Auf krummen Wegen geradeaus - Dr. med. Lisa Federle - E-Book + Hörbuch

Auf krummen Wegen geradeaus Hörbuch

Dr. med. Lisa Federle

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Beschreibung

Lisa Federle, Deutschlands bekannteste Notärztin erzählt ihre Lebensgeschichte - das autobiographische Sachbuch einer starken Frau. Ihre selbstlose Art beeindruckt die Menschen immer wieder: 2015 wurde Lisa Federle bundesweit bekannt, als die Tübinger Notärztin eine rollende Arztpraxis zur Versorgung der Flüchtlinge einrichtete. Später verbesserte Lisa Federle damit die medizinische Versorgung von Obdachlosen, und seit 2020 ist sie als rollende Teststation in der Corona-Pandemie unterwegs und war ein wichtiger Baustein des sogenannten Tübinger Modells. Im Frühjahr 2021 rief sie mit Jan Josef Liefers und Michael Antwerpes die Initiative #BewegtEuch ins Leben, um benachteiligten Kindern und Jugendlichen sportliche Aktivitäten zu ermöglichen. Handeln, um zu helfen, das ist ihr Lebensmotto. Lisa Federle gilt mittlerweile vielen als tatkräftige Frau, die mitten im Leben steht, die sich immer durchkämpfen musste, die die Probleme mutig und wenn es sein muss unkonventionell angeht und dabei nie den Menschen aus dem Blick verliert. Für ihr soziales Engagement wurde die Notärztin 2020 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Nun erzählt Lisa Federle ihre Lebensgeschichte, von der Kindheit in einem sittenstrengen protestantischen Elternhaus bis zu ihrem sozialen Engagement für Flüchtlinge, Obdachlose, Unfallopfer und Kinder. Lisa Federles Lebensgeschichte ist die Geschichte einer selbstbewussten und erfolgreichen Frau, die unverdrossen ihren Weg gegangen ist und sich dabei nie verbiegen ließ.

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Zeit:10 Std. 5 min

Sprecher:Lisa Rauen
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Dr. med. Lisa Federle

Auf krummen Wegen geradeaus

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Über dieses Buch

Lisa Federle, Deutschlands bekannteste Notärztin erzählt ihre Lebensgeschichte – das autobiographische Sachbuch einer starken Frau.

Ihre selbstlose Art beeindruckt die Menschen immer wieder: 2015 wurde Lisa Federle bundesweit bekannt, als die Tübinger Notärztin eine rollende Arztpraxis zur Versorgung der Flüchtlinge einrichtete. Später verbesserte Lisa Federle damit die medizinische Versorgung von Obdachlosen, und seit 2020 ist sie als rollende Teststation in der Corona-Pandemie unterwegs und war ein wichtiger Baustein des sogenannten Tübinger Modells. Im Frühjahr 2021 rief sie mit Jan Josef Liefers und Michael Antwerpes die Initiative #BewegtEuch ins Leben, um benachteiligten Kindern und Jugendlichen sportliche Aktivitäten zu ermöglichen.

Handeln, um zu helfen, das ist ihr Lebensmotto. Lisa Federle gilt mittlerweile vielen als tatkräftige Frau, die mitten im Leben steht, die sich immer durchkämpfen musste, die die Probleme mutig und wenn es sein muss unkonventionell angeht und dabei nie den Menschen aus dem Blick verliert. Für ihr soziales Engagement wurde die Notärztin 2020 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Nun erzählt Lisa Federle ihre Lebensgeschichte, von der Kindheit in einem sittenstrengen protestantischen Elternhaus bis zu ihrem sozialen Engagement für Flüchtlinge, Obdachlose, Unfallopfer und Kinder.

Lisa Federles Lebensgeschichte ist die Geschichte einer selbstbewussten und erfolgreichen Frau, die unverdrossen ihren Weg gegangen ist und sich dabei nie verbiegen ließ.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Bilder und Erfahrungen

1 Tod des Vaters

2 Pietismus – ein enger Weg

3 Eine folgenschwere Entscheidung

4 Eine schockierende Erkenntnis

5 Allein mit zwei Kindern

6 Einmal Wirtin, aber nicht immer Wirtin

7 Dunkle Tage

8 Ärztin – weil es mir um die Menschen geht

9 »Frau Federle, Sie hätte ich gern als Tochter gehabt«

10 Notärztin – zwischen Hoffnung und Wirklichkeit

11 Das Seelenkonto füllt sich

12 Zeit für Helden

13 Ein unerwartetes Date

14 Politik – die Sache mit den besten Freunden

15 Wer die Wahl hat …

16 Politik-Booster Rezzo

17 Ein ganz normaler Flug

18 Familienleben mit Stabilisierungsfaktor

19 Gute Freunde kann niemand trennen

20 Beste Freundinnen und die Jungs

21 Auch Helfer müssen mal feiern

22 Ein Picasso auf der Rückbank, ein Warhol in der Uni

23 Happy Birthday

24 Irgendwas mit Medien

25 Männersache

26 Migranten und die mobile Arztpraxis

27 Patienten bei mir zu Hause

28 Diagnose Brustkrebs

29 Was bedeutet eigentlich Gesundheit?

30 In der Pandemie – das Tübinger Modell

31 Das Testen geht weiter

32 Auf dem Teppich bleiben mit dem Bundespräsidenten

33 BewegtEuch

34 Alltag

35 Welten bauen für Zufriedenheit

Statt eines Nachworts – mein persönliches Abc

Bilder und Erfahrungen

Eigentlich alles Routine, als ich an jenem Sonntagnachmittag zusammen mit Ludwig am Flughafen von Palma de Mallorca die Maschine nach Stuttgart bestiegen hatte. Wir hatten ein paar wunderschöne Urlaubstage zusammen verbracht – mit Tapas-Essen, Haus-Renovieren und erholsamen Stunden am Strand. Ähnlich entspannt wirkten auch die anderen Fluggäste an diesem Abend. Der Flug begann wie immer, mittlerweile war mir längst vertraut, welchen Kurs die Flieger nehmen. Bisweilen gibt es kleine Abweichungen, eine deutlich spürbare Kurve nach dreißig Minuten ließ mich allerdings aufmerksam werden. Das konnte tausend Gründe haben, beruhigte ich mich, nippte an meinem Kaffee und las die letzten Seiten meines Buchs.

Die entspannte Stimmung wurde jäh unterbrochen von einer Durchsage: »Liebe Fluggäste, hier spricht Ihr Kapitän. Leider haben wir einen technischen Defekt, dessen Ursache noch unklar ist. Es besteht kein Grund zur Sorge. In Absprache mit unserer Leitstelle haben wir uns zu einer Sicherheitslandung in Marseille entschlossen. Bis dahin dauert es noch etwa zehn Minuten. Bleiben Sie ruhig und folgen Sie den Anweisungen der Flugbegleiter.«

Ludwig und ich schauten uns erschrocken an. Tief unter uns sahen wir das Meer im abendlichen Licht. Die Stewardessen zeigten den Gebrauch der Schwimmwesten, anders als sonst bei dieser Vorführung schauten diesmal alle Passagiere sehr aufmerksam zu. Plötzlich blinkte es überall in der Kabine. Die »Exit«-Zeichen leuchteten auf, und am Boden flackerten Leuchtstreifen, die ich zuvor nie wahrgenommen hatte. Die Stewardessen zeigten den Passagieren, die an den Notausgängen saßen, wie die Türen im Notfall zu öffnen seien, und fügten hinzu, das gelte natürlich nur, falls sie selbst nicht mehr in der Lage dazu wären.

»Hier spricht nochmals Ihr Kapitän. Wir werden in Kürze eine Notlandung vornehmen. Nehmen Sie Ihre Brillen ab und folgen Sie den Anweisungen der Flugbegleiter.«

Es war plötzlich unheimlich still in der Kabine. Ich blickte auf den erstarrten Ludwig neben mir. Sollte ich mich mit einer letzten SMS auf dem Smartphone von meinen Kindern verabschieden?, ging es mir durch den Kopf. Aber was würde das bei ihnen auslösen? Und wenn am Ende nichts passierte? Wie ein Film liefen Stationen meines Lebens vor meinem inneren Auge ab. Ich griff in meine Tasche. Beruhigungstabletten hatte ich, wie immer, dabei. Jetzt war ich selbst der Notfall. Ich überlegte und nahm zwei von den Tabletten, gerade so viele, dass ich noch in der Lage wäre, zu schwimmen.

Wir flogen jetzt in niederiger Höhe über dem Meer und hatten noch etwa fünf Minuten bis zum Flughafen. Ich dachte an meine Kinder und versuchte die Angst einfach wegzuschieben, indem ich mich leise mit meinem rechten Sitznachbarn unterhielt. Dann war es so weit. Nur verschwommen nahm ich all die Blaulichter am Flughafen von Marseille wahr. Dem Piloten gelang eine Notlandung wie aus dem Bilderbuch. Der Pilot meinte hinterher, so etwas hätte er in all den Jahren bisher noch nicht erlebt. Ich griff sofort zum Telefon und informierte die Kinder, dass ich soeben notgelandet wäre. Jonathans erste Worte waren: »Mama, bist du betrunken?« Aber die Tabletten zeigten ihre Wirkung, und ich hatte tatsächlich zum Schluss keine Angst mehr gehabt.

Am nächsten Morgen sollte uns eine neue Maschine nach Stuttgart bringen. Etliche Passagiere nahmen lieber den Zug nach Hause, ich zwang mich geradezu, das Flugzeug zu besteigen, und wir kamen wohlbehalten in Stuttgart an. Dass es in jener Nacht einen Notruf unseres Fliegers gegeben hatte, davon wussten wir nichts. Erst die Recherche eines befreundeten Journalisten brachte das ans Tageslicht. Kein Wort jedoch von der Airline. Gern hätten wir gewusst, was denn passiert war. Und ich? Nie hätte ich gedacht, dass ich in so einer bedrohlichen Situation am meisten an meine Kinder denken würde – und dass mein bisheriges Leben so präsent sein kann.

Das Leben Revue passieren zu lassen, glücklicherweise unter weitaus weniger dramatischen Umständen als auf jenem nervenaufreibenden Flug von Mallorca nach Stuttgart, war meine Motivation für dieses Buch. Vielleicht macht es ein wenig Mut, zu erfahren, wie jemand über den zweiten Bildungsweg Karriere machen und sich schließlich den lange erträumten Berufswunsch erfüllen kann. Vielleicht ist es an der Zeit, jenen Idealismus zu betonen, mit dem die vielen Menschen in medizinischen und sozialen Berufen ihrer Arbeit nachgehen. Nicht selten bis an die Grenzen der Belastbarkeit und bisweilen am Ende ihrer Kraft. Und doch ist es, zumindest nach meiner Erfahrung, immer wieder ein erhebendes Gefühl, die Möglichkeit zu haben, anderen Menschen zu helfen. Und Dankbarkeit zu erfahren. Eine Mutter-Teresa-Monstranz tragen die Macherinnen und Macher in Pflege- und Medizinberufen dabei höchst selten vor sich her – wenngleich der Tübinger Klinikchef bisweilen dazu neigt, den Spitznamen Tereschen zu verwenden.

Eine Sache liegt mir besonders am Herzen. Ich mag ein klassisches Papakind gewesen sein, doch ich schätze auch meine Mutter sehr. Ich empfinde große Dankbarkeit und habe große Achtung vor ihr. In den Erinnerungen mag das bisweilen anders erscheinen – welcher verzweifelte Teenager denkt schon ausgewogen? Die Generation meiner Eltern, jene Nachkriegsler, hat unter schwierigsten Verhältnissen unvorstellbare Dinge geleistet, ohne groß zu klagen. Gerade auch deshalb sind mir die Senioren so ausgesprochen wichtig in meiner Arbeit. Ihnen allen gelten mein tiefer Respekt und meine herzliche Hochachtung. Da alles im Leben ein Gegengewicht hat, sind es ebenso die Kinder, die keine Lobby haben. Sie können sich noch nicht adäquat äußern, haben noch das ganze Leben vor sich und eine Chance verdient – weshalb es mir auch um sie geht.

Eine andere Erfahrung möchte ich gleichfalls weitergeben: Sich zu freuen an kleinen Dingen im Leben, den Mut zu haben, Wege zu gehen, die nicht unbedingt geradlinig zum Ziel führen, und die Wertschätzung für Familie und Freunde nie zu vernachlässigen – all das sind Dinge, die jeder tun kann. Und die jeder ausprobieren sollte. BewegtEuch, der Name jenes Vereins, den ich gemeinsam mit Jan Josef Liefers und Michael Antwerpes gründete, kann auch jenseits von Sport zum lohnenden Lebensmotto werden.

BewegtEuch könnte zugleich ein Motto für mein Leben sein. Und eine Anleitung zum Lesen dieses Buches. Bewegen Sie sich, hüpfen Sie zu dem Thema, das Sie spontan am meisten neugierig macht. Der Aufbau des Buches folgt mehr oder weniger der Chronologie. Doch wer braucht schon Regeln als Selbstzweck, ein Kaleidoskop hat gleichfalls seine Reize. Wie man als dreifache Mutter das Abi im Abendgymnasium nachholt und mit vier Kindern Medizin studiert. Welche Folgen der frühe Tod des Vaters haben kann. Wie man bei einem Rettungseinsatz plötzlich mit dem Messer bedroht wird. Das und anderes findet sich zum Auftakt. Worüber man mit Karl Lauterbach plaudert, wenn nach der Talkshow das rote Licht aus ist. Weshalb man mit einem Innenminister nie ungestört zum Italiener gehen kann. Wie eine falsche Brustkrebsdiagnose fast zum Fiasko führte. Wie meine erste Nacht mit Rezzo war. Weshalb in einem Institut der Uni ein echter Andy Warhol hängt. All das und mehr lässt sich im zweiten Teil entdecken. Lesen Sie einfach so, wie es Ihnen am meisten Spaß macht. Drehen Sie am Kaleidoskop und entdecken hoffentlich immer neue Bilder.

1Tod des Vaters

Nichts läuft nur geradeaus. Es ist selten möglich, etwas schnurgerade zu realisieren. Vielleicht ist das auch nicht der Sinn des Lebens, vielleicht gehören Umwege zum Dasein. Sie lassen uns genauer hinschauen, über den Tellerrand blicken. Viele denken, es sei ein Fehler, Umwege zu gehen, dass es dem Ideal eines perfekten Lebens widerspräche. Aber zu einem perfekten Leben gehören eben auch die Fehler, nur so entwickelt sich ein Mensch weiter, begreift, was es heißt, Mut zu haben und etwas zu wagen. Wer den geraden Weg einschlägt, wird erfahren, dass das Leben an ihm vorbeizieht. Während die anderen neugierig sind, sich ausprobieren wollen, nicht hinnehmen, was da ist, selbst wenn es noch so unabänderlich erscheint.

Wer nicht korrigiert und keine Erfahrungen sammeln will, fängt irgendwann an zu lamentieren und bleibt vielleicht innerlich stehen. Doch klagen sollte nur, wer zuvor wenigstens versucht hat, etwas zu verändern. Umwege sind Bewegung – und die ist unabkömmlich, um nicht ständig auf alten Gleisen zu fahren. Leben ist ein Experiment, da darf es Überwindung kosten, etwas Neues zu wagen, die täglichen Routinen zu durchbrechen und die altbekannten Wege zu verlassen. Es ist nachvollziehbar, dass man sich vor Umwegen fürchtet, vor dem Ungewissen, Fremden. Manchmal scheint es, als würden Ereignisse direkt in eine Sackgasse führen, ohne Chance auf eine Umkehr. Doch Sackgassen verwandeln sich ab und an in einen Tunnel, an dessen Ende es hell wird. Nicht immer strahlend, aber mit genügend Licht, um sich wieder orientieren zu können. Mit dem Empfinden, es geschafft zu haben. Ohne in einstige Muster zu verfallen, die einen nur wieder in derselben Sackgasse enden lassen.

Meist wird einem erst im Nachhinein klar, dass es doch einen Ausweg gibt, der auf die eine oder andere Weise auf einem alten Weg aufbaut. Der einem hilft, das Erlebte nachhaltiger zu verarbeiten, sich selbst und andere Menschen besser zu verstehen. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der Umwege nur bedingt zugelassen wurden. Anfangs waren sie noch denkbar, aber als mein Vater starb, gab es nur einen Weg: geradeaus! Ohne Abweichungen nach links oder rechts, ohne Wenn und Aber. Und dieser ohnehin schon schmale Pfad wurde zunehmend enger.

Als ich Anfang der Sechzigerjahre zur Welt kam, wurde über die Bindung zwischen Vätern und Töchtern noch kaum gesprochen, damals erhielten die Mütter Lob und Anerkennung, wenn es um die Erziehung der Kinder ging. Natürlich gab es die Kehrseite: Geriet der Nachwuchs nicht so, wie man es sich vorgestellt hatte, machte man meistens die Mütter dafür verantwortlich. Väter blieben außen vor, ihnen wurde wenig Beachtung geschenkt. Man fand es schön, wenn der Vater mit seinem Sohn Fußball spielte oder die Tochter vom Ballettunterricht abholte, ansonsten sah man in ihm kaum den Elternteil, der die Kinder prägte. Erst als die Mütter dem Herd den Rücken kehrten und zu arbeiten begannen, rückte die Bedeutung der Väter und ihrer Verantwortung ihren Kindern gegenüber mehr und mehr in den Fokus. Studien in den Siebzigerjahren verdeutlichten den Beitrag der Väter am Wohlbefinden und Selbstbewusstsein des Nachwuchses.

Ich war ein richtiges Papakind. Ich fühlte mich von ihm geliebt, weil ich mich bei ihm geborgen und von ihm akzeptiert fühlte, und ich liebte ihn. Mein Vater war ein großer, stattlicher Mann. Er war schlank und sportlich, dunkelhaarig, mit braunen Augen. Manchmal war ich richtig stolz auf ihn. Ich hatte, was man gemeinhin als eine glückliche und behütete Kindheit bezeichnet. Ich liebte auch meine Mutter, klar, aber anders, nicht so intensiv. Sie konzentrierte sich vor allem auf meine vier Brüder, einer älter, drei jünger als ich. Mir war das nur recht, ich hatte ja meinen Vater. »Du bist mein einziges Mädchen«, sagte er oft zu mir. Als meine Mutter nach der Geburt meines eineinhalb Jahre jüngeren Bruders Gerhard zur Kur fuhr, kümmerten sich mein Vater und meine Großtanten um mich und meinen älteren Bruder Martin. Bevor mein Vater mit dem Fahrrad zum Wildermuth-Gymnasium fuhr, an dem er zu diesem Zeitpunkt Englisch und Deutsch unterrichtete, brachte er mich zu meinen Tanten, und abends holte er mich wieder ab. Wann immer ich an die Zeit mit ihm denke, überkommt mich ein Gefühl der Geborgenheit. Als Kind ahnte ich noch nicht, dass ich dieses Gefühl später über viele Jahre vermissen würde.

Mein Vater nahm sich Zeit für mich, brachte mir das Schwimmen bei, und als ich es beherrschte, erhielt ich neben viel Lob zur Belohnung einen Fingerring und einen Marsriegel. Letzteres wäre heute nicht der Rede wert, war damals jedoch etwas Besonderes. Die Väter aus der Nachbarschaft hielten es nicht für nötig, ihren Töchtern das Schwimmen zu lehren, für sie gehörte es nicht zu einer Fähigkeit, die vielleicht einmal überlebenswichtig werden könnte. Als Lektion fürs Leben lernte ich nebenbei, dass man mit Beharrlichkeit viel erreichen kann und sich von Rückschlägen nicht irritieren lassen sollte. Ich denke, das hat mir mein Vater auch durch seine Gene mitgegeben. Von meiner Mutter hörte ich nie, dass man durchhalten solle, vielleicht hat sie es auch nur ihren Söhnen gesagt, denn für Jungen galten damals andere Regeln. Wie in jener Zeit üblich, bestand die Erziehung der Töchter vornehmlich in Höflichkeit, gutem Benehmen oder der Mithilfe im Haushalt. All das war mir später zwar auch bei meinen Kindern wichtig, wichtiger aber war mir, ihnen das zu vermitteln, was ich von meinem Vater gelernt hatte und was für mich im Leben elementar erschien: Zusammenhalt, Liebe, soziale Verantwortung und Familiensinn.

Sehr viel später las ich heimlich einen Brief von meinem Vater, den er an meine Mutter geschrieben hatte, als sie in der erwähnten Kur war. Darin stand, wie goldig ich sei, wie sehr er mich liebe, wie ich im Garten sitzen und spielen würde, mit meinem lockigen Haar und in dem rosaroten Kleidchen, mitten auf dem Rasen. Mir ging beim Lesen das Herz auf, und ich war wirklich glücklich, einen Vater wie ihn zu haben. Später überlegte ich, wie meine Mutter wohl diese Zeilen empfunden haben musste, in dem Brief war es mehr um mich als um sie gegangen, obwohl sie gesundheitlich angeschlagen war. Sie hätte sich sicherlich über ein paar persönliche Zeilen gefreut.

Mit meinem Vater war ich auch zum ersten Mal im Kino, da war ich wohl sechs Jahre alt. Wir sahen uns Ein toller Käfer an und hielten uns die Bäuche vor Lachen über die Abenteuer des wundersamen Autos namens Herbie, das so ungemein menschliche Züge und Eigenschaften hatte. Ziemlich ramponiert, von einem Bösewicht malträtiert, wird Herbie gerettet und gibt am Ende bei einem Rennen sein Bestes. Auf dem Heimweg sprachen wir nicht über den Film, vielmehr erzählte mir mein Vater, wie wichtig es sei, sich selbst treu zu bleiben, sich niemals von etwas bestimmen zu lassen, was man selbst nicht für sinnvoll hielt, und den Menschen ehrlich die Meinung zu sagen.

In meinen jungen Jahren gab es nur noch einen zweiten Kinobesuch viele Jahre später, und der fand in aller Heimlichkeit statt. Mit meiner Freundin Maria schaute ich mir Vier Fäuste für ein Halleluja mit Bud Spencer und Terence Hill an. Meine Mutter hätte es nicht erlaubt, Kino war ihr sowieso ein Dorn im Auge, prügelnde Westernhelden allemal, allein der Titel wäre von ihr als Gotteslästerung ausgelegt worden.

Bevor er Professor wurde, unterrichtete mein Vater an einem Mädchengymnasium in Tübingen. Als ich noch nicht zur Schule ging, nahm er mich zu Klassenausflügen mit seinen Schülerinnen mit. Stets war er darauf bedacht, dass ich viel von der Welt erfuhr, aber auch lernte, mich in eine Gemeinschaft einzufügen und auf andere zu achten – meine Erziehung lag ihm sehr am Herzen. Dabei hatte ich eher das Gefühl, dass allein auf mich geachtet wurde, denn seine Schülerinnen sorgten sich um mich wie um eine kleine Schwester. Wahrscheinlich verfolgte mein Vater durch meine Mitnahme auch das Ziel, dass die älteren Mädchen lernten, Rücksicht auf jüngere Menschen zu nehmen, denn Pädagogik war für ihn ungemein wichtig. Er war bei seinen Schülerinnen sehr beliebt. Immer wieder gaben sie mir auf den Ausflügen zu verstehen, wie großartig sie meinen Vater als Lehrer fänden, keineswegs streng, aber doch mit klaren Regeln und Grenzen. Auch in meinem späteren Leben wurde ich oft auf ihn angesprochen.

Als mein Vater später als Englischprofessor an die PH in Reutlingen wechselte, bat er mich eines Tages, ein Bild zu malen.

»Was denn für ein Bild?«, fragte ich.

»Du kannst malen, was du willst«, sagte er.

»Und was willst du damit machen?«

»Es meinen Studenten vorstellen, um ihnen zu erklären, wie ich meinen Unterricht gestalte.«

Zwar konnte ich mir darunter nicht viel vorstellen, aber da ich gern malte, erfüllte ich ihm den Wunsch. Ich fand es toll, etwas für ihn tun und ihn bei seiner Arbeit unterstützen zu können.

Um ihm zu gefallen, schrieb ich ihm mit knapp acht Jahren einen Brief auf Englisch.

»Der ist für dich«, sagte ich und reichte ihm das zusammengefaltete Stück Papier mit den wenigen Sätzen darauf. Ich hatte darin kurz unsere Familie beschrieben, wo wir wohnten und wie wichtig er für mich war.

»Für mich?« Mein Vater sah mich erstaunt an. »Du hast mir einen Brief geschrieben?«

Ich nickte, fast ein wenig schüchtern. Als er zu lesen begann, konnte ich an seinen Augen sehen, dass er nicht fassen konnte, was er da vor sich hatte.

»Das ist ja Englisch«, sagte er schließlich.

»Ja, ich wollte dir einen Brief auf Englisch schreiben, denn du unterrichtest ja Englisch und liebst die Sprache.« Oft brachte er mir von seinen Reisen nach England Postkarten mit einem Abbild der Queen mit.

»Und die Worte hast du dir selbst beigebracht?«

Abermals nickte ich. Meine Eltern sprachen bei uns zu Hause immer Englisch miteinander, wenn das, was sie zu bereden hatten, nicht für die Ohren ihrer Kinder oder der Zugehfrau bestimmt war. Ich hatte ihre Unterhaltungen relativ schnell nachvollziehen können, mir aber nie anmerken lassen, dass ich so einiges mitbekam.

»Mit dem Brief hast du mir eine große Freude gemacht«, sagte mein Vater und faltete das Papier vorsichtig zusammen. »Den werde ich immer aufbewahren.«

Das behütete Leben hätte für mich ewig so weitergehen können, schön und geradlinig, so wie in der Geometrie, in der die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die Gerade ist. Aber eine gerade Linie verhindert viele ungewöhnliche Momente, Eindrücke, die das Leben prägen und tiefe Empfindungen hinterlassen. Können krumme Wege nicht auch Glück und Verständnis bedeuten? War nicht der Weg von der Schule nach Hause viel spannender, wenn man nicht den kürzesten Pfad nahm? Ich habe den direkten Weg jedenfalls immer als einfallslos empfunden und stets neue Strecken ausprobiert, dabei Dinge wahrgenommen, die ich sonst nicht entdeckt hätte.

Es waren Sommerferien, und wie in vielen Jahren zuvor wollten wir in den Schwarzwald zu Verwandten fahren. Das meiste war gepackt, aber mein Vater hatte sich vorgenommen, vorher noch das Garagentor anzustreichen.

Ich sah zu, wie seine riesige Hand mit dem Pinsel gleichmäßig und konzentriert über die Fläche fuhr. Er liebte es, hinter seinen Büchern zu sitzen, aber hin und wieder packte es ihn, sich handwerklich zu betätigen. Das war ein guter Kontrast zu seiner Arbeit und den Büchern, die er verfasste. Oft saß er nachts bis spät am Schreibtisch und schrieb. Jetzt strich er das Garagentor, ich schaute dabei zu und unterhielt mich mit ihm.

»Ich bin schon ganz aufgeregt«, sagte ich. Ich freute mich riesig auf den Urlaub, endlich wieder Bauernhöfe und Traktoren, ich liebte Blumen und sammelte gern bunte Wiesensträuße. Aber besonders freute ich mich, dass mein Vater mal wieder richtig Zeit für uns und für mich haben würde. »… aber können wir, wenn du mit dem Garagentor fertig bist, nicht noch etwas zusammen machen?« Ich konnte hartnäckig sein, wenn ich etwas wollte. Und ich wollte gern Zeit mit meinem Vater verbringen.

Er hielt mit dem Streichen inne, betrachtete sein Werk mit einem skeptischen Blick. Er hielt es für vollendet und tupfte den Pinsel am Farbtopf ab. »Ich habe leider noch was vor, Lisa. Wenn du willst, kannst du mitkommen.«

»Wohin gehst du denn?«

»Zu einer Vorsorgeuntersuchung. In meinem Alter ist es wichtig, sich in Abständen untersuchen zu lassen.« Seine Mundwinkel verzogen sich zu dem sanften Lächeln, das ich so sehr an ihm liebte.

»Was ist denn eine Vorsorgeuntersuchung?«

»Na ja, dabei schaut ein Arzt nach, ob alles in Ordnung ist.«

»Bist du denn krank?«

»Nein, meine neugierige Tochter. Oder, besser gesagt: Ich will es ausschließen. Manchmal entwickelt sich im Körper etwas, was da nicht hingehört, und zwar ohne dass man es weiß. Außerdem gibt es in unserer Familie Darmkrebs, und da ist Vorsorge wichtig. Zum Glück gibt es seit Kurzem die Darmspiegelung, ein Verfahren, um das zu kontrollieren.«

»Aha«, sagte ich, ohne dass ich mir unter dem Gehörten etwas Konkretes vorstellen oder mit dem Wort Darmspiegelung etwas anfangen konnte.

»Also, willst du mitkommen?«

Ich schüttelte den Kopf. Wieso eigentlich? Ich träumte doch davon, Missionsärztin zu werden. Mehrfach kamen Diakonissen bei uns zu Hause vorbei, und meine Mutter nahm mich öfter zu Missionsvorträgen mit, bei denen Bilder gezeigt wurden von kranken Kindern mit Hungerbäuchen, von Erwachsenen, die zu erblinden drohten oder schlimme Krankheiten hatten, die es in Deutschland gar nicht gab. Eindringlich erzählten Missionsschwestern von alledem, betonten immer wieder, dass man den Menschen helfen müsse. Ihre Erzählungen prägten sich mir ein, berührten mich tief. So sehr, dass ich unbedingt nach Afrika wollte oder in den Himalaja, um all denen etwas Gutes zu tun, denen es offenbar viel schlechter ging als uns. Meine Vorstellungen waren nicht durch irgendeinen Glauben gestützt, ich wollte einfach nur tätig werden. Zu Ärzten hatte ich großes Vertrauen und bewunderte ihre Fähigkeit, Menschen helfen zu können. Von meinem Wunsch erzählte ich niemandem, denn ich wusste nicht, ob mir das zugetraut wurde, schließlich war ich kein Bub.

»Gut«, sagte nun mein Vater. »Ich geh dann mal, wir sehen uns beim Abendessen.«

Dass mein Vater unser Haus nie wieder betreten würde, war für niemanden von uns vorstellbar und veränderte unser aller Leben auf schmerzvolle Weise. Bei der Vorsorgeuntersuchung perforierte der Arzt den Darm meines Vaters, ein Kunstfehler. Mein Vater wurde sofort ins Krankenhaus gebracht, wo er eine Woche später verstarb. Und zum ersten Mal sollte meine Vorstellung, dass Ärzte helfen und heilen können, erschüttert werden. Einmal durfte ich ihn besuchen, und ich hatte das untrügliche Gefühl, es würde das letzte Mal sein, dass ich ihn lebend sah. Am Haltegriff über dem Bett war seine Armbanduhr mit schwarzem Lederband befestigt. Mein Vater sah müde aus, nicht mehr kraftvoll und lebensfroh. Seine letzten Worte zu mir waren: »Pass auf deine Mutter und dich auf.«

2Pietismus – ein enger Weg

Erschrocken sahen wir uns alle an, als das Telefon klingelte.

Keiner wollte das Gespräch annehmen, als wüssten wir, was die Person am anderen Ende der Leitung uns zu sagen hatte. Noch immer schrillte es, durchbrach das Läuten die unheilvolle Stille. Schließlich erhob sich meine Mutter von ihrem Stuhl, ging zum Telefon. Meine Brüder und ich verfolgten gebannt, was ihr wohl gesagt wurde und wie sie darauf reagierte. Es war nur eine kurze Unterredung, dann legte sie den Hörer auf, das Gesicht aschfahl, und brach in Tränen aus. Langsam, als wüsste sie, sie könnte jeden Moment umfallen, setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl. Ihre Hände fingen an zu zittern, sie senkte ihren Blick.

»Was ist los, Mama?«, fragte mein ältester Bruder Martin. »Ist was mit Vater?«

Meine jüngeren Brüder konnten die Ereignisse noch nicht so recht begreifen, aber ich ahnte, was jetzt kommen sollte. Immer noch bleich, ein Kontrast zu der Sonne, die ins Zimmer schien, hob unsere Mutter ihre Augen und sah uns an.

»Es … war die Klinik«, begann sie stockend. »Sie haben angerufen, um uns mitzuteilen, dass euer Vater nicht mehr lebt. Er ist gerade eingeschlafen. Er wird nicht mehr nach Hause zurückkehren.« Sie faltete die Hände und begann zu beten, meine Brüder folgten ihrem Beispiel, während ich stocksteif einfach nur dasaß.

Mein Vater würde nicht mehr nach Hause zurückkehren? Ich konnte nicht begreifen, was mit ihm geschehen war. Wir wollten in die Ferien fahren, gerade noch hatte er das Garagentor gestrichen, hatte gemeint, dass er vollkommen gesund sei, und nun war er nicht mehr am Leben? Ich musste an seine letzten Worte denken: Pass auf deine Mutter und dich auf. Meine Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum, überschlugen sich, und dann fühlte sich alles leer an, wie betäubt. Es konnte nicht sein, dass ich meinen Vater niemals wieder sehen, nie wieder etwas mit ihm unternehmen würde. Nein, das durfte nicht sein.

Völlig erschöpft von dem Unfassbaren, holte meine Mutter mich in die harte Wirklichkeit zurück.

»Lisa, du gehst nach Lustnau in das Strumpfgeschäft und besorgst mir ein Paar schwarze Strumpfhosen«, sagte sie mit monotoner Stimme. Ich hatte nicht gemerkt, dass sie inzwischen aufgestanden war und irgendetwas wegräumte. Auch meine Brüder waren nicht mehr im Raum, sie hatten sich in eines der Kinderzimmer verzogen.

Fassungslos starrte ich meine Mutter an, wie konnte sie jetzt nur an schwarze Strumpfhosen denken? Wann war das Telefonat gewesen? Es konnte doch kaum eine Viertelstunde vergangen sein. Widerrede war unangebracht, auch meine Mutter trauerte, ihr Gesicht war eingefallen, wirkte um Jahre gealtert, aber gleichzeitig entschlossen. Sie war nun eine Witwe, alleinerziehend mit fünf Kindern, alle noch weit davon entfernt, erwachsen zu sein. Leicht konnte das nicht sein. Also lief ich wie betäubt los zu dem Strumpfgeschäft, das im Tübinger Vorort Lustnau lag, ein Fußweg von ungefähr zwanzig Minuten. Wir wohnten auf dem Denzenberg, gehörten zu Lustnau, durch ein Tal waren wir jedoch von dem Ortsteil abgeschnitten.

An diesem traurigsten Tag meines Lebens kam mir der Weg schier endlos vor. Mit jedem Schritt wurden meine Beine schwerer. Die Verkäuferin in dem Geschäft sah mich mitleidig an, als sie mir das Gewünschte einpackte – Anfang der Siebzigerjahre war der Kauf schwarzer Strumpfhosen ein klares Zeichen für einen Trauerfall.

Der Rückweg erschien mir noch länger, ich war wie versteinert. Wie sollte ich ohne meinen Vater leben, jenem Menschen, zu dem ich eine besondere, sehr innige Beziehung hatte. Nun war er tot. Mehrmals musste ich mir dieses Wort vorsagen, um zu begreifen, was ich nicht begreifen wollte.

Als ich unser Haus betrat, mit der braun gestrichenen Garagentür nebenan, dachte ich, wäre ich doch nur mit meinem Vater zu jener Vorsorgeuntersuchung gegangen, vielleicht wäre das alles dann nicht passiert. Vielleicht hätte ich ihn davor beschützen können. Diese Vorstellung machte alles noch schmerzvoller.

Ich lief abermals nach Lustnau. Wie eine Ertrinkende, die kurz nach Luft schnappt, nur um danach von den Wassermassen verschlungen zu werden. Unterwegs konnte ich den Gedanken nicht loswerden, dass meine Mutter so schnell wie möglich in Schwarz herumlaufen wollte. Ich konnte nicht verstehen, dass es für sie das Wichtigste war, eine schwarze Strumpfhose zu bekommen. Mit meinen elf Jahren begann für mich ein langer Weg, auf dem ich mich immer mehr von meiner Mutter abzugrenzen versuchte. Wie es sich für eine überzeugte Pietistin gehörte, war es ihr ganz besonders wichtig, die Konventionen einzuhalten. Einen großen Stellenwert hatte dabei schon immer, was andere Menschen über sie dachten, über uns dachten. Gerade der schwäbische Pietismus war verbunden mit sozialer Kontrolle.

Entstanden war die pietistische Bewegung Ende des 17. Jahrhunderts, ihr Ziel war eine religiöse Erneuerung. Die strenge Auslegung der Bibel galt als oberste Richtschnur für ein frommes Leben. Bei dieser Art von Frömmigkeit war alles verpönt, was Spaß oder Freude bereitete. Alkohol und Tabak zählten ebenso dazu wie Kino oder Mode. Stattdessen standen Fleiß und Arbeit im Vordergrund sowie das Gebot der christlichen Nächstenliebe. Mein Vater hatte den Pietismus nicht so eng ausgelegt, er hatte früher sogar geraucht und ab und zu ein Weizenbier getrunken, war dadurch eine Art Gegengewicht zu meiner Mutter. Sie wiederum war an der Seite ihres Mannes nicht so streng, wie sie dann nach seinem Tod wurde.

Beim äußeren Bild, zumal dem einer Witwe, musste alles stimmen. Schminke war ebenso undenkbar wie kurze Röcke oder gar Hosen. Buchstabengetreu folgte man der Bibel (5. Mose, 22:5): »Ein Weib soll nicht Mannsgewand tragen, und ein Mann soll nicht Weiberkleider antun.« Schwarze Strumpfhosen waren Pflicht in einem Trauerfall.

Damals hatte ich das Gefühl, dass meine Mutter durch die schwarze Kleidung nur bedauert werden wollte. Sicher tat ich ihr damit unrecht. Sie war durch den plötzlichen Tod meines Vaters wahrscheinlich am meisten von uns allen überfordert, nur versuchte sie sich an bestimmten Vorgaben zu orientieren, die ihr Halt gaben. Vielleicht war das ihr Weg, mit dem Tod meines Vaters klarzukommen. Möglich, dass sie genau den vorgegebenen Rahmen brauchte, um weitermachen zu können. Ich war einfach zu jung, um zu begreifen, was in ihrem Innern vorging – und sie zu sehr in ihrem Pietismus gefangen, um ein junges Mädchen zu verstehen, das seinen geliebten Vater verloren hatte.

Ich wollte meinen Vater nicht tot sehen. Aber ich musste, auch das wurde unter »Pflicht« eingefordert. In der Sakristei lag er auf einer Bahre, seine großen Hände waren zu Fäusten geschlossen, es kam mir vor, als wäre er über seinen frühen Tod mit 44 Jahren wütend, als würde er ihn nicht für gerecht halten. Wie auch. Aber gleichzeitig wirkten seine Hände kraftvoll und beschützend auf mich.

Zur Beerdigung kamen sehr viele Menschen. Ich wollte nicht weinen, schon gar nicht vor all den Trauernden, wenn, dann nur heimlich, allein in meinem Zimmer. Niemand sollte sehen, wie sehr ich meinen Vater vermisste, ich wollte kein Mitleid. Niemand sollte mich bedauern. Ich wollte nicht daran erinnert werden, dass er tot, für immer fort war, und ich wollte mich nicht so verhalten wie meine Mutter.

Ebenso wenig wollte ich über seinen Tod reden. Jedes Mal wenn meine Mutter und meine Brüder das taten, wurde ich insgeheim aggressiv. In meinen Ohren klang es so, als erschien es ganz normal, dass mein Vater nicht mehr da war. Dabei wollten sie sich nur gegenseitig trösten. Ich jedoch wollte keinen Trost, verstand nicht, dass es ihnen dabei half, dem Abschied einen Platz in ihrem Leben einzuräumen, dem Unfassbaren einen Namen zu geben. Mit der Zeit begann ich sie sogar dafür zu verachten, schienen sie doch meinen Vater nicht so zu respektieren und zu lieben wie ich. Alles kam mir so unecht vor. Ich fühlte mich allein auf der Welt. Und das war unendlich schmerzhaft.

Nach dem Tod des Vaters begann in unserer Familie eine neue Zeit. Um irgendwie weiterleben zu können, flüchtete meine Mutter sich immer mehr in den Glauben, ich mich in die Welt der Bücher. Dabei las ich alles, was ich in die Finger bekam, ganz gleich ob Oliver Twist, Das Tagebuch der Anne Frank, die Hanni-und-Nanni-Bücher von Enid Blyton oder Berichte von Ärztinnen, die im Ausland armen Menschen halfen. Ich las ganze Nächte durch, durchlebte mit den Fünf Freunden deren Abenteuer, gehörte zu deren Clique und zitterte mit ihnen, dass sie wieder freikamen, wenn sie in einem Verlies gefangen waren. Die Bücher gaben mir die Möglichkeit, der Realität zu entfliehen, mich in eine Welt der Fantasie zu flüchten, es waren die schönsten Momente in meinem jugendlichen Leben. Ich liebte diese Bücherwelt, sie schenkte mir Hoffnung. Es gab für mich nichts Großartigeres als die Gewissheit, dass mir die Bücher nie ausgehen würden und ich mich jederzeit in eine andere Welt versetzen konnte. Das verschaffte mir trotz allem eine glückliche Jugend. Noch heute habe ich, egal wohin ich über Nacht fahre, mindestens ein Buch dabei. Keiner von meinen Heldinnen und Helden fragte nach dem Tod meines Vaters, mit niemandem musste ich darüber reden. Die imaginäre Welt war wesentlich angenehmer als die reale, auch wenn ich durchaus auch traurige Bücher las. Ob bewusst oder unbewusst, verweigerte ich mich dem, was meinen Brüdern sowie meiner Mutter Stabilität zu geben schien: dem Denken, dass das irdische Leben nur vorübergehend sei, dass das eigentliche Leben erst nach dem Tod beginne. Und dass man deshalb in diesem jetzigen Leben besonders gut und moralisch sein müsse, um im Jenseits das Paradies zu finden.

Noch heute erinnere ich mich daran, dass ich, wenn ich meine Mutter nicht fand, dachte, jetzt hat Gott sie und meine Brüder geholt und mich nicht. Mich hat man allein zurückgelassen, allein beim bösen Teufel. Gründe dafür gab es genug: Ich hatte eine Notlüge benutzt, ein paar Süßigkeiten geklaut, mit meiner Freundin heimlich Popmusik gehört oder mich in einen Jungen verliebt. Und hatten mein Bruder Gerhard und ich etwas gestohlen, konnte es nur ich gewesen sein. Dann hieß es, ich würde meine gerechte Strafe erhalten. Nicht Gerhard, Jungen waren offenbar privilegiert. Das gehörte nicht nur zum schwäbischen Pietismus, ein solches Denken war damals weit verbreitet: Die Mütter hatten mehr Angst um ihre Töchter. Die Mädchen gaben nach außen hin das moralische Bild einer Familie ab, sie durften nicht über die Stränge schlagen wie die Buben, zumal sie schwanger werden konnten. Das Drama schlechthin, wenn man noch nicht verheiratet war. Wenn wir in die hahnsche Stunde – die Bibelstunde schwäbischer Pietisten – gingen, durften meine Brüder vorn am Brudertisch sitzen und bekamen am Ende jede Menge Süßigkeiten in die Hand gedrückt. Ich musste als Mädchen gemeinsam mit den Frauen hinten sitzen und ging in Bezug auf Süßigkeiten leer aus. Schon damals konnte ich nicht verstehen, warum Frauen weniger wert sein sollten als Männer und sich diesen unterordnen mussten und warum man vor Männern eine solche Ehrfurcht haben sollte. Ich verstand die Frauen nicht, die das akzeptierten, und schwor mir, mich dagegen zu wehren.

Der Gedanke, dass mich der Teufel holen könnte, weil ich etwas Schuldhaftes getan habe oder noch tun könnte, ließ Angst in mir hochkriechen. Diese Angst vereinnahmte mich völlig und verließ mich nie, und ich litt unter permanenten Schuldgefühlen. Für mich war dieser Pietismus ein furchtbares System der Enge. Nirgendwo gab es zwischen Himmel und Hölle den geringsten Ausweg, nicht einmal eine Beichtmöglichkeit wie im Katholizismus, die einen entlastet – man war und blieb schuldig. Fertig. Aus. Du bist schuldig, und diese Schuld kannst du nicht loswerden.

So wie ich die Bibel gelehrt bekam, fand ich sie einfach nur beängstigend. Über meinem Kinderbett hing ein Kreuz mit einem Jesus, der aus allen möglichen Körperteilen blutete, sodass ich Furcht hatte, das Blut könnte in mein Bett tropfen. Schon als Vier- oder Fünfjährigen las meine Mutter uns aus der Bibel vor – eigentlich war es kein Vorlesen, eher ein Vorleben, so inbrünstig und exzessiv, wie sie die Legenden zum Besten gab, als wäre sie ein Teil der Geschichten. Das Alte Testament fand ich grausam, nichts Erlösendes konnte ich daran finden. Das Einzige, was mir in der Bibel gefiel, waren Worte wie Glaube, Liebe oder Hoffnung, Korinther 13 im Neuen Testament. Die Idee, sich um andere zu kümmern. Der Rest des Neuen Testaments war nicht viel besser als das Alte. In der Offenbarung des Johannes war die Apokalypse garantiert, mit den sieben Plagen der Endzeit. Auch da nur Blut, viel Blut, oder eine Sonne, die die Menschen versengt.

Heute weiß ich, mit Schuld zu operieren ist für keine Seele gut, sie kann daran zerbrechen, wenn man sie in einem solchen Glauben erzieht. In meinem späteren Berufsleben als Ärztin hatte ich immer wieder mit Patienten zu tun, die mit dieser religiösen Schuldfrage nur schwer oder gar nicht zurechtkamen, die es nicht geschafft hatten, die streng religiöse Welt zu verlassen und ihre Seele zu befreien – und ein Leben lang darunter litten. Ich konnte mich von alldem befreien, und Bücher haben mir dabei geholfen.

Je älter ich wurde, umso weniger erlaubte sie mir. Es leuchtete mir absolut nicht ein, warum ich mich nicht schminken durfte, wie es alle anderen Mädchen aus meiner Klasse taten. Ich durfte keine Hosen tragen, keine Partys besuchen, moderne Musik und Kino waren ebenfalls nicht erlaubt. Meine Schulkameraden spotteten hinter meinem Rücken über mich oder brachen vor mir in höhnisches Gelächter aus, wenn sie mich mit meinen geflochtenen Zöpfen und dem knielangen Rock sahen.

Eine Klasse hatte ich schon wiederholen müssen, weil ich nicht mehr gelernt hatte, und wieder war die Versetzung gefährdet. Unter der Schulbank lag immer ein aufgeschlagenes Buch, das aber weit entfernt von einem Schulbuch war.

»Hier«, flüsterte Markus, mein Sitznachbar, und schob mir sein Heft zu, als wir eine wichtige Mathearbeit schrieben. Von ihr hing ab, ob ich ein zweites Mal die Klasse wiederholen müsste. Da ich vor einem leeren Blatt saß, wollte Markus, dass ich von ihm abschrieb.

Er war der einzige Junge aus der Klasse, mit dem ich mich verstand. In einer Pause, in der wir uns in eine Ecke des Hofs verzogen hatten, hatte er mir anvertraut, dass seine Eltern nicht seine leiblichen Eltern seien, er hätte im Schrank die Adoptionsurkunde gefunden. Seither würde er mit dem Gedanken spielen, sich umzubringen, er könne es nicht ertragen, dass seine Eltern ihm das vorenthalten hätten. »Das darfst du nicht tun«, gab ich ihm zu verstehen. »Das wäre eine Katastrophe, es gibt immer einen Weg, für jeden, man muss ihn nur suchen. Das wirkliche Elend ist nicht bei uns, sondern in Afrika und Indien.«

Markus wurde gehänselt, mehr noch als ich, er wurde als schwul verhöhnt, als Heulsuse und als Hosenpisser. Ich mochte Markus und schob ihm sein Heft zurück, denn ich wollte nicht, dass er noch mehr Ärger bekam.

Am nächsten Tag blieb sein Sitz leer, es hieß, er sei krank, für länger. Markus kam überhaupt nicht mehr zurück. Erst später erfuhr ich, dass er tatsächlich versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Ich vermisste ihn. Meine Tage in dieser Klasse waren gezählt, ich blieb erneut sitzen, hatte in der Klausur statt der nötigen Fünf eine Sechs bekommen.

Nach den Sommerferien kam ich in meine neue Klasse. Ich war zwei Jahre älter als die anderen Schüler, was mir trotz meiner braven Zöpfe und der biederen knielangen Röcke eine gewisse Autorität verschaffte. Ich wurde zur Klassensprecherin gewählt, was mich nicht daran hinderte, im Unterricht erneut durch geistige Abwesenheit zu glänzen. Ich provozierte die Lehrer, fing sogar an, einige Arbeiten in Sütterlinschrift zu schreiben, die ich aus Büchern meiner Großmutter gelernt hatte. Wie Englisch durchs Hören lernte ich Sütterlin gleichsam durch mein fotografisches Gedächtnis.

Zu Hause musste ich zurückstecken, was mich wütend machte. Mein Bruder Martin bekam ein Mofa, ich nicht, obwohl meine Mutter es mir versprochen hatte.

Das Mofa sei an eine Bedingung geknüpft, erklärte mir meine Mutter.

»An welche?«, fragte ich unsicher, weil ich nicht wusste, was meine Mutter meinte.

Es sei das Beste, wenn ich auf ein christliches Internat käme, das wir beide uns anschauen sollten, meinte sie.

»Na klar«, sagte ich erleichtert.

Ich hatte nichts dagegen. Weg von meiner Mutter zu kommen erschien mir wie der Himmel auf Erden, zumal die Bücher von Hanni und Nanni, die ich verschlungen hatte, in einem Internat spielten. Und dort ging es trotz einiger Probleme immer lustig zu, ein Haufen fröhlicher junger Mädchen, die Musik hörten und Turbulentes erlebten. Alle meine Klassenkameradinnen, die diese Bücher lasen, träumten davon, auf ein solches Internat zu gehen und ähnliche Abenteuer zu erleben.

Zu dem Termin zog ich eine Hose an, meine einzige, inzwischen genehmigte, und malte mir mit Wasserfarbe einen dezenten Lidstrich. Ich wollte ja nicht gleich den schlechtesten Eindruck hinterlassen, was ich in dieser Aufmachung allerdings genau tat. Nicht nur meine Mutter beäugte mich kritisch, sondern auch die Diakonisse, die uns in Empfang nahm.

»Hosen sind hier nicht erwünscht«, erklärte sie in ihrer grauen Glaubenstracht. Überhaupt war alles grau an ihr, von den Haaren bis zu den Füßen. »Die Haare müssen zusammengebunden werden. Ausgehen ist nur donnerstags nach dem Mittagessen erlaubt.«

Das Internat lag weit weg von allem, das nächste Dorf befand sich drei Kilometer entfernt, abends Andacht, morgens Andacht. Keine Spur von Hanni und Nanni. Hierher wollte ich nicht, nicht einen einzigen Tag, aber alle Einwände hätten nichts genutzt, meine Mutter hätte sich durchgesetzt. Mir blieb nur die einzige Chance, mich aufmüpfig zu verhalten, was mir als Teenager nicht schwerfiel. Ich gab der Diakonisse keine freundlichen Antworten, verhielt mich mürrisch, sah auf den Boden, wenn sie mich ansprach. Mein Plan ging auf, vom Internat kam eine Absage. Allerdings war nun auch der Traum von einem Mofa geplatzt – was aber immer noch besser war, als in diesem Internat zu versauern.

Zuflucht fand ich bei meiner Großtante Hanna. Sie war mein kleines Fenster zu einer größeren Welt. Bei ihr war im Kühlschrank immer Leberwurst und Fleischsalat, beides gab es bei uns zu Hause nie. Wir wurden sehr gesund großgezogen, Käse und Schwarzbrot kamen auf den Tisch und mir bis heute verhasstes Müsli. Das heimische Frühstück ließ ich deshalb jahrelang ausfallen. Meine andere Großtante, Grete, war Witwe wie meine Mutter – ihr Mann war im Krieg gefallen –, aber nicht im Geringsten mit ihr vergleichbar. Die beiden Tanten besaßen außerdem Dinge, die bei uns verboten waren, wie Spielkarten nebst Kartenmischgerät und einen Fernseher. Und sie tranken tatsächlich hin und wieder ein Gläschen Wein. Sie waren tolerant und aufgeschlossen. Auch deshalb fühlte ich mich bei ihnen geborgen.

»Kannst du mir nicht eine Geschichte erzählen?«, bettelte ich öfter, wenn ich bei Tante Hanna war.

»Kind, was willst du denn hören?«, fragte sie dann jedes Mal.

»Erzähl mir was von deiner Zeit als Jugendamtshelferin. Da hattest du doch viel mit Menschen zu tun, und andere Menschen sind immer interessant. So wie in meinen Büchern. Oliver Twist zum Beispiel war ein Waisenjunge und Fürsorgekind, bis er adoptiert wurde, das finde ich spannend.«

»Mmh«, sagte sie und schenkte sich etwas von dem Wein nach, der auf dem Tisch stand. »Oliver Twist ist eine besonders tragische Geschichte, und irgendwie wiederholt sich doch alles auf die eine oder andere Weise. Habe ich dir schon erzählt, dass ich nach dem Zweiten Weltkrieg verschollene Väter ausfindig machen musste?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber wieso waren die Männer weg? Wollten sie ihre Babys nicht?«

»So war es.« Meine Tante schaute sinnierend aus dem Fenster, als würde sie dort etwas suchen. »Amerikaner und Franzosen, sie ließen sich mit deutschen Frauen ein. Manche Frauen wurden auch vergewaltigt, ich bekam da viel Elend zu Gesicht.« Aha, dachte ich und registrierte: Auch hier in Deutschland gibt es Elend. »Die Männer hatten jedenfalls ihren Spaß gehabt«, fuhr sie fort. »Und ich hatte dann die Aufgabe, diejenigen, die sich wenig ruhmreich aus dem Staub gemacht haben, aufzufinden. Wenn sie ihr Kind schon nicht sehen wollten, dann sollten sie wenigstens für ihr Vergnügen bezahlen.«

»Hast du denn alle Männer gefunden?«

»Das war nicht immer einfach, eigentlich gelang es nur bedingt. Das lag nicht nur an den Männern, auch die Frauen haben es mir nicht immer leicht gemacht. Eines Tages fragte ich eine ledige Mutter. ›Wie hieß denn der Mann, der der Vater Ihres Kindes ist?‹ Die Frau meinte unwirsch: ›Keine Ahnung, ich kann mich nicht daran erinnern.‹ Ich dachte, die lässt sich auf einen Mann ein und weiß nicht einmal mehr seinen Namen. ›Ja, können Sie sich denn an gar nichts erinnern? Ich muss doch einen Anhaltspunkt haben, um nachforschen zu können, wo er hingegangen ist.‹ Sie meinte dann, er hätte rote Haare gehabt, ansonsten würde sie die Frage fast schon unverschämt finden, so intim seien sie nun doch nicht geworden.«

Ich prustete los, Tante Hanna fiel in mein Lachen mit ein. Dann dachte ich daran, dass Oliver Twist ein uneheliches Kind gewesen war, und nun hatte auch meine Tante von unehelichen Kindern gesprochen. Für meine Mutter waren Kinder, die unehelich zur Welt kamen, verwerflich. Männer und Frauen durften sich nur lieben, wenn sie verheiratet waren, für alles andere kam man nach ihrer Überzeugung in die Hölle. Mit ihr über meine Sorgen und Ängste zu reden war meist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich fühlte mich unverstanden. Daher war ich glücklich, ab und zu in die Welt meiner Tante eintauchen zu können. Als meine Tante älter und schließlich auch dement wurde, versorgte ich sie öfter abends mit Essen und leistete ihr Gesellschaft, weil sie ziemlich allein war. Manchmal kam Maria mit, und wir freuten uns, dass wir uns auf diese Art treffen konnten, denn es war mir nicht erlaubt, Freunde oder Freundinnen mit auf mein Zimmer zu nehmen. Zwei Jahre nach dem Tod meines Vaters starb auch Tante Hanna.

3Eine folgenschwere Entscheidung

Immer wieder packte mich die Trauer, umklammerte mich, wollte mich nicht loslassen, hockte sich in der Schule dreist auf meine Schultern, legte sich wie selbstverständlich zu mir ins Bett. Half das Lesen nicht weiter, setzte ich mich an das Klavier, das im Arbeitszimmer meines Vaters stand. Stundenlang spielte ich Stücke, die ich auswendig konnte – nicht jene, die mir meine Klavierlehrerin aufgetragen hatte, sie liebte Béla Bartók, ich mochte Bach, Mozart und Beethoven. Ich verlor mich in den Klängen, träumte den Tönen nach. Mit jeder Stunde, die verging, fand ich ein Stück meiner Seele wieder. Musik als Therapie, ohne dass ich es damals so für mich hätte formulieren können. Mit dem Seelenheil kamen mein Mut, meine Lebensfreude und meine Energie zurück.

Seit ich neun Jahre alt war, träumte ich davon, Ärztin zu werden. Dieser Traum ist nie verschwunden, im Gegenteil: Er hat sich zunehmend verstärkt. Je weniger Hilfe ich selbst erfuhr, umso mehr wollte ich anderen helfen. Allerdings stand mir die Schule dabei im Weg. Zu gern wäre ich auf ein Hanni-und-Nanni-Internat gegangen oder auf eine Gesamtschule, aber das war meiner Mutter nicht konservativ genug. Sie begleitete mich sogar zu Klassenausflügen. Die anderen aus meiner Klasse tuschelten hinter meinem Rücken, dass ich nicht einmal allein weggehen durfte, und lachten mich aus. Noch schlimmer war, dass ich Liebesbriefe von Jungs nicht annehmen durfte. Mir war klar, dass ich diese Art von Strenge auf Dauer nicht aushalten könnte.

Meine Mutter meinte es auf ihre Art sicher nur gut, aber es war zunehmend belastend, zum Gespött der anderen zu werden. Ich musste einen Weg finden, um ein eigenständiges Leben zu führen, meine Seele brauchte Freiheit. Ich wollte endlich bei den Themen mitreden können, über die die Mädchen in meiner Klasse sprachen. Ich wollte geliebt sein dürfen, einen Freund haben und all die Dinge erleben, von denen ein Teenager träumt. Da ich fern von all diesen Dingen aufgewachsen war, konnte ich gar nicht einschätzen, was das in aller Konsequenz zu bedeuten hatte. Ich wollte einfach nur sein und leben wie die anderen, ein normales Mädchen in einem glücklichen verständnisvollen Elternhaus. Natürlich war mir nicht klar, in welcher Naivität mich die pietistische Erziehung zurückgelassen hatte. Ich kannte lediglich die Welt, in der ich aufgewachsen war. Nur langsam konnte ich mich davon lösen. Mein Vater hatte mir eine Welt gezeigt, die offener, lebendiger, spannender war – diese Welt wollte ich für mich erobern und vielleicht auf diese Weise meinem Vater weiter verbunden bleiben. Er war und blieb ein großer Motor, der meinem Selbstbewusstsein Halt gab. Bisweilen stellte ich mir vor, dass er mir von irgendwo zusieht und stolz auf mich ist.

Es war wichtig, meine innere Einstellung auch nach außen zu zeigen. Und mit einer neuen Frisur fing es an. Wie habe ich diese Zöpfe gehasst, die ich als Teenager noch immer tragen musste. Alle Mädchen in der Schule trugen offene Haare – alle bis auf Lisa. Es war eine Katastrophe.

Die einzige Möglichkeit, mich mit anderen Jugendlichen zu treffen, war die christliche Jugendgruppe. Dort erging es einigen ganz ähnlich, sie wollten der Bevormundung des Pietismus entkommen. Zu diesen Rebellen gehörte auch Ossi, der vier Jahre älter war als ich. Er trug seine lockigen braunen Haare provozierend lang, und seine Jeans hatten Löcher. Ossi war der perfekte Typ für lässige Sprüche, es schien, als würde er alles nicht so ernst nehmen, was uns gepredigt wurde. Damit wurde er zum idealen Kummerkasten.

»Ich hasse diese langen geflochtenen Dinger, aber meine Mutter beharrt darauf. Sie will einfach nicht verstehen, dass ich so sein will wie alle anderen.«

»Wie blöd ist das denn?«, erwiderte Ossi. »Ich an deiner Stelle würde zum Friseur gehen und sie gar nicht erst um Erlaubnis fragen.«

»Würde ich ja gern, aber ich bekomme so wenig Taschengeld, ich kann mir einen Besuch beim Friseur nicht leisten.«

Statt einer Antwort zog Ossi sein Portemonnaie aus der Hosentasche, zog einen Zwanzigmarkschein hervor und drückte ihn mir in die Hand. »Geh zum Friseur«, sagte er. »Und lass dir deine Haare genau so schneiden, wie es dir gefällt.«

Ich konnte kaum glauben, dass mir ein Junge einfach so viel Geld gab. Nach anfänglicher Sprachlosigkeit schluckte ich, mir war eingefallen, dass ich so viel Geld kaum jemals zurückzahlen konnte. »Ich kann das Geld nicht annehmen«, sagte ich traurig.

»Warum nicht?«

»Ich werde es dir kaum zurückgeben können.«

»Sollst du auch nicht. Ist gut investiert, glaub mir.«