Ausgerechnet du und ich - Ayisha Malik - E-Book

Ausgerechnet du und ich E-Book

Ayisha Malik

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Beziehungsstatus: kompliziert

Sofia ist witzig, hübsch und arbeitet in einem Londoner Verlag. Sie ist außerdem Muslimin und wünscht sich einen Mann, der dafür offen und gleichzeitig modern ist. Als ihre Chefin ihr vorschlägt, einen Dating-Guide für Muslime zu schreiben, schlägt sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Aber Imran ist zu traditionell. Naim zu unzuverlässig. Abid leider schwul. Als ihr Vater krank wird, springt sie ihm zuliebe über ihren Schatten und verlobt sich mit Imran. Die Familie ist selig – aber Sofia merkt, dass sie Imran gar nicht liebt. Und dass sie sich stattdessen in jemand anderen verliebt hat ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 470

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Sofia ist klug, sieht gut aus und arbeitet in einem Verlag in London. Sie ist außerdem Muslimin und wünscht sich einen Mann, der dafür offen und gleichzeitig modern ist. Als ihre Chefin ihr vorschlägt, einen Dating-Guide für Muslime zu schreiben, schlägt sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Aber Imran ist zu traditionell. Naim zu unzuverlässig. Abid leider schwul. Als ihr Vater krank wird, springt sie ihm zuliebe über ihren Schatten und verlobt sich mit Imran. Die Familie ist selig – aber Sofia merkt, dass sie Imran gar nicht liebt. Und dass sie sich stattdessen in jemand anderen verliebt hat ...

Die Autorin

Ayisha Malik lebt in London und arbeitet in der Medienbranche. Sie studierte englische Literatur und Creative Writing.

AYISHA MALIK

ROMAN

Aus dem Englischen von

Astrid Finke

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel SOFIA KHAN IS NOT OBLIGED

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 06/2017

Copyright © 2015 by Ayisha Malik

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda, Rabea Güttler

Umschlaggestaltung: Eisele Grafikdesign, München, unter Verwendung von © Natality/Bigstock.

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-20717-5V001

www.heyne.de

Für Mum und Dad.

Natürlich.

SEPTEMBER 2011

Es hieß, es werde Licht

Donnerstag, 1. September

»Nur nicht beirren lassen«

von Ja, ich bin Muslimin, na und?

www.sofiasblog.co.uk

Man möchte meinen, dass eine Trennung kurz vorm Ramadan ein bisschen Mitgefühl bei der Verwandtschaft hervorriefe.

»O-ho«, hätte eine Tante sagen können. »Tut mir leid für dich, dass dein potenzieller Ehemann mit seinen Eltern bei dir wohnen und einen Mauerdurchbruch machen wollte.«

Vielleicht sogar ein sichtliches Zeichen von Schock – ein aufgerissener Mund, eine Hand auf der Brust … »Wie bitte? Ein Durchbruch? Was soll das denn?«

Aber nein. Ein ganzer Monat und sämtliche Tanten (sogar der ein oder andere Onkel) hielten Mitleid für überflüssig. Zur geistigen Stärkung nutzten sie stattdessen ihr krankhaftes Fixiertsein auf Hochzeiten. Es gab keinen Trost auf meine Mitteilung hin, dass ich den Anwalt doch nicht heiraten würde, und kein Entsetzen, als ich erklärte, warum der Mauerdurchbruch dem Eheglück im Wege stünde. Vor jedem Iftar-Fest zum Fastenbrechen wartete ich siebzehn Stunden auf eine anständige Samosa, bekam aber nichts als die Hochzeitsfrage in den Hals geschoben.

»Maria heiratet bald, Sofia. Und du bist die Nächste!«

Ich hab es ja versucht! Ehrlich! Aber welcher normale Mensch bittet einen anderen Menschen, nicht nur mit ihm, sondern auch mit Mutter, Vater, Bruder und Schwägerin mit zwei Kindern plus Schwester und Schwager samt drei Kindern nebenan zu wohnen – noch dazu mit einem Durchbruch, der die beiden Häuser verbindet? (Allein schon diesen Satz über so viele Leute zu schreiben, hat mich verwirrt; man stelle sich bloß mal vor, wie es wäre, mit ihnen zusammenzuleben.) Ich musste so tun, als wäre es die Chilisoße gewesen, die mir die Tränen in die Augen trieb.

Jedes Mal, wenn jemand das Wort mit H erwähnt, wird er für mich schwarzweiß, wie die erste Hälfte von Der Zauberer von Oz, wobei Dorothy wenigstens auf der Suche nach etwas Interessantem war. Einem Weg, nach Hause zu kommen. Wäre die kleine Dot Muslimin (und nicht so viel älter, wenn man mal ehrlich ist), dann würde dieser Zauberer als ein passender Ehepartner angesehen werden, die beiden würden heiraten und Dotty wäre nur noch damit beschäftigt, Babys zu kriegen und den richtigen Fußbodenbelag zu kaufen. (Nicht, dass ich was gegen Babys oder Fußbodenbeläge habe, beides ist ein sinnvoller Zeitvertreib, wenn man auf so was steht.) Das Gute daran wäre, dass sie sich keine Gedanken mehr über andere Dinge machen müsste, zum Beispiel Autoren Wasser in den Sekt zu schütten oder dreißig zu sein und beim Aufwachen seine Eltern im Haus herumpoltern zu hören.

Aber es scheint, so ist das Leben. Der Weg zum Glück ist mit Babys und einfach zu vielen Fragen nach dem Wort mit H gepflastert. 

07:00 Es ist doch so: Wenn der (Ex-)Freund die Angewohnheit hat, mit dem Bein zu wackeln, und man ihm die fragliche Gliedmaße am liebsten abhacken will, ist man wahrscheinlich nicht so verliebt in ihn. (Nebenbei bemerkt, wenn man keinerlei körperliche Beziehung zu jemandem hat, kann man ihn dann wirklich seinen Freund nennen? Sollte es nicht eine extra Bezeichnung für jemanden zwischen einem Kumpel und einem potenziellen Ehemann wie Imran geben?) Und dann ist da natürlich noch der Durchbruch. Nach einem Monat Fasten und Beten und Beten und Fasten habe ich beschlossen, eine Liste zu schreiben. Denn wie Anaïs Nin gesagt hat: »Wir schreiben, um das Leben zweimal zu kosten.« Ich bin mir nicht sicher, ob sie wusste, wovon sie redet. Wir schreiben, um den Geschmack loszuwerden, den gewisse Lebenskrümel hinterlassen. Aber ich will mir nicht vorwerfen lassen, nichts auszuprobieren, und Schreiben ist sehr nützlich zur späteren Bezugnahme. Also, wo zum Henker ist die Liste jetzt schon wieder abgeblieben?! Ah, hier …

Auf Ramadan bzw. Mauerdurchbruch folgende Vorsätze:

•  Aufhören zu rauchen. Besonders da Hannah sagt: »Manche islamische Gelehrte halten es für haram.« Tabu. Seufz. Wissen kann manchmal so lästig sein. (Ich finde es doch ziemlich nett von mir, ihre eventuelle polygame Ehe nicht zu kritisieren in Anbetracht ihrer hochgezogenen Augenbraue jedes Mal, wenn ich mir eine Kippe anzünde.)

•  Ich werde meine philosophische Einschätzung der ganzen Imran-Mauerdurchbruchs-Angelegenheit beibehalten. Es gibt Menschen, die Mauern mögen, und es gibt Menschen, die Mauerdurchbrüche mögen, und damit hat es sich.

•  Außerdem werde ich das Handy von meiner Hand ablösen. Man sollte sich seine Obsessionen sorgfältig aussuchen, und meine sollte besser mein Job sein als die sozialen Medien und andauernd zu checken, ob Imran sich über Mail/ Facebook/ SMS/ WhatsApp/ Twitter/ Instagram/ Pinterest etc. gemeldet hat.

•  Was mich dazu führt, wie wichtig es ist, eine geniale Pressereferentin zu sein. Literatur zu promoten wird mir zwar nicht den Weg in ein behagliches Leben nach dem Tod ebnen, aber sie ist doch wohl gleichbedeutend mit Bildung, und Bildung ist der Stützpfeiler islamischer Philosophie. Ich bin nicht ganz sicher, wie meine derzeitige Kampagne für Shain Murphys Alles über Nilpferde da reinpasst, aber das Leben ist eben manchmal mysteriös. Zudem kann ich beweisen, dass ein Hidschab mich nicht zu einer Geächteten macht. Ich werde nicht gefeuert werden, weil ich praktizierende Muslimin und Kopftuchträgerin bin. Gefeuert zu werden, weil ich eine miese Pressereferentin bin, wird sich allerdings unter Umständen nicht vermeiden lassen.

•  Ich werde nicht den gesamten Kühlschrank leeressen, um die schwere Kalorienunterversorgung während des Ramadan auszugleichen, bei der mein Körper in einen Schockzustand verfallen ist und sich in einer Hungersnot wähnte. (Was ich an Gewicht verloren habe, habe ich an Spiritualität gewonnen. Glaube ich.)

•  Da ich gerade auf dem Pfad der Erkenntnis wandle, werde ich auch jegliche (natürlich unabsichtlichen) Tendenzen meiden, die andere, etwas … sagen wir mal freizügigere Hidschabis zur Schau stellen. Das heißt Finger weg von knall-engen Sachen mit Stretch, die wenig der Fantasie überlassen. Das wäre meiner Ansicht nach ein Plus für mich selbst und die Gesellschaft. (Ich denke nur an das Wohl der Gemeinschaft.)

•  Und noch wichtiger: Schluss mit Beziehungen. Entwe-der das oder Schluss mit allem, was ich mir wünsche, und dann bin ich wirklich eher für Ersteres. Imran und ich haben eben unterschiedliche Vorstellungen, na und? So läuft das nun mal im Leben; bergab, würde mancher vielleicht sagen. Emotionale Abhängigkeit ist schlecht für das persönliche Wachstum. (Und ein bisschen zu gut für das körperliche Wachstum. Ist klar.) Als Frau des einundzwanzigsten Jahrhunderts sollte ich aufgeklärt genug sein, um mich nicht zwanghaft mit meinem Status als Single zu befassen. Ich werde bedeutungsvollere Dinge tun. Ehrenamtliche Arbeit? Hilfe für Obdachlose? Kuchen für einen guten Zweck backen? (Backen lernen?) Die Liste ist endlos.

Ich sah auf dem Handy nach, ob Imran mir nachträglich zum Fastenbrechen geschrieben hatte. Hatte er nicht. Maria stürmte im Bademantel in mein Zimmer und warf einen Haufen Stoffmuster auf mein Bett. In vier Monaten heiratet sie Tahir. Ihr Kleid wird kastanienbraun sein, also muss alles in einem Braunton sein. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie meine Vorhänge abnehmen und als Hintergrund für die Zeremonie verwenden würde. Am liebsten würde ich sagen: »Behalt die Vorhänge, Süße. Du wirst sie noch brauchen, um den Mauerdurchbruch zuzuhängen, mit dem du wahrscheinlich leben musst.«

Sie durchwühlte meinen Schrank und hinterließ dabei Pfützen auf dem Fußboden, während ich eins der Stoffmuster in die Hand nahm.

»Das ist einer der vielen Gründe, warum ich mich vom Heiraten abgewendet habe«, sagte ich.

»Schon klar.«

Sie versteht die spirituelle Wandlung des vergangenen Monats nicht. Nur gelegentlich unterbrachen Fantasien von Haselnussschokolade die Bildung meiner neuen zenartigen Persönlichkeit. Wenn es im Leben nur darum ginge, einen Partner zu finden, wäre ich in Lahore in den Neunzigern geboren worden.

»Ich finde meine spitzen schwarzen Schuhe nicht.« Maria reckte sich so weit in meinen Schrank, dass sie Gefahr lief, sich darin zu verirren. Schließlich tauchte sie mit besagten Schuhen wieder auf und inspizierte sie. »Danke, dass du sie zerkratzt hast.«

Ich stand auf und suchte nach einem schwarzen Edding.

»Kein Problem«, sagte ich und hielt den Stift hoch. Maria riss die Schuhe weg, bevor ich nach ihnen greifen konnte.

Es war meine Miene, glaube ich. Vielleicht sah ich verletzt aus oder auch einfach bemitleidenswert, denn Maria bekam diesen Blick, den sie und meine Eltern sich angewöhnt haben, und meinte: »Ach, schon gut. Gibt ihnen einen Retro-Look. Hier, ich schenk sie dir.«

Sie hielt mir die Schuhe hin.

»Ich will sie nicht.« Mitleid in Form von Geschenken nimmt man nur an, wenn man es braucht. Und ich brauche es nicht.

»Alles okay bei dir?«, fragte sie.

Ich steckte mir die Haare mit einer Klammer hoch und zog das Bettlaken glatt. »Mir geht’s gut«, sagte ich zum vielleicht tausendsten Mal. Nur um zu beweisen, wie gut, drehte ich mich zu ihr um und vollführte ein Stepptänzchen.

Maria sah mich an und rückte das Handtuch auf ihrem Kopf zurecht. »Du bist so’n Freak.«

»Schau dir diese Wände an.« Ich streichelte über den seidenmatten Anstrich, drückte die Wange daran und küsste ihn. »Jeden Morgen betrachte ich ihre Unversehrtheit und denke mir: So sollen Wände aussehen.«

Maria setzte sich aufs Bett. »Das mit dem Mauerdurchbruch war wirklich ein bisschen übertrieben.«

Genau. Das ist nicht bei den Schwiegereltern wohnen, sondern in einer Anstalt. Andererseits hat Maria sich tatsächlich dazu entschlossen, bei ihren Schwiegereltern einzuziehen (ohne Durchbruch, was ein Riesenunterschied ist).

In dem Moment kam Dad die Treppe hochgestapft und erschien in der Tür. »Ich verlasse eure Mutter.« Er legte sich die Hände auf den kaputten Rücken und streckte die Brust heraus.

»Ja, genau, Dad«, sagte ich.

Hinter ihm tauchte plötzlich Mum auf, sodass er vor Schreck einen Satz machte. Es ist wirklich ziemlich beeindruckend, dass eine solche Fülle sich so geräuschlos bewegen kann.

»Himmel!«, rief Dad. »Deinetwegen kriege ich noch einen Herzinfarkt.«

»Schön wär’s.« Sie hielt ihm ein Tablett unter die Nase. »Nimm dein Dioxin.«

Dad warf sich das Digoxin in den Mund und spülte es mit einem Glas Wasser hinunter. Ich hoffe, Mum erzählt nicht überall herum, dass sie ihrem Mann Dioxin gibt. Die Leute halten Muslime schon für komisch genug.

Mum stellte das Tablett auf meinem Bett ab und gab mir und Maria einen Teller mit Toast. »Du bist ja so schmächtig geworden«, sagte sie zu mir.

Wie bitte? Ich mag ja Gefahr laufen, vieles zu werden, aber schmächtig gehört nicht dazu. Plötzlich fand ich mich im Fokus aller drei Familienmitglieder wieder.

Ich klopfte an die Wand. »Aber sind intakte Wände nicht besser als ein dickes Gesicht?«, fragte ich (rein rhetorisch natürlich).

»Siehst du, wie sie sich anstellt?«, sagte meine Mutter an meinen Vater gewandt.

Dad legte eine Hand auf die Wand. »Jetzt zeig mal«, sagte er und maß ein paar Schritte ab. »Wie groß ist dieser Durchbruch denn genau?«

Das ist es ja – ich weiß es nicht. Hat er eine Tür? Hat die Tür ein Schloss? Oder sind die beiden Häuser nur durch so einen Perlenvorhang voneinander getrennt, durch den man vom einen Wohnzimmer aus hören und sehen kann, was im anderen los ist, und durch den alle nach Belieben hin- und herrennen können? Bedeutet das, die Familie hat voyeuristische Neigungen?

»Aber was, wenn sie ein einziges großes Haus haben?«, fragte Mum. »Wir hätten es wenigstens sehen sollen, bevor Soffoo Nein sagt.«

»Was?«, sagte Maria. »Sie hat Nein gesagt. Ende der Diskussion.«

»Danke.« Maria ist die Beste.

Es ist so seltsam, dass unsere Eltern uns andauernd mit dem Heiraten nerven, wo sie doch nur auf eine Gelegenheit warten, aus ihrer eigenen Ehe zu türmen. Glauben sie, das ist das Leben: eine Mischung aus Beharrlichkeit und Resignation? Wenn ja, dann nein danke. Sie hatten keine Wahl – was deprimierend ist –, aber sie sollten sich doch freuen, dass das bei uns anders ist. Wobei sie vermutlich so viel Wahl nicht beabsichtigt hatten.

»Kismet.« Ich riss die Augen auf. »Gegen das Schicksal ist man machtlos, Mum.«

»Kismet hat dir befohlen, Nein zu sagen.«

»Im Moment befiehlt Kismet mir, aufs Klo zu gehen.« Womit ich an der versammelten Familie vorbeimarschierte und mich im Bad einschloss.

07:05 Ich würde so gern eine rauchen. Ich könnte mich aus dem Fenster lehnen – aber der Qualm würde bestimmt durch den Spalt zwischen Tür und Fußboden dringen, oder? Außerdem müsste ich zurück in mein Zimmer und mir eine aus meinem Geheimvorrat unter der Matratze holen, ohne von meinen Eltern erwischt zu werden. (Wodurch ich mich fühlen würde wie sechzehn statt dreißig. Nicht besonders toll für mein Selbstwertgefühl.) Vielleicht sollte ich einfach aus dem Fenster springen, dann wäre endlich Ruhe.

Aber ich bin ja ein mustergültiger Sprössling meiner Immigranten-Eltern.

08:15 Was bringt es, meinen Immigranten-Eltern eine mustergültige Tochter zu sein, wenn meine Entscheidungen nur Spott ernten?

Mum warf nur einen Blick auf mein Kopftuch und zeigte dann nach draußen, wo sich ein glühend heißer Tag ankündigte. »Willst du an einem Hitzschlag sterben?«

Dad war mit seinem Werkzeugkasten bewaffnet, um die Küchenlampe zu reparieren. Ich tätschelte ihm den Rücken. »Ja, Mum. Eines Tages werde ich mich in meinem Hidschab totschwitzen.«

Während Mum einen Lockenwickler in ihren Haaren befestigte, erzählte sie mir von der Tochter ihrer Freundin Nargis, die wegen ihres Kopftuchs nach der Arbeit von einer Gang verfolgt, als Paki beschimpft und aufgefordert worden war, zurück nach Hause zu laufen. Die Tochter habe solche Angst gehabt, dass sie den Hidschab am nächsten Tag nicht mehr angezogen hätte.

»Sie hätte sagen sollen: ›Ich gehe ja nach Hause … und zwar gleich hier um die Ecke!‹«

»Genau!«, sagte Maria und hielt zwei kastanienbraune Stoffmuster gegen das Licht.

»Armleuchter!«, rief Dad. Ich weiß nicht, ob er die Lampe oder die Gang meinte.

»Deine Haare sind das einzig Schöne an dir, und du versteckst sie.« Mum betrachtete meinen Kopf.

Ich schätze mal, da Mum mich geschaffen hat und ich die Hidschab-Situation geschaffen habe, muss sie das Bedecken meiner Haare als persönliche Beleidigung empfinden. Es liegt nicht an dir, Mum, sondern an mir. Mal ehrlich, es ist schon schlimm genug, dass Imran sein Leben lang mit einer Großfamilie zusammenwohnen will, aber erklären zu müssen, was man auf dem Kopf hat oder nicht, geht wirklich zu weit.

»Soffoo, schmink dich doch ein bisschen mehr.« Mum musterte meine angeblich schmächtige Gestalt. »Sonst siehst du aus wie eine von diesen … Gontonomo-Bay-Ehefrauen.«

Dad sah über die Schulter und richtete den Schraubenzieher auf Mum. »Mehnaz …«

»Aber die haben wenigstens einen Mann«, ergänzte sie und war so begeistert von ihrem Witz, dass sie laut loslachte und Dad auf den Rücken schlug.

Er drehte sich um, packte sie an der Schulter und fuchtelte mit dem Werkzeug. »Mädchen, eure Mama hat ein paar lockere Schrauben im Gehirn. Ich kümmere mich drum.«

»Schau, die Zeit! Soffoo, du kommst noch zu spät.« Damit drückte Mum mir eine Banane in die Hand und schob mich aus der Küche, nicht ohne dabei über den vielen Stoff auf meinem Kopf und ihre vielen Sorgen zu stöhnen.

Draußen wurde der grimmig aussehende, tätowierte Nachbar Zeuge, wie Mum versuchte, mein Kopftuch zu lockern, damit man wenigstens sieht, dass ich einen halbwegs langen Hals habe. Er erscheint mir genau die Art Mensch zu sein, die mich auffordern würde, zurück nach Hause zu gehen – obwohl er weiß, wo ich wohne. Aber es hat ja auch niemand behauptet, dass Rassisten vernunftbegabt sind.

09:10 Oh mein Gott. Was war das denn gerade? Ich stand an der Station Tooting Broadway auf der Rolltreppe und dachte an mein letztes Gespräch mit Imran.

»Aber andere Frauen ziehen auch bei ihren Schwiegereltern ein«, hatte er gesagt. »Das ist ganz normal.«

Normal? Wessen normal? Unterschiedliche Vorstellungen von Normalität: meiner Meinung nach ein weiterer Grund, jemanden nicht zu heiraten.

»Warum kannst du keinen Kompromiss machen?«, fragte er und sah mich mit seinem typisch undurchdringlichen Blick an, als könnte ihn nichts bewegen. Es hat ihn ja auch nichts bewegt. Zumindest nicht aus seinem Elternhaus heraus. Ich war nicht sicher, ob ich weinen oder ihm meinen Kaffee ins Gesicht schütten sollte. Es war einfach so absurd. Aber wahrscheinlich ist des einen Absurdität des anderen fixe Idee. »Geh du doch den Kompromiss ein.« – »Nein, du.« – »Nein, du …« – Wie wär’s, wenn keiner es macht und wir alle glücklich und kompromisslos bis ans Ende unserer Tage leben?

»Erinnerst du dich noch an eine unserer ersten Verabredungen?«, fragte er. »Du warst sauer, weil in der Bahn niemand einem alten Mann einen Platz angeboten hat. Du hast jemanden gezwungen, für ihn aufzustehen.« Endlich lächelte er. »Bei allem, was du sagst oder tust, hast du Feuer im Bauch. Und du trägst einen Hidschab.« Er sah mich an. »Bleib bitte immer so, wie du bist.«

Bei seinen Worten zog sich etwas in meiner Brust zusammen. Für Ich liebe dich habe ich nicht viel übrig, das ist für Leute, die es nicht besser wissen. Bleib, wie du bist dagegen bedeutet, dass die eigenen Fehler und Schwächen notwendig sind: die unvollkommene Summe einer unvollkommenen Vergangenheit, die sich letzten Endes als etwas Gutes für jemanden entpuppt.

»Glaubst du wirklich, du findest noch mal jemanden, der so in dich vernarrt sein wird wie ich?«

Vernarrt? Wow, danke. Ich wusste gar nicht, dass ich eine Art Welpe bin, in den man vernarrt sein kann. Seufz. Nüchtern gesehen ist es nicht das Ende der Welt, aber es ist ein Ende. Und ich bin kein Freund von Enden.

Durch die aus der U-Bahn strömenden Leute wurde ich in die Gegenwart zurückgeholt. Ich sprintete los, bevor sich die Türen wieder schließen konnten. Dabei stieß ich aus Versehen mit einem Mann zusammen, der mir entgegenkam. Ich hörte ihn etwas murmeln, aber die Türen piepten schon und ich war zu beschäftigt damit, mich durchs Gewühl zu schieben, um ihn richtig zu hören. Erst als ich in den vollen Wagen stieg, drang das Wort schließlich bis in mein Bewusstsein durch. Darum drehte ich mich erst verzögert mit offenem Mund zu ihm um. Terroristin? Ich? Hatte ich das gerade richtig gehört?! Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und verrenkte mir den Hals, um noch einen Blick auf den Mann zu erhaschen. Man erwartet schließlich nicht, so eine Aussage an sich gerichtet zu hören. Durch die noch immer geöffneten U-Bahn-Türen sah ich, wie er sich umdrehte. Seine Jacke hatte sich in jemandes Aktentasche verfangen.

Jemand wurde zwischen den Türen eingeklemmt.

Bitte nicht mehr zusteigen.

Niemand hatte ihn gehört. Alle blieben in ihre Zeitung oder ihren iPod vertieft, als hätte mir nicht gerade jemand die Normalität unter den Füßen weggezogen und mich mitten in diese groteske Realität fallen lassen. In meiner Benommenheit holte ich mein Buch aus der Tasche. Vergiss den, redete ich mir gut zu. Du solltest inzwischen an rassistische Beschimpfungen gewöhnt sein. Solche blöden Kommentare können dir nichts anhaben. Es waren vernünftige Argumente, aber sie schafften es nicht ganz, meine Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ich starrte auf meine Schuhe – meine wunderschönen petrolfarbenen Schlangenleder-Peep-Toes – und fuhr mit einer Hand über mein korallenrotes Kopftuch. Wie konnte jemand denken, ich sähe aus wie eine Terroristin?!

Bitte nicht mehr zusteigen, Türen schließen selbsttätig. Vorsicht bei der Abfahrt.

Ich hob den Kopf, von meiner eigenen genialen Logik ermutigt. »Hey!«, brüllte ich in der Hoffnung, meine laute Pundschabi-Stimme würde bis zu ihm reichen. »Terroristen tragen keine Vintage-Schuhe, du dämlicher Mistkerl!«

Ausgerechnet in diese Schublade hatte er mich stecken müssen. Aber letzten Endes war mein Ausbruch zwecklos. Die Türen waren mittlerweile zu, der Mann weit weg. Aber wisst ihr, wer nicht weit weg war? Richtig: ich. Stattdessen stand ich mitten in einem U-Bahn-Waggon voller Menschen, die mir Seitenblicke zuwarfen und vorsichtig von mir abrückten. Wie soll man einer Zugladung von Leuten vernünftig erklären, dass man keine Terroristin ist? Ich meine, ich arbeite im Verlagswesen, verdammt noch mal! Also machte ich das Nächstbeste und konzentrierte mich demonstrativ auf mein Buch (beziehungsweise tat ich so, als würde ich mich konzentrieren, denn wie sollte das bitte schön jetzt noch gehen?). Leider hatte ich dabei nicht bedacht, dass ich gerade Der Fundamentalist, der keiner sein wollte las.

Ich brauche eine Kippe.

09:35Terroristin! T-E-R-R-O-R-I-S-T-I-N. Immer noch hallt das Wort in meinem Kopf wider und verursacht mir schlimme Kopfschmerzen.

Als ich im Büro ankam, war mein Inneres im Ausnahmezustand. Ich hatte mich im Raucherbereich hinter dem Gebäude auf die Stufe gesetzt.

»Alles klar?«

Charlie aus der Poststelle, der dauernd mit einem genervten Gesichtsausdruck rumläuft, kam mit einem Wägelchen heraus. Sein Goldarmband glitzerte in der Sonne.

»Hast du zufällig eine Kippe für mich?«, fragte ich.

Er griff in die Hosentasche und warf mir eine Zigarette und ein Feuerzeug zu. »Dich hab ich hier schon länger nicht mehr gesehen.«

»Ich hab gefastet.« Ich inhalierte den Rauch und betrachtete die hübsche weiße Glimmstange: die Verkörperung von Nikotin und schlechtem Gewissen.

»Ach ja, du bist Muslimin.«

Was glaubt er denn, warum ich mit diesem Neonschild von einem Tuch auf dem Kopf rumlaufe? Wahrscheinlich denkt er überhaupt nicht darüber nach. Ich spielte mit meinem Handy und hatte plötzlich den Drang, Imran zu simsen: Kannst du fassen, dass ich gerade Terroristin genannt wurde?

Ach, Mist. Ich komme zu spät zur Sitzung!

10:35 Als ich zur Teambesprechung in den Konferenzraum kam, war die ewig an ihren Fingern schnüffelnde Brammers gerade ihre Notizen holen gegangen.

»Schickes Kopftuch, Süße«, sagte Katie.

Wenigstens eine, die das denkt. Mr. Rassist fand das eindeutig nicht.

»Ist das von Zara?«, fragte sie.

»Was?«

»Alles klar bei dir?«

Also erzählte ich ihr, was passiert war. Kaum hatte ich das Wort ausgesprochen, rief Katie: »Hört mal alle zu! Leute! Sofia wurde gerade in der Bahn Terroristin genannt!«

Fleurs Kopf schnellte hoch. »Wie bitte?«

Dann wurde allgemeine Empörung laut. »Wie schrecklich!« »Nein!« »Wer sagt denn sowas?«

Katie stellte mir einen Teller Kekse unter die Nase, während Fleur mir einen Kaffee brachte. Ich sah in die besorgten, blassen Gesichter meiner Pressekollegen und erzählte ihnen das von den Terroristen, die keine Vintage-Schuhe tragen. »Nein!«, war die ungläubige Antwort. »Das hast du nicht gesagt!«

Und wie ich das gesagt habe, und es stimmt verdammt noch mal auch. Es war wie damals, als Katie und ich auf dem Weg zu einer Lesung in Paddington auf den Zug nach Bath warteten.

»Erinnerst du dich noch an den durchgeknallten braunen Mann?«, fragte ich Katie.

Sie nickte. »›Keine Angst. Du kommst nicht in die Hölle, weil du mit einer Weißen befreundet bist.‹«

Damals lief es mir eiskalt über den Rücken, wenn ich mal ganz ehrlich bin. Manchmal kommt es wirklich von allen Seiten. Jedes Mal, wenn ich mir denke: Hurra, niemand interessiert sich für mein Kopftuch, nennt mich irgendein dahergelaufener Miesepeter Terroristin (oder Paki, Ninja, Bombenleger – das Prinzip ist klar).

Während Katie mir die Schulter tätschelte, holte ich Block und Stift heraus.

»Wenn ich schon Terroristin genannt werde, sollte ich einfach einen Niquab tragen«, meinte ich. »Dann brauche ich mir wenigstens keine Gedanken mehr um Lippenstift zu machen.«

Ein paar lachten. Warum, weiß ich nicht. Es war kein Witz.

Brammers kam herein und wischte sich im Gehen etwas von ihrer Armani-Kostümjacke, das wie angetrocknete Kotze aussah – ein stummer Zeuge ihres Spagats zwischen Abteilungsleiterin und Mutter von drei Kindern. »Alex hat gespuckt, als ich gerade zur Tür raus wollte«, erklärte sie. »Gut, meine Lieben. Bevor wir zu internen Dingen übergehen: Hat jemand Ideen, die ich bei der Redaktionssitzung vorlegen kann? Und zwar gute, wenn ich bitten darf.«

Jeden Monat will Brammers uns in der Teambesprechung Ideen entlocken, nur um sie dann in der Redaktionssitzung als ihre eigenen auszugeben. Sie scheint denen dort beweisen zu wollen, dass sie mehr kann als nur Presse. Jeden Monat scheitert sie. Ich hatte mir eigentlich auf dem Weg zur Arbeit Vorschläge ausdenken wollen, und hätte es auch getan, wenn eine bestimmte Person nicht glauben würde, ich würde in meiner Freizeit chemische Formeln googeln. Ich kritzelte ein Haus auf meinen Block, während ich nach dem Handy schielte und mir kurz wünschte, Imran würde anrufen, so wie früher, nur um meine Stimme zu hören. Niemand kannte Imrans ungebremsten Zuneigungsbekundungen besser als ich und mein Handyanbieter. Schön und gut, dass ich mich entschieden hatte, das Leben allein anzugehen. Bei der ganzen Sache gab es nur einen Haken: Man kann mit niemandem mehr über die Probleme dieser Welt reden. Man streicht einen Menschen aus seinem Leben und ist plötzlich auf sich allein gestellt.

»Sofia? Sofia?« Brammers musterte meinen leeren Gesichtsausdruck, der bestimmt schön zu meinem leeren Gehirn passte. Ich starrte auf meine Zeichnung. Meine Gedanken sprangen von Mauerdurchbrüchen zu meinen Aufgaben als Pressereferentin zu Rassisten.

»Für meine grauenhaften Dates interessiert sich vermutlich niemand?« Den Satz unterstrich ich mit meinem gewinnendsten Lächeln, was, da stimmt mir wohl jeder zu, in Anbetracht der Lage eine ganze Menge war.

Ich bin immer noch unentschlossen, ob es generell besser ist, wenigstens irgendwas zu sagen anstelle von gar nichts. »So spannend das auch klingt, aber wir haben im vergangenen Jahr drei Dating-Bücher rausgebracht«, erwiderte Brammers.

Sie wollte schon fortfahren, als ich meinte: »Aber garantiert wurde sonst niemand von seinem Freund aufgefordert, künftig bei seinen Eltern und mit einem Mauerdurchbruch zu wohnen.« Da ich gerade hochkonzentriert überlegte, wie man eigentlich einen Durchbruch zeichnete, merkte ich nicht, dass alle mich anstarrten.

»Dein Freund wollte, dass du bei seinen Eltern wohnst?«, fragte Brammers.

»Ja.«

Emma strich sich den Pony aus der Stirn. »Mit einem was?«

Wie konnte ich nur vergessen, dass ich in der wahrscheinlich konventionellsten Branche überhaupt arbeite? Mit Blick auf die verwirrten Mienen erläuterte ich das mit den verbundenen Häusern, den Schwiegereltern und natürlich dem Durchbruch, der das Ganze zusammenhält. Nachdem ich sie über diese gängige südasiatische Praxis aufgeklärt hatte, fühlte ich mich nicht nur wie ein schwarzes Schaf, sondern wäre ganz gern auch eins gewesen. Schafe werden nicht kritisiert.

»Aber warum?«, fragte Emma.

Mein Gott, stellt sie viele Fragen! Die sind an und für sich nicht das Problem, sondern die Annahme, ich hätte Antworten für sie. Ich bin doch keine Ethnologin.

»Keinen Bock, einen Umzugswagen zu mieten?«, schlug ich vor. »Hemmungen, die Nabelschnur durchzuschneiden? Pflichtgefühl gegenüber den Immigranten-Eltern?«

»Und ziehen Männer auch bei den Schwiegereltern ein?«, fragte Brammers. Wie ich mit einiger Beunruhigung feststellte, machte sie sich Notizen.

»Nein. Nur die Frauen.« Langsam regten mich die ganzen Fragen auf.

»Ach, Mensch«, sagte Emma. »Für euch ist das so schwer, oder? Habt ihr gestern das in der Metro gelesen? Von dem pakistanischen Mädchen in Birmingham?«

Fleur legte ihren Textmarker weg. »Schrecklich. Nur weil sie studieren wollte.«

Ich wusste nicht, was das mit mir und dem Mauerdurchbruch zu tun hatte.

»Also mir wurde keine Knarre an den Kopf gehalten«, sagte ich.

Brammers wirkte fasziniert. »Hätte das passieren können?«

»Nein, nein.« Ich winkte ab. »Ich meine damit nur, man kann ja Nein sagen. Ich hab Nein gesagt.«

Okay, wir alle wissen, dass das Ganze mit dem Mauerdurchbruch eine blöde Situation ist, aber deshalb brauchten mich nicht alle so betreten anzusehen: als wären sämtliche Südasiaten wahnsinnig. Es gibt Verrückteres als das. Hannahs Situation zum Beispiel.

»Immerhin hat er mich nicht gebeten, seine Zweitfrau zu werden.«

»Zweitfrau?« Brammers’ Stift zuckte wieder.

Mal ehrlich, ein Mauerdurchbruch ist eine Sache, aber Polygamie eine ganz andere. Ich erklärte ihnen das mit Hannah.

»Aber das ist doch verboten!«, rief Fleur und wurde rot im Gesicht.

Äh, hallo? Mord auch, aber das hält auch niemanden davon ab.

»Spinnt deine Freundin?«, fragte Emma.

Brammers kratzte sich am Kopf. »Das ist hochinteressant, Sofia. So was würde die Times lieben.« Das war nicht sonderlich hilfreich. Hannah hasst die Times.

»Ja«, sagte ich lachend. »Darüber sollte mal jemand ein Buch schreiben.« Ich kritzelte weiter, aber es entstand eine Pause.

»Sofia.« Lächelnd wiegte Brammers den Kopf. »Das ist eine tolle Idee.«

»Was genau?«

»Ein Buch übers Daten bei Muslimen.«

»Oh nein. Nein.« Ich nahm mir einen Schokokeks.

»Das würde einen faszinierenden Einblick in moderne muslimische Beziehungen geben.«

Ich seufzte. Wer hätte gedacht, dass meine Eltern und das Verlagswesen so ähnliche Interessen haben?

»Was passiert denn auf den Dates sonst noch so?«, fragte Brammers.

Ich zuckte die Achseln. Mir fielen nur Hannah und ich ein. Und miteinander verbundene Häuser und Zweitfrauen füllen noch kein Buch.

Auf einmal sagte Katie: »Weißt du noch, dieser Typ? Der mit dem Bart?«

»Der mich Disko-Hidschabi genannt hat?« Und, nebenbei bemerkt, durchblicken ließ, dass meine Klamotten nicht so schlecht seien – sie müssten nur schwarz gefärbt werden. Gruseliger Kerl.

»Das ist gut, Sofia, sehr gut.« Ich konnte die Ader in Brammers’ Stirn hervortreten sehen. »Wir könnten alles Mögliche mit reinnehmen: Zwangsheiraten, Ehrenmorde …«

Oh mein Gott. Man liest so was in der Zeitung, aber ich kenne niemanden, der zu einer Ehe gezwungen wurde. Der einzige Grund, warum mein Vater eventuell ein Messer schwingen würde, wäre, damit ein Mann sich keine Freiheiten herausnimmt. Wofür meine Mutter demjenigen wahrscheinlich gebratenen Hühnchenreis auf Lebenszeit versprechen würde.

»Verbotene Sexgeschichten«, ergänzte Brammers.

»Sex?«, fragte ich. »Was ist das?«

Anscheinend war das nicht lustig, denn nur Katie stieß ein unterdrücktes Kichern aus, während die anderen nicht sicher waren, ob sie lachen oder geschockt sein sollten.

Brammers nickte begeistert. »Doppelmoral im Geschlechterverhältnis …«

Ich setzte mich auf. Na gut, bei einer Umfrage, wer noch Jungfrau ist, käme man vermutlich auf viel mehr muslimische Frauen als Männer, aber das nennt man wohl selektive Wahrnehmung: als wäre Doppelmoral ein rein muslimisches Phänomen.

»Das ist alles ein bisschen düster, oder?«, sagte ich. »Ich kann nicht gerade behaupten, viel Erfahrung mit Zwangsheiraten oder Ehrenmorden zu haben.« Zur Demonstration ahmte ich die Messerstecher-Szene aus Psycho nach.

»Dann also ein lustiges Buch übers Dating bei Muslimen?« Brammers’ Ader schien sich kaum noch einkriegen zu können.

»Ja, genau. Irgendwas Lockerleichtes.«

Als alle das Sitzungszimmer verließen, fragte ich Katie, ob meine Kollegen insgeheim fanden, ich sähe aus wie eine Terroristin. »Sind sie einfach zu nett, es zu sagen?«

»Sei nicht albern«, sagte sie.

»Soll ich nachfragen?« Wir setzten uns. »Könnte ein bisschen verzweifelt rüberkommen. Aber besser verzweifelt wirken als wie eine Terroristin.«

»Das ist reine Neugier. Fleur hat mich mal nach deinem Kopftuch und der ganzen Religionsgeschichte gefragt. Bei der Heyworth-Buchpremiere. Es war gerade Ramadan, und du hast keinen Platz zum Beten gefunden.«

Ich warf einen Blick auf Fleur, die gerade den neuen Praktikanten einwies. »Kein Platz zum Beten, dafür aber gute Kanapees. Danke, übrigens, dass du mir damals welche aufgehoben hast«, sagte ich.

»Klar doch. Ehrlich gesagt glaube ich, sie bewundert einfach dein Engagement. Sie fand es sehr interessant, dass in deiner Familie sonst niemand ein Kopftuch trägt.«

»Das ist, als würde man sagen: ›Wie interessant, wo doch in deiner Familie sonst niemand lesbisch ist.‹«

»Mir musst du das nicht sagen.« Katie begann, ihre blonden Haare zu flechten.

Ich dachte darüber nach. »Manche Leute gehen gern shoppen, manche zur Therapie … Ich bete eben gern.«

»Neulich war ich mit meiner Oma in der Kirche und hab eine Kerze angezündet, aber ich weiß nicht mal, an was ich glaube. Religion hat einen schlechten Ruf.«

»Hmmm. Vielleicht sollten wir statt für Nilpferd-Bücher eine PR-Kampagne für Muslime starten.«

»Du kannst es nicht allen recht machen.« Katies Haare glänzten im grellen Bürolicht. »Außerdem wissen die meisten Leute, dass Terrorismus total relativ ist.«

Zur Feier meines un-terroristischen Aussehens kaufte ich Katie (und mir) Schokolade. Außerdem werde ich anfangen, mich über die kleinen Dinge im Leben zu freuen, denn die sind doch das, was zählt.

15:00 Fünf Anrufe in Abwesenheit von Fozia. Obwohl wir beide nicht unbedingt stressfreie Jobs haben, nehmen wir uns Zeit für diese Telefonate. Sie erzählte mir, dass Kamran gerade »Gespräche« mit seinen Eltern über ihre Beziehung führt. Wohl eher Verhandlungen, dachte ich. Seine Eltern sind nicht begeistert, dass er eine Geschiedene heiraten möchte. Ich versuchte Fozia zu erklären, dass er ein ebenso großer Waschlappen wie Imran ist, aber auf mich hört ja keiner.

16:30 Wie lange wartet man üblicherweise, um seinen Ex per SMS zu fragen, wie es ihm geht? Besonders, wenn man zum Abschied gesagt hat: »Ich will nicht, dass jemand in mich vernarrt ist.« Was zwar an und für sich nicht gelogen ist, aber nach einem Monat Bedenkzeit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass man auch solche Wahrheiten einfühlsam ausdrücken sollte.

An Imran: Hallo. Hoffe, dein Ramadan war gut und du hattest ein schönes Fastenbrechen. Wollte nur mal fragen, wie es dir geht. Pass auf dich auf! Sofia

Na also. Ich kann auch fürsorglich sein.

19:00 Der tätowierte Nachbar war in der Einfahrt und schraubte an seinem Auto herum, als ich nach Hause kam. Katies Rat lautet, immer schön freundlich zu sein. Eigentlich hatte ich keine Lust, aber genau, als ich vorbeikam, richtete er sich auf, stützte die Hände in die Hüften und runzelte die Stirn. In Anbetracht der heutigen Ereignisse dachte ich mir, ich würde der Gesellschaft mal einen Gefallen tun, indem ich trotz Vorurteilen nett wäre.

»Ärger mit dem Auto?«, fragte ich.

»Das Öl ist alle«, gab er zurück.

»Hmm, ja. Öl ist wichtig.«

Ich meine, was soll man sonst sagen?

Er sah mich an. »Was?«

»Damit alles glatt läuft … und so.«

Im Gegensatz zu diesem Gespräch. Was laberte ich denn da?

Er knallte die Motorhaube zu, und seine Miene schien zu sagen: Was zum Henker laberst du da? Verständlicherweise. Nun gut, ich weiß auch, wann es Zeit ist zu gehen. Daher kramte ich mein bestes aufgesetztes Lächeln hervor und ließ ihn allein.

22:30 Ich betete und sah dann nach, ob Imran geantwortet hatte. Vielleicht hat er eine neue Nummer? Dad rauchte im Garten und hörte dazu alte, melancholische indische Musik. Ich streckte den Kopf aus meinem Fenster, um so viel Passivrauch wie möglich einzuatmen. Weil mir ein bisschen langweilig war, setzte ich mich zu ihm. Natürlich nur, weil ich Gesellschaft haben wollte, nicht wegen der Nähe zum Nikotin.

Ich betrachtete seine Zigarette – das einzige Mittel gegen die innere Unruhe. (Aber nicht so gut wie Beten. Versteht sich.) »Du weißt, dass Rauchen tödlich ist?«, fragte ich. Ja, ich weiß, Heuchelei. Aber damit meine ich zehn am Tag, nicht eine einzelne, wenn man besonders gestresst ist oder gerade Terroristin genannt wurde.

»Soffoo, du wirst noch lernen, dass einem ein paar Laster erlaubt sein müssen.«

Ich legte meine Füße auf den Stuhl. »Ich weiß nicht genau, was ich von geschlechtsspezifischer Diskriminierung bei diesen Lastern halte.« Für einen Mann ist es okay, eine anzuzünden und vor sich hinzupaffen, aber wenn ich mitmachen würde? Horror! Skandal!

Was für ein Quatsch.

Die Doppelmoral. Dad drückte seine abstehenden grauen Haare platt. Er schien über etwas nachzudenken und sah mich von der Seite an. Kurz fragte ich mich, ob er von meinem gelegentlichen Rauchen wusste, aber in dem Fall würde ich freundlich auf seine Schachtel und die Heuchelei hinweisen. Es ist immer gut, sich einen Gegenangriff zurechtzulegen.

»Dagegen kann ich nichts sagen.« Er nickte. »Ah, pssst. Das ist ein wunderschönes Lied!« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Mum kam in den Garten und sah sich die Blumenbeete an. »Wann stellst du meine Solo-Lichter auf?«

Dad machte ein Auge auf und wieder zu.

»Wer will Tee?«, rief Maria aus der Küche.

Was für eine Frage. Alle natürlich.

Wir saßen still da (einmal ist immer das erste Mal), tranken Tee und lauschten der Musik. Es dauert nicht mehr lang, bis Maria geht, und nur noch Mum, Dad und ich übrig sind. Nach der Hochzeit soll vielleicht der Dachboden ausgebaut werden. (Werde ich die Verrückte auf dem Dachboden sein?)

»Oh, das Lied kenne ich«, sagte Maria.

Eltern haben, glaube ich, einen Blick, der ihren Erstgeborenen vorbehalten ist, egal, was auf der Welt passiert. Vielleicht sind Kinder ein Versuch, diese Welt wieder zu kitten. Da ist Optimismus, obwohl ich bezweifle, dass jemand, der ein Baby bekommt, so ausführlich darüber nachdenkt.

Mum und Dad betrachteten Maria, die scheidende Tochter, traurig und stolz. Eltern können manchmal so Bollywood sein. Sie heiratet doch nur! Obwohl es natürlich öde sein wird, wenn ich sie nicht mehr mit meinen schmutzigen Socken bewerfen kann. Meine Eltern würden mich niemals mit solchem Stolz ansehen. Aber Marias Leben ist so ordentlich wie Mums Tupperware-Schrank; sie hat studiert, sich einen Job besorgt, einen Mann gefunden. Wobei sie zugegebenermaßen fünfzig Männer samt deren Eltern in unserem Wohnzimmer über sich hat ergehen lassen müssen. Das werde ich auf keinen Fall mitmachen. Aber wenigstens hat sie endlich den Richtigen entdeckt und heiratet ihn jetzt. Einen zierlichen Fuß vor den anderen: klare, aufeinanderfolgende Schritte. Ich bevorzuge Kästchenhüpfen. Nur leider stolpert man dabei leichter.

Dad stellte den iPod lauter, und er und Mum fanden es völlig zulässig, mitzusingen. Maria und ich wechselten einen Blick und kicherten leise. Wenigstens finden sie Harmonie in ihrer beiderseitigen Liebe für alte Bollywood-Musik.

Bei einem Blick über den Zaun sah ich, dass der Nachbar die Tür geöffnet hatte. Lehnte er da an der Wand? Ich machte die Musik leiser und erklärte Dad, dass nicht jeder in unserer Straße Bollywood-Fan sei. Er sah mich in gespieltem Entsetzen an. Wir sollten wirklich anderen Leuten weniger Vorwände dafür liefern, uns noch stärker abzulehnen, als sie es wahrscheinlich ohnehin schon tun.

Aber mal ehrlich, wenn einem die Musik nicht gefällt, sollte man seine Tür nicht offen lassen.

23:40 Das andere Problem mit meiner Entscheidung, nicht nach einem Ehemann zu suchen, ist, dass ich nichts von Sex vor der Ehe halte. Mein andauernder Status als Jungfrau wirkt sich bestimmt schlecht auf meine Gesundheit aus.

23:45 Hmmm, ich habe gerade »Leben ohne Sex« gegoogelt. Sieht aus, als gäbe es das nicht. Es gibt »Sexprobleme in der Ehe«, »So kommt dein Liebesleben wieder in Fahrt« (ha!), »Mangel an sexueller Intimität« usw., aber nichts darüber, dass man gar keinen Sex hat. Ganz offenbar hält niemand die Möglichkeit, abstinent zu bleiben, und die daraus entstehenden gesundheitlichen Folgen für wichtig genug, um online darüber zu schreiben. Vielleicht sollte ich stattdessen nach »Zölibat« suchen.

23:47 »Die Auswirkungen von Keuschheit auf Zwangsstörungen und Arthrose.« Hmmmm.

02:15 Ich kann nicht schlafen. Ich muss andauernd an Arthrose denken. Führt meine sexuelle Enthaltsamkeit wirklich zu Zwangsstörungen?

Freitag, 2. September

»Immer dieses schwarze Schaf«

von Ja, ich bin Muslimin, na und?

www.sofiasblog.co.uk

Das Gerede von »Anderssein« mochte ich noch nie. Ich halte das für einen Nährboden für Uneinigkeit und, offen gesagt, Dummheit. Leider aber heißt etwas nicht zu mögen nicht, dass man es nicht spürt. Manchmal erlebt man dieses Gefühl als Nackenschlag – und wahrscheinlich passiert es früher oder später in jedem muslimischen oder auch nicht-muslimischen Leben (ich maße mir keinen Alleinanspruch auf das Anderssein an). Ein anderes Mal erkennt man, dass man in einer Seifenblase gelebt hat, aus der nun langsam der Sauerstoff herausgezogen wird. Egal, wie einem das Gefühl begegnet, die Nachwirkungen sind das Interessante daran. Wenn alles aus dem Gleichgewicht kommt, sollte man sich nicht zu viele Sorgen machen. Gott wird zum Ausgleich irgendetwas in die andere Waagschale werfen, auch wenn es anfangs recht wackelig zugehen kann.

09:40 Ich kam mit Muffin und Kaffee bewaffnet ins Büro geschlendert, aber der einzige Mensch hier war Fleur. Sie war total hektisch, weil sie den Tacker nicht finden konnte, um den Veranstaltungsplan zusammenzuheften. Ich gab ihr ein paar Büroklammern und sah dann – schon wieder – nach, ob ich eine SMS von Imran bekommen hatte. Zum Positiven am Alleinsein gehört, dass man sich auf anderer Leute Probleme konzentrieren kann, was sehr selbstlos ist und besser zu einem guten Muslim passt. Nur macht Heiraten anscheinend die Hälfte des Glaubens aus. Heißt das, ich versage sowohl im Islam als auch in der Gesellschaft?

09:55 Mist! Fleur hat mich gerade gefragt, warum ich nicht in der Redaktionssitzung bin. Warum fangen die jetzt um halb zehn an? Das liegt sicher am Wandel im Verlagswesen. So wie es das Frühmorgengebet gibt, gibt es jetzt wohl auch passend dazu eine Frühmorgensitzung. Aber wie soll irgendjemand meine berufliche Kompetenz ernstnehmen, wenn ich die Sitzungen verpasse?

»Kann ich das noch auf den Ramadan schieben?«, fragte ich Fleur.

»Wäre das nicht gelogen?«

Ich mag Fleur. Ihre Obsession mit dem Textmarker (kein Text ist vor ihr sicher!) ist sehr unterhaltsam, aber wenn sie einen auf ihre ernsthafte Art ansieht, stellt man sich plötzlich selbst infrage. Es ist schwer, jemanden nicht zu mögen, der einen dazu bringt, Dinge infrage zu stellen. Außer natürlich, man mag die Antworten nicht.

Na ja, solange alle weg sind, kann ich ja mal schnell auf Facebook gehen.

09:58 Oho. Wer ist denn der heiße Typ, der mich da angestupst hat?

10:05 Ups. Hab gerade die Fotos des heißen Typen beim Wandern und auf Hochzeiten durchgeklickt und dabei Brammers gar nicht bemerkt. Weiß Gott, wie lange sie schon hinter mir stand.

»Kommst du bitte in zehn Minuten mal in mein Büro?«

Jetzt muss ich sie davon überzeugen, dass ich eine professionelle Pressereferentin bin und keine professionelle Cyber-Stalkerin.

Katie brachte mir einen Smoothie an den Schreibtisch. »Fröhliches Nicht-Fasten! Das hier ist ein bisschen gesünder als die Kekse gestern.« Sie hockte sich auf die Tischkante, den Block an die Brust gedrückt. »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich hab auch den Großteil der Sitzung verpasst. Hatte mein Portemonaie im Zug vergessen und dann ist mir der Schuh auf die Gleise gefallen.« Über Katie sollte ein Buch geschrieben werden.

Genau in dem Moment lief John Trumpet, der Verlagsleiter, an uns vorbei in Brammers Büro und schloss die Tür hinter sich.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Ach, Trumpet heult rum, in was für einer grässlichen Lage wir uns befinden. ›Es muss unbedingt was passieren. Was wir brauchen, ist ein Buch mit echtem Pep.‹« Katie stieß die Faust in die Luft. »Könnte sein, dass Leute entlassen werden.«

Oh mein Gott, muss ich deshalb zu Brammers? Trotz meiner genialen Idee gestern? Andererseits braucht die Abteilung mich als Immigranten-Kind, von wegen Antidiskriminierung und so weiter. Ein Hoch auf die Chancengleichheit! Schade nur, wenn jemand, der besser ist als ich, deshalb seinen Job verliert. Da hätte ich schon ein schlechtes Gewissen.

Katie wollte noch etwas sagen, aber da steckte Brammers den Kopf durch die Tür und bat mich herein.

10:45 Äh, was war das bitte gerade? Ich ging ins Büro, und Trumpet war noch da. Ich dachte schon, jetzt kommt: Zum Teufel mit der Antidiskriminierung, bloß weg mit der Kopftuchtante, die sich während der Arbeitszeit irgendwelche Fotos von komischen Männern auf Facebook anschaut!

»Also, Sofia, deine Idee gestern – die war super. Zeitgemäß, erfrischend, witzig«, sagte Brammers.

»Danke. Ich, äh, helfe gern.«

Trumpet schniefte und wirkte abgelenkt von den Tauben vor dem Fenster. »Schmutzige Viecher«, sagte er.

Brammers räusperte sich. »Ja, also, John und sein Team lieben den Vorschlag.«

Selbst Brammers konnte die Aufregung in ihrer Stimme nicht verbergen. Wahrscheinlich, weil sie den anderen von der Idee hatte erzählen dürfen.

Jetzt sah Trumpet mich an, als hätte er mich gerade erst bemerkt. »Tolle Idee! Hervorragend! Dating bei Muslimen? Also, ich hatte keine Ahnung, dass ihr das überhaupt dürft.« Mitfühlend sah er mich an. »Sind Ihre Eltern enttäuscht?«

Vom Leben? Von mir? Meiner Unfähigkeit, einen Mann zu finden? Ihrer eigenen lieblosen Ehe?

»Äh, tja …«

»Das ist alles sehr westlich, oder? Muss schwer für sie sein.«

Ich hatte das Gefühl, ich sollte mitspielen und sagen: »Ja, sie beweinen den Verlust ihrer Kultur und Wurzeln und verfluchen den Tag, an dem sie nach England emigriert sind.«

Stattdessen brachte ich nur ein »Ich, ähm, weiß nicht« heraus.

Trumpet wirkte leicht unbefriedigt. Dann schien ihm etwas Wichtiges einzufallen. »Sie werden dafür aber nicht gesteinigt, oder?«

Wieder räusperte Brammers sich und lachte dann. »Natürlich nicht, John. Also wirklich.«

Moment, hab ich was verpasst? »Warum sollte ich gesteinigt werden?« Fundos haben doch mit Sicherheit Besseres zu tun, als Hidschabis zu verurteilen, die sich Ideen für Dating-Bücher ausdenken.

Und dann ließ Brammers die eigentliche Bombe platzen.

»Weil wir wollen, dass du das Buch schreibst.«

Erst dachte ich, sie macht Witze, denn es gibt kaum etwas, wofür ich weniger geeignet wäre als zur Autorin. Ich habe noch nie im Leben versucht, ein Buch zu schreiben. Natürlich lese ich Bücher, aber das ist ja was ganz anderes. Als ich lachte, sah Brammers mich jedoch nur stumm an. Selbst Trumpet hatte seine Aufmerksamkeit von den Tauben auf mich gelenkt.

»Aber sollte das Buch nicht besser jemand schreiben, der schreiben kann?« Schweigen. »Ich könnte ja mit den Geschichten helfen und so.« Hoffnungsvoll musterte ich die beiden. Nichts an ihren Gesichtsausdrücken verriet, was sie gerade dachten, auch wenn Brammers etwas verkniffen aussah.

Dann drehte sie ihren Computerbildschirm um, und siehe da, ich hatte meinen eigenen Blog vor der Nase.

»Katie hat uns davon erzählt.«

Katie wird sterben.

»Über fünftausend Follower. Wir hatten eine Teamsitzung«, fuhr sie mit Blick auf Trumpet fort. »John und ich sind uns einig, dass es authentisch wäre, wenn es von dir kommt. Vom Marketing-Standpunkt her.«

»Die Kopftuch-Sache.«

Brammers hielt mir ihre offenen Handflächen entgegen. »Du bist voller Energie, Sofia. Und immer erzählst du lustige Geschichten. Jeder in der Redaktionssitzung glaubt, dass du genau die Richtige bist. Und dieser Blog beweist, dass du sehr wohl schreiben kannst.«

Es ist immer schön, geschätzt zu werden. Außerdem hätte ich das gern den Leuten berichtet, die behaupten, niemand wolle eine Kopftuchträgerin als Kollegin.

Trumpet kratzte sich am Bauch, dort, wo der durch seine straff gespannten Hemdknöpfe lugte. »Es ist eine verdammt tolle Idee.«

»Vertrieb und Werbung finden das auch«, sagte Brammers. »Nicht einfach, das hinzukriegen.«

Ich fürchte, Trumpet hat wegen seiner bevorstehenden Pensionierung die Grenze von Genie zu Wahnsinn überschritten. Aber was sollte ich diesen beiden Menschen schon sagen, die die höchsten Positionen in der Firma innehatten? Nein danke, sucht euch eine andere Kopftuchtante dafür?

»Wir wissen, dass es eine ungewöhnliche Bitte ist«, sagte Brammers. »Aber deine Idee ist super, und wer kann deine Geschichten besser erzählen als du?«

Ein Pflichtgefühl stellte sich mit einem Schraubstockgriff ein. Hier waren Leute, die glaubten, ich wäre die Richtige für den Job. Leute, die mich nicht für eine Terroristin hielten. Seht her, mit uns Muslimen kann man auch Spaß haben! Ich fühlte mich nur nicht ganz wohl bei der Sache.

»Aber Geschichten habe ich noch nie geschrieben.«

»Unerhebliches Detail. Wenn es nicht gut wird, auch egal, dafür gibt es ja Lektoren.«

Ja, ich wäre gern bekannt dafür, das eine grauenhafte Buch verfasst zu haben, das fast totredigiert werden musste.

»Selbstverständlich haben wir schon über den Vorschuss gesprochen.«

Jetzt hatten sie meine Aufmerksamkeit. Bei nichts spitzen sich die Öhrchen so wie bei der Erwähnung eines Vorschusses.

»Die Rohfassung hätten wir gern im Juli, richtig, John?«

»Ja. Und Oktober dann für die Endfassung. Fünfzehntausend. Ihre Lektorin wird Lucinda sein, aber Dorothy hier möchte gern eng in den Lektoratsprozess eingebunden sein, deshalb wird sie ebenfalls am Buch mitarbeiten.«

Mein Herz begann zu rasen, was eigentlich untypisch ist. Anscheinend gab es ein Gegenmittel gegen den Schraubstockgriff des Pflichtgefühls, und das war eine Finanzspritze von fünfzehntausend Pfund. Davon könnte ich mir ein Jahr freinehmen und reisen. Oder es zu meinen Ersparnissen legen und mir eine eigene Wohnung kaufen – falls ich nicht heirate, kann ich ja nicht ewig bei meinen Eltern wohnen. Plötzlich taten sich unzählige Möglichkeiten auf.

»Und ein solches Engagement von dir bliebe nicht unbemerkt.« Brammers lächelte; ihre V-förmige Ader drohte zu erscheinen. Trumpets buschige Augenbrauen waren erwartungsvoll hochgezogen.

Wie hätte ich da Nein sagen können?

14:00 Katie war so aufgeregt, dass sie nach meinem Gebet zur Feier des Tages unbedingt essen gehen wollte.

»Du weißt schon, dass so was nicht alle Tage passiert? Das ist eine echte Chance, Sof. Du solltest dich freuen.«

Eine Emotion nach der anderen, bitte.

»Du musst unbedingt Online-Dating ausprobieren.« Katie nahm einen Bissen von ihrer Quiche. »Schau mich nicht so an, du weißt, was ich meine. Wenn ich nicht schon seit der Steinzeit mit Tom zusammen wäre, würde ich genau das tun. Das ist sicherlich eine Quelle der Inspiration.«

Ich war skeptisch. »Es muss doch auch einfacher gehen. Wie wär’s mit einem Ghostwriter?«

»Du musst offen für neue Erfahrungen sein. Ich übe das auch gerade. Habe ich in Indien gelernt.«

»Stimmt ja, online zu gehen ist das Gleiche wie durch Indien zu reisen. Und was, wenn jemand dahinterkommt?« Ich senkte die Stimme. »Und außerdem hab ich den Männern abgeschworen.«

»Du brauchst Geschichten.«

Ich steckte mir eine Pommes in den Mund.

»Und die kriegst du nicht, wenn du dich weiter von deiner Mutter über Gartenlämpchen zulabern lässt. Außerdem ist das eine gute Ablenkung von … du weißt schon.« Ich nehme an, sie meinte Imran, der immer noch nicht geantwortet hatte. »Was ist mit dieser Website? Das kam in der Werbung, und eine meiner indischen Freundinnen hat sich da angemeldet. Sie sagt, die sei gut. Sch … Scha … irgendwas?«

»Shaadi.com?«

»Genau! Shaadi! Was heißt das?«

»Hochzeit.«

»Na, dann ist das doch genau das Richtige für dein Buch!«

14:15 Ich schnorrte mir eine Zigarette vom Praktikanten und steckte sie sorgsam in die Handtasche. Dann rief ich Hannah an.

»Das ist ja fantastisch!« Sie kam gerade aus der Arztpraxis und hatte meine Nachricht abgehört. Mein neuer Berufsweg hat ihr offenbar den Tag versüßt. Sofia Kahn, Philanthropin. Obwohl ich im Büro ihr polygames Leben als Anekdote benutzt habe. Was habe ich mir nur dabei gedacht? »Na, endlich profitiert mal jemand von meiner absurden Beziehung«, war zum Glück ihre Reaktion.

Hannah ist die Beste. Vielleicht ist das wie Karma für Absichten. Ich habe überlegt, wie ich anderen helfen kann, und jetzt helfen mir die Beziehungen anderer. Am Ende ist es keine so schlechte Sache, dass ich gebeten wurde, dieses Buch zu schreiben. Vielleicht ist das Gottes Art mir mitzuteilen: Du hast zwar keinen Mann, aber dafür bald ein Buch. Immerhin war ich auf der Suche nach etwas Bedeutungsvollem. Durch meine literarischen Dienste ermögliche ich den Menschen quasi ein besseres Verständnis der muslimischen Welt: ein bisschen Aufheiterung im Angesicht chronischer Ernsthaftigkeit.

Von Suj: Du bist ein Genie! Wir werden berühmt!

Von Sofia: Wann kommst du aus Miami zurück?

Von Suj: Keinen blassen Schimmer! Ich hab noch einen Pickel am Kinn. Männer in Miami sind HEISS. Wusste schon immer, dass du berühmt wirst. Liebe dich und dein großes Gehirn!

Der Nachteil daran, wenn die beste Freundin als Model arbeitet, ist, dass man mit einem vernünftigen Gespräch warten muss, bis sie zu Hause ist. Noch verrate ich Suj nicht, dass die Chancen, durch Dating-Bücher über Muslime berühmt zu werden, nicht gerade gut stehen.

22:55 Die Mädels und ich (ohne Suj) hatten unser monatliches Treffen im Spice Village in Tooting, das wegen meiner guten Neuigkeiten schnell zu einem Fest ausartete. Ich kann immer noch nicht fassen, dass ich bald Schriftstellerin sein werde. (Mit fünfzehntausend Pfund mehr auf dem Konto!) Fozia meinte, das werde den Leuten zeigen, dass wir Muslime keine Langweiler sind. Außerdem darf ich auch ihre Geschichten verwenden.

»Ich war schon mit den meisten muslimischen Männern von London auf Dates … und seht euch an, wen ich am Ende gekriegt hab.« Sie ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. »Aber schön für dich«, murmelte sie, bevor sie unglücklich aufblickte. »Kann ich deinen Job haben? Gott, ich hasse meinen.« Fozia arbeitet in einer Bank und ist darüber alles andere als glücklich.

»Du brauchst nur einen Plan, Foz«, sagte Hannah. Sie holte ihr Handy heraus und fing eine Liste an. Ich tätschelte Fozia den Kopf und begriff langsam, dass es wohl um mehr ging als gedacht.

»Ein Plan hilft da auch nicht mehr.«

»Das kann gar nicht sein«, sagte Hannah. »Und heul bitte nicht auf die Grillplatte.«

So ein Spruch konnte auch nur von Hannah kommen. Ich kenne niemanden, der so organisiert ist wie sie.

»Ist es komisch, dass Imran nicht zurückgeschrieben hat?«, fragte ich.

»Glaubst du, er hat geheiratet?«, fragte Hannah.

Warum tun alle so, als wäre ein Hochzeits-Marathon im Gange? »Es ist erst fünf Wochen her.«

Foz hob seufzend den Kopf. »Vielleicht ist er nach Pakistan gefahren und hat sich dort eine Frau gesucht.«

Entsetzt starrte ich sie an. Aber dann fiel mir wieder ein, von wem wir hier sprachen. »Nein«, sagte ich. »Nicht Imran. Dazu ist er zu … zu …«

»Idealistisch?«, schlug Hannah vor.

»Genau.« Ich erinnerte mich daran, wie mich das immer genervt hatte. Bis es mich nicht mehr nervte, sondern nur noch zum Lachen brachte.

Hannah räusperte sich. »Mädels, ich habe beschlossen, Zulfi ein Ultimatum zu stellen. Er hat zwei Jahre gebraucht, um seiner Frau von uns zu erzählen. Jetzt muss er entweder ein konkretes Datum für die Hochzeit festlegen oder ich bin raus.«

Foz nahm einen Schluck von ihrem Mango-Lassi. »Meine Freundin, die Zweitfrau ist, hatte nie solche Probleme.«

Hannahs Gesicht rötete sich.

»Sie ist echt glücklich«, ergänzte Fozia dann auch noch unnötigerweise. Also ehrlich, Stimmungen zu deuten ist wirklich nicht ihre Stärke. Es sah aus, als würde Hannah gleich ihr Chicken Tikka quer durchs Restaurant schleudern und rausstürmen.

»Ich hab aufgehört zu rauchen«, warf ich rasch ein. »Ich bin gegen jede Form von Abhängigkeit, einschließlich Nikotin.« (Die Kippe heute Morgen zählt nicht. Die in der Tasche auch nicht.)

Hannah stach auf ihr Essen ein, wahrscheinlich stellte sie sich dabei Foz vor. Wir brauchten Suj, um die Situation zu entschärfen, aber sie war immer noch in Miami.

»Ich bin glücklich«, sagte Hannah.

Ich versuchte, Fozias Blick zu meiden.

»Schön«, sagte ich. »Großartig. So soll es ja auch sein, stimmt’s?«

Hannah sah mich an. »Du hasst es, wenn jemand sagt, dass er glücklich ist.«

»Ja, aber ich warte auch darauf, dass mein Exfreund aufhört, mich zu ignorieren, also was weiß ich schon? Tu du einfach, was du musst, und überlass den Rest Gott. So machen wir das. Handeln, gepaart mit einer ordentlichen Portion Gottvertrauen.«

Ich wollte noch hinzufügen, dass das Handeln vielleicht ein wenig durchdachter sein sollte, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt. Ich kann die Vorteile einer polygamen Beziehung schon nachvollziehen: seinen Ehemann nur die halbe Woche sehen (man muss seltener die Beine rasieren), allein zu Hause sein (super, man kriegt sowohl gemeinsame Zeit mit dem Partner als auch Zeit für sich). Andererseits hat man auch nicht ganz die gleichen Rechtsansprüche wie eine Ehefrau, weil man nur nach islamischem Gesetz verheiratet ist … Der emotionale Teilbesitz muss die größte Belastung sein. Und dass der Ehemann regelmäßig mit einer anderen Frau schläft. Aber ich will niemandes Entscheidungen bewerten, heutzutage wäre das nicht politisch korrekt. Jeder muss seine eigene Definition von Glück finden.

Als ich kurze Zeit später meiner Familie von dem Buch erzählte, waren alle fast verzückt. (Mum vermutlich wegen des Vorschusses.)

Dad küsste meine Hand und sah Maria und Mum an. »Seht ihr? Jeder ist seines Glückes Schmied.«

Über den Inhalt des Buches hielt ich mich bedeckt. Es kam mir ganz gelegen, dass Maria Dad in diesem Moment bat, ein paar Deko-Gegenstände vom Dachboden zu holen. Dieses eine Mal war ich froh, dass ihre Hochzeit meine beruflichen Erfolge ausstach.

Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass aus diesen schlechten Geschichten auch etwas Gutes entstehen kann. Und warum soll ich nicht schreiben können? Man kann alles, was man sich ernsthaft vornimmt, das ist nur eine Frage der Perspektive. Ich habe das Rauchen um mindestens die Hälfte reduziert. Ich bin eine halbwegs intelligente, selektiv selbstbewusste, durchsetzungsfähige Frau, die nicht von dem definiert wird, was sie auf, sondern im Kopf hat. Ich könnte ein Vorbild für junge Muslime werden: weise, geistvoll, in der Gemeinde verehrt. Diese Woche wird der Beginn einer langen Abfolge unglaublich produktiver Wochen sein. Ganz sicher.

Aber jetzt muss ich erst mal Hannah anrufen und überprüfen, dass sie nicht in eine lähmende Depression versunken ist. Meine antipolygamen Gefühle werde ich dabei schön für mich behalten, wie es sich für einen wahrhaft wertfreien Menschen gehört.

Ach, wie blöd, die Kippe ist in der Handtasche zerbrochen.

23:30

Von Katie: Shaadi, Süße. Der literarische Schritt nach vorn.

Wenn Gott Zeichen sendet, wer darf sie dann ignorieren? Perspektive. Positivität. Weisheit.

Samstag, 10. September

10:10