oder die der neunjährigen Kristina aus Järfälla, die um eine Erklärung bat, wie Pippis Vater in der Fernsehserie eine Flaschenpost versenden konnte, obwohl er im Gefängnis saß. In den Postbergen fanden sich auch pfiffige Fragen von Erwachsenen: So bat der Klempner Karlsson aus Kalmar um die Erlaubnis, seine Firma »Karlsson vom Dach« nennen zu dürfen; ein Waldbesitzer aus Jämtland erkundigte sich, ob die naturbegeisterte Autorin Interesse an ein paar Hektar Nadelwald habe; und ein Mann, der eine Gefängnisstrafe wegen Mordes an seiner Ehefrau verbüßte, wollte wissen, ob Astrid Lindgren sich vorstellen könne, ein Buch über sein Leben zu schreiben.

Da Astrid Lindgren Mitte der Achtzigerjahre immer schlechter sah und Hilfe brauchte, um die vielen Briefe zu lesen, die täglich eintrafen, wurde sie nicht nur von ihrer Privatsekretärin Kerstin Kvint, sondern auch von ihrer Tochter Karin Nyman (links) unterstützt.

© Erwin Neu

Nicht wenige der fünfundsiebzigtausend Briefe, die die populäre Schriftstellerin bis zu ihrem Tod im Januar 2002 erhielt und die heute im Astrid-Lindgren-Archiv der Königlichen Bibliothek in Stockholm aufbewahrt werden, waren persönlicher Natur. Wenn es um Pippis und Michels Mutter ging, gab es offensichtlich keine Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem, die man hätte respektieren müssen. Im Alter galt Astrid Lindgren als »klok gumma«, als die kluge Alte des Nordens – eine Seelsorgerin, die man bei allen Problemen des Lebens um Rat fragen konnte. So gab es unter den Briefschreibern eine Frau, die »Astrid« darum bat, in einem erbitterten Nachbarschaftsstreit zu vermitteln, eine andere Ratsuchende erkundigte sich, wie sie mit ihrer schwierigen alten Mutter umgehen solle, und eine dritte Schreiberin belästigte die wohlhabende Kinderbuchautorin vierzehn Jahre lang mit Bettelbriefen. Insgesamt zweiundsiebzig dieser Briefe sind erhalten, und sie alle enthalten Ersuchen um finanzielle Unterstützung für eine Brille, eine Autoreparatur, Klempnerrechnungen, Spielschulden und andere Dinge. Aus Österreich fragte ein Mann an, ob Pippis Mutter ihm einen größeren Geldbetrag für seine Traumvilla Kunterbunt schenken könne. Aus Dänemark kamen vierzig Jahre lang zu Weihnachten Briefe von einem Vater, der in allen Einzelheiten von seiner Familie erzählte und immer daran dachte, etwas vom Selbstgebackenen der Kinder beizulegen. Und aus dem Stockholmer Vorort Hässelby wurde Astrid Lindgren mit Heiratsanträgen regelrecht bombardiert. Sie stammten von einem älteren Herrn, der seine Fühler erst einzog, als der Verlag der verwitweten Astrid Lindgren sich einmischte und dem hartnäckigen Freier mit einer polizeilichen Verwarnung drohte.

Die Fanpost nimmt im Archiv der Königlichen Bibliothek den größten Raum ein und ist ein Beleg für die kolossale Bedeutung von Astrid Lindgrens Werk – als Bücher, Filme oder Fernsehserien. Seit Erscheinen der epochalen Pippi-Bücher in den Vierzigerjahren nahmen die Briefe beständig zu. Der fleißigen Autorin , die ihre eigenen Bücher morgens und im Urlaub schrieb, jeden Nachmittag als Lektorin im Verlag Rabén & Sjögren arbeitete und abends die Manuskripte anderer Autoren las, waren sie schon um 1960 durchaus zur Last geworden. Doch erst in den Siebzigerjahren, nachdem Astrid Lindgren sich als Lektorin zur Ruhe gesetzt hatte, schwoll die Post geradezu lawinenartig an, sodass die Schriftstellerin in den Achtzigerjahren eine Sekretärin, Kerstin Kvint, einstellen musste, um die Korrespondenz bewältigen zu können.

Der Grund dafür waren drei Ereignisse: Das Erscheinen des Romans Die Brüder Löwenherz (1973), der sogenannte Pomperipossa-Fall (1976), bei dem Astrid Lindgren gegen die schwedische Steuerpolitik protestierte, und der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1978), als die Pazifistin Astrid Lindgren mitten in der Phase der Abrüstung ihre Dankesrede mit der Erklärung begann, dass der Kampf um einen dauerhaften Frieden in der Welt in den Kinderzimmern anfange, nämlich mit der Erziehung der künftigen Generation.

Karin Nyman, die Tochter von Astrid und Sture Lindgren, die im Mai 1934 in Stockholm geboren wurde, war ein halbes Jahrhundert Zeugin des wachsenden Kults um das Werk und die Person ihrer Mutter. Sie erzählt, dass Männer und Frauen jeglichen Alters Astrid Lindgren nicht nur schrieben, sondern auch anriefen oder an die Haustür in der Dalagatan klopften. Häufig nur mit dem Wunsch, die Hand der Schriftstellerin zu schütteln und ihre Dankbarkeit für die Freude und den Trost auszudrücken, den sie in der Fantasiewelt ihrer Bücher gefunden hatten. Außerdem schrieben viele junge Menschen aus dem Ausland und baten Astrid Lindgren um ihre Hilfe: »Es waren unglückliche Kinder und Jugendliche aus Deutschland«, so Karin Nyman, »die in das Schweden ziehen wollten, von dem sie in ihren Büchern gelesen hatten. Nach Bullerbü oder Saltkrokan. Für Astrid war das ein Problem, denn sie wollte die Dinge immer aufs Beste für die Menschen regeln, denen es nicht gut ging, und hier konnte sie nichts tun.«

Ein gescheitertes Familienleben, fehlende Fürsorge oder ein zu großer emotionaler Abstand zwischen Eltern und Kindern waren häufig die Gründe für den verzweifelten Brief eines jungen Menschen. Im Jahr 1974 wandte sich beispielsweise ein unglückliches Mädchen an Astrid Lindgren. Inspiriert von ihren Büchern hatte sie Schwedisch gelernt und erzählte nun von ihrem Vater, der die Familie tyrannisierte und sogar seine Liebhaberin zu Hause wohnen ließ. Astrid fiel es schwer, diesen Brief zu vergessen, und sie berichtete einem schwedischen Jugendlichen davon, dem es vermutlich half, dass eine Gleichaltrige in einem anderen Land ebenfalls Probleme hatte. Die sechsundsechzigjährige Astrid Lindgren schrieb:

»… es gibt offenbar niemanden im ganzen deutschen Reich, an den sie sich wenden kann. Eigentlich hat sie keine Lust zu leben, sie weiß nicht, was sie will, sie versucht mal dies, mal das und ist es nach kurzer Zeit leid. (…) Das Mädchen hat bestimmt gewaltige psychische Probleme, aber ich verstehe es nicht ganz, und ich kann ihr ja auch nicht helfen. (…) Ja, mein Gott, es gibt so viel Elend.«

»Sie, meine Freunde, haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchautorin verliehen, und da werden Sie kaum weite politische Ausblicke oder Vorschläge zur Lösung internationaler Probleme erwarten. Ich möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen«, sagt Astrid Lindgren, als sie im Oktober 1978 in Frankfurt a. M. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird und eine Rede über die Abrüstung im Familienleben hält.

© Isolde Ohlbaum

In anderen Briefen – im Archiv liegen dreißig- bis fünfunddreißigtausend Schreiben von Kindern und Jugendlichen aus fünfzig Ländern – wurde nach der Fortsetzung eines bestimmten Buches gefragt, man wollte wissen, wie man überhaupt ein Buch verfasst, oder bat »Tante Astrid«, beim Vorsprechen am Theater oder bei einem Film-Casting behilflich zu sein. Der Wunsch, ein Star in der Verfilmung eines Werkes von Astrid Lindgren zu werden, wurde auch in einem besonderen Brief geäußert, der im Frühjahr 1971 durch den Briefschlitz in der Dalagatan fiel. Verfasst hatte ihn die zwölfjährige Sara Ljungcrantz aus Småland, und ganz oben auf der ersten Seite dieses Schreibens mit mehreren unterschiedlichen Handschriften und einer Unmenge Ausrufezeichen stand: »Willst Du mich GLÜCKLICH machen?«

Diese Frage leitete einen langen Briefwechsel zwischen der weltberühmten Schriftstellerin, die den aufziehenden Herbst ihrer Karriere erlebte, und einem entwurzelten und nachdenklichen schwedischen Mädchen ein, das sich in vielerlei Hinsicht vom Leben ausgeschlossen fühlte und mit ihrer Situation als Jugendliche nicht zurechtkam. Zu Beginn dieser Korrespondenz, die unter dem Titel Dina brev lägger jag under madrassen (Deine Briefe lege ich unter die Matratze) erschienen ist, liest man, dass Astrid Lindgren dem Mädchen gern helfen wollte. Allerdings hatte die dreiundsechzigjährige Autorin den Wunsch, sich die temperamentvolle Sara Ljungcrantz zunächst etwas genauer anzusehen. Denn ihr erster Brief hatte Astrid Lindgren nicht gefallen. Darin hatte ihr Sara den unbescheidenen Wunsch nach Probefilmaufnahmen mitgeteilt – gefolgt von einer Beschimpfung der Kinderschauspieler des letzten Pippi-Films und einer wüsten Kritik an Björn Bergs Zeichnungen im jüngsten Buch über Michel aus Lönneberga. An mangelndem Selbstwertgefühl schien das Mädchen auf den ersten Blick nicht zu leiden, obwohl sie im Grunde genau das tat.

Astrid Lindgrens erste Antwort an Sara war daher kurz und kühl. Sie erteilte ihr einen Denkzettel, und das Mädchen bekam bei der Lektüre so rote Ohren, dass es den Brief in die Toilette spülte. Die Autorin von einigen ihrer Lieblingsbücher hatte Sara daran erinnert, wie gefährlich es sei, Neid zu empfinden, und sie hatte gefragt, ob Sara sich vorstellen könne, warum sie so wenige Freunde habe, so oft allein sei und sich einsam fühle.

Zwei Teenager im Abstand von fünfzig Jahren. Während des Briefwechsels mit Sara Ljungcrantz in den Siebzigerjahren erkennt Astrid Lindgren auch etwas von sich als jungem unangepasstem Mädchen in Vimmerby Anfang der Zwanzigerjahre wieder.

© Privatbesitz/Saltkråkan AB

Ausgerechnet die »Einsamkeit« – dieser in der skandinavischen Kultur so tabuisierte, negativ besetzte Begriff, ein Gefühl, das schwer zu beschreiben ist, obwohl wir es alle kennen und im Lauf unseres Lebens auf viele unterschiedliche Arten allein sein müssen – wurde in den folgenden Jahren zum roten Faden in dem Briefwechsel zwischen dem einsamen Teenager und der einsamen Schriftstellerin. Astrid Lindgren konnte in den Siebzigerjahren auf ein Leben zurückblicken, in dem sie sich als Kind, als junger Mensch, als alleinstehende Mutter, als Witwe und als Künstlerin viele Gedanken darüber gemacht hatte, wie es ist, sich selbst überlassen beziehungsweise auf seine eigene Gesellschaft angewiesen zu sein. Mitunter hatte sie diese Einsamkeit gefürchtet, dann wiederum hatte sie sich unsäglich danach gesehnt. Mit dem Wahlspruch ihrer småländischen Familie »Vi sä’r inget utåt« (»Nur nichts nach außen dringen lassen«) zog sie stets eine Grenze zwischen dem, was die Öffentlichkeit über den Menschen hinter der Autorin wissen sollte, und was nicht. Wenn jemand danach fragte, sprach Astrid Lindgren jedoch überraschend offen über die Einsamkeit in ihrem Privatleben, beispielsweise in einem Interview einer schwedischen Zeitung aus den Fünfzigerjahren. Der Journalist wollte wissen, wie Astrid Lindgren den plötzlichen Verlust ihres 1952 verstorbenen Mannes verkraftete, und ihre Antwort lautete:

»Vor allem will ich mit meinen Kindern zusammen sein. Dann will ich mit meinen Freunden zusammen sein. Und darüber hinaus will ich mit mir selbst zusammen sein. Ganz und gar mit mir. Der Mensch hat nur einen zerbrechlichen, kleinen Schutz gegen das, womit das Leben zuschlagen kann, wenn er nicht gelernt hat, allein zu sein. Das ist beinahe das Wichtigste überhaupt.«

Astrid Lindgrens Überzeugung, dass jeder Mensch, egal wie alt, in der Lage sein müsse, das Alleinsein zu ertragen, wird auch ein zentraler Bestandteil ihrer zurückhaltenden Ratschläge an Sara, der es so schwerfiel, mit ihrer Familie, Freunden, Lehrern und Psychologen zu sprechen, und die auch mit sich selbst nicht zurechtkam. Als Astrid Lindgren sich nach Saras ersten vier, fünf Briefen allmählich in den Gefühlen des jungen Mädchens und ihrem Blick auf sich selbst wiedererkannte – »einsam, verlassen und genervt«, wie Sara es formulierte –, begann die alternde Schriftstellerin den Schleier über ihre eigene schwierige Jugend zu lüften:

»Oh, ich wünschte so sehr, dass Du glücklich sein könntest und nicht so viele Tränen auf Deiner Wange zu haben brauchtest. Aber es ist gut, dass Du fühlen kannst, dass Du Dich um andere sorgst und traurige Gedanken denkst, ich fühle mich Dir gerade deshalb verwandt. Ich glaube, die schwersten Perioden im Leben eines Menschen sind die frühe Jugend und das Alter. Ich habe meine Jugend als etwas schrecklich Melancholisches und Schwieriges in Erinnerung.«

Sara versteckte alle Briefe Astrid Lindgrens unter der Matratze. Es waren lange Briefe, die niemals herablassend formuliert waren, sondern sich solidarisch mit der problem- und konfliktbeladenen Wirklichkeit des Mädchens befassten. Gleichzeitig spiegelte sich in Sara der unangepasste junge Mensch, der Astrid selbst einmal gewesen war, als sie noch Ericsson mit Nachnamen hieß. Ein intelligenter, zutiefst melancholischer, rebellischer und sehnsuchtsvoller Teenager in den Zwanzigerjahren in einer Kleinstadt in Småland, der sich über seine Identität nicht im Klaren war. Dieses schrittweise Wiedererleben der eigenen Jugend wurde besonders intensiv im Frühjahr 1972, als Sara in einem ausgesprochen dramatischen Brief von einem kurzen Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie berichtete. Sie war wegen Panikattacken und wiederholter Auseinandersetzungen mit ihrer Familie eingeliefert worden. Nie zuvor habe sie sich so »hässlich, dumm, lächerlich und faul gefühlt«, schrieb Sara. Astrid Lindgren antwortete umgehend. Und sie leitete ihren Brief mit den einfühlsamen Worten »Sara, meine Sara« ein, die sich genau wie der Titel ihres Romans Mio, mein Mio an jeden richteten, der ganz konkret oder im übertragenen Sinn allein auf einer Bank in einem menschenleeren Park saß:

»›Hässlich, dumm, lächerlich und faul‹ seist Du – das schreibst Du in Deinem Brief. Dass Du nicht dumm und nicht lächerlich bist, weiß ich mit Sicherheit durch Deine Briefe, wie es um die anderen Dinge steht, vermag ich nicht zu sagen. Aber wenn man dreizehn Jahre alt ist, glaubt man immer, man sei hässlich, ich war in dem Alter überzeugt, dass ich die Hässlichste von allen sei und sich niemals irgendjemand in mich verlieben werde – aber mit der Zeit entdeckte ich, dass es nicht ganz so schlimm war, wie ich glaubte.«

Der Briefwechsel der beiden erreichte seine intensivste Phase, als 1973/74Die Brüder Löwenherz erschien. Astrid Lindgren war damals sehr beschäftigt, sie gab viele Interviews und hatte Lesungen im In- und Ausland, zugleich musste sie mit mehreren Todesfällen von Menschen zurechtkommen, denen sie sehr nahegestanden hatte – allen voran ihr etwas älterer Bruder Gunnar, der ihr seit ihrer Jugend sehr nahegestanden und sich zu einem guten männlichen Freund entwickelt hatte. Astrid hatte ihm in oft geradezu galgenhumoristischen Briefen ihr wildes Herz ausgeschüttet. Und gerade in der größten Trauer über Gunnars viel zu frühen Tod wollten viele Leser mit der Autorin über Die Brüder Löwenherz diskutieren.

Auch Sara Ljungcrantz. Sie hatte mit der Post ein Widmungsexemplar des Buches erhalten, sich sofort darauf gestürzt und nach eigener Lektüre eine »dumme« Rezension in Dagens Nyheter gelesen, wie sie in einem Brief an Astrid Lindgren tröstend schrieb. Wie konnte jemand ein Buch nicht lieben, das so unglaublich spannend und gleichzeitig so voller Herzenswärme und Trost war? Astrid Lindgren hatte darauf keine Antwort. Allerdings wollte sie in jenem Winter mit Sara über ein anderes Thema korrespondieren – nämlich über die Nachricht, dass sich das jetzt fünfzehnjährige Mädchen in einen ihrer Lehrer verliebt hatte. Das Leben und die Liebe waren für Sara so kompliziert geworden, dass sie in einem Brief vom Dezember 1973 versuchte, sich selbst zu analysieren:

»Ich hatte lange darüber nachgedacht, woran es liegen mochte, dass ich nicht richtig gelebt hatte. Ich war in meinen Überlegungen bis zu Falschheit und einer verlorenen Identität gelangt. Ich wollte ja so gern ich selbst sein. Aber wer war ich? Ich glaube nicht, dass ich einen einzigen Menschen kenne, der er selbst ist.«

Astrid Lindgren war so fasziniert von Saras Brief, dass sie noch am Silvesterabend begann, ihn zu beantworten. Normalerweise verbat sie sich am letzten Tag des Jahres Gesellschaft und genoss ihre Einsamkeit bei Klängen von Beethoven und Mozart, einem guten Buch und den üblichen Silvesternotizen, in denen sie auf das vergangene Jahr zurückblickte. Diesmal jedoch saß sie an der Schreibmaschine und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Zurück in die Vergangenheit, zu den Jugendjahren in Vimmerby: »Wenn ich lese, was Du über Dich selbst schreibst, dann denke ich, dass ich vieles davon wiedererkenne, weil ich selbst darüber nachgedacht habe, als ich in Deinem Alter war.« Vor allem den philosophischen Beginn von Saras Analyse, in dem es um die Angst des Menschen geht, sein wahres Ich zu zeigen, wollte Astrid Lindgren gern kommentieren:

»Nein, damit hast Du ja so recht! Kein Mensch öffnet sich voll und ganz, selbst wenn er sich danach sehnt, es zu können. Aber jeder Einzelne ist eingesperrt in seiner Einsamkeit. Alle Menschen sind einsam, obwohl manche von ihnen so viele Leute um sich haben, dass sie es nicht begreifen oder merken. Bis eines schönen Tages … Aber Du bist verliebt, und das ist ein herrlicher Zustand.«

Das zweite Thema, das Astrid Lindgren an Saras Weihnachtsbrief faszinierte, war die Beschreibung ihres Verliebtseins in den Lehrer. Lindgren vermied es sorgfältig, einen moralischen oder warnenden Zeigefinger zu erheben. Stattdessen schrieb sie – und wiederholte es in mehreren anderen Briefen –, dass die Liebe die beste Kur der Welt gegen Angst und Unsicherheit sei: »Eine Liebe, selbst wenn sie ›unglücklich‹ ist, erhöht das Lebensgefühl, das ist unbestreitbar.«

Sara Ljungcrantz und Astrid Lindgren haben sich nie persönlich kennengelernt, näher als in ihrem von 1972 bis 1974 andauernden Briefwechsel kamen sie sich nicht. Es gibt noch einen Brief aus dem Jahr 1976, in dem die inzwischen siebzehnjährige Sara berichtete, was sie bei der erneuten Lektüre von Astrids drei Büchern über die junge Kati aus der Kaptensgatan empfunden hatte. Die in den Jahren 1950 bis 1953 entstandene Trilogie über ein junges Mädchen, das die USA, Italien und Paris besucht, hatte in Sara die Reise- und Lebenslust geweckt, aber sie interessierte sich auch dafür, ob die achtzehn-, neunzehnjährige Astrid das Vorbild für ihre Hauptperson gewesen sei: »Ging es Dir wirklich wie Kati, als Du jung warst?«

Die zwanzigjährige Kati ist die Hauptperson und Ich-Erzählerin in Astrid Lindgrens drei Büchern Kati in Amerika, Kati in Italien und Kati in Paris, die in Schweden in den Jahren 1950, 1952 und 1953 erschienen; die deutschen Erstausgaben kamen beim Oetinger Verlag 1952, 1953 und 1954 heraus.

© Verlag Friedrich Oetinger

Bei dieser Frage musste die achtundsechzigjährige Astrid Lindgren an einige Briefe und vergilbte Zettel aus dem schwierigen Jahr 1926 denken, die sie beim Aufräumen einiger Schubladen wiedergefunden hatte. Damals war sie gezwungen gewesen, von zu Hause auszuziehen:

»Ich fand einen Zettel (…), einen, den ich schrieb, als ich ungefähr in Deinem Alter war, er lag in einem Brief, und Folgendes stand darauf: Life is not so rotten as it seems. Aber ich fand – genau wie Du –, dass das Leben absolut mies war. Es kann also durchaus sein, dass die Kati-Bücher ein bisschen ›lügnerisch‹ sind (Formulierung stammt von Sara, Anm. d. Red.), wenn man von ihnen erwartet, dass sie ausdrücken, wie es ist, richtig jung zu sein. Aber Kati hat es geschafft, ein wenig reifer zu werden, sie war ja auch nicht ganz so jung. Als ich 19–20 Jahre alt war, wollte ich mir ständig das Leben nehmen, und ich wohnte mit einem Mädchen zusammen, das es noch mehr wollte als ich. (…) Aber später begann ich, mich anzupassen, und fand, dass das Leben recht angenehm war. Jetzt, in meinem derzeitigen hohen Alter, finde ich, dass es einem sehr schwerfällt, glücklich zu sein in Anbetracht des Zustands der Welt, und mein Trost ist, dass ich nicht mehr jung bin. Mein Gott, wie aufmunternd das alles klingt. Stelle ich auf einmal fest. Entschuldige bitte! (…) Leb wohl, Sara. Life is not so rotten as it seems.«

À la Garçonne

»Zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig schafft man es, ungefähr vier verschiedene Leben zu führen«, erklärte Astrid Lindgren in den Sechzigerjahren in einer deutschen Fernsehsendung, in der es um die Phasen im Leben einer Frau ging. Mit derselben natürlichen Ausstrahlung, die die Kinderbuchautorin Ende der Vierzigerjahre zu einem Star im schwedischen Radio machte, erzählte sie von dem überwältigenden Gefühl, innerhalb von zehn Jahren vier unterschiedliche Frauen zu sein: »Um mit dem ersten Leben zu beginnen – wie war ich als Fünfzehnjährige? Mir war klar, dass ich erwachsen war, aber mir gefiel es nicht.« Diese unsichere, bisweilen unglückliche und einsame Fünfzehnjährige, die Trost und Sinn in der Welt der Bücher fand, verwandelte sich mit sechzehn, siebzehn Jahren in ein aufgeschlossenes, progressives Mädchen ganz im Zeichen der Zeit:

»Ich machte sehr schnell eine kolossale Veränderung durch und wurde von einem Tag auf den anderen ein richtiges Jazzflappergirl, wie man damals sagte. Denn das passierte etwa gleichzeitig mit dem Durchbruch des Jazz in den glücklichen Zwanzigerjahren. Ich ließ mir die Haare schneiden, zum großen Entsetzen meiner Eltern, die Bauern waren und am Bestehenden festhielten.«

Astrid Lindgren (geborene Ericsson) ist noch keine siebzehn Jahre alt, als sie 1924 mit einer Jugendrevolte beginnt, die in Vimmerby Aufsehen erregt. In der Kleinstadt gab es ein Kino, ein Theater, die Missionsbuchhandlung und die Volkstanzgruppe Smålänningarne (Die Småländer), doch als junge Frau, die gern tanzen ging, bewegte man sich lieber zur Musik der Gegenwart. Im Sommer bot sich auf Tanzbühnen im Freien Gelegenheit dazu, im Winter ging man ins Stadthotel, wo samstags eine »Soiree mit Tanz« veranstaltet wurde. Normalerweise gab es zunächst ein längeres Konzert, bei dem die beiden Geschlechter getrennt voneinander auf ihren Bänken saßen und gesittet abwarteten. Anschließend wurde von einundzwanzig Uhr bis eine Stunde nach Mitternacht zu den neuesten Schlagern getanzt – »bei besonders dekorativer Einrichtung in magischer Beleuchtung«, wie das Stadthotel 1924/25 auf der Titelseite der Vimmerby Tidning lockte.

Zu dieser Zeit trug Astrids beste Freundin Anne-Marie Ingeström (später verheiratete Fries) noch lange feminine Kleider, welche die sich allmählich abzeichnenden weiblichen Rundungen betonten und gleichzeitig verbargen. Das hübsche Mädchen, das Madicken (so heißt die Protagonistin in der schwedischen Originalausgabe von Madita, Anm. d. Red.) genannt wurde und in der weißen Villa des Bankdirektors Fries am bürgerlichen Ende der Prästgårdsallén aufgewachsen war, zeigte gern ihr langes dunkles Haar, insbesondere auf Fotos, die von einem traditionellen, sinnlichen Frauenbild dominiert werden. Astrid hingegen begann männliche Kleidung zu tragen. Lange Hosen, Jackett und Krawatte hatten in ihre Garderobe Einzug gehalten, außerdem Hut und Schlägermütze, die tief über den Kurzhaarschnitt gezogen wurde. Wie sie später in einem Interview gestehen sollte, fanden sich in ihrem Kopf damals nur wenige vernünftige und realistische Gedanken, dafür aber zahlreiche aus dem Zusammenhang gerissene Zitate von Nietzsche, Dickens, Schopenhauer, Dostojewski und Edith Södergran sowie Eindrücke aus Filmen, die zeigten, wie Greta Garbo und andere femmes fatales dieser Zeit aussahen und sich benahmen:

»Es gab etwa 3500 Einwohner (in Vimmerby, Anm. d. Red.), und ich war die Erste in der Stadt, die sich die Haare abschnitt. Es kam vor, dass Leute, denen ich auf der Straße begegnete, zu mir kamen und mich baten, den Hut abzunehmen und meine Kurzhaarfrisur zu zeigen. Das war ungefähr zur gleichen Zeit, als Victor Margueritte, ein französischer Schriftsteller, sein Buch La Garçonne veröffentlichte, ein sehr schockierendes Buch, das ein Welterfolg wurde. Ich glaube, alle Mädchen auf der ganzen Welt wollten so aussehen wie La Garçonne, ich zumindest wollte es.«

Victor Marguerittes Roman verkaufte sich in den Zwanzigerjahren weltweit in einer Auflage von über einer Million Exemplare. Er wurde zum Kultbuch für viele junge Frauen, die von einem Aufstand gegen die gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechterrollen und die viktorianische Prüderie ihrer Eltern träumten. Monique Lerbier, die Protagonistin des Romans, ist ein wandelnder Dorn im Auge des Bürgertums. Sie schneidet ihr Haar kurz wie ein Junge, kleidet sich in Jackett und Schlips, raucht und trinkt in der Öffentlichkeit, was sonst den Männern vorbehalten ist, tanzt wild und bekommt ein uneheliches Kind. Eine selbstbewusste Selfmade-Frau, die statt Familie die Freiheit und ein Leben wählt, in dem sie selbst entscheidet.

»La Garçonne« wurde sehr schnell zu einem globalen Modephänomen, das die Männer mit ihrem androgynen Look schockierte. Plötzlich wimmelte es in den Großstädten von Frauen mit kurz geschnittenen Haaren, die Männerkleidung oder locker sitzende Kleider und Glockenhüte trugen. Die Absicht, die hinter dieser zweigeschlechtlichen Garderobe stand, war eindeutig. Eine junge Frau dieser Zeit wollte nicht aussehen wie ihre Mutter oder ihre Großmutter. Sie verzichtete auf das Korsett und die langen, schweren Kleider und trug stattdessen funktionalere Kleidung, in der sie sich freier und ungezwungener bewegen konnte. Zusammen mit der La-Garçonne-Frisur sollte die Kleidung zum Ausdruck bringen, dass Frauen dem Geschlecht ähnlich sehen wollten, mit dem sie sich mehr denn je in der Geschichte zu messen wagten.

Als neugierige, eifrig lesende und kulturell interessierte junge Frau, die Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Filme und Musik als eine Art Fernglas in die große weite Welt nutzte, wusste Astrid Ericsson von der Aufregung, die die neue Frauenmode außerhalb der Grenzen Smålands ausgelöst hatte. In skandinavischen Zeitungen und Illustrierten rieten einige männliche Journalisten den Frauen davon ab, sich die Haare kurz zu schneiden. Der »Shingle-Bob«, wie die La-Garçonne-Frisur auch genannt wurde, bekam geradezu rassistische Prädikate wie »Apachenschnitt« oder »Hottentottenhaare«. Hinter diesen Schreckensbildern lauerte die Angst vor der neuen Frauenrolle. Würden die Männer künftig ihre althergebrachte Bedeutung verlieren? Nicht ganz. Denn die Mehrzahl der jungen, von La Garçonne inspirierten Frauen träumte von Geborgenheit und einer Familie mit Mann und Kindern. Neu war, dass sie auch außerhalb des Hauses tätig sein wollten, sich gern als Kameradin ihres Mannes sahen und – nicht zuletzt – über ihren Körper und ihre Sexualität selbst bestimmen wollten.

Wie gut dieser neue, jungenhafte Look und der damit verbundene Lebensstil Astrid Ericsson gefiel, geht aus verschiedenen Fotos von Anne-Maries siebzehntem Geburtstag im August 1924 hervor, auf dem sich vier Burschen – Sonja, Märta, Greta und Astrid – um das feminine Geburtstagskind gruppieren. Natürlich war es ein lustiges Arrangement – vier verkleidete Freundinnen spielen in zwei verschiedenen Szenen rivalisierende Freier, die vor der schönen Jungfrau knien. Verglichen mit den drei anderen »jungen Männern« auf dem Foto hat Astrid Ericssons Erscheinung aber etwas Souveränes und in sich Ruhendes. Sie spielte keine Rolle, sondern war sie selbst. Ein jungenhaftes Mädchen. Immer hatte sie mit anderen Kindern gespielt, ohne sich um das Geschlecht ihrer Spielkameraden zu kümmern. Trotz ihrer Unsicherheit in den Teenagerjahren hatte sie nie etwas anderes sein wollen als ein Mädchen. Am 22. Mai 1998 erklärte sie in der Göteborgsposten: »Vielleicht, weil wir bei unseren Spielen zu Hause auf Näs nie einen Unterschied machten, Jungen und Mädchen spielten gleichermaßen wild miteinander.«

Am 28. August 1924 wurde Anne-Marie Fries siebzehn Jahre alt. Ihre besten Freundinnen Sonja, Märta, Greta und Astrid (rechts) verkleideten sich als junge Männer, die die reizende Madicken umrahmen.

© Privatbesitz/Saltkråkan AB

Diese Ausstrahlung eines burschikosen Mädchens fällt auch auf anderen Fotos von Astrid Lindgren aus den Zwanzigerjahren und vom Anfang der Dreißigerjahre ins Auge. Man sieht eine schlanke Frau zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren in langer Hose, nun auch mit Weste und Fliege bekleidet. Eine Frau, die beinahe demonstrativ Zigaretten raucht und eine herausfordernde Köperhaltung einnimmt. Auf mehreren Fotos wird dieser Eindruck durch ein kleines hintergründiges und besserwisserisches Lächeln verstärkt. Es scheint, als wäre diese junge Frau in Männerkleidung von einer Aura der Unberührbarkeit und Selbstständigkeit umgeben, als wollte sie einige der starken und selbstbewussten Zeilen von Astrid Ericssons Lieblingsdichterin illustrieren. Edith Södergrans Gedicht »Vierge moderne« handelt von einer Jungfrau der neuen Zeit:

»Ich bin keine Frau. Ich bin ein Neutrum.

Ich bin ein Kind, ein Page, ein kühner Beschluss,

ich bin ein lachender Streifen Scharlachsonne …

Ich bin ein Netz für alle gefräßigen Fische,

ich bin ein Prost auf die Ehre aller Frauen,

ich bin ein Schritt in Richtung Zufall und Verderben,

ich bin ein Sprung in die Freiheit und das Selbst (…).«

Ein Echo dieser Zeilen findet sich in den tatkräftigen weiblichen Hauptpersonen von Astrid Lindgrens Jungmädchenbüchern Britt-Marierleichtert ihr Herz (1944), Kerstin und ich (1945) und vor allem in den drei Bänden über die nach Freiheit dürstende Kati. Die zwanzigjährige Waise, die als Ich-Erzählerin auftritt, reist im ersten Buch nach Amerika. In God’s Own Country kann sie einfach nicht anders, als sich und ihr Geschlecht mit Columbus und Generationen von männlichen Eroberern zu vergleichen. Sie ist entrüstet über das, was sie sieht. In die Opposition zu gehen und, wenn nötig, auch Stellung zu beziehen und zu protestieren, ist ein natürlicher, untrennbarer Teil von Katis Weiblichkeit: »O ja, Männer sind ein wildes, abenteuerliches, herrliches Geschlecht! Warum entdecken wir Frauen nie neue Erdteile? Es ist eigentlich ziemlich schäbig, bloß eine Frau zu sein.«

Die junge Astrid Ericsson aus Näs hat den der zeitgenössischen Mode entsprechenden Gesichtsausdruck und ähnelt den selbstbewussten, freiheitsliebenden Frauen, die auch von der finnlandschwedischen Schriftstellerin Edith Södergran beschrieben wurden.

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Was Mutter wohl sagen wird?

Dass die Menschen in Vimmerby im Jahr 1924 Astrid Ericssons Protest so genau verfolgten, lag nicht zuletzt daran, dass sie die Tochter des Pächterehepaares vom Pfarrhof war. Durch diese Stellung unterschied sich die Familie Ericsson deutlich von gewöhnlichen Bauern und Stadtbewohnern. Samuel August Ericsson (1875–1969) war nicht nur der für die Kirche verantwortliche Verwalter, sondern gleichzeitig ein respektierter Landwirt, der viel von Menschen, Tieren und Ackerbau verstand. Im Laufe der Jahre hatte er wie seine ausgesprochen fleißige und intelligente Ehefrau Hanna Ericsson (1879–1961) eine Reihe kommunaler Ehrenämter bekleidet. Hanna war nicht nur eine glänzende Organisatorin des großen Haushalts auf Näs mit vier Kindern, Großeltern und Gesinde, sondern engagierte sich auch in der Armen- und Kinderfürsorge und dem Gesundheitswesen von Vimmerby. Außerdem war sie in der ganzen Umgebung berühmt für ihre Hühner, die regelmäßig den ersten Preis auf Märkten und Tierschauen errangen. Als frommer und gläubiger Mensch war Hanna zudem eine aufmerksame Moralwächterin in Astrid Lindgrens Elternhaus, wo die vier Kinder die Sonntagsschule besuchen mussten und der Kirchgang obligatorisch war.

An dem Tag im Jahr 1924, an dem Astrid sich die Haare wie die Heldin aus Victor Marguerittes Roman schneiden ließ, rief sie zu Hause in Näs an und hoffte, dass Samuel August das Telefon abnehmen werde, der im Gegensatz zu Hanna die Tat seiner Tochter wohl milder, aber kaum mit mehr Verständnis beurteilen würde. Der Vater hörte zu und antwortete in einem betrübten Tonfall, es sei keine gute Idee, wenn Astrid sofort nach Hause käme. Doch die Tochter stand zu ihrer Handlung, und dass sie ihren Protest zur Schau stellte, war ja durchaus beabsichtigt. Genauso verhielt es sich, als Astrid einige Zeit später der Bitte einer jüngeren Verwandten nachkam, die sie während einer Familienfeier fragte, ob sie ihr die Haare schneiden könne. In einem auf der CDAstrids röst (Astrids Stimme) dokumentierten Interview berichtet die Schriftstellerin von diesem Ereignis, bei dem sie begann, die Ideen der Frauenbewegung in der Familie zu verbreiten. Die Großmutter Lovisa hatte den beiden Mädchen gegenüber bereits zu verstehen gegeben, dass ihr Astrids kurze Haare eigentlich recht gut gefielen.

Dennoch hat Astrid Lindgren den Empfang in ihrem Elternhaus nie vergessen, als sie mit ihrer neuen Frisur heimkam. In der Küche auf Näs herrschte Totenstille, während die junge Frau eintrat und sich auf einen Stuhl setzte. »Niemand sagte ein Wort, sie gingen nur schweigend um mich herum.« Wie Hanna reagierte und welche Kommentare sie abgab, ist nicht überliefert, doch es dürfte kaum Zweifel daran geben, dass sie ihrer Tochter später unter vier Augen sehr deutlich die Meinung gesagt hat. Rebellische Szenen und egozentrische Ausfälle waren selten bei den vier Kindern der Familie Ericsson, und passierte es doch, dass eines der Kinder ausnahmsweise über die Stränge schlug, kam die Reaktion immer von Hanna. Der disziplinarische Teil der Kindererziehung war nicht Samuel Augusts Stärke. Oder in den Worten Astrid Lindgrens:

»Ich kann mich an ein einziges Mal erinnern, da ich mich meiner Mutter widersetzte. Ich war noch ganz klein, drei oder vier Jahre alt, als ich eines Tages fand, dass meine Mutter dumm sei, und beschloss, auf das Plumpsklo zu fliehen. Ich bin dort sicher nicht sehr lange geblieben, aber als ich wieder hereinkam, hatten meine Geschwister Bonbons bekommen. Das fand ich so ungerecht, dass ich rasend vor Wut nach meiner Mutter trat. Da wurde ich ins Esszimmer mitgenommen – und bekam Schläge.«

So ging es zu in Astrids, Gunnars, Stinas und Ingegerds Kindheit auf Näs. Keiner von ihnen zweifelte an der Liebe ihrer Mutter, doch im Gegensatz zu Samuel August, der seine Kinder gern umarmte, war Hanna zurückhaltend in ihrer Zuwendung. Hanna gegenüber musste man sich auch rechtfertigen, wenn man als junger Mensch an einem langen Sommerabend zwischen den fluoreszierenden Birken im Stadtpark die Zeit vergessen hatte. Dort wurde zu Ziehharmonikamusik getanzt, oder man hing auf einer Bank am Wasserturm seinen Gedanken nach. Dann ging es in aller Eile heim in die Prästgårdsallén, und wenn man vorsichtig die Tür öffnete, war die große Frage, was die Mutter wohl sagen würde.

Samuel August und Hanna Ericsson mit ihren vier Kindern. Von links: Ingegerd (geb. 1916) auf dem Schoß ihres Vaters, Astrid (geb. 1907), Stina (geb. 1911) und Gunnar (geb. 1906) an der Hand seiner Mutter.

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»Sie war es, die uns erzog, und ich kann mich nicht entsinnen, dass Samuel August sich da je eingemischt hätte«, schrieb Astrid Lindgren in den Siebzigerjahren in einem großen und liebevollen Essay über ihre Eltern: Das entschwundene Land. Darin berichtet sie auch von der spirituellen Seite der Mutter, die wie Samuel August gut mit Sprache umgehen konnte – ein Talent, das alle Kinder erben sollten. In einem Interview im Aftonbladet vom 4. Juni 1967 erzählte Astrid Lindgren:

»Wenn sie Zeit hatte, schrieb meine Mutter Gedichte. Sie trug sie in ein Poesiealbum ein. Sie war die Intelligentere der beiden, und sie war strenger als mein Vater. Er hatte Kinder sehr, sehr gern.«

Über eine Frage ließen allerdings weder Samuel August noch Hanna mit sich reden: Alle vier Kinder hatten auf dem Hof und auf dem Feld mitzuarbeiten. Das ganz Jahr über, auch bevor man zur Schule nach Vimmerby aufbrach, ja, selbst am Konfirmationstag waren durchaus noch mit den Geschwistern Rüben zu verziehen, bevor man sich wusch und umzog. Diese unverbrüchliche Arbeitsgemeinschaft zwischen Kindern und Erwachsenen und die pädagogische Grundsicht, dass Arbeit adele, haben sich in Astrid Lindgrens Mädchenbuch Kerstin und ich niedergeschlagen, das von den Zwillingen Kerstin und Barbro handelt. Dort wird dem Leser ein Elternpaar vorgestellt, deren Ehe in vielen Punkten Parallelen zum Zusammenhalt zwischen Hanna und Samuel August aufweist. Die fleißige, tüchtige und allgegenwärtige Mutter im Buch, das im Herbst 1945 gleichzeitig wie das erste Pippi-Langstrumpf-Buch erschien, wird als Feldherr der Familie mit dem großen Überblick und einem stets wachen Auge für die praktischen Details beschrieben. Der Vater hingegen ist ein wirklichkeitsferner Tagträumer, dessen familiäre Stärke in der Vergötterung seiner Ehefrau und seiner Kinder liegt. Über das Verhältnis zu seinen Zwillingstöchtern sagt er: »Ich gehöre zu der Sorte von unglücklichen Eltern, die ihre Kinder höchstens in Notwehr schlagen.«

Der sanfte Mann zwischen den drei starken Frauen ist zu Beginn des Buches gerade als Major pensioniert worden und hat Frau und Töchter überredet, das Leben in der Großstadt aufzugeben und sich auf dem Hof der Familie auf dem Land niederzulassen. Das Gut Lillhamra war einige Jahre unbewohnt und verlangt nach liebevollen Händen. Es wird, gelinde gesagt, eine gigantische und anstrengende Aufgabe für die ganze Familie, und immer wieder muss die Mutter gegenüber ihren beiden burschikosen Mädchen Kerstin und Barbro betonen, dass die Arbeit auf einem Gutshof nicht nur notwendig für die Gemeinschaft sei, sondern auch gut für die Charakterbildung jedes einzelnen Menschen. Ihre praktisch orientierte Philosophie lässt sich auf zwei Botschaften verkürzen, die auch für ein Kind auf Näs in den Jahren 1910 bis 1920 galten: »Man müsse auf das verzichten, was weniger nötig sei, um das zu bekommen, was nötiger sei«, und »Nur wer arbeite und die Arbeit lieben gelernt habe, könne jemals glücklich sein«.

Vimmerby, August 1909. Samuel August Ericsson, seine Ehefrau Hanna und ihre beiden ältesten Kinder Astrid und Gunnar zu Besuch bei Verwandten. Wie auf so vielen anderen Fotos hat sich Astrid in die Arme ihres Vaters geflüchtet.

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Diese Lehrsätze – Entbehrungen und Arbeit zu mögen, bis man umfällt – nahm Astrid Ericsson als Selbstverständlichkeit mit in ihr Erwachsenenleben. Ihre Tochter Karin Nyman weiß zu berichten, dass ihre Mutter in den Dreißigerjahren und während des Zweiten Weltkrieges die schwere Kunst verstand, mit den bescheidenen Mitteln, die der Familie zur Verfügung standen, das Größtmögliche zu erwirtschaften – unter anderem durch zwei Arbeitsstellen. Diese Art zu leben und zu arbeiten behielt Astrid Lindgren auch noch viele Jahre nach dem Krieg bei – ja, eigentlich auf eine eigene, erstaunlich unangestrengte Weise ihr ganzes Leben lang.

»Es war diese selbstverständliche Haltung meiner Mutter, unverdrossen drauflos zu arbeiten – ohne Stress oder große Gesten –, unbeschwert zwischen verschiedenen Aufgaben zu wechseln, Briefe zu beantworten, Abteilungsleiterin zu sein und die häuslichen Arbeiten zu erledigen: Betten machen, den Frühstückstisch abräumen, nach dem Abendessen abwaschen. Alles so automatisch, wie sie sich die Zähne putzte. Alles ebenso schnell wie effektiv.«

Im Leben Verzicht zu üben und hart arbeiten zu müssen waren für Astrid Lindgren so selbstverständliche Tugenden, dass sie ihre Kinder nie eigens dazu ermahnte. Karin Nyman erinnert sich jedoch, dass ihre Mutter auch später stets Kraft aus dem Ratschlag schöpfte, den Hanna ihren Kindern erteilte, wenn die Arbeit auf dem Feld zu schwer und zu langweilig wurde:

»›Einfach weitermachen, bloß nicht aufhören‹, hatte Hanna gesagt, wenn sie mit einer langwierigen und eintönigen Arbeit beschäftigt waren wie dem Rübenverziehen oder der Heuernte. Noch als Erwachsene machte Astrid unwillkürlich die Handbewegungen, mit denen sie als Kind das Heubündel zusammengezogen hatte – geradeso, als nähme sie Anlauf, um eine Herausforderung zu meistern.«

Mädchen mit Federhaltern

Im Mai 1923 ging für die fünfzehnjährige Astrid Ericsson die Schulzeit zu Ende. Darüber war sie nicht traurig, denn obwohl sie in der Schule gut zurechtkam und sich in der abschließenden Schwedischprüfung für ein so tugendhaftes Aufsatzthema wie »Vom Wirken der Klosterleute im Mittelalter« entschied, erging es ihr doch häufig wie dem burschikoseren der beiden Zwillinge in Kerstin und ich:

»Ich sehnte mich nicht nach der Schulbank zurück, wo man stillsitzen musste, bis es einem im ganzen Körper kribbelte und man am liebsten laut geschrien und wild um sich geschlagen hätte. Mir gefiel es, herumzulaufen und es eilig zu haben.«

Eine Unruhestifterin war Astrid Ericsson zwar nicht, aber eine körperliche Unruhe verspürte sie durchaus. Auf dem alten Foto ihres Klassenzimmers sitzen alle Kinder ruhig da und sehen den Fotografen an – mit Ausnahme von Astrid Ericsson, die aufgestanden ist und einen Arm hochreckt. Sie war klein, schlank und gelenkig und trug die Haare noch nicht kurz, sondern zu Zöpfen geflochten. Greta Fahlstedt, eines der etwas älteren Mädchen, erinnerte sich anlässlich von Astrid Lindgrens neunzigstem Geburtstag 1997 in der Vimmerby Tidning: »Sie war recht lebhaft, schon damals. Es gingen regelrechte Blitze von ihr aus.«

Die schriftlichen Noten im Abgangszeugnis der Mittleren Reife 1923 waren ausnahmslos gut. Unter den Prüfungen in den Fächern Schwedisch, Deutsch und Englisch verriet insbesondere der Aufsatz über die eifrigen Nonnen des Mittelalters, dass die fünfzehnjährige Schülerin nicht nur ein gut entwickeltes Vorstellungsvermögen hatte, sondern auch Sinn für Humor:

»Eine Sache, für die die Nonnen viel Zeit aufwendeten, war die Handarbeit. Sie bestickten kunstvolle Altartücher, klöppelten Spitzen, nähten Kleider und vieles andere mehr. Sie waren unglaublich geschickt, und ich glaube, wenn die Nonnen hätten heiraten dürfen, was nicht der Fall war, hätten sie eine prachtvolle Aussteuer bekommen.«

Um 1920. Deutschstunde in der Realschule von Vimmerby, an der Tafel hinter Studienassessor Tengström steht, dass es sich um »Zungeübungen« handelt. Das Mädchen ganz rechts, das mit den Armen gestikuliert, ist nicht Pippi Langstrumpf, sondern Astrid Ericsson, eine der tüchtigsten und eifrigsten Schülerinnen der Klasse – auch im Fach Deutsch.

© Bildarchiv der Gemeinde Vimmerby (http://bildarkiv.vimmerby.se)

Wir wissen nichts über die Diskussionen, die Hanna und Samuel August zu dieser Zeit über die Zukunft und die Aussteuer ihrer ältesten Tochter geführt haben mögen, bevor sie ein Kirchenlied sangen und das Licht im Elternschlafzimmer auspusteten. Auch in Astrid Lindgrens autobiografischen Aufzeichnungen über das paradiesische Leben auf Näs finden sich nur wenige Passagen, die Aufschluss darüber geben könnten, was die Eltern von den Dingen hielten, bei denen sie nicht mit ihren Kindern einer Meinung waren.

Ob Hanna wohl den Wunsch ihrer fünfzehn, sechzehn Jahre alten Tochter unterstützte, ein journalistisches Volontariat bei der Vimmerby Tidning zu absolvieren, als sich die Möglichkeit dazu ergab? Und was mag Samuel August davon gehalten haben? Hatte er womöglich sogar im Vorfeld mit dem Chefredakteur der Zeitung darüber gesprochen? Falls ja, dann sicherlich mit gewisser Sorge und gewissem Widerstand von Hannas Seite. Denn Journalistinnen waren eine Seltenheit und Zeitungsredaktionen eine Männerdomäne, die in keiner Weise den demokratischen Durchbruch der Frauenrechte in Schweden um 1920 widerspiegelten. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass Hanna – zumindest im Stillen – den Wunsch der Tochter unterstützte, ihr Talent zum Schreiben weiterzuentwickeln und in die Welt der Worte einzutauchen. Schließlich hatte sie selbst, wie wir aus Das entschwundene Land wissen, als junge, unverheiratete Frau davon geträumt, ihre beachtlichen Lese- und Schreibfähigkeiten beruflich zu nutzen:

»Das Lernen war ihr immer leichtgefallen, in ihrem Abgangszeugnis hatte sie in allen Fächern ausnahmslos die Note ›Sehr gut‹. Einst hatte sie gehofft, Lehrerin zu werden, aber die Mutter war dagegen gewesen. Kam es ihr jetzt so vor, als gebe sie mit der Heirat unwiderruflich etwas auf?«

Hanna war vermutlich beunruhigt, aber auch ein wenig stolz, dass ihre tüchtige Tochter von der führenden Zeitung der Stadt eingestellt wurde. Es kam nur selten vor, dass Frauen, insbesondere so junge Mädchen, in Zeitungen schreiben durften oder überhaupt Einfluss auf die Berichterstattung hatten. Seit dem Modernen Durchbruch in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts gab es in Skandinavien zwar Journalistinnen, allerdings nicht sonderlich viele. Fünfzig Jahre später wurden in Schweden weiterhin nur wenige Frauen in den Redaktionen eingestellt – obwohl Elin Wägners 1910 erschienener Roman Pennskaftet (Der Federhalter) das Interesse an diesem neuen intellektuellen Arbeitsgebiet für Frauen erhöht hatte. Die schlagfertige, streitlustige Barbro, die Protagonistin von Wägners Roman, verkörperte nicht nur die moderne, finanziell unabhängige Frau, sondern sollte zugleich die Aufmerksamkeit auf einen neuen und vitalen Frauentypus lenken – die Meinungsbildnerin. Die sogenannten »Federhalter« setzten die Diskussion über das Wahlrecht der Frauen und weibliche Lebensziele außerhalb des Haushalts auf die Tagesordnung. Bereits in ihrem Debütroman Norrtullsligan (wörtl. Die Norrtull-Gang, die Verfilmung lief in Deutschland unter dem Titel Weibliche Junggesellen) aus dem Jahr 1908 hatte Elin Wägner die Landflucht junger Frauen wie Astrid Ericsson vorhergesehen. Wägner schrieb:

»Aber warte nur, bis diese für sich selbst sorgenden Frauen beginnen, sich in Stockholm ihre eigenen Wohnräume zu erschaffen. Dann entstehen dort ebenso viele kleine Kraftzentren, und die Welt wird sich wundern, was wir ausrichten können.«

Der Besuch eines Gymnasiums war keineswegs zwingende Voraussetzung für eine Journalistenlaufbahn im Schweden der Zwanzigerjahre. Die Zeitungen waren für die Ausbildung ihrer Journalisten allein verantwortlich, außerdem waren die damaligen Publizisten grundsätzlich der Ansicht, dass man für diese Arbeit entweder geboren sei oder auch nicht. Im Fall von Astrid Ericsson bildeten Talent und gute persönliche Verbindungen das Sprungbrett für die Einstellung als Volontärin. Die eigentliche Ausbildung war so gesehen sehr individuell und abhängig von der jeweiligen Zeitung. Das bedeutete, dass die Probezeit von ein paar Monaten bis zu ein paar Jahren dauern konnte.

Dass Astrid Ericsson als so junge Frau eine Stelle bei der Vimmerby Tidning bekam, lag am Chefredakteur und Inhaber der Zeitung Reinhold Blomberg (1877–1947), dem bereits einige Jahre zuvor die verblüffenden schriftlichen Fähigkeiten des jungen Mädchens aufgefallen waren. Eines Tages im Spätsommer 1921 hatte er in seinem Büro in der Storgatan Besuch von Studienassessor Tengström gehabt, der in der Schule Schwedisch, Deutsch und Englisch unterrichtete. Er wollte Blomberg einen ungewöhnlichen Aufsatz zeigen, den die erst dreizehnjährige Astrid Ericsson geschrieben hatte. Wäre das nicht etwas für die Zeitung? Der Aufsatz begann mit den Worten:

»Es ist ein schöner Augustmorgen. Die Sonne ist gerade aufgegangen, und die Astern, die in einem Beet mitten auf dem Hofplatz wachsen, heben ihre tauschweren Köpfe. Es ist so still, so still auf dem Hof. Nicht ein Mensch ist zu sehen. Doch warte, dort kommen ein paar kleine Mädchen, die sich eifrig miteinander unterhalten.«

Obwohl Blomberg weder Journalist noch Schriftsteller war, vermochte er doch zwischen einem guten und einem schlechten Erzähler zu unterscheiden. Das war zu jener Zeit notwendig geworden, denn die Zeitungsbranche befand sich im Wandel: Aus althergebrachten Parteiblättern wurden moderne Zeitungen, die sich an die ganze Familie richteten und nun weit mehr verkaufen mussten als nur Anzeigen, Bekanntmachungen, Diskussionsbeiträge und Moralpredigten. Die künftigen Leser wollten informiert und unterhalten werden. Das hatte der Geschäftsmann Blomberg begriffen.

Astrid Ericssons Schulaufsatz »På vår gård« (Auf unserem Hof) wurde am 7. September 1921 in der Vimmerby Tidning gedruckt. Der Text, der den Lesern als »Leseprobe einer für unsere heutige Jugend ganz ungewöhnlichen stilistischen Begabung« präsentiert wurde, hatte im Grunde alles, was man von einem journalistischen Unterhaltungsbeitrag in einer modernen Zeitung erwartete: eine Bühne, die im ersten Satz aufgebaut wird, Menschen, die man sofort vor sich sieht und an die man sich erinnert, sowie eine Menge sprachlicher Energie und Emotionen. Außerdem handelte er von etwas allgemein Bekanntem, womit sich erwachsene Leserinnen und Leser jeden Alters identifizieren konnten und wonach sie sich zurücksehnten. Später sollte das Thema dieses Aufsatzes eine zentrale Stellung im Werk der Schriftstellerin haben: das ungebundene, freie Spiel des Kindes.

Vier Spielkameraden auf Näs, bewaffnet mit Schaufel, Spaten und Bollerwagen. Von links: Gunnar, Astrid, Edit, die Tochter des Stallknechts, die Gunnar und Astrid unvergessliche Märchen vorlas, und ganz rechts eine Enkelin des Pfarrers aus dem Nachbarhaus.

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Um 1920 spielten die Kinder auf dem Land nahezu ständig im Freien, und ihre Spiele entstanden im engen Austausch zwischen Mensch, Tier und Natur. Astrid Ericssons eigene Kindheit war – wenn die Kinder nicht gerade auf dem Feld mithelfen mussten – so voller Spiele gewesen, dass sie sich fast zu Tode gespielt hätten, wie sie später oft erklärt hat. In ihrer kleinen Erinnerungsskizze im Buch Fyra syskon berättar (Vier Geschwister erzählen) schreibt Astrid:

»Die Spiele, ja, wie sie unsere Tage ausfüllten! Was wäre meine Kindheit ohne sie gewesen! Was wäre übrigens mit der Kindheit aller Kinder gewesen, wenn es keine Spiele in ihrem Leben gegeben hätte?«

In dem in der Vimmerby Tidning abgedruckten Aufsatz ging es um das intensive Spiel, das für die dreizehnjährige Verfasserin allmählich zu Ende ging. Dem Leser begegnen zwei Mädchen, die mit den Vorbereitungen für die feierliche Beerdigung einer toten Ratte beschäftigt sind. Würdevoll und mit großem Ernst werden das Tier und sein langer, dicker Schwanz in ein feines weißes Taschentuch eingewickelt und vorsichtig ins Grab gelegt, denn nun wird die Ratte zu Gott kommen:

»Ernst und stumm standen die beiden Kleinen da, und Maja rang sich aus Gründen des Anstands sogar eine Träne ab. Dann lächelte die Sonne, und die Astern beugten sich flüsternd einander zu. Vielleicht war es aber auch nur der Wind, der ihre Köpfe zusammenbrachte.«

Nach der Beerdigung der Ratte gibt es keinen Leichenschmaus, dafür kommen eine Menge Kinder in der Dämmerung zu neuen Spielen zusammen. Ausnahmsweise können sie sich nicht einigen, was sie spielen wollen. Sie sind erschöpft und müde, und daher endet das Ganze damit, dass die Kinder nach Hause gehen – doch das letzte Satzzeichen der Autorin ist ein Ausrufezeichen, denn morgen kommt ein neuer Tag mit neuen Spielen: »Gute Nacht, Rasselbande!«

Physik für Journalisten

Chefredakteur Blomberg vergaß weder den Schulaufsatz noch seine Autorin. Vielleicht wurden ihm auch noch andere Textproben der jungen Astrid Ericsson präsentiert. Bislang unbekannte und nicht publizierte Aufsatzhefte aus der damaligen Zeit belegen die imponierende Spannweite ihres Talents. Fünf weitere Schwedischaufsätze aus dem Jahr 1921 (neben »Auf unserem Hof« und dem Aufsatz über das Klosterleben aus dem Jahr 1923) zeigen eine blutjunge, aber geschickte Erzählerin, die sich ihrer sprachlichen Wirkungsmittel, der Genres und Stilarten sehr bewusst war und ihre Ausdrucksformen durchaus zu variieren vermochte.

Anfang Mai 1923 schreibt die fünfzehnjährige Astrid Ericsson in der Realschule einen Abschlussaufsatz über die Arbeit von mittelalterlichen Klosterbewohnern und lobt in diesem Zusammenhang die Mönche und Nonnen für ihre Fähigkeit, »den häufig halb verwilderten Kindern den Inhalt der Heiligen Schrift beizubringen«.

© Landesarchiv Vadstena

»Wir anderen schrieben ja so konventionell«, berichtete die neunzigjährige Greta Rundqvist am 11. November 1997 in der Vimmerby Tidning. »Schon in der Schule unterschieden sich Astrids Aufsätze von den übrigen und wurden vom Lehrer vorgelesen, der ihre Begabung erkannt hatte.« Ob sie von einer einsamen Wanderung von Vimmerby nach Krön berichtete, vom Heiligen Abend auf Näs erzählte, Anekdoten über einen Amerikareisenden aus dem Ort wiedergab oder einen spannenden Versuch im Physikunterricht beschrieb – sie konnte jeden einzelnen Text lebendig und für ihre Leser interessant gestalten. Ein beredtes Beispiel ist der Aufsatz »Ein elektrisches Experiment« aus dem Dezember 1921. Offenbar hatte die vierzehnjährige Astrid die Aufgabe erhalten, einen Bericht zu schreiben, und dann beschlossen, die Sache journalistisch anzugehen. Sie wählte die eher erzählerische Form der Zeitungsreportage und lockerte sie mit viel wörtlicher Rede auf. Auf diese Weise gelang es ihr, sogar die Laien unter den Lesern für Physik zu interessieren:

»›Passt gut auf, wir machen jetzt ein Experiment‹, sagte Fräulein H. Dann holte sie sechs Glasflaschen mit Metallstangen darin. ›Was ist das?‹, fragte sie. Tiefe Stille. ›Das ist ein Elektroskop. Jetzt werde ich euch erklären, woraus es besteht. Also, eine Glasflasche mit einem Korken aus Ebonit. Durch den Korken verläuft eine Metallstange in die Flasche hinein. Am oberen Ende der Metallstange sitzt eine blanke Kugel aus Stanniol, und am anderen Ende der Stange befinden sich zwei Goldfolien. Heute werden wir uns mit dem Elektroskop beschäftigen‹, beendete Fräulein H. ihre Einführung. Wir teilten uns in Gruppen auf, und jede Gruppe bekam ein Elektroskop und eine Ebonitstange. ›Was sollen wir mit der Ebonitstange machen?‹, riefen wir. ›Das Elektroskop aufladen‹, erwiderte das Fräulein. ›Und wie machen wir das?‹ ›Ja, das werde ich euch sagen, wenn ihr mich zu Wort kommen lasst. Aber so wie ihr schwatzt, ist das fast unmöglich. Nun, ihr wisst bereits, dass etwas elektrisch werden kann, wenn man daran reibt. Jetzt reibt eure Ebonitstange mit Wolle. Dann haltet ihr die Stange an die Stanniolkugel auf dem Elektroskop, legt den Finger auf die Kugel, nehmt ihn wieder weg und entfernt die Ebonitstange. Jetzt seht ihr, dass die Goldfolien, die vorher eng zusammensaßen, auseinandergefaltet sind. Wie ist es wohl dazu gekommen?‹ ›Ich weiß es‹, ruft eines der Mädchen. ›Es gibt zwei Sorten von Elektrizität, negative und positive. Jetzt sind die Goldplättchen mit der gleichen Elektrizität geladen, und daher stoßen sie einander ab, denn zwei Elektrizitätsmengen mit den gleichen Vorzeichen stoßen sich ab, während die mit verschiedenen Vorzeichen sich anziehen.‹ ›Vollkommen richtig‹, sagte Fräulein H.«

Ein gutes Jahr, nachdem sie 1923 die Mittlere Reife bestanden hatte, wurde Astrid Ericsson bei der Vimmerby Tidning als Volontärin eingestellt. Sechzig Kronen monatlich war der übliche Tarif für Volontäre im damaligen Schweden. Für dieses Gehalt mussten nicht nur Begräbnisnotizen, kurze Artikel und kleinere Besprechungen geschrieben werden, die Volontäre hatten auch Telefondienst zu leisten, mussten Artikel archivieren, Korrektur lesen und Besorgungen in der Stadt erledigen.

Die Vimmerby Tidning erschien zweimal pro Woche und bestand aus acht Seiten im Tabloidformat. Gedruckt wurden überwiegend Anzeigen und öffentliche Mitteilungen, dazwischen vereinzelte Nachrichten aus dem In- und Ausland. Das breite Spektrum reichte von internationaler Politik und Naturkatastrophen aus aller Welt bis hin zu kleinen Notizen über eine weitere unverheiratete Mutter irgendwo in Schweden, die vor Gericht stand, weil sie ihr Neugeborenes ertränkt oder erstickt hatte. Darüber hinaus fand der Leser Artikel über Sport, Mode und Haushaltsführung, außerdem ein Kreuzworträtsel und die populäre Spalte »Här och där« (Hier und da), in der kleine nervenaufreibende Neuigkeiten über Verbrechen, Unglücksfälle und merkwürdige Vorkommnisse aus Schweden erschienen. Es waren kuriose Geschichten aus der Realität, die sich eine fantasievolle und erzählfreudige Volontärin kaum entgehen ließ, denn hier hatte sie Gelegenheit, ihr Können zu zeigen. In »Hier und da« las man zum Beispiel von einem älteren Mann aus Hultsfred, der im Frühjahr 1925 am Sarg seines Freundes eine Rede halten sollte, dabei aber plötzlich selbst tot umgefallen war. Eine ebenso bemerkenswerte Begräbnisgeschichte aus Mulseryd erzählte von einer Frau, die zweiundzwanzig Jahre lang stumm gewesen war, bei der Beisetzung ihrer Mutter aber auf einmal laut und deutlich mit den Leuten in der Kirche redete.

Im freien Verkauf kostete die Vimmerby Tidning zehn Öre, für ein Jahresabonnement mussten vier Kronen bezahlt werden. Die Auflage lag gleichbleibend bei etwa fünftausend Exemplaren, und obwohl Reinhold Blomberg nicht das exklusive Recht auf die Neuigkeiten im Ort hatte, war das Konkurrenzblatt Nya Posten nur halb so groß und konnte in keiner Weise mit der Vimmerby Tidning mithalten – weder was die Anzeigenmenge und das Angebot an informativer und unterhaltender Journalistik betraf, noch bei der Anzahl der Mitarbeiter oder den Informanten aus den kleinen Dörfern in der Umgebung von Vimmerby.

Die erste Person, mit der Astrid Ericsson in ihrem Leben ernsthaft korrespondiert, ist ihr älterer Bruder Gunnar. In den Jahren 1922 bis 1926 besucht er eine Landwirtschaftsschule in Schonen. In diesen Jahren schreiben sich die Geschwister viele Briefe, die in einem ganz eigenen humoristisch-feierlichen Jargon gehalten sind und häufig Illustrationen von Astrids Hand enthalten. Hier ein besonders flottes Tanzpärchen aus dem Sommer 1925 mit dem Kommentar: »Ich hatte die Ehre, mit einem ausgesprochen flotten Handelsattaché zu tanzen, der heeeerlich tanzte!«

© Jens Andersen

Zwei Jahre war die junge Volontärin beim »Vimmerby-Käseblatt« angestellt, wie Astrid die Zeitung in einem Brief an den älteren Bruder Gunnar nannte, der in diesen Jahren auf eine Landwirtschaftsschule in der südschwedischen Landschaft Schonen ging. Allerdings lässt sich leider nicht feststellen, welche Artikel sie in dieser Zeit schrieb, da so gut wie kein journalistischer Beitrag der Zeitung namentlich gekennzeichnet wurde. Doch dass sie eine tüchtige, hellwache und besonders fleißige Volontärin war, die zwei Jahre lang die verschiedensten Themenbereiche der Zeitung bediente, belegt Reinhold Blombergs herzliches Empfehlungsschreiben vom August 1926, als die Anstellung plötzlich beendet werden musste. Aus dem Schreiben geht hervor, dass Astrid Ericsson während ihres Volontariats unterschiedlichste Büro- und Redakteurstätigkeiten ausgeübt hatte und stets zur Stelle gewesen war, wenn Not am Mann herrschte. Immer mit »guter Laune und einer Bereitschaft, die bemerkenswert war«, betonte der Chefredakteur.

Wie sehr die junge Astrid Ericsson von einer Zukunft als »Zeitungsmensch« träumte, erfuhr Gunnar, der ebenfalls gern eine journalistische Laufbahn eingeschlagen hätte, als einziger Sohn auf Näs aber den Hof übernehmen sollte, in einem Brief vom 18. März 1925. Eine jubelnde und glückliche kleine Schwester teilte ihm mit, dass sie bald nach Stockholm reisen werde, um zeichnen zu lernen (obwohl sie offenbar nicht wusste, wie man den Begriff »Croquis«, also Zeitungszeichner, schrieb). Diese Fähigkeit könne sie für ihre künftige journalistische Tätigkeit gebrauchen, habe Chefredakteur Blomberg gemeint, der Astrid einen Platz in der frisch gegründeten Malerschule seines Bruders besorgt hatte:

»Jetzt erzähle ich Dir eine große Neuigkeit. Ich werde am 1. April nach Stockholm reisen, um auf Henrik Blombergs Malerschule zu gehen. Du findest bestimmt, dass es passender gewesen wäre, wenn Du stattdessen dorthin gehen dürftest. Und das finde ich auch. Du wärst bestimmt ein viel besserer Zeitungsmensch geworden als ich. Aber, weißt Du, ich habe mich gequält und hart gearbeitet, bis ich die Zusage bekam. Ich hoffe, es macht Spaß. Aber es ist schon schade, dass ich nicht zu Hause bin, wenn Du im Frühjahr heimkommst. Es ist vorgesehen, dass ich Crocis lerne, oder wie das heißt. Sie behaupten, als Zeitungsmensch werde mir das nützen. Aber vermutlich nicht gerade bei der Zeitung von Vimmerby.«

Wandersfrauen

Welche der namentlich nicht gekennzeichneten Artikel, Notizen und Plaudereien in der Vimmerby Tidning von Astrid Ericsson stammen, ist wie gesagt nicht zu ermitteln. Von einigen Artikeln jedoch wissen wir durch Astrid Lindgrens eigene Worte, dass sie von ihr geschrieben wurden. Es handelt sich dabei um einige der längeren Beiträge, die Blomberg in seinem Empfehlungsschreiben vom August 1926 »Erzählungen« nannte und als Astrid Ericssons besondere Qualifikation hervorhob. Einer der Texte war am 15. Oktober 1924 erschienen und handelte von der Einweihung einer neuen Eisenbahnverbindung zwischen Vimmerby und Ydrefors. Zu diesem Ereignis hatten sich alle führenden Vertreter der Eisenbahngesellschaft, die Bürgermeister, die Gemeinderäte und der größte Teil der Journalisten Smålands versammelt. Insgesamt sechzig Personen, lauter Männer, die der guten Ordnung halber am Anfang der vierspaltigen Reportage aufgezählt werden mussten. Nach dieser ersten quälend langweiligen Spalte mit Namen, auf der vermutlich der Chefredakteur bestanden hatte, durfte die sechzehnjährige Reporterin sich endlich entfalten und ihre Fähigkeiten als Erzählerin in einer modernen Zeitung unter Beweis stellen. Die Atmosphäre der Reportage wurde sofort intensiver, plötzlich konnte man den Zug hören, in der Ferne den Rauch sehen, und dann …

»kam er endlich. Mit Fahnen und Girlanden auf der Lokomotive. Nach ein paar Minuten Aufenthalt setzte er sich wieder in Bewegung, wobei dreizehn Fahnen fröhlich zum Abschied winkten. In Amerika rasen die Züge bekanntlich mit einer so entsetzlichen Geschwindigkeit dahin, dass Tage und Nächte wie weiße und schwarze Striche vorbeisausen. Nun, das tat dieser Zug nicht. Er fuhr mit einer absolut angemessenen Geschwindigkeit dahin, die es einem ermöglichte, die hübsche Natur Smålands zu genießen. Hin und wieder kam man zu einer kleinen Station mit einem roten Bahnhofsgebäude, das über und über mit Girlanden geschmückt und voller Menschen war, die schauten und winkten. Und überall wehte natürlich die schwedische Flagge.«

Fünf fröhliche Frauen wandern in Richtung Westen (die sechste fotografiert). Vor ihnen liegt ein dreihundert Kilometer langer Marsch: am Vätternsee entlang, über Motala und Linköping und wieder zurück nach Vimmerby.

© Privatbesitz/Saltkråkan AB

Ein anderes Beispiel für Astrid Ericssons journalistisches Talent erhielten die Leser im Sommer 1925. »På luffen« (Auf der Walz) heißt eine fidele, frauenbewegte Fortsetzungsgeschichte in drei Teilen, in der sechs junge Mädchen aus Vimmerby auf einer anstrengenden Sommerwanderung durch Småland und Östergötland begleitet werden. Wie es guter journalistischer Brauch ist, erfährt der Leser zunächst die Prämissen dieser Fortsetzungsgeschichte, deren erster Teil am 11. Juli 1925 in der Vimmerby Tidning erschien:

»Dies soll ein Reisebrief werden, heißt es. Zweifellos wird es einer der miserablen Sorte, aber wir bitten um Nachsicht – um unserer Jugend willen. Er wurde nämlich von sechs jungen Damen fabriziert, die sich gestern früh auf eine Fußreise begaben, mit Vimmerby als Ausgangspunkt. Es handelt sich um Episoden und Eindrücke von dieser Wandertour, die einer größeren Öffentlichkeit mitgeteilt werden. Was hiermit geschieht! Es ist sicher am besten, mit dem Anfang zu beginnen. Der fand auf dem Marktplatz statt, als die Kirchenglocken gerade neun geschlagen hatten. Die Rucksäcke hatten wir auf dem Rücken, und an den Füßen trugen wir kräftige Schuhe. Und dann marschierten wir die staubige Straße entlang und tauften uns feierlich Ritter der Landstraße.«