Auf gute Nachbarschaft - Ben Worthmann - E-Book

Auf gute Nachbarschaft E-Book

Ben Worthmann

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Beschreibung

***********Das Drama einer tödlichen Obsession********** Jan und Christina geht es gut. Mit ihren beiden kleinen Kindern wohnen sie in einem schönen Haus und haben keine finanziellen Sorgen. Doch als eines Tages neue Nachbarn einziehen, zeigt sich, wie trügerisch diese Fassade ist. Plötzlich ist eine dunkle Vergangenheit wieder da und entwickelt eine zerstörerische Kraft. +++++++++++++++++++++ "Auf gute Nachbarschaft" ist das erste Gemeinschaftswerk von Karla und Ben Worthmann. Weitere Bücher von Ben Worthmann im Handel: Die Thriller "Die Frau am Tor", "Nocturno", "Das Grab der Lüge", "Tödlicher Besuch" sowie die Familientrilogie "Etwas ist immer", "Meine Frau, der Osten und ich" und "Leben für Fortgeschrittene"

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Ben Worthmann, Karla Worthmann

Auf gute Nachbarschaft

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1.

2.

3.

4.

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6.

7.

8.

9.

10.

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31.

32.

33.

Impressum neobooks

1.

Schon als er seine Bürotür hinter sich schloss, spürte Jan Hofmeister jenes Gefühl von Unbehagen, das ihn neuerdings überkam, wenn er sich nach Feierabend auf den Heimweg machte. Bis vor kurzem war das noch anders gewesen. Er hatte sich jedes Mal gefreut, wieder nach Hause zu kommen. Und oft genug war es ihm fast wie ein Wunder erschien, dass sein Leben noch einmal solch eine Wende zum Guten genommen, dass sich alles so gefügt hatte, wie es jetzt war. Nach den dunklen, quälenden Zeiten, die hinter ihm lagen, war das wahrhaftig kaum mehr zu erwarten gewesen. Dabei war er alles andere als ein gläubiger Mensch, in dessen Denken und Empfinden ein Begriff wie Wunder seinen Platz gehabt hätte. Und falls er das je gewesen wäre, sagte er sich, so hätte er seinen Glauben gewiss längst verloren, vor allem jenen an irgendeine Gerechtigkeit, sei sie nun von irdischer oder höherer Art.

Manchmal hatte er sich gefragt, ob es ihm überhaupt jemals gelingen würde, sich mit dem Unabänderlichen abzufinden und die Vergangenheit endgültig ruhen zu lassen. Auch als es erste Zeichen der Hoffnung gab, dass er es schaffen würde, hatte es noch immer vorkommen können, dass er so heftig aus Alpträumen hochschreckte, dass Christina neben ihm davon wach wurde und ihn beruhigen musste. Die Nächte, in denen so etwas geschah, waren in den letzten Jahren deutlich seltener geworden. Doch in dieser Woche war es gleich zweimal passiert.

Als er sich an diesem warmen Spätsommerabend auf seinem Rad dem Haus näherte, verlangsamte er die Geschwindigkeit und hielt dann für einen Moment inne, um den Anblick in sich aufzunehmen. Ja, es war gut, hier zu leben, musste er wieder denken, wie schon so oft in den zurückliegenden zwei Jahren, seit sie ihr Haus gekauft und bezogen hatten. Und das sollte, verdammt noch mal, auch so bleiben. Aber sofort meldeten sich wieder die Zweifel, ob es auch wirklich immer noch gut war und ob das auch weiterhin so sein würde.

Das helle, anderthalbstöckige Gebäude mit seinem Walmdach, den Gauben und den weißen Sprossenfenstern gehörte zu einer hübschen Siedlung am grünen Stadtrand, deren Bewohner vor allem gemeinsam hatten, dass sie es sich leisten konnten, hier auf eigenem Grund und Boden zu leben. Die Sonne stand bereits tief, sodass ihre Strahlen kaum noch das dichte Buschwerk durchdringen konnten, das das Grundstück auf der rechten Seite begrenzte. In der knapp mannshohen Hecke zur Straße hin schwirrten Insekten. Aus einigen Gärten und geöffneten Fenstern drangen Fetzen von Gesprächen und Musik zu ihm herüber, die aber den Eindruck idyllischer Ruhe nicht beeinträchtigen konnten. Irgendwo wurde gegrillt.

Die Straße war für den normalen Durchgangsverkehr gesperrt und Schwellen in der hellgrauen Pflasterung sorgten dafür, dass die Anwohner nur im Schritttempo fahren konnten, was sie aber nach Jans Einschätzung auch ohne diese verkehrspädagogische Maßnahme getan hätten.

Die freistehenden Einfamilienhäuser hatten sorgsam gepflegte Vorgärten und an die Terrassen grenzende Rasengrundstücke nach hinten hinaus, und alle waren sie ähnlich gestaltet. Man merkte ihnen die Handschrift ein und desselben Architekten an, der aber zugleich darauf geachtet hatte, dass nicht alle Häuser völlig gleich aussahen. Es gab Unterschiede sowohl in Farbe und Größe als auch bei der Form der Dächer.

Das Haus gegenüber beispielsweise war in einem rötlichen Ton gehalten, hatte ein abgeflachtes Dach und war auch ein bisschen größer als das von Jan und Christina, obschon die neuen Bewohner nur zu dritt waren, nachdem dort zuvor eine fünfköpfige Familie gewohnt hatte. Manchmal waren die beiden Wagen vor dem Tor geparkt – ein großer Mercedes-SUV und ein BMW-Cabrio. Auf Jan wirkte das so, als würden diese neuen Nachbarn einen gewissen Wert darauf legen, ihren Wohlstand zur Schau zu stellen. Aber er wollte nicht vorschnell aufgrund solcher Äußerlichkeiten urteilen, wozu er bisweilen neigte, wie er sich selbst eingestehen musste. Schließlich kannte er die Leute von gegenüber, ein Paar in seinem und Christinas Alter mit einem kleinen Sohn, bisher nur flüchtig vom täglichen Sehen und Grüßen. Sie waren ja auch erst vor ein paar Wochen dort eingezogen.

Doch da gab es etwas, das ihn beschäftigte, seit er zum ersten Mal den Mann gesehen hatte. Sofort hatte sich eine Art Déjà-vu-Gefühl eingestellt, und zwar kein gutes. Die Sekunden des ersten Anblicks waren fast wie ein Schockmoment gewesen, weil es zugleich ein Augenblick des Wiedererkennens war. Es kam ihm vor, als würde er kurz innerlich erstarren. Seither hatte er immer wieder versucht, die Ursache dafür zu ergründen und sich klar darüber zu werden, wann und wo er den Mann schon gesehen hatte. Doch es wollte ihm einfach nicht gelingen.

Christina, die kontaktfreudiger war als er selbst und schnell mit Menschen ins Gespräch kam, hatte sich inzwischen mit den Leuten von gegenüber bekannt gemacht und ihm erzählt, sie seien sehr nett und umgänglich und gewiss würden sie gut miteinander auskommen. Andreas Berger hatte einen leitenden Job bei einer Bank, seine Frau Kerstin arbeitete halbtags als Physiotherapeutin in einer großen Praxis. Ihr Sohn Hannes war sechs, ein Jahr älter als die Zwillinge, und gerade eingeschult worden. Und vor ein paar Tagen hatte ihm Christina mitgeteilt, dass es nun so weit sei und man sich wohl ein bisschen näher kennenlernen werde. Die Bergers hätten sie nämlich für diesen Samstag zum Abendessen eingeladen.

Jan stieg von seinem Fahrrad ab und schob es die letzten Meter bis zum Grundstückstor, um es dann in der Garage neben dem Volvo-Kombi an die Wand zu lehnen, und nahm die Tasche ab, die er am Gurt schräg über der Schulter getragen hatte. Ein Rucksack wäre sicherlich bequemer gewesen, aber er mochte diese grassierende Rucksackmode einfach nicht. Während er einen Blick auf den dunkelgrauen Wagen warf, dachte er, dass er mal wieder eine Wäsche vertragen könnte, auch wenn er nicht dauernd so zu blinken und blitzten wie die Fahrzeuge der Nachbarn gegenüber. Christina und er hatten beschlossen, dass ein Familienauto vollauf genügte, zumal es fast nur sie es war, die den Wagen wirklich benötigte, vor allem, um die üblichen Einkäufe zu erledigen, die Zwillinge zur Kita zu fahren und selbst zu der von ihrem Haus etwas abgelegenen Grundschule zu gelangen, in der sie seit Jahren als Lehrerin arbeitete.

Jan nahm das Rad für die zwei Kilometer zur S-Bahnstation, von der er mit dem Zug in knapp zehn Minuten bequem beim Verlag war. Manchmal legte er die Strecke auch zu Fuß zurück. Das erschien ihm nicht nur aus Rücksicht auf die Umwelt vernünftig. Er merkte auch, dass ihm die Bewegung ganz gut tat, zusätzlich zu den Gymnastik- und Yoga-Übungen, die er seit damals auf Anraten der Therapeuten täglich absolvierte. Tatsache war aber außerdem, dass er einfach nicht gern Auto fuhr, schon gar nicht in dieser großen Stadt, wo die allgemeine Hektik nur allzu leicht in Rücksichtslosigkeit und Aggressivität umschlug. Umso mehr wusste er es zu schätzen, dass sie jetzt hier praktisch wie auf dem Lande lebten, in ihrem behaglichen Refugium, in sicherer Entfernung von all dem Lärm und der Hektik der Metropole – weit weg aber vor allem von Altenstedt, jener Stadt, aus der er stammte, in der er geboren und aufgewachsen war und bis vor achtzehn Jahren gelebt hatte.

Als er Altenstedt damals verlassen hatte, war das wie eine Flucht gewesen und er war seither nie mehr dorthin zurückgekehrt. Der Name der Stadt war für ihn zum Synonym für die dunkelsten Stunden und Tage seines Lebens geworden.

Auf dem Weg zur Haustür stellte er fest, dass er seinen Schlüssel nicht dabei hatte, was bisweilen vorkam. Bevor er anklingeln konnte, wurde die Tür schon aufgerissen und Paul und Marie kamen ihm entgegengestürmt.

„Papi, Papi, schön, dass du endlich da bist“, riefen beide fast gleichzeitig.

„Ja, ich freue mich auch, ihr beiden Wilden.“

„Wir sind gar nicht wild, sondern ganz brav“, widersprach ihm Paul. „Wir haben nämlich ganz alleine freiwillig unsere Sachen aufgeräumt.“

„Na ja, das ist dann vielleicht doch ein bisschen übertrieben“, korrigierte ihn lächelnd seine Mutter, die aus der Küche in die Diele getreten war. „Ganz so freiwillig war das nun auch wieder nicht.“

Während Jan die Tür hinter sich schloss und seine Tasche abstellte, kam Christina näher, um ihn mit einer kurzen Umarmung und einem Kuss zu begrüßen. Sie trug Shorts und ein T-Shirt und er spürte für einen Moment die Wärme ihres schlanken, hochgewachsenen Körpers, der nur wenig kleiner war als sein eigener. Immer noch wirkte sie sehr jung mit ihrem feingeschnittenen Gesicht, dem kurzen dunklen Haar, mit ihrer lebhaften, offenen Art - jünger jedenfalls, als es die fünf Jahre Altersunterschied vermuten ließen, die er ihr mit seinen knapp vierundvierzig voraus war. Immer noch kam es vor, dass sich beim Anblick Christinas Anblick ein anderes Bild vor sein inneres Auge geschoben und er gewisse Vergleiche angestellte, obschon er es eigentlich gar nicht wollte.

„Hast du an den Wein für die Bergers gedacht?“, fragte sie.

„Welchen Wein? Ach so, ja. Tut mir leid, den habe ich vergessen.“

2.

Christina schaute in den Kühlschrank und überlegte kurz: Käse, Schinken, Tomaten, Radieschen? Am besten alles, entschied sie. Das Abendessen würde heute eher bescheiden ausfallen. Jan hatte mit einem Kollegen zu Mittag gegessen und für sie und die Kinder war noch ein Rest Spaghetti Bolognese vom Vortag übrig gewesen. Sie warf einen Blick durchs Küchenfenster. Jan war schon da, er schob sein Rad Richtung Garage. Wie gut er aussah, dachte sie, so jung und lässig. Und in Jeans, hellblauem Hemd und dunkelblauem Jackett sah er ganz besonders gut aus. So war er auch bei ihrer allerersten Begegnung gekleidet gewesen, als sie sich sofort in ihn verliebt hatte.

Heute Abend erschien ihr das Leben leicht und unbeschwert. Alles war genau so, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Und wenn auch nach wie vor, in den tiefsten Tiefen ihres Bewusstseins, noch ein winziger Rest von Unsicherheit und Vorsicht lauerte, glaubte sie doch sicher sein zu können, dass sie eine fröhliche, glückliche Familie bleiben würden, auch wenn es noch vorkam, wie kürzlich wieder, dass er in der Nacht aus dem Schlaf aufschreckte und sich kurz, offenkundig verwirrt, in seinem Bett aufsetzte. Er hatte vor Jahren Schreckliches erlebt. Und wahrscheinlich würde es infolge dieses Traumas immer mal wieder kleine Rückfälle geben. Damit mussten sie leben. Doch sie war sich sicher, dass Jan seine Dämonen, wie sie es nannte, im Grunde besiegt hatte.

Er war ein liebevoller, verantwortungsbewusster Vater. Seine Arbeit machte ihm Freude und wurde gut bezahlt. Und trotz zahlreicher Überstunden und anstrengender Phasen fuhr er doch jeden Morgen gern in sein Verlagsbüro. Auch nach zehn gemeinsamen Jahren war Christina noch immer verliebt in ihn. Und umgekehrt, davon war sie überzeugt, verhielt es sich nicht anders.

Damals, als sie an einem Freitagabend so ungewollt tapsig in sein Leben gestolpert war, hatten Jahre großer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit hinter ihm gelegen. Und noch immer hatte es ihn viel Kraft gekostet, Beruf, Alltag und soziale Kontakte zu meistern. Sie hatte ihn als einen Menschen kennengelernt, der sehr zurückgezogen lebte und am liebsten für sich blieb. Er war nicht sonderlich gesprächig, private Fragen und Bekundungen von Interesse an seiner Person wusste er rasch abzublocken.

Obwohl sich Christina sofort stark zu ihm hingezogen gefühlt hatte, war sie einige Male kurz davor gewesen aufzugeben. Es waren anstrengende Monate gewesen, ein einziges Gefühlschaos, eine regelrechte Berg- und Talfahrt zwischen Hoffnung, Euphorie, Frustration und Zurückweisung. Wenn sie glaubte, einen Schritt vorangekommen zu sein, stieß er sie zwei Schritte zurück. Doch obschon sie lange Zeit nicht ahnte, was mit ihm los war und was ihn so hatte werden lassen, wie er damals war, blieb sie geduldig und verständnisvoll. Sie hatte bis dahin gar nicht gewusst, wie leidensfähig sie sein konnte. Vielleicht, weil sie gespürt hatte, dass er nicht einfach nur ein merkwürdiger Kauz war, sondern dass dieser Mann etwas Schweres, noch nicht Verarbeitetes mit sich herumschleppte. Und tatsächlich, nach und nach bröckelte die Mauer um ihn herum, er gewährte ihr Zugang, begann zu erzählen. Bis sie schließlich alles wusste.

Dabei war der erste Abend ihres Kennenlernens nicht ohne Komik verlaufen. Es gab eine Lesung in einer Buchhandlung, die Christina oft und gern aufsuchte. Von dem Autor, der sein neues Buch vorstellte, hatte sie schon einiges gelesen. Sie saß in der dritten Stuhlreihe, fast in der Mitte, das Begrüßungsglas Prosecco in der Hand, und betrachtete entspannt das ankommende Publikum. Einige der Leute kannte sie vom Sehen, man nickte einander freundlich zu.

Und dann kam Jan, dieser großgewachsene, etwas schlaksig wirkende blonde Mann, bei dessen Anblick Christina unwillkürlich für einen Moment den Atem anhielt. Er trug Jeans, ein hellblaues Hemd und ein dunkelblaues Jackett. Offensichtlich wurde er erwartet. Die Buchhändlerin und der bereits anwesende Schriftsteller begrüßten ihn freundschaftlich per Handschlag.

Christina saß jetzt aufrecht. Wie gebannt betrachtete sie die Szene, wobei ihr Blick immer wieder auf dem großen blonden Mann haften blieb. Genau mein Typ, schoss es ihr durch den Kopf. Und dann konnte sie nur noch eines denken – dass sie ihn unbedingt kennenlernen musste. Am besten würde sie versuchen, beim anschließenden Umtrunk irgendwie mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Wenn sie etwas wirklich erreichen wollte, konnte Christina äußerst zielstrebig sein, nicht nur in Alltagssituationen, sondern auch in Bezug auf Männer. Das lag sicher mit darin begründet, dass sie Einzelkind war, umsorgt von liebevollen Eltern, die sie gefördert und in ihrem Selbstbewusstsein bestärkt hatten. Sie hatte einige Beziehungen hinter sich, aber letztlich war es dann doch nie der Richtige gewesen, zumindest nicht im Hinblick auf das, was sie für ihre Zukunft plante, nämlich zu heiraten und Kinder zu haben. Im Moment war sie Single und war mit ihrem Leben ganz zufrieden, zumal sie sich in ihrem Beruf als Grundschullehrerin wohl fühlte. Torschlusspanik hatte sie mit ihren neunundzwanzig Jahren jedenfalls noch nicht verspürt. Und das Gerede von der biologischen Uhr, die angeblich irgendwann zu ticken begann, fand sie einstweilen nur lächerlich. Alles würde sich fügen.

Sie wusste, dass sie gut aussah und bei den Männern gut ankam. Das Gesamtpaket stimmte, wie man so sagte und ihr schon oft genug bestätigt worden war. Sie galt als intelligent und vielseitig interessiert, dabei ziemlich unkompliziert, wusste sich schick zu kleiden und achtete auf ihre Figur. Zweimal die Woche ging sie ins Fitnessstudio, wenn auch ohne allzu große Ambitionen. Sie war wirtschaftlich unabhängig, hatte eine schöne Wohnung und viele Freunde und Bekannte. Aber sie konnte auch gut allein sein und ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, dem Lesen.

Jan saß in der ersten Reihe, ganz außen, sodass Christina schräg über die Köpfe der Vorderleute hinweg einen guten Blick auf ihn hatte. Er saß ein bisschen ausgestreckt, die langen Beine nach vorne geschoben, so als wäre der Stuhl etwas zu klein oder unbequem. Seine Arme hatte er irgendwie vor dem Oberkörper zusammengelegt. Christina konnte den Blick nicht von ihm wenden. Sie registrierte die etwas zu langen Haare, die über den Jackettkragen ragten, die gut geformte Nase, den leicht gebräunten Teint. Alles, was sie sah, gefiel ihr ausnehmend gut. Christina spürte deutlich, dass sie bereit war für eine neue Liebe. Und genau dieser Mann sollte es sein.

Sie konnte kaum das Ende der Lesung abwarten. Viel bekam sie davon ohnehin nicht mit. Irgendwann war der Vortrag mehr oder weniger an ihr vorbeigerauscht, das Prosecco-Glas plötzlich leer. Pflichtgemäß applaudierte sie, dann kramte sie schnell in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift und zog sich ohne Spiegel gekonnt die Lippen nach. Sie holte sich ein frisch gefülltes Glas und versuchte, sich zu orientieren. Mittlerweile waren alle Besucher von ihren Stühlen aufgestanden und bewegten sich in Richtung des kleinen Buffets.

Christina entdeckte Jan sofort, wie er inmitten eines Pulks von Gästen stand. Immer wieder an ihrem Prosecco nippend, hatte Christina die Gruppe fast erreicht, als es passierte. Sie verschluckte sich so heftig, dass sie für einen Moment das Bewusstseins zu verlieren meinte. Das halbvolle Glas fiel ihr aus der Hand, Tränen schossen ihr aus den Augen, hustend und prustend versuchte sie, wieder zu Atem zu gelangen. Jan war sogleich bei ihr. Mit seiner linken Hand nahm er ihren Unterarm, mit der anderen zog er ein Papiertaschentuch aus seiner Jacketttasche und drückte es ihr in die Hand.

„Ganz ruhig, das ist gleich vorbei“, hörte sie ihn sagen und dachte, was für eine angenehme Stimme er hatte, während sie sich, immer noch nach Luft ringend, die Augen tupfte und zu lächeln versuchte.

„Vielen Dank auch“, brachte sie schließlich hervor und blickte ihm ins Gesicht, in seine blauen Augen.

„Das wäre ja wohl überstanden“, meinte er mit einem Nicken.

„Nochmals vielen Dank“, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. „Ich heiße Christina Reichenbach.“

Er nahm ihre Hand und drückte sie fest.

„Jan Hofmeister“, sagte er und lächelte kurz, dann wandte er sich ab. Noch immer schauten einige der Gäste nach ihr. Ein älterer Herr hatte inzwischen die Scherben vom Fußboden aufgesammelt. Christina kam sich klein und lächerlich vor, nachdem ihre Strategie so gründlich fehlgeschlagen war. Sie wollte nur noch nach Hause.

In den folgenden Tagen und Wochen dachte sie viel an Jan. Zunächst hatte sie auf seinen Anruf gehofft, schließlich kannte er ja ihren Namen. Um ehrlich zu sein, sie hatte sich seinen Anruf sehnlichst gewünscht. Nach zwei Wochen wurde ihr dann allmählich klar, dass er sich nicht melden würde. Aber sie wollte ihn unbedingt wiedersehen. Noch fehlte ihr der Mut, ihn anzurufen und den ersten Schritt zu tun. Ein paarmal hatte sie bereits die ersten Zahlen eingetippt, nachdem sie seine Nummer auf der Homepage des Verlags, bei dem er als Lektor arbeitete, gegoogelt hatte, sich dann aber doch nicht getraut. Sie hatte Angst, sich zu blamieren und abgewiesen zu werden.

Dann begann sie zu überlegen, ob sie ihn vielleicht unter irgendeinem Vorwand kontaktieren und beispielsweise sagen könnte, sie plane ein Buch und benötige dafür fachmännischen Rat, fand diese Idee jedoch selbst zu abwegig. Nein, solche Spielchen und Tricksereien waren letzten Endes zu kompliziert und außerdem so gar nicht ihr Ding.

Nach langem Zögern entschied sie sich dann doch für den direkten Weg und wählte eines Nachmittags, mit Herzklopfen und leicht zitternden Fingern, seine Büronummer und wurde nach kurzem Warten vom Sekretariat weiterverbunden. Da sie nicht mehr davon ausging, dass er sich an ihren Namen erinnerte, meldete sie sich als „die Frau, die besser keinen Prosecco trinken sollte“, was ihn zu belustigen schien.

„Natürlich, ja, ich erinnere mich“, sagte er nach einem kleinen Zögern.

„Ich dachte mir, wir könnten uns vielleicht irgendwo auf ein Glas Wein treffen“, fuhr sie fort, um keine Pause entstehen zu lassen.

Aber Jan ließ sich mit der Antwort so lange Zeit, dass ihr Herz bis zum Hals zu schlagen begann.

„Das lässt sich machen“, sagte er schließlich. „Eigentlich eine nette Idee.“

Alles Weitere war schnell besprochen. Als sie mit feuchten Fingern das Telefon aus der Hand legte, spürte sie Freude und auch ein bisschen Triumph. Jetzt würde es laufen, da war sie sicher.

3.

Christina war gespannt auf den Abend bei ihren Nachbarn. Kerstin Berger hatte „ein fantastisches Menü“ und guten Wein versprochen. „Wir müssen doch gebührend auf unser Kennenlernen anstoßen“, hatte sie lachend gemeint. Christina mochte die beiden. Ein schickes Paar, hatte sie schon oft gedacht – immer freundlich, stets bereit, ein paar Sätze zu wechseln oder auch nur einen guten Tag oder guten Weg zu wünschen. Ihr Sohn Hannes war ein aufgeweckter Junge und hatte bereits Interesse an Marie und Paul bekundet. Die drei hatten einander kurz beschnuppert und schnell für akzeptabel befunden. „Der ist voll okay“, hatte Paul erklärt. Christina war froh, dass die beiden so rasch einen neuen Freund gefunden hatten. Wieder einmal musste sie denken, wie beneidenswert unbefangen und unkompliziert Kinder doch sein konnten.

Christinas Unterhaltungen mit den Nachbarn hatten sich bisher immer zufällig ergeben, wenn man einander über den Weg lief. Und zu mehr als einem Austausch von ein paar freundlichen Banalitäten war es dabei nicht gekommen. Sie hatten über das schöne Spätsommerwetter gesprochen, über die immer noch nicht vollständig ausgepackten Umzugskartons, die Herbstbepflanzung für die Gärten. Die Bergers wollten einen Gärtner kommen lassen und Christina hatte leicht amüsiert gedacht, dass das irgendwie zu ihnen passte, genau wie die tadellos gepflegten teueren Autos und die elegante Kleidung.

Ob Kerstin Berger wohl Jeans in ihrem Kleiderschrank hatte? Christina konnte es sich kaum vorstellen. In mancherlei Hinsicht schienen die Bergers nun mal andere Prioritäten zu setzen als sie und Jan. Doch Christina war weit davon entfernt, ihre neue Nachbarin deswegen gleich als oberflächlich abzustempeln. Für sie selbst gehörten Kleider und Kostüme zwar nicht gerade zum Alltagsoutfit, aber Frau Berger standen sie und sie sah darin immer gut aus. Und mehr darüber nachzudenken oder gar irgendwelche Charaktereigenschaften daraus abzuleiten, negative womöglich, lohnte einfach nicht.

Bisher gab es für Christina nichts zu bekritteln, ganz im Gegenteil. Gerade erst, als sie nachmittags außerplanmäßig zu einer Schulkonferenz gemusst hatte und ihre Eltern nicht verfügbar waren, hatte sich Kerstin Berger ohne Zögern bereiterklärt, die Zwillinge für ein paar Stunden zu beaufsichtigen. Das sei doch selbstverständlich, hatte sie versichert und Christina spürte, dass es ihr Freude machte, helfen zu können. „Die Mama von Hannes ist echt cool“, hatte Marie am Abendbrottisch erklärt. Christina war der gleichen Meinung. Und sie war ehrlich dankbar. Genau so stellte sie sich eine gute Nachbarschaft vor.

Christina war bereits startklar für den Abend, als Jan aus dem Garten kam. Er wollte ein Rosenbeet anlegen und hatte einige Vorarbeiten erledigt. Sie hatte derweil geduscht, sich sorgfältig geschminkt und ein schlichtes weißes Sommerkleid angezogen, das eng anlag und ihre schlanke Taille und die hübschen Beine zur Geltung brachte. Während sie die Kinder zu ihren Eltern brachte, wo sie übernachten durften, konnte auch Jan sich in Ruhe duschen und umziehen. Christina hatte zusätzlich zu dem Wein, den Jan dann doch noch besorgt hatte, eine lilafarbene Hortensie in einem Terracottatopf für die Bergers gekauft. Zum Winter konnte sie in den Garten ausgepflanzt werden. Und mit ein bisschen Glück würde in ein paar Jahren ein richtiger Busch daraus werden.

Als sie die Straße überquerten, wurde die Haustür bereits geöffnet und Andreas Berger hieß sie lachend und wortreich willkommen. Er nahm Jan den schweren Blumentopf aus den Händen und stellte ihn neben der Tür ab. Kerstin Berger tauchte hinter ihm auf, auch sie strahlte. „Wie schön, dass Sie da sind“, sagte sie herzlich und bedankte sich für die Pflanze. Und dann saßen sie auch schon an dem großen Esstisch, jeder mit einem Glas Sekt in der Hand, und stießen auf einen schönen Abend an.

Frau Berger entschuldigte sich, sie habe noch ein paar Handgriffe in der Küche zu erledigen. Christinas Hilfe lehnte sie ab. Herr Berger hatte bereits nach kurzer Zeit Fahrt aufgenommen und dozierte über Eichenholzparkett, Carrara-Marmor und Kirschlorbeer-Anpflanzungen. Während Christina versuchte, wenigstens mit einem Ohr zuzuhören, ließ sie ihren Blick durch das große, lichtdurchflutete Wohnzimmer schweifen. Was sie sah, gefiel ihr: Möbel aus Pinienholz, das schlichte weiße Sofa mit dazu passenden Sesseln, die Bilder an den Wänden, die zwei Stehlampen, die elegante Glasvitrine. Alles wirkte gediegen und sorgfältig ausgesucht. Und, wer hätte das gedacht, es gab sogar ein Bücherregal. Bestimmt würde Jan irgendwann hingehen und sich anschauen, was diese Leute so lasen.

Das Essen war in der Tat vorzüglich. Es gab eine Pfifferlingsuppe, Rinderbraten in Rotweinsoße, Kartoffelgratin und Salat. Das Walnusseis zum Dessert war selbstgemacht. Die Gastgeberin hatte sich sichtlich viel Mühe gemacht, auch mit dem festlich gedeckten Tisch. Christina wagte es kaum, ihre Lippen mit den blendend weißen Servietten abzutupfen. Stoffservietten, so etwas gab es in ihrem eigenen Haushalt gar nicht.

Die Unterhaltung verlief ohne Stocken, dafür sorgte schon Andreas Berger, der sich als so etwas wie der Alleinunterhalter erwies. Es schien fast, als hätte er Angst davor, dass plötzlich ein Moment des Schweigens eintreten könnte. Christina und Jan erfuhren, dass er nicht nur kochen konnte – das Gratin war von ihm -, sondern auch ein äußerst versierter Heimwerker war. Bei der Innenausstattung hatte er selbst Hand angelegt und für die nächsten Wochen plante er, noch so einiges für das Gästezimmer anzufertigen. Christina saß ihm gegenüber. Sie fand, dass er auch in Polohemd und Jeans gut aussah, vielleicht sogar noch besser als in seinen Maßanzügen. Er hatte sehr gepflegte Hände und Fingernägel. An der rechten Hand trug er einen schmalen goldenen Ehering, was in Christinas Augen einen weiteren Pluspunkt ausmachte. Sie schätzte es, wenn Männer, für jeden sichtbar, ihre Verbundenheit mit ihrer Frau erkennen ließen.

Als weniger angenehm empfand sie seine Unruhe. Sein Körper schien dauernd in Bewegung zu sein. Er gestikulierte mit Armen und Händen, oft strich er sich durch das dunkle, kurzgeschnittene Haar. Es kostete ihn sichtlich Mühe, anderen zuzuhören, alles schien ihm viel zu lange zu dauern. Sein Blick hatte etwas Unstetes. Ein paarmal versuchte Christina, ihm fest in die Augen zu sehen, wenn sie ihn direkt ansprach. Aber er wich aus, konnte ihrem Blick nicht standhalten. Ein- oder zweimal legte ihm seine Frau die Hand auf den Arm und meinte lächelnd, jetzt sei sie aber mal dran.

Schließlich forderte er Jan zu einer Hausbesichtigung auf. Oh Gott, dachte Christina, die beiden allein, hoffentlich geht das gut. Schon den ganzen Abend hatte sie immer wieder registriert, dass Jan sich offenkundig unbehaglich fühlte. Kaum verhohlen schaute er häufig auf seine Armbanduhr, beteiligte sich kaum an den Gesprächen und wenn, dann wortkarg und lustlos. Tatsächlich zögerte er einen Moment, bevor er sich betont langsam aus seinem Sessel erhob und Andreas Berger mit einem gequälten Lächeln zum Treppenhaus folgte.

Christina empfand das Alleinsein mit Kerstin Berger als regelrechte Erholungspause. Endlich gab es eine Gelegenheit, in Ruhe zu plaudern. Es stellte sich heraus, dass sie beide in dieser Stadt geboren und aufgewachsen waren, während ihre Männer vor längerer Zeit zugezogen waren. Kerstin Berger war siebenunddreißig, ihr Mann zweiundvierzig, zwei Jahre jünger als Jan. Vor acht Jahren hatten sie geheiratet, weitere Kinder waren nicht geplant.

„Woher stammt denn Ihr Mann eigentlich?“, wollte Christina wissen.