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Felix Brych

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Beschreibung

Der Weltschiedsrichter: Ein Blick hinter die Kulissen des Fußballs  Felix Brych hat in seiner langen Karriere alles erreicht, was man sich als Schiedsrichter wünschen kann. Er hat Bundesliga, Champions-League, Europa- und Weltmeisterschaften gepfiffen. 2017 und 2021 wurde er Weltschiedsrichter des Jahres. Dabei ist Schiedsrichtersein keine dankbare Aufgabe. Der Perfektionsanspruch, höchst emotionale Erwartungshaltungen und extreme Öffentlichkeit einerseits sowie eine starke Präsenz unter Persönlichkeiten auf dem Platz, beständige Kritik der Öffentlichkeit und die notwendige Akzeptanz von Fehlbarkeit andererseits, sind außergewöhnlich. In diesem sehr persönlichen Buch erzählt zeigt Felix Brych von seinen Höhen und Tiefen, zeigt, wie intensiv und individuell seine Vorbereitungen auf die Spiele sind, wie wichtig Psychologie ist, welche Techniken er selbst entwickelt hat und was man auch in anderen Bereichen von einem Schiedsrichter lernen kann.

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Aus kurzer Distanz

Die Autoren

Felix Brych, geboren 1975, ist promovierter Jurist und deutscher Fußballschiedsrichter. Seit 2004 leitet er Spiele der Bundesliga, seit Januar 2007 ist er FIFA-Schiedsrichter. Seit der Saison 2009/2010 gehört er der Elitegruppe der Schiedsrichter an. 2017 kürte die IFFHS ihn zum Weltschiedsrichter des Jahres, ebenso 2021. Im selben Jahr wurde er auch zum fünften Mal vom DFB als Schiedsrichter des Jahres ausgezeichnet und er erklärte das Ende seiner internationalen Karriere. Er wird aber weiterhin Bundesligaspiele leiten.

Sven Haist, geboren 1990, lebt seit vielen Jahren in London und schreibt als Sportkorrespondent für die Süddeutsche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung. Zuvor kommentierte er von 2013 bis 2021 Fußballspiele für Sky Deutschland.

Das Buch

Der Weltschiedsrichter: Ein Blick hinter die Kulissen des Fußballs 

Felix Brych hat in seiner langen Karriere alles erreicht, was man sich als Schiedsrichter wünschen kann. Er hat Bundesliga, Champions-League, Europa- und Weltmeisterschaften gepfiffen. 2017 und 2021 wurde er Weltschiedsrichter des Jahres. Dabei ist Schiedsrichtersein keine dankbare Aufgabe. Der Perfektionsanspruch, höchst emotionale Erwartungshaltungen und extreme Öffentlichkeit einerseits sowie eine starke Präsenz unter Persönlichkeiten auf dem Platz, beständige Kritik der Öffentlichkeit und die notwendige Akzeptanz von Fehlbarkeit andererseits, sind außergewöhnlich. In diesem sehr persönlichen Buch erzählt zeigt Felix Brych von seinen Höhen und Tiefen, zeigt, wie intensiv und individuell seine Vorbereitungen auf die Spiele sind, wie wichtig Psychologie ist, welche Techniken er selbst entwickelt hat und was man auch in anderen Bereichen von einem Schiedsrichter lernen kann.

Felix Brych und Sven Haist

Aus kurzer Distanz

Meine Erfolgsprinzipien als Weltschiedsrichter

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2896-6

 © der deutschsprachigen Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023

Redaktion: Michael Schickerling, schickerling.cc, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München unter Verwendung eines Fotos von © Getty Images / Visionhaus / Kontributor

Foto Felix Brych: © Thomas Boecker | DFB

Foto Sven Haist: © Ruppografie - Nadine Rupp

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Inhalt

Die Autoren / Das Buch

Titelseite

Impressum

Auf der Tribüne   – Weltmeisterschaft 2018 –

1   Der Richtige muss gewinnen   – Gerechtigkeit und Selbstbewusstsein –

2   Kein netter Kerl   – Nähe und Distanz –

3   Unsichtbar im Rampenlicht   – Medien und Öffentlichkeit –

4   Ich brauche euch alle!   – Teamführung –

5   Mit 28 km/h über das Spielfeld   – Körperliche Vorbereitung –

6   Fokussiert wie ein Eisvogel   – Mentale Vorbereitung –

7   So, wie Sie mit mir reden, ist auch unfair!   – Kommunikation –

8   Über 150 Rote Karten   – Wahrnehmen und Entscheiden –

9   Man kann sich nicht selbst anlügen   – Verarbeitung von Rückschlägen –

10   Hey, bleib doch!   – Umgang mit dem Karriereende –

Auf dem Platz   – Europameisterschaft 2021 –

Mitwirkende am Buch   – Danksagung –

Einsätze und Erfolge   – Zeittafel –

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Auf der Tribüne   – Weltmeisterschaft 2018 –

Auf der Tribüne

– Weltmeisterschaft 2018 –

»Ich würde ihn nach Den Haag schicken, damit sie ihm den Prozess machen, wie sie ihn uns gemacht haben«, sagt Serbiens Nationaltrainer Mladen Krstajić nach dem Spiel – über mich. In Den Haag sitzt der Internationale Strafgerichtshof, der die Kriegsverbrecher im früheren Jugoslawien verurteilt hat. Auch das noch, nachdem der Tag ohnehin schon an mir vorbeiläuft.

Ich stehe um 8.45 Uhr auf, und üblicherweise setzt bei mir vor einem Spiel sofort das Bauchkribbeln ein. Die Anspannung, das Adrenalin. Mein Unterbewusstsein fängt an zu arbeiten. Ich erlebe den Nervenkitzel, den ich brauche, um mich auf die anstehende Partie einzustimmen. Ich verspüre Lust auf Stress, das sage ich vor bedeutenden Spielen oft zu meinen Assistenten. Ja, ein Schiedsrichter sollte Lust auf Stress verspüren, weil er gegebenenfalls Spieler sanktionieren oder Elfmeter verhängen muss. Aber diesmal merke ich nichts davon. Sehr merkwürdig! Ich fühle mich ausgelaugt, so kurz vor dem Vorrundenspiel zwischen Serbien und der Schweiz bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2018.

Schon am Vorabend, bei der Anreise vom Schiedsrichterquartier in Moskau zum Spielort Kaliningrad, ist vieles anders als sonst. Keine Vorfreude, keine Aufregung, nicht mal Druck empfinde ich. Mir fehlt fast jede belebende Emotion. Ich sitze mit meinen Assistenten im Speisesaal des Hotels, eigentlich immer ein schöner Anlass, bloß diesmal kann ich selbst dem Abendessen wenig abgewinnen. Ich beschäftige mich mehr mit Kaliningrads deutsch-russischer Geschichte als mit der Vorbereitung auf mein Spiel. Mich fasziniert die Historie dieser Stadt: Kaliningrad ist eine russische Exklave, direkt an der Ostsee zwischen Polen und Litauen gelegen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war Kaliningrad noch das alte Königsberg, frühere Residenzstadt der Preußen. Sogar am Spieltag selbst forsche ich nach den Wurzeln dieses Orts. Zum Mittagessen bestelle ich Königsberger Klopse, aber leider sind sie aus.

Kurz darauf erhalte ich eine Textnachricht von Marco Fritz, einem meiner engsten Schiedsrichterfreunde. Er wünscht mir viel Glück für das Spiel und einen guten Turnierstart. Ich antworte ihm: »Irgendwas ist los heute. Ich bin nicht gut drauf, ich habe ein merkwürdiges Gefühl.« Daraufhin fragt mich Marco direkt: »Felix, bist du satt?«

Satt bin ich sicher nicht, denke ich mir. Denn in meiner Laufbahn möchte ich unbedingt zumindest ein bedeutendes Turnier erfolgreich bestreiten – und das ist mir bisher verwehrt geblieben. Das Ende meiner internationalen Karriere rückt kurz vor meinem 43. Geburtstag langsam näher – und das Ende ist mir ungemein wichtig. Grundsätzlich könnte die WM in Russland mein internationaler Schlusspunkt sein. Wer weiß, was passiert, wenn ich für das Halbfinale oder gar für das Endspiel angesetzt werde? Wahrscheinlich würde ich anschließend tatsächlich international abtreten und nur auf nationaler Ebene in der Bundesliga meine Karriere fortsetzen. Ich rechne mir insgeheim ordentliche Chancen aus, dass ich eine Zusage für eines der entscheidenden Spiele erhalten könnte. Letztlich ist es die Premiere für den Videoschiedsrichter oder »Video Assistant Referee« (VAR) bei einem Fußballgroßereignis. Und ich bin in der glücklichen Situation, mit der technischen Neuerung schon seit einem Jahr vertraut zu sein, weil Deutschland den VAR frühzeitig eingeführt hat.

Die WM 2018 definiere ich als den Höhepunkt meiner Laufbahn. Doch jetzt spüre ich die Anstrengungen meiner langjährigen Karriere, besonders die der abgelaufenen Saison. Ich hatte im Verlauf der zweiten Saisonhälfte überraschend vier anspruchsvolle Partien in der Champions League zu leiten: zwei Achtelfinale sowie je ein Viertel- und Halbfinale – dabei waren damals nur drei Partien üblich. Und am letzten Saisonspieltag in der Bundesliga war ich auch noch für das Duell zwischen dem Hamburger SV und Borussia Mönchengladbach angesetzt – ein besonders anstrengendes Match: Der HSV stand als bis dahin einzig niemals abgestiegenes Gründungsmitglied der im Jahr 1963 eingeführten Bundesliga vor dem Absturz aus der Beletage des deutschen Fußballs. Die Fans versuchten, den Platz zu stürmen, und ich musste den Furor moderieren. Hunderte Polizisten sicherten mit Pferden das Spielfeld ab. Gleichzeitig galt es, die Partie irgendwie über die Bühne zu bekommen. Bei einem Abbruch wäre die Saison eventuell nicht vorüber gewesen. Dann hätte es in Hamburg kein Ergebnis gegeben, und der HSV wäre bei einem Unentschieden oder einer Niederlage des Abstiegskonkurrenten VfL Wolfsburg im Parallelspiel vorerst in der Liga verblieben.

Derart nervenaufreibende Spiele zu Saisonende, wenn ich ohnehin an die Grenze meiner Belastungsfähigkeit stoße, ziehen aus meinem Körper nochmals besonders viel Kraft. Ich nehme zwar den Verschleiß wahr, aber ernsthaft bewusst bin ich mir der Müdigkeit nicht, auch nicht vor dieser Weltmeisterschaft. Vielmehr überwiegt in mir die etwas sorglose Stimmung, dass mich nach den gemeisterten Tumulten in Hamburg jetzt wirklich nichts mehr überraschen kann. Notfalls, rede ich mir ein, pfeife ich die WM halt mit halber Kraft.

Echte Vorfreude auf meine zweite WM nach 2014 in Brasilien stellt sich angesichts meines eng getakteten Terminkalenders nicht ein. Kurz nach der Partie in Hamburg, und noch weit vor dem Eröffnungsspiel, muss ich bereits nach Russland aufbrechen. Entsprechend schleppend und mühsam verläuft die Vorbereitung. Durch die Einführung des Videoassistenten stehen unzählige Trainingseinheiten auf dem Programm, und die Zahl der Schiedsrichter erhöht sich deutlich von 25 auf 36, dazu kommen 63 Assistenten – für insgesamt 64 Turnierspiele. Diese Gruppengröße habe ich so nicht erwartet.

Auch mit den Gegebenheiten vor Ort werde ich diesmal nicht richtig warm. Ich ziehe mich vorwiegend auf mein Hotelzimmer zurück – und fühle mich zumindest dort einigermaßen aufgehoben. Lieber wäre ich allerdings länger in München geblieben, bei meiner Freundin Andrea. Unsere Verlobung ist für die Zeit nach der WM anvisiert. Erstmals nimmt das Schiedsrichterdasein also für mich nicht mehr ausschließlich die eine tragende Rolle in meinem Leben ein. Das stärkt mein Selbstbewusstsein zusätzlich. Ich genieße die wunderbare Momentaufnahme und fühle mich endlich in meinem Leben angekommen. Doch zugleich erschwert mir das, für die WM in Schwung zu kommen und das Eigenleben des Turniers aufzugreifen. Ich lasse das Training ein wenig schleifen, weil es mir ziellos vorkommt, so viele Tage vor dem Eröffnungsspiel.

Dabei ist das Training eigentlich unentbehrlich, um mich zu fokussieren und in einen Zustand der Bereitschaft zu versetzen. Bis auf einen öffentlichen Medientag, bei dem Journalisten aus aller Welt anwesend sein dürfen, finden alle Übungseinheiten hinter verschlossenen Türen statt. Zugelassen sind nur Volunteers und Auswahlteams aus der Gegend rund um Moskau zur Simulation von Spielsituationen. Nach den Trainings eilen jeweils auffallend viele Helfer auf mich zu und fragen nach Fotos. Bereits am Tag meiner Ankunft in Moskau erkennen mich mehrere Polizeibeamte vor dem Hotel. Ich bin augenscheinlich einer der wenigen Unparteiischen bei diesem Turnier, der über eine solche Popularität verfügt. Das verleitet mich dazu, mich für nahezu unangreifbar zu halten. Ich bin etwas zu entspannt – ein Zustand, der mir als Schiedsrichter noch nie gutgetan hat.

Denn ich muss immer auf der Hut sein, um mögliche Fallstricke vorauszuahnen: Jedes Spiel birgt seine eigenen Tücken. Ich bin überzeugt, die WM trotz der Widrigkeiten zu meistern. Zumal die Qualifikation als einziger DFB-Schiedsrichter schon eine Auszeichnung ist. Vielleicht macht mich das tatsächlich ein bisschen satt, wie Marco Fritz andeutet. Aus meiner Bequemlichkeit würde mich derzeit wohl nur eine frühe Spielansetzung reißen – aber die erhalte ich nicht. Das Glück scheint eben nur der Tüchtige zu haben, und wirklich tüchtig bin ich für meine Verhältnisse gerade nicht.

Während die Nationalteams in der Vorrunde jeweils frühzeitig über ihren Spielplan in Kenntnis sind, muss ich abwarten, was passiert. Ich erhalte meinen Dienstplan intern immer erst drei Tage vor den Partien. Anlässlich meiner ersten WM in Brasilien hatte ich angefangen, ein wenig Spanisch zu lernen, und das in den vergangenen Wochen sogar noch einmal intensiviert, weil mir signalisiert wurde, dass ich der Mann für die wichtigen Latino-Spiele sein könnte. Schon frühzeitig absolvieren die südamerikanischen Länder Argentinien, Brasilien und Uruguay ihr Auftaktspiel, ebenso steht das Europa-Spitzenduell zwischen Portugal und Spanien an.

Doch als die Ansetzungen für die Referees veröffentlicht werden, findet sich mein Name nicht auf der Liste. Welch Enttäuschung, denn das heißt, dass ich zunächst auf der Ersatzbank sitze und wesentlich länger auf meinen Turniereinstieg warten muss als angenommen. Es gibt für mich weiterhin kein konkretes Ziel, auf das ich hinarbeiten könnte. Aus meinem Team ist zumindest Mark Borsch als Assistent des Videoschiedsrichters eingeteilt, ich hingegen nicht mal als vierter Offizieller. Die freie Zeit vertreibe ich mir hauptsächlich mit meinem anderen Assistenten Stefan Lupp oder allein, wodurch kaum Teamgeist entsteht. Für die Schiedsrichter sind Eintrittskarten für die Partien in Moskau hinterlegt. Weil ich selbst nicht auf dem Platz stehe, sehe ich mir die Spiele halt auf der Tribüne an.

Im VIP-Bereich des Moskauer Endspielstadions Luzhniki, unweit der Staatsuniversität und des Gorki-Parks, habe ich einen herrlichen Blick auf das Spielfeld. In der Loge begegne ich vielen Spielern europäischer Spitzenklubs, darunter dem Schweden Zlatan Ibrahimović und dem Dänen Yussuf Poulsen. Die Profis treten mir mit Respekt und Wertschätzung gegenüber, wenngleich ich an ihren Reaktionen merke, dass sie verblüfft sind, mich nicht auf dem Spielfeld zu sehen. Während sie selbst mit ihren Teams ins Turnier starten, dauert für mich das Warten an. Jeder Tag ohne Einsatz schlägt auf mein Gemüt und lässt die ohnehin miese Stimmung weiter sinken. Und so sitze ich mehrere Wochen im Hotel fest, wodurch der triste Alltag mein angeschlagenes Nervenkostüm strapaziert.

Ich ertappe mich bei dem Gedanken, auf ein erfolgreiches Turnier der deutschen Mannschaft zu spekulieren – für einen Profischiedsrichter natürlich eine völlig abwegige Überlegung. Denn das würde bedeuten, dass ich ohne eigenes Verschulden bald wieder abreisen könnte. Normalerweise ist die WM für einen Referee nach dem Viertelfinale vorüber, wenn zu diesem Zeitpunkt das Team aus dem eigenen Land noch im Turnier vertreten ist – um einen Interessenkonflikt zu vermeiden. Deswegen bin ich als Schiedsrichter bei einem Match mit deutscher Beteiligung normalerweise im Zwiespalt, weil mein persönliches Fortkommen unmittelbar am Abschneiden »meiner« Nationalmannschaft hängt. Nur ein vorzeitiges Ausscheiden der Deutschen würde mir die Chance eröffnen, meine Ziele zu erreichen. Daher ist es eigentlich etwas aufgesetzt, öffentlich zu behaupten, ich drückte den Deutschen die Daumen. Obgleich ich ihnen selbstverständlich stets ein gutes Turnier wünsche – eine echte Zwickmühle.

Doch diesmal halte ich wirklich zu Deutschland! Nach einigen Tagen könnte ich mir gut vorstellen, zügig und unbescholten aus dem Turnier auszusteigen, am besten mit der Ausrede »Tut mir leid, die Deutschen sind noch dabei. Liegt nicht an mir!«. Ich sitze beim Auftaktspiel der DFB-Elf gegen Mexiko auf der Tribüne und realisiere allerdings mit zunehmendem Spielverlauf, dass sich meine Hoffnung nicht erfüllen wird. Die Deutschen verlieren als WM-Titelverteidiger überraschend mit 0 zu 1 gegen Mexiko. Erstmals in meiner Zeit als FIFA-Schiedsrichter scheidet Deutschland bei einem Großereignis in der Vorrunde aus – und ausgerechnet jetzt scheine ich nicht bereit zu sein, diese einmalige Chance zu nutzen. Das ärgert mich ungemein, weil mir verpasste Chancen im Leben nachhängen.

Die deutschen Pressevertreter betrachten mich wegen meiner Vorleistungen als einen der Favoriten auf eines der Finalspiele. Ich stehe im Fokus wie selten zuvor – was ohne Spieleinsätze plötzlich ins Gegenteil umschlägt. Die Berichterstattung über mich wird zum unangenehmen Selbstläufer. Nahezu täglich heißt es in den Schlagzeilen: »Wo ist Felix Brych? Was macht er? Warum wird er nicht eingesetzt?« Diese hochgesteckten Erwartungen lassen mich verkrampfen, und nun wirken auch meine Assistenten beunruhigt – nach drei Wochen in Russland ohne Erfolgserlebnis, ja sogar ganz ohne Erlebnis.

Mittlerweile hat fast jeder WM-Schiedsrichter einen Einsatz auf seinem Konto, manche Kollegen sind bereits für eine zweite Partie nominiert. Ich muss mich hingegen immer noch in Geduld üben. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Füße stillzuhalten. Denn die Einteilung obliegt der Schiedsrichterkommission der FIFA, sie allein besitzt die Hoheit über die Disposition. Aufgrund meiner beachtlichen Vorleistungen würde ich es verdienen, ein frühes Spiel zu erhalten. Doch anscheinend gebe ich mit meinem Auftreten nicht zu verstehen, für das Turnier bereit zu sein. Ich dränge mich vielleicht zu wenig auf und suche weniger als sonst den Kontakt zu den Entscheidungsträgern. Beklagen darf ich mich aber nicht, denn ich werde sicher zumindest für ein Vorrundenspiel angesetzt. Und einer der Schiedsrichter muss eben der letzte sein, tröste ich mich.

Als am zweiten Vorrundenspieltag fast nur noch ein Spiel zu vergeben ist, erhalte ich endlich den Zuschlag: Serbien gegen Schweiz in Kaliningrad, Gruppe E. Die Ansetzung überrascht mich, und ich überlege: »Warum werde ich als deutscher Schiedsrichter dem Landesnachbarn Schweiz zugewiesen? Es stehen doch genügend andere Nationen zur Auswahl.«

Zu beiden Mannschaften habe ich an sich ein gutes Verhältnis. Selbst die mit Spannung aufgeladene Partie der Serben gegen Kroatien in der WM-Qualifikation 2014 hatte ich durchweg unter Kontrolle – trotz sechs Gelben Karten und zwei Platzverweisen, je einem für beide Teams. Das 1 zu 1 hatte Serbien letztlich nicht für die WM-Teilnahme gereicht, dennoch hatten die Beteiligten an meiner Spielleitung nichts auszusetzen. Die Schweiz pfiff ich erst kürzlich im WM-Play-off-Duell gegen Nordirland, wofür ich über die Maßen gelobt wurde. Folglich kenne ich die meisten Spieler – und denke mir, keine weitergehende Vorbereitung zu benötigen.

So blättere ich lediglich oberflächlich durch meine Unterlagen. Ich bekomme mit, dass in Serbien und in der Schweiz beständig über die Partie debattiert wird, der politisch-gesellschaftliche Zündstoff dieses Spiels aber entgeht mir. Dabei hätte ich wissen müssen, dass Serbien die Unabhängigkeit des Kosovos nicht anerkennt und die Provinz als eigenes Landesterritorium beansprucht. Diese Auslegung widerspricht wiederum der Ansicht der Kosovaren in dieser jahrzehntelangen Auseinandersetzung – und damit der Haltung wohl aller Schweizer Nationalspieler, die kosovarische Wurzeln besitzen.

Angesichts der Tragweite des Konflikts ist es wahrscheinlich nachvollziehbar, dass die Schiedsrichterkommission mit mir einen renommierten Referee für die Partie auswählt. Als Schiedsrichter war ich oft Teil ähnlich politisch beeinflusster Partien und wusste dabei immer, wo der Kern des Problems lag. Die Vorbereitung ist eigentlich meine Stärke, nur diesmal fehlt sie im erforderlichen Umfang. Ein Riesenfehler, weil ich nicht erahne, was auf dem Spiel steht! Erst am Rande der Partie werde ich auf die Diffizilität aufmerksam, aber zu diesem Zeitpunkt bin ich dafür nicht mehr empfänglich. Gesellschaftspolitische Themen müssen bei mir frühzeitig ins Unterbewusstsein übergehen, damit kann ich mich nicht erst unmittelbar vor Spielbeginn befassen. Hin und wieder kann ich sicher mithilfe von Erfahrung und Reputation eine etwas nachlässige Vorbereitung kaschieren. Doch das Duell zwischen Serbien und der Schweiz ist viel zu komplex, um es mit Halbwissen anzugehen.

Das Spiel beginnt dennoch unscheinbar. Die Serben gehen durch Aleksandar Mitrović früh mit 1 zu 0 in Führung, kurz nach der Halbzeitpause gleicht Granit Xhaka für die Schweiz aus. Ich habe die Kontrolle über die Begegnung, die mir bis zum Schluss gefühlt nicht aus den Händen gleitet. Allerdings wiege ich mich dadurch in Sicherheit und unterschätze den wahren Schwierigkeitsgrad des Spiels. Und so bin ich ziemlich überrascht, als Xherdan Shaqiri, einer jener Schweizer Nationalspieler mit kosovarischem Hintergrund, unvermittelt zu mir kommt und sich über Schmährufe der Zuschauer beklagt. Seine Kritik prallt an mir ab, die aufgeheizte Atmosphäre nehme ich in dieser Form nicht angemessen wahr, vielleicht weil ich die Schmähungen im Stadion aufgrund der Sprachbarriere nicht verstehen kann. Dabei wird hier genau jene Abneigung sichtbar, aus der sich die Feindseligkeiten der beiden Mannschaften in den Zweikämpfen speisen. Vor allem die unbarmherzigen Kopfballduelle entwickeln sich für mich zum Stolperstein. Ich treffe die Balance nicht und arbeite nur meine Pflichten ab, ohne Szenen zu antizipieren.

Wie in der 66. Spielminute!

In Partien mit intensiven Kopfballduellen verzichte ich gewöhnlich darauf, den ballführenden Spieler eines Teams vor einer Flanke zu beobachten. Ich spekuliere darauf, dass in seiner Nähe kein Foul mehr passiert. Stattdessen widme ich mich lieber dem Hergang der Zweikämpfe im Strafraum. Nur jetzt nicht! Ich stehe zentral an der Strafraumkante und habe eine nahezu ideale Ausgangsposition für den Angriff der Serben auf der rechten Seite. Doch statt den Außenbahnspieler Dušan Tadić frühzeitig außer Acht zu lassen, richte ich meine Aufmerksamkeit zu lange auf ihn. Ich drehe mich erst zur Mitte ein, als der Ball bereits in der Luft ist. So erfasse ich nicht rechtzeitig die Entstehung des Zweikampfs im Strafraum, sondern nur dessen Ende. Ich sehe Mitrović im Duell mit dem Schweizer Fabian Schär – und weil Mitrović seinen Gegenspieler Schär nach unten drückt, entscheide ich auf Stürmerfoul.

Allerdings wird Mitrović gleichzeitig von hinten durch einen zweiten Schweizer, Stephan Lichtsteiner, attackiert, den ich zu spät wahrnehme. Lichtsteiner hätte für mich ein Indiz sein können, dass Mitrović mehr bedrängt wird als gedacht, weil zwei Gegenspieler involviert sind. Letztlich werde ich nie herausfinden, ob ich bei einem Erkennen des Mitwirkens von Lichtsteiner meine Entscheidung korrigiert hätte. Zumindest wäre ich aber im Wissen um diesen Parameter nachdenklicher geworden.

Hinterher muss ich zugeben, dass ich besser Elfmeter gepfiffen hätte als Stürmerfoul. Trotzdem lässt sich in dieser Situation nicht von einer eindeutigen Fehlentscheidung sprechen – weshalb Videoassistent Felix Zwayer nicht eingreift. Allerdings gibt es zwischen uns auch keine Kommunikation: Weder frage ich bei ihm übers Headset nach, noch meldet er sich bei mir. Die Vorgabe der FIFA für den VAR ist zu dieser Zeit, nur bei offensichtlichem Irrtum des Schiedsrichters einzuschreiten. Sonst wird das Spiel – wie in diesem Fall – ohne Überprüfung der Entscheidung fortgesetzt. Deshalb kann ich Felix Zwayer für sein Vorgehen überhaupt keinen Vorwurf machen. In der Öffentlichkeit wurde später zwar über ein Zerwürfnis zwischen uns spekuliert, aber die Verantwortung für die Entscheidung nehme ich auf mich. Generell habe ich in meiner Karriere selten die Schuld bei anderen gesucht, weil sie meistens bei einem selbst liegt. Nur ich allein bestimme ja mit meinen Entscheidungen über den Verlauf meiner Karriere.

Die Reaktionen der Spieler auf dem Platz fallen indes dezent aus – abgesehen von Mitrović, der seinem Ärger bei mir Luft macht. Ich werte das für mich als kleines Indiz, dass ich mit meiner Bewertung nicht völlig danebenliegen kann. Sonst würden sicherlich sofort mehrere Spieler gleichzeitig auf mich zustürmen und meine Entscheidung beanstanden. Selbst Serbiens Trainer Krstajić winkt am Seitenrand nur kurz ab. Normalerweise würde solch eine undurchsichtige Situation in den meisten Spielen in der Nachbetrachtung untergehen und nicht weiter thematisiert werden – aber in der 90. Spielminute erzielt Shaqiri den Siegtreffer zum 2 zu 1 für die Schweiz. Angesichts des zuvor für Serbien nicht gegebenen Elfmeters hätte es mir geholfen, wenn die Partie zumindest unentschieden ausgegangen wäre, weil sich der Unmut der Serben dann vermutlich in Grenzen gehalten hätte.

So gerät die Diskussion außer Kontrolle. Nach dem Erfolg für die Schweiz kommt der serbische Kapitän Alexandar Kolarov auf dem Platz zu mir und beklagt sich, dass sich seine Mannschaft nicht anständig behandelt fühle. Das passiert mir selten: Zwar verschätze ich mich in einzelnen Aktionen wie jeder andere Schiedsrichter, aber fast immer gelingt es mir, das Gleichgewicht zwischen beiden Teams zu wahren. Hier muss ich mir die Anschuldigung einer fehlenden Balance jedoch gefallen lassen.

In einer ersten Analyse mit dem Schiedsrichterbeobachter nach dem Spiel wird die Bewertung der Mitrović-Szene offengelassen. Verständlicherweise. Im Hotel laufe ich ZDF-Reporter Béla Réthy über den Weg. Wir unterhalten uns über die Partie, und er berichtet mir, den Zweikampf in seinem Live-Kommentar als Fünfzig-fünfzig-Situation eingeordnet zu haben. Nun beginne ich, immer mehr zu ahnen, dass meine Auslegung am seidenen Faden hängt. Am nächsten Morgen teilt mir der Gutachter des Spiels mit, dass die Aktion im FIFA-Headquarter in Moskau aufgearbeitet wurde. Das vorläufige Ergebnis: Meine Sichtweise wird unterstützt, weil sich herausstellt, dass Mitrović tatsächlich eine Nuance früher anfing zu halten als seine Schweizer Gegenspieler. Auch Schiedsrichterexperte Urs Meier stärkt meine Interpretation im ZDF und stuft meine Spielleitung in Summe als »sehr souverän« ein. Das beruhigt mich ein bisschen, weil die Aktion wirklich knifflig zu dechiffrieren war.

Dennoch weiß ich aus eigener Erfahrung um die Langlebigkeit solcher Szenen. Sie können einem Schiedsrichter selbst zwei oder drei Tage später noch auf die Füße fallen. Ich habe schon mehrfach erlebt, wie das Pendel unter dem Einfluss der Öffentlichkeit plötzlich umgeschlagen ist – manchmal zu meinen Gunsten, diesmal aber leider deutlich zu meinen Ungunsten.

Die serbische Presse schießt sich tagelang auf mich ein und erklärt mich kurzerhand zum Schuldigen für die Niederlage des eigenen Teams. In vielen Zeitungen des Landes ist davon die Rede, dass ich Serbien um den Erfolg »betrogen« hätte. Am härtesten teilt Trainer Krstajić aus, der mich wegen des nicht gegebenen Elfmeters gleich vors Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wünscht. Erstmals werde ich als Schiedsrichter in dieser Tonart zur Zielscheibe, denn ähnlich gehässige Kritik blieb mir bisher glücklicherweise erspart. Aus Selbstschutz versuche ich, die Anfeindungen nicht persönlich zu nehmen, und sage mir, dass die Beleidigungen auf mich als Schiedsrichter abzielen und nicht auf mich als Mensch. Sonst würde ich dem Sturm der Entrüstung wohl psychisch nicht standhalten.

Noch schlimmer als alle Diffamierungen erweist sich für mich der Gedanke, dass die Dimension der Kritik es den FIFA-Verantwortlichen schwer machen würde, mich bei dieser WM noch einmal für ein Spiel anzusetzen. Nach drei Tagen bestätigt sich mein Verdacht: Im Schiedsrichter-Briefing, in dem mitunter strittige Spielszenen aufgearbeitet werden, schwenkt die Kommission um und stuft meine Bewertung des Mitrović-Zweikampfs abrupt als Fehlentscheidung ein. Damit ist klar, dass mein Fortkommen bei diesem Turnier nicht mehr in meiner Hand liegt. Ich bin in die Abhängigkeit der Schiedsrichterfunktionäre geraten, auf deren Entscheidungen verschiedene Interessengruppen aus dem Bereich der Sportpolitik einwirken. Obwohl ich mittlerweile seit einem Jahrzehnt als FIFA-Schiedsrichter gelistet bin, ist die Sportpolitik ein kompliziertes Feld, das sich mir nie wirklich eröffnet hat – und sich wohl generell nie abschließend erfassen lässt. Sicherlich mag ich in der Vergangenheit auch von sportpolitischen Entscheidungen profitiert haben, aber ich halte mich stets an mein Credo, dieses unberechenbare Gebiet mit möglichst unanfechtbaren Leistungen zu umschiffen und mich nie in verbandsinterne Angelegenheiten einzumischen – sei es wie hier bei der FIFA, der UEFA oder dem DFB.

Wie bei den Teams geht es auch für einen Schiedsrichter bei einer WM darum, sich mit jedem Spiel für die nächste Runde zu empfehlen. Wenn Partien ohne Kontroversen ablaufen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, im Turnier zu bleiben. Sonst droht das Aus – wie ich nun leidvoll erfahren muss. Relativ zügig werde ich nach der offiziellen Bewertung der Spielszene in den Trainingskader derjenigen Schiedsrichter abgeschoben, die es nach der Vorrunde auszusortieren gilt. Ich erhalte keine Bewährungschance mehr. Das ist der unaufhaltsame Ablauf bei WM-Turnieren.

Nach dieser Entscheidung beginnt für mich eine fast unerträgliche Phase des Zeitabsitzens, bis ich mit meinen Kollegen, die ebenfalls aus dem Turnier genommen wurden, nach dem Beginn der Achtelfinalspiele endlich aus dem Schiedsrichterquartier in Moskau abreisen kann. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf, insbesondere die Frage, warum ich keine zweite Chance erhalten habe. Ich möchte gern herausfinden, was hinter meiner Absetzung steckt. Am liebsten würde ich mit dem ein oder anderen aus der Schiedsrichterkommission ein ausführliches Hintergrundgespräch führen. Aber könnten meine Vorgesetzten wirklich präzise erläutern, was hinter meinem abrupten Ende steckt? Einerseits stellt das unerwartete Aus für mich eine schmerzhafte Enttäuschung dar aufgrund der zuvor hervorragenden Saison und meiner damit einhergehenden Erwartung. Andererseits gleicht die Heimreise einer Erlösung, weil ich nur noch wegwill von der WM – und vor allem raus aus der Öffentlichkeit!

Ich lösche sofort alle E-Mails und Textnachrichten auf meinem Telefon mit Bezug zur WM 2018. Obwohl ich im Nachgang außergewöhnlich viele Medienanfragen für Interviews erhalte, entscheide ich mich, die Niederlage allein mit mir auszumachen. Ich möchte nicht mit Stellungnahmen weiter Öl ins Feuer gießen. Trotzdem hinterfragt die deutsche Presse, was sich um mich herum zugetragen hat, weil ein WM-Abschied, wie ich ihn erlebe, oftmals ein Zeichen dafür sein kann, dass mehr nicht stimmt als nur die sportliche Leistung. Aber das ist bei mir nicht der Fall.

Zu Hause wartet dann die nächste unwillkommene Überraschung auf mich. Ich erhalte eine Reihe übler Drohungen in den sozialen Netzwerken, die besonders meine Familie besorgt. Obwohl ich versuche, Ängste zu nehmen, beruhigen meine Worte nicht wirklich. Ich kann mir ja selbst nicht sicher sein, ob die Ankündigungen auch in diesem Fall glimpflich versanden. Ich entschließe mich, niemandem von den Unsäglichkeiten zu erzählen, um sicherzustellen, dass keiner auf die Vorgänge aufmerksam wird.

Zusätzlich ereilt mich die Sorge über meine sportliche Zukunft als Schiedsrichter. Nach und nach fange ich an zu realisieren, was es für mich bedeuten könnte, das Turnier mit nur einem einzigen Spiel beendet zu haben und danach aussortiert worden zu sein. Ich spüre, dass selbst meine engsten Bekannten zögern, wie sie mit mir nun beim Wiedersehen umgehen sollen. Sie haben mich ja bisher fast ausschließlich als Erfolgsmensch erlebt.

Stattdessen steht die Fortsetzung meiner Karriere auf der Kippe. Ich muss leidvoll anerkennen, dass ich trotz – oder gerade wegen – meines Gefühls, unersetzlich zu sein, vor der WM auf einmal in der Elite der FIFA-Schiedsrichter austauschbar geworden bin. Eine Desillusion und ein brutaler Einschnitt in mein Berufsleben, den ich mir kaum hätte vorstellen können! Entsprechend niedergeschlagen fühle ich mich in den Wochen nach dem Turnier, mir geht es so schlecht wie nie zuvor. Selbst nach dem fälschlicherweise gegebenen Phantomtor beim Bundesligaspiel zwischen der TSG Hoffenheim und Bayer Leverkusen im Oktober 2013, das sicherlich ein herber Rückschlag für mich war, hatte ich nicht denselben stechenden Schmerz empfunden. Meine Gedanken zu kanalisieren und mit ihnen klarzukommen, erweist sich als kaum zu meisternde Herausforderung. Zum ersten Mal erlebe ich das Gefühl, die Kontrolle über mich und meine Reputation zu verlieren. Mein Ruf hängt schlagartig davon ab, was über mich geschrieben wird – und darauf habe ich überhaupt keinen Einfluss.

Ich muss mich damit abfinden, dass die WM an mir vorbeilief, und ich einfach noch nicht bereit war für ein erfolgreiches Turnier, wofür ich mitverantwortlich bin. Der Kern einer Niederlage liegt schließlich immer bei einem selbst. Eine Chance zur Wiedergutmachung wird es nicht geben. Das macht es noch schwieriger, mich mit den Vorkommnissen abzufinden. Aufgrund der damaligen internationalen Altersbeschränkung von 45 Jahren verbleiben mir nur zwei weitere Saisons als FIFA-Referee. Und die nächste WM findet 2022 statt, in vier Jahren.

Rückblickend fällt für meinen Anspruch mit lediglich drei Vorrundenspielen bei meinen beiden WM-Teilnahmen in Brasilien und Russland viel zu wenig ab. Die beiden Partien in Brasilien lassen sich vorzeigen, weil ich mir dort angesichts des deutschen Triumphs nur eine weitere Ansetzung für ein Achtelfinale gewünscht hätte, was mir verwehrt blieb. Aber in Russland fühle ich mich weit unter Wert verkauft. Zu keiner Zeit konnte ich in mir die Freude an meinem Beruf wecken – wie seinerzeit in Brasilien, wo ich nach jedem Training am Strand kickte und ins Meer sprang. Deshalb muss ich fortan eben mit dem Makel leben, nie ein Finalspiel oder überhaupt eine erfolgreiche WM gepfiffen zu haben. Ich tröste mich darüber hinweg, indem ich mir vor Augen führe, dass vielen Sportlern in ihrer Karriere oft ein bestimmter Titel verwehrt bleibt. Das macht eine Karriere wiederum lebendig und nahbar. Immerhin bleibt mir die im Kollegenkreis seltene Entschädigung, in meiner langen Laufbahn an allen international relevanten Länderturnieren teilgenommen zu haben: Ich war bei Welt- und Europameisterschaften im Einsatz, dazu beim Konföderationen-Pokal 2013 sowie bei den Olympischen Spielen in London 2012.

Mit der Gewissheit, keine dritte WM mehr als aktiver Schiedsrichter zu pfeifen, falle ich in der kurzen Sommerpause in ein wohl kaum zu vermeidendes Motivationsloch. Ich bin jetzt 43 Jahre alt und muss gefühlt international wieder von vorn beginnen. Ich frage mich, ob sich die Mühen, durch dieses lange Tal zu schreiten, noch lohnen. Insbesondere weil ich unschlüssig bin, ob ich überhaupt eine faire Chance erhalten werde, die für 2020 angesetzte Europameisterschaft pfeifen zu dürfen.

In diesen Tagen spreche ich nicht viel, wenn überhaupt, mit Andrea oder meiner Familie. Ich rede mir nur immer wieder einen bestimmten Satz ein – aus Trotz über mein Scheitern bei der WM: »Okay, Felix, es war eine große Enttäuschung, aber ich komme wieder!« Ähnlich formuliere ich das für mich bereits Jahre vorher nach dem Phantomtor, als ich ebenfalls abgeschrieben wurde. Vermutlich probiere ich aus Verzweiflung gerade, das damalige Vorgehen zu kopieren, weil mich diese Art der Unbeugsamkeit einst angespornt hat. Allerdings bin ich mir diesmal selbst nicht sicher, ob das ein weiteres Mal funktionieren kann.

Im fortgeschrittenen Karrierestadium, nach zahlreichen Höhepunkten und Rückschlägen, nochmals derart auf die Schnauze zu fallen, kann ich nicht leicht abschütteln. Meine körperlichen Beschwerden nehmen schlagartig zu. Die Psyche des Menschen wirkt sich unweigerlich auf den Körper aus, bei mir speziell auf den Rücken. Kurz vor Saisonbeginn fühle ich mich so ramponiert, dass ich nicht mal weiß, ob ich überhaupt jemals wieder ein Spiel pfeifen kann …

1Der Richtige muss gewinnen

– Gerechtigkeit und Selbstbewusstsein –

Obwohl ich 2017 endlich am Ziel angelangt war, konnte ich mich nicht richtig freuen. Viel zu lange hatte ich auf eine Finalansetzung in der Champions League warten müssen. Wie ein überreifer Apfel hing ich am Baum und war kurz davor, vom Ast zu fallen. Aus emotionaler Sicht war es höchstwahrscheinlich meine letzte Chance auf ein Endspiel, denn ich hätte mich kaum imstande gefühlt, nochmals den gleichen Kraftakt zu stemmen. Wieder hätte ich mich zuerst in eine neue Spielzeit reinpfeifen, eine gute Vorrunde absolvieren und die K.-o.-Runden meistern müssen – unter der Erschwernis, dass mit jeder Saison die Wahrscheinlichkeit zugenommen hätte, durch eigene Fehler oder sogar berechtigte, aber harte Entscheidungen bei den Klubs an Ansehen zu verlieren. Sobald es nämlich um einen Referee bei ein und demselben Verein immer wieder zu Diskussionen kommt, steigt der Druck auf die Schiedsrichterleitung, speziell diesen Unparteiischen nicht mehr für die Spiele der betroffenen Klubs auszuwählen. Aus all diesen Gründen löste die Zusage für das Champions-League-Finale 2017 bei mir mehr Erleichterung als Freudensprünge aus. Denn insgeheim hatte ich mich am Vorabend der Entscheidung bereits darauf eingestimmt, dass es diesmal funktionieren müsste.