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Krischan Koch

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Beschreibung

Mord an Bord: Alarmstufe Rot für Thies Detlefsen Thies Detlefsens Zwillinge Telje und Tadje setzen mit der 10a des Theodor-Storm-Gymnasiums zur herbstlichen Klassenfahrt nach Amrum über. Mit an Bord sind Junglehrerin Vanessa Loebell, der "voll süße" Referendar Manuel Scholz mit modischem Piratentuch um den Kopf und Klassenlehrer Dr. Niggemeier. Die Überfahrt ist äußerst stürmisch, doch die Schüler machen unzählige Selfies und wackelige Filmaufnahmen – bis einer von ihnen den Toten entdeckt: Jungreeder Bent Blankenhorn sitzt ermordet auf dem Oberdeck. Alarmstufe Rot für Thies und KHK Nicole Stappenbek, die umgehend die Ermittlungen auf der von Herbstnebel umwaberten Insel aufnehmen. Der fünfte Band der kultigen Krimi-Reihe um Dorfpolizist Thies Detlefsen. Schräg, skurril, liebenswert, norddeutsch

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Krischan Koch

Backfischalarm

Ein Insel-Krimi

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für Ruth

 

 

 

»Johoho und ’ne Buddel voll Rum …«

Robert Louis Stevenson, Die Schatzinsel

1

Die Nordsee leuchtet unwirklich türkisfarben wie die Karibik. Das Gelb der stählernen Anlegerbrücke glimmt in der Abendsonne. Dahinter über der See türmt sich eine tiefschwarze Wolkenwand.

»Voll unheimlich«, findet Tadje.

»Fettes Gewitter.« Klassenkamerad Lasse zieht sich die große Wollmütze halb über die Augen. Tadjes Zwillingsschwester Telje schiebt sich die große runde Nickelsonnenbrille mit den blauen Spiegelgläsern ins Haar und kneift die Augen zusammen. »Hm, voll dunkel!«

Die 10a der Theodor-Storm-Schule wartet aufgekratzt am Anleger in Dagebüll auf die Abfahrt der Fähre zur herbstlichen Klassenfahrt nach Amrum. Die Eltern haben ihre Kinder mit dem Gepäck zum Anleger gefahren.

Referendar Manuel Scholz, mit dem gleichen geflochtenen Bärtchen und Piratentuch wie Johnny Depp in ›Fluch der Karibik‹, wird von einer Mädchenclique belagert.

»Läuft bei dir!«, ruft der Junglehrer einem der Schüler zu. Sophie, Silja und ein paar andere schmachten den Captain Sparrow in der Lehramtsausbildung an. Sogar ihre Smartphones sind im Augenblick abgemeldet.

»Schon mal einer von euch da gewesen … auf Amrum?« Manuel Scholz zieht sein Piratentuch stramm.

»Der Strand ist echt krass breit!«, verkündet Gina-Marie mit großen Augen, als könne sie es selbst kaum fassen. Silja, Sophie und Leonie werfen abwechselnd die Haare. Die goldenen Sternchen und der Strass auf Leonies neuen weißen Chucks blinken in den letzten Sonnenstrahlen.

»#pirates-off-amrum«, tippt Sophie einen Hashtag in ihr Telefon.

Junglehrerin Vanessa Loebell, die als Aufsicht für die Mädchen mitfährt, wirft ihnen einen giftigen Blick zu. Absolut lächerlich, wie dieser Pirat im Beamtenverhältnis auf Probe in seiner blöden Pluderhose zwischen den halbwüchsigen Hühnern herumtänzelt, denkt sie. Dann streicht sie die Haare, die im Abendlicht rot glühen, unter den Kragen ihrer nostalgischen U-Boot-Lederjacke aus dem Zweiten Weltkrieg. Vanessa Loebell, die Betonung liegt auf der zweiten Silbe, darauf legt sie großen Wert, schlägt den Kragen hoch und blickt entschlossen dem über der Nordsee aufziehenden Unwetter entgegen.

»Ey, Digga, echt krank, das Wetter, Digga«, nuschelt Ove seinem Kumpel Torben-Hendrik zu. Im Gegensatz zu den Mädchen mit den einheitsblonden langen Haaren haben die Jungen eindeutig die interessanteren Frisuren. Lasse trägt Dutt, meist unter einer Wollmütze versteckt. Tjark hängt die komplette Frisur vor den Augen, dass er kaum etwas sehen kann. Über Oves kahlrasierten Kopf dagegen zieht sich nur ein kurzgeschnittener Haarstreifen, der wie der Rest einer Teppichfliese aussieht.

Pearl, die eigentlich Petra heißt, sitzt, wie immer in schwarzen Klamotten, ein Stück abseits auf einem überdimensionierten Seesack und blickt aus ihren Mascara umränderten Augen missmutig über die See. Sie zupft gelangweilt an ihrem Lippen-Piercing. Bones, ihr einziger Freund in der Klasse, ebenfalls von oben bis unten in schwarzen Klamotten und mit schwarz geschminkten Augen, schlurft zu ihr herüber und schnippt eine brennende Kippe ins Wasser. »Das Glück sei uns hold, bescher uns guten Wind und massenhaft Gold.« Er verzieht seine Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. Seit einiger Zeit spricht Bones mit Vorliebe in Zitaten aus Robert Louis Stevensons ›Schatzinsel‹ und nervt damit die ganze Klasse, außer Pearl.

Elternvertreterin Frau Lammers-Lindemann ist mit Klassenlehrer Doktor Niggemeier im aufgeregten Gespräch. »Herr Doktor Niggemeier, Sie hatten mir aber versprochen, dass das Schullandheim auch einen veganen Speiseplan bietet.«

»Das bekommen wir alles hin, Frau Lindemann.« Niggemeier nickt ihr aus seinem üppigen Karl-Marx-Bart heraus freundlich zu, verzichtet aber auf den Doppelnamen der engagierten Mutter. Er ist vor allem damit beschäftigt, seine Schüler zu zählen.

»Anna-Lena hat eine Strandhafer-Allergie und sie ist Veganerin!«, verkündet die Elternvertreterin mit ernster Miene.

»Ich weiß«, nickt Niggemeier. »Sie wird schon nicht verhungern.«

»Na, Sie sind gut!« Frau Lammers-Lindemann ist empört und zieht energisch den Rollkoffer ihrer Tochter zu sich heran.

Die Eltern sind aufgeregter als ihre Kinder und würden sie am liebsten bis auf das Schiff begleiten. Niggemeier kennt das Phänomen nur zu gut. In der Schule haben sie jetzt für die unteren Klassen eine Kiss-and-go-Zone eingerichtet, um die übermotivierten Eltern zumindest aus dem Unterricht fernzuhalten.

Auch der Fredenbüller Polizeiobermeister Thies Detlefsen hat seine beiden Töchter zur Fähre gefahren. Die bis dahin immer etwas dösige Tadje hat nach zwei sensationellen Einsen im Zeugnis in Darstellendem Spiel und Nordfriesisch im letzten Jahr wie verrückt gebüffelt und den Sprung in die gymnasiale Oberstufe der Husumer Theodor-Storm-Schule geschafft. Die Zwillinge sind wieder in derselben Klasse. Thies ist heute allerdings nicht recht bei der Sache. Während seine Töchter auf dem Anleger zwischen ihren Klassenkameraden umherschwirren, steht er neben seinem verrosteten Escort mit der verunglückten Polizei-Lackierung. Mit einem Ohr hängt er am Autoradio. Durch das geöffnete Seitenfenster gellt die Bundesliga-Konferenzschaltung nach draußen. Der HSV führt in München kurz vor der Halbzeitpause sensationell mit 1:0.

Auch die Diskussion zwischen Klassenlehrer Niggemeier und der Elternvertreterin wird immer lebhafter. Inzwischen stehen mehrere Schüler mit ihren Rollkoffern um sie herum.

»Und sagen Sie mal, Doktor Niggemeier, was ist eigentlich mit Drogen?« Elternvertreterin Lammers-Lindemann wird immer aufgeregter. »Sie haben den Schülern ja wohl erzählt, dass Sie auch schon mal … gekifft haben?« Das Wort geht ihr nur widerwillig über die Lippen.

»Deswegen steht das Drehen eines Joints aber noch nicht auf meinem Unterrichtsplan, verehrte Frau Lindemann.«

»Aber Sie spielen doch in dieser Band und da … na ja, das ist ja hinlänglich bekannt …« Frau Lammers-Lindemann sieht jetzt aus, als wäre sie selbst auf irgendeinem Trip.

»Nun hören Sie aber mal auf.« Langsam wird der freundliche Niggemeier ärgerlich. »Ich kann Sie beruhigen.« Sein Ton wird hämisch. »Alles vegan. Und außerdem: Nach einer neuen Studie aus den USA hat Kiffen keine Auswirkung auf die Entwicklung der Intelligenz von Jugendlichen.«

Tadje, die danebensteht, sieht ihren Klassenlehrer mit großen Augen an. »Echt jetzt, Doktor Niggemeier? Kiffer sind gar nicht intelligenter?«

2

Die Stammbesetzung in »De Hidde Kist« ist vollkommen aus dem Häuschen. Ungläubig starren Klaas, Bounty und der Schimmelreiter von Stehtisch Zwei aus auf den großen Flachbildschirm neben der Dunstabzugshaube. Antje lässt die Grillzange sinken. Schäfermischling Susi legt den Kopf schief und gibt ein erstauntes Jaulen von sich. Der HSV hat in München nach einem unberechtigten Elfmeter das 2:0 geschossen. Der Mittelstürmer der Hamburger hat den Ball einfach mitten ins Netz gedroschen.

»Volle Kanne!«, entfährt es dem Schimmelreiter Hauke Schröder. »Gibt’s doch gar nich.« Mit offenem Mund starrt er auf die Zeitlupenwiederholung.

Postbote Klaas zeigt wortlos auf den extrabreiten grün leuchtenden Bildschirm. Er kommt in seinem HSV-Schal mächtig ins Schwitzen und hat bereits einen roten Kopf. Althippie Bounty sitzt mit aufgelöstem Pferdeschwanz da. Nur Piet Paulsen wundert gar nichts. Der ehemalige Landmaschinenvertreter hat schließlich in einer Sportwette einen 3:0-Auswärtssieg des HSV in München getippt.

Dafür haben ihn seine Freunde schon für verrückt erklärt. »Jetzt dreht er endgültig durch«, hatte Klaas gemeint. »Piet! Die Zeiten von Horst Hrubesch sind vorbei.« Jetzt zückt Paulsen triumphierend seinen Wettschein und ordert bei Antje eine Runde. »Drei Genever! Und ein Tor fehlt noch!« Er zeigt mit auffordernder Geste auf den Flachbildschirm.

»Sach mal, Piet, wie kommst du darauf?«, fragt Klaas, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu lösen. »Kann doch nich angehen.«

Paulsen mustert ihn provozierend über die schwere Gleitsichtbrille hinweg.

»Die good vibrations sind jetzt auch bei Piet angekommen«, gluckst Althippie Bounty.

»Hast einen von Bountys Keksen eingeworfen?«, johlt der Schimmelreiter.

»Das sind energetische Schwingungen«, erklärt Bounty mit ernster Miene.

»Elektrowellen?!« Unter seiner Lederweste läuft Piet Paulsen ein kurzer Schauder über den Rücken. »Neeee, dat war ’n Tipp von Knut Boyksen … weiß auch nich, wo er dat herhat. Er hat da wohl jetzt irgendwie ’ne neue Informationsquelle. Keine Ahnung.« Paulsen kippt den Genever und bleckt die zu groß geratenen dritten Zähne.

»Dat ist doch Schiebung«, blökt der Schimmelreiter. »Dat sind doch alles getürkte Spiele und frisierte Zahlen.«

»Komm, Hauke, dat Einzige, wat hier frisiert ist, is der Motor von deinem Mustang.« Klaas lockert den voluminösen schwarz-weiß-blauen HSV-Schal. Piet bestellt die nächste Runde. Der Backfisch in Antjes Fritteuse verbrutzelt, aber die Stimmung steigt.

Als Thies Detlefsen vom Anleger in Dagebüll zurückkommt und bei seinen Freunden im Imbiss eintrudelt, haben sich die Rothosen in einen Rausch gespielt, unterstützt von einem offensichtlich ebenfalls berauschten Schiedsrichter. Die Siebzigtausend in der Münchner Allianz-Arena und auch die Stammbelegschaft in der »Hidden Kist« kommen aus dem Staunen gar nicht heraus.

Während von der Nordsee ein Gewitterdonnern herübergrollt, fällt in München bei schönstem Wetter in der Nachspielzeit aus klarer Abseitsposition das 3:0.

3

Die Fähre zu den nordfriesischen Inseln hat gerade abgelegt. Der Fähranleger liegt noch in Sichtweite. Über den pechschwarzen Himmel zucken Blitze, bedrohlich schnell gefolgt von einem gewaltigen Donnern.

Wo die See eben noch wie ein blanker türkisfarben leuchtender Teller dalag, türmen sich plötzlich meterhohe tiefschwarze Wellen mit weißen Schaumkronen auf. Innerhalb kürzester Zeit ist es Nacht geworden. Der Sturm peitscht den Regen über das Sonnendeck. Die »MS Rungholt« stampft und rollt durch die Dünung. Dabei bewegt sich die schwere Fähre immer noch ruhig. Es ist ein weit ausholendes Schaukeln, das die »Rungholt« abwechselnd auf der Backbordseite und dann auf Steuerbord mehrere Meter nach oben hebt und wieder fallen lässt. Am Bug spritzt die Gischt immer wieder auf das Autodeck. Guschhhh.

Die Schüler der 10a und ein paar Herbsturlauber torkeln durch das Schiff. Ein Kellner jongliert ein Tablett mit dampfenden Grogs über das Salondeck. Einer Rentnerin fliegt die komplette Salatvariation »Friesischer Frühling« zwischen die hundert Reißverschlüsse ihrer Freizeitjacke. Vom Nebentisch hüpfen zwei Folienkartoffeln quer über das Deck Richtung Hydrokulturen, die als Raumtrenner auf dem Salondeck stehen.

Zwei Tische weiter legt sich eine Familie gerade mit dem Kellner an, der geduldig die Bestellung aufnehmen will.

»Können wir auch einen halben ›Matrosenteller‹ bekommen?«, fragt die Frau mit der Perlenkette unter der knallgrünen Steppweste.

»Halber ›Matrose‹? Nee, den kann man schlecht halbieren.«

»Ich will sowieso lieber ’n Fischbrötchen«, protestiert der kleine Sohn. Er hat die gleiche blonde Tolle wie sein Vater, auch die maritimen Klamotten aus der Kinderboutique waren mindestens so teuer wie Papas hipper Pullover für den Weltumsegler.

»Heinrich, wollen wir uns den ›Matrosenteller‹ teilen. Wär das nicht cool?«, versucht es die Mutter noch mal.

»Fischbrötchen!!« Der kleine Heinrich stampft wütend mit dem Fuß auf.

»Ist das Fischbrötchen auch glutenfrei?«, will die Frau wissen.

»Wat soll dat sein?«

»Meine Güte, meine Frau will wissen, ob in dem Brötchen Gluten drin ist?«, ranzt der Blonde den Ober an.

»Nee, normaler Bismarckhering.« Der Kellner im kurzärmeligen weißen Hemd mit den blauen Epauletten der Reederei lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Das hat mit den Standards der internationalen Schiffsgastronomie nichts mehr zu tun … aber auch gar nichts.« Der Familienvater hat einen roten Kopf bekommen. »Na, das wird sich auf dieser Linie ja nun bald ändern.«

»Wieso ändern?« Der Kellner stutzt erst, dann dämmert es ihm. »Ach so, Sie sind dat.«

»Ja, ich bin dat«, äfft der Blonde ihn ärgerlich nach und wischt sich die Haartolle aus dem Gesicht.

»Ja, dann bringen Sie uns schon so ein Fischbrötchen«, raunzt die Perlenketten-Mutter. Der Mann schnappt sich seine orange Regenjacke und verabschiedet sich nach draußen.

An den Schiffsfenstern rinnt der Regen herunter. Der lange Doktor Niggemeier ist voll darauf konzentriert, den Überblick über seine Klasse zu behalten. Dabei hat auch er Probleme auf dem schwankenden Deck das Gleichgewicht zu halten und seine Rhabarberschorle nicht zu verschütten.

In den Gängen zu den Treppen rutschen zwei Rollkoffer aus den Gepäckborden, machen sich selbstständig und fegen mit zunehmendem Tempo auf eine Schülergruppe zu. Elternvertreterin Frau Lammers-Lindemann, die nicht rechtzeitig von der Fähre heruntergekommen ist, irrt auf der Suche nach Tochter Anna-Lena über das Autodeck. Auf dem stählernen Boden läuft das Wasser hin und her. Nur ein paar Autos stehen an Deck, ein Laster, der die Insel mit Lebensmitteln versorgt, und mehrere Frachtanhänger der Nordfriesischen Fährreederei mit den großen Buchstaben NFR. Frau Lindemann rutscht auf dem nassen Metall aus und landet fast unter einem der Anhänger. Am Bug spritzt die Gischt auf das grün gestrichene Deck.

Die Tür des Salondecks nach draußen lässt sich kaum öffnen. Als Telje gegen die Tür drückt, wird sie vom Sturm gleich wieder zurückgestoßen.

»Willst du da echt raus?« Tadje ist noch überhaupt nicht überzeugt. »Das is voll das Unwetter.«

»Nee, das ist voll das Abenteuer. Los komm, Tadje!«

Die beiden drängeln sich durch einen Spalt hindurch. Draußen schlägt ihnen sofort das Wasser entgegen. Der Regen kommt von der Seite. Die ganze Luft ist nasskalt und schmeckt wie salzige Lakritze. Telje zieht die Kapuze ihres Anoraks zu und kämpft sich todesmutig durch den Regen. Tadje tapert hinterher. Vom unteren Fahrzeugdeck kommt ihnen die völlig aufgelöste Frau Lammers-Lindemann entgegen. »Habt ihr Anna-Lena gesehen?«

»Anna-Lena? Nee.« Telje schüttelt in ihrer Kapuze den Kopf.

»Nö, keine Ahnung«, nölt Tadje. »Was machen Sie denn hier überhaupt auf dem Schiff?«

»Hat denn hier keiner die Aufsicht?«, zetert die Elternvertreterin und ist schon wieder halb auf dem Gang mit dem Gepäck.

Telje und Tadje ziehen sich am Treppengeländer die stählernen Stufen zum Oberdeck hinauf. Auf halbem Weg kommt ihnen Junglehrerin Vanessa Loebell entgegen. »Na, auf stürmischer Kaperfahrt?«

»Genau!« Tadje und Telje blicken unternehmungslustig in den Sturm. »Die Mutter von Anna-Lena hat Sie grad gesucht.«

Loebell geht gar nicht darauf ein. »Als ihr mich auf dieser gottverlassenen Insel ausgesetzt habt, ist euch was Wichtiges entgangen«, proklamiert sie theatralisch mit kehliger Stimme. Die Zwillinge sehen sie staunend an.

»Captain John Sparrow.« Sie setzt demonstrativ einen finsteren Blick auf.

»Genau!«, lacht Telje.

»Ja, creepy«, nuschelt Tadje, um Coolness bemüht.

Die Deutschlehrerin mit der Vorliebe für klassische Abenteuerromane schlägt den Kragen ihrer U-Boot-Jacke hoch und steigt grinsend durch den Regen zum Bug des Autodecks hinunter.

Auf dem Sonnendeck gibt es kein Halten. Einzelne Sturmböen pfeifen laut an der Schiffsbrücke vorbei. Ein leerer Kunststoffeimer wird von dem Sturm scheppernd über das Deck geweht, hin und her. Dann bleibt er einen Moment am Metallgestänge der Reling hängen, ehe er von einer Bö geschüttelt in die tosende See flattert. Pearl und ihr Freund Bones hetzen mit über den Kopf gezogenen Jacken zwischen den Kunststoffbänken hindurch. Telje hat sie in der Dunkelheit fast gar nicht erkannt. Aber jetzt zucken die Blitze im Sekundentakt über den Himmel. Mehrere Möwen versuchen sich schreiend über den Rettungsbooten im Sturm zu halten.

Der blasse Lasse aus ihrer Klasse steht völlig durchnässt an der Reling. Die große Mütze hängt ihm tief in der Stirn. Mit beiden Händen hält er das Geländer umklammert und versucht verzweifelt, den Horizont zu fixieren. Aber ein Horizont ist kaum auszumachen. Auch wenn ein Blitz kurz aufleuchtet, sind nur die bedrohlich hohen Wellen mit den Schaumkronen zu erkennen. Ab und zu ist das kurze Blinken eines fernen Leuchtturms zu sehen.

»Alles klar bei dir, Lasse?« Tadje kann kaum mehr aus ihrer Kapuze herausgucken.

»Tadje, lass mal. Mir is grad nich so gut.« Gegen den Sturm ist er kaum zu verstehen. Er starrt weiter in die Dunkelheit, ohne sich umzudrehen. »Ich glaub, ich muss gleich abreihern.«

»Aber bitte nich in unsere Richtung!« Tadje und Telje springen sofort aus der Windrichtung in Deckung. Lasse ist ja immer blass. Aber als wieder ein Blitz über den Himmel zuckt, leuchtet er jetzt kalkweiß mit einem Stich ins Grünliche. Mitschülerin Silja versucht das mit ihrem Handy festzuhalten.

Von der anderen Seite des Sonnendecks kommt auf einmal noch ein anderes Blitzen. Gina-Marie und Sophie machen Selfies und Videos.

»Echt krank!«, johlt Gina-Marie und liegt sich mit Sophie in den Armen. »Sooo krank!« Beiden kleben die Haare klitschnass im Gesicht und die Schminke zerläuft.

»Wind in den Segeln, Wind in den Segeln«, kreischt Silja.

»Lasst die Segel fallen und vor den Wind … Und bring mich an den Horizont!«, schreit Sophie mit sich überschlagender Stimme. Gina-Marie und Silja tänzeln dazu vor dem Handy und reißen die verschmierten Augen auf wie Captain Sparrow. Die Mädels befinden sich mitten im ›Fluch der Karibik‹.

»Hej Telje, läuft bei dir?«, ruft Sophie. »#pirates-off-amrum!«

Telje winkt ab. »Hallo? Ihr und Piraten? Das is jetzt echt der Megawitz!«

4

Als Telje und Tadje sich ein Stück in den Windschatten an die Wand der Schiffsbrücke stellen, werden sie von einer riesigen dunklen Gestalt in einer Öljacke aus der Abteilung für Sondergrößen fast über den Haufen gerannt. Der Typ hat ein gewaltiges Kreuz, sein Gesicht ist breit wie ein Schinken und er humpelt. Unter seiner rechten Achsel klemmt eine altertümliche Krücke, mit der er sich erstaunlich behände bewegt.

»Wie Long John Silver aus der ›Schatzinsel‹«, flüstert Telje ihrer Schwester zu.

Quer über seine Backe läuft ein schmutzig weißer Strich, wie von einem Säbelhieb. Die blauen Augen und die Narbe leuchten im grellen Licht eines Blitzes kurz auf. Die schwieligen Hände mit den schwarzen Fingernägeln streichen die nassen Haare aus dem breiten Gesicht. Er spuckt eine Ladung Kautabak in den Wind. Dann verschwindet er röchelnd hinter einer Stahltür mit der Aufschrift »Zutritt verboten«. Den Zwillingen läuft es kalt den Rücken herunter.

Im nächsten Moment kommt wie aus dem Nichts ein anderer Mann in einem wehenden Regencape. Er hängt eine Kette aus und stampft, nachdem er sie wieder eingehängt hat, eine steile Treppe seitlich der Schiffsbrücke hinauf. Unter dem Cape lugt kurz die blaue Uniform der »Nordfriesischen Fährreederei« hervor. Der Mann trägt eine durchnässte Wollmütze und hat einen langen Vollbart. Durch den Regen kleben die langen Barthaare in durchnässten, sich kräuselnden Büscheln zusammen, die ihm wie ein Würmergeflecht aus dem zerfurchten Gesicht kriechen, wie die Tentakel eines Kalmars.

»Spooky«, raunt Tadje ihrer Schwester zu.

»Das war Davy Jones aus den ›Pirates‹!«, flüstert Telje.

»Hör bloß auf!« Tadje wird die Sache jetzt tatsächlich unheimlich.

Dann steht im hellen Blitzlicht des näher kommenden Gewitters plötzlich noch ein Mann an der Reling. Er ist eher klein und trägt eine modisch geschnittene orange Windjacke. Unter der Kapuze schaut eine blonde Haartolle heraus.

Gina-Marie, Silja und die anderen haben sich inzwischen verzogen. Und auch der bleiche Lasse wankt stöhnend Richtung Schiffstoiletten.

»Telje, wollen wir nich auch mal wieder rein?« Tadje will ins Trockene.

»Wieso, ist doch grad megaspannend«, flüstert Telje und streckt ihren Kopf etwas mehr aus ihrer Kapuze heraus. In dem Moment öffnet sich nämlich die schwere Stahlluke erneut. Der Riese mit der Narbe, Long John Silver, kommt wieder heraus. Die Zwillinge gehen unter einem Rettungsboot in Deckung. »Ganz schön was los hier!«, flüstert Telje.

Long John Silver steigt umständlich über die hohe Schwelle der Luke und humpelt quer über das Deck auf den Typen in der orangefarbenen Jacke zu. Die Zwillinge sehen jetzt ganz deutlich, dass er hinkt, so als fehlte ihm ein Bein … tatsächlich genau wie Long John Silver. Telje und Tadje sehen sich an und der nächste Schauder läuft ihnen über den Rücken. Sie verkriechen sich noch ein Stück weiter unter dem Rettungsboot und versuchen hinter einer herabhängenden Plane das Geschehen trotzdem im Blick zu behalten.

Der Hüne steuert hinkend, aber zielstrebig auf den Mann an der Reling zu. »Wat willst du hier schon wieder?!« Er gibt ein raues Grunzen von sich.

»Komm, zieh Leine! Lass mich in Ruhe!«, ruft der Typ in Orange, der fast zwei Köpfe kleiner ist. Die blonde Poppertolle klebt mittlerweile auf seiner Stirn. Er dreht sich um und will Richtung Treppe verschwinden.

»Bleib mal stehen, Freundchen!«, brummt Long John Silver ihm hinterher. »Ihr habt hier nix zu suchen!« Seine Stimme klingt ein paar Oktaven tiefer. Mehr können Telje und Tadje nicht verstehen. Eine Sturmbö pfeift mit einer Regendusche einmal über das ganze Sonnendeck. Dann zuckt wieder ein Blitz über den Himmel und fast gleichzeitig ertönt ein Donnern. Das Gewitter ist direkt über ihnen.

John Silvers Narbe leuchtet gespenstisch. Dann humpelt er hinter dem Mann in der orangefarbenen Jacke her. Beide verschwinden aus dem Blickfeld der Zwillinge. Im Sturm dringen nur ein paar Wortfetzen zu ihnen durch. Sie verstehen so etwas wie »… das große Geld« und »… der Schatz auf den Inseln«. Dann hören sie nur noch, wie unter ihnen die Gischt auf das Autodeck schwappt. Guschhhh.

»Komm, Telje, lass uns abhauen.« Tadje wird langsam mulmig.

»Pssst!« Telje hält ihre Schwester zurück. »Jetzt wird’s doch grad interessant. Genau wie Jim Hawkins in der ›Schatzinsel‹, als er in der Tonne die Meuterer belauscht.«

Im Heulen des Sturmes meinen sie vage noch ein paar Geräuschfetzen zu hören, undeutliche Stimmen und einen Schrei. Am Horizont ist jetzt immer deutlicher das Blinken eines Leuchtturms zu erkennen.

Die Zwillinge wollen grade unter dem Rettungsboot hervorkriechen, als eine ihrer Mitschülerinnen juchzend an ihnen vorbei auf das Sonnendeck läuft, gefolgt von einer weiteren Person. Telje und Tadje erkennen das rote Piratentuch von Manuel Scholz sofort. Und das Mädchen ist Leonie, die hübsche Leonie, hinter der alle Jungs her sind.

»Nee, nä«, entfährt es Tadje.

»Hammer«, haucht Telje.

Im selben Moment huscht eine weitere Gestalt in Schwarz an ihnen vorüber und gleich darauf eine zweite. Es sind Pearl alias Petra und Bones. Auch sie verschwinden sofort unter der Plane eines Rettungsbootes, ein paar Meter weiter als die Detlefsen-Zwillinge. Trotz der Dunkelheit sieht man, dass Pearl ein Smartphone in der Hand hat und es in Richtung von Manuel Scholz und Leonie hält. Telje stößt ihre Schwester aufgeregt in die Seite.

Der Referendar jagt die Schülerin durch die Sitzreihen auf dem Deck. Die Pailletten auf Leonies Schuhen leuchten in einem Blitz kurz auf. Die beiden hetzen lachend und keuchend zwischen den Kunststoffbänken hindurch. Sie wirken vollkommen unbeeindruckt von dem Wetter. Leonie trägt eine Schirmmütze, die sie sich ins Gesicht gezogen hat. Darunter hängt ihre lange Mähne, die bei dem Regen arg gelitten hat, heraus. Sie bleibt stehen. Der Referendar stutzt einen Moment, dann zieht er sie an sich. Sie bleiben einen Moment wie versteinert stehen. Dann küssen sich die beiden – mitten auf dem Sonnendeck, mitten in diesem Unwetter.

»Wie peinlich ist das denn jetzt?« Telje kann es nicht fassen.

»Und wat machen Pearl und Bones da?«, fragt sich Tadje.

»Keine Ahnung … Die filmen das.«

»Aber wozu? … Als mein schönstes Ferienerlebnis posten oder wat?« Tadje staunt.

»Pearl is alles zuzutrauen«, murmelt Telje finster.

Aus dem Schatten des Rettungsbootes reckt Pearl ihre Hand mit dem Handy in Richtung des Liebespaares. Der Ärmel ihres schwarzen Capes ist ein Stück hochgerutscht. Im Licht eines Blitzes leuchtet kurz ihr Tattoo auf. Der Viermaster mit den schwarzen Segeln und darunter die geschwungenen Buchstaben »Black Pearl«. So genau zu sehen ist das eigentlich nicht. Aber Telje und Tadje und alle anderen kennen das Tattoo natürlich sehr genau.

Pearl und Bones filmen oder fotografieren Manuel Scholz und Leonie die ganze Zeit. Dass sie gleichzeitig von Telje und Tadje beobachtet werden, bekommen sie nicht mit. Nachdem sie sich eine Weile geküsst haben, lösen sich der Referendar und die Schülerin voneinander. Leonie und Pirat Manuel stürmen in dieselbe Richtung wie vorhin Long John Silver.

Frierend krabbeln Telje und Tadje aus ihrem Versteck, ohne dass Pearl und Bones das mitbekommen. Ihre anderen Mitschüler sind alle verschwunden. Auch von Long John Silver und dem Typen in der orangen Jacke ist weit und breit nichts mehr zu sehen. Die Zwillinge sind schon halb die Stahltreppe zum Salon hinuntergestiegen, als sie im Sturm ein Geräusch hören. Ein seltsames Klackern. Wie mehrere Billardkugeln, die ganz schnell aneinanderstoßen. Es klingt noch härter, fast wie das Rattern eines Maschinengewehrs. Die beiden horchen. Vermutlich sind es irgendwelche Stahlteile des Schiffes, die im Sturm scheppern.

»Creepy«, flüstert Tadje.

»Random.« Telje wischt sich den Regen aus dem Gesicht. »Megarandom.«

5

Der Regen peitscht gegen die Scheiben des kleinen Imbisses, der Sturm rüttelt an der großen Glastür. Aber die Runde in der »Hidden Kist« bleibt von dem Wetter unbeeindruckt. Die Stimmung an den beiden Stehtischen ist regelrecht ekstatisch. Die Biere und Schnäpse gehen zügig über Antjes Glastresen. Piet Paulsen schafft sich mit einem »Putenschaschlik Hawaii« die nötige Grundlage. Bounty genehmigt sich den einen oder anderen Kokosriegel, den er sich mit Mischlingshündin Susi brüderlich teilt. Doch Antjes »Internationale Spezialitäten« sind heute Abend nebensächlich. Thies, Klaas, Piet Paulsen und die anderen gucken eine Sportsendung nach der anderen an, um die drei HSV-Tore immer noch einmal zu genießen.

»Hier«, Paulsen zeigt krächzend auf den Flachbildschirm, »gleich sind Nachrichten, da kommen die Tore auch noch mal.«

»Scheiße, is dat geil.« So sehr hat sich der Schimmelreiter noch nie für die Tagesschau interessiert. Die eingeschworene Gemeinschaft kann sich an den drei Toren gar nicht sattsehen. Inzwischen läuft ›Das Aktuelle Sportstudio‹. Paulsen, Klaas, Thies und die anderen fiebern der ultimativen Spielanalyse entgegen.

»Den Elfer? Na ja, kann man geben«, meint Klaas. Da ist sich die Runde einig.

»Wieso, der berührt ihn doch gar nich«, wagt Antje nach der sechsten Zeitlupe anzumerken.

»Dat kannst du durch den Dampf aus deiner Fritteuse doch gar nicht erkennen«, protestiert Paulsen vehement.

»Und dat Abseits?« Thies überlegt. »Na ja, Tatsachenentscheidung.«

Klaas nickt zustimmend. »Dat is Fußball.«

Sogar Uwe Seeler äußert sich mal wieder öffentlich zu den strittigen Entscheidungen. »Ich bin jetzt erst mal dafür, die Relation im Dorf zu lassen«, bringt der Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft die Dinge auf den Punkt.

Die Quote von Paulsens Fußballwette dagegen sprengt alle Relationen. Sie ist sensationell. Piet Paulsen hatte als Einziger in ganz Deutschland das erstaunliche Ergebnis getippt. Und auch die anderen Tipps seiner Kombiwette stimmten. Der Fredenbüller Rentner ist völlig von den Socken, als er seinen genauen Gewinn erfährt.

»Siebentausend …« Vor lauter Aufregung rutscht ihm die schwere Gleitsichtbrille auf die Nase. »… sechshundert…fünfundzwanzig.« Paulsens Blutdruck steigt. Der knallgrüne Plastiksticker mit einem Stück Schaschlik darauf zittert in seiner Hand.

»Siebentausendsechshundertfünfundzwanzig!«, wiederholt Klaas anerkennend.

»Kombiwette, nä!«, plärrt der Schimmelreiter.

»Komm, Piet, ganz ruhig durchatmen«, sorgt sich Antje.

Doch nach einem Jägermeister hat sich der Landmaschinenvertreter a.D. wieder voll im Griff. Im Aktuellen Sportstudio streiten sich inzwischen die Schiedsrichter. Die Imbissrunde rätselt bei weiteren Kräuterschnäpsen derweil über das Zustandekommen von Paulsens Sportwette. Piet hat den Tipp von Knut. Aber woher wusste Thies’ alter Kollege und Ex-Chef Knut Boyksen, der seit der Pensionierung wieder auf seiner Heimatinsel Amrum lebt, die genauen Ergebnisse?

»Knut kennt den Fußball.« Paulsen hat schließlich in den letzten vierzig Jahren etliche Bundesliganachmittage mit Boyksen verbracht.

»Und er hat dieses Bauchgefühl«, gibt Thies zu Bedenken. »Dat brauchst du in unserm Beruf.«

»Bounty hat schon recht, dat geht ins Spiritistische«, vermutet Klaas und prostet den anderen zu.

Vor allem Piet Paulsen ist nach etlichen Jägermeistern schwer in Stimmung gekommen. »Morgen fahren wir alle zusammen nach Amrum rüber. Für ’n paar Tage zum Relaxen. Ich lad euch alle ein. Wat sacht ihr?«

»Relaxen?«, nölt Bounty, der eigentlich immer einen ziemlich relaxten Eindruck macht.

»Na ja, nach dem Stress hier heute Abend.« Paulsen bleckt die dritten Zähne.

»Wieder ins Mutter-und-Kind-Heim, Piet?« Klaas grinst breit. Seinen Kuraufenthalt dort vor ein paar Jahren hat der Rentner nicht in der allerbesten Erinnerung.

»Nee, Thies, wat is hier … bei Madame in der Wellnessoase, wo ihr mal wart?«, kontert Paulsen.

»Ja, Friesenhof ›Pidder Lyng‹. Wie heißt sie noch gleich? Happy Puttkammer.«

»Piet, da geht dat gleich ab in die Farblichttherapie«, feixt Klaas.

Klaas ist sofort dabei. »Montag, Dienstag is sowieso nur wenig Post, dat kann ich auch ’n Tag später machen.« Außerdem ist Klaas grade Strohwitwer. Seine sächsische Freundin Mandy serviert in einem Eiscafé auf Sylt. Auch Bounty und der Schimmelreiter Hauke Schröder sind begeistert. Antje und Thies zögern noch.

»Freunde, ich kann die Wache nich einfach alleinlassen. Wie stellt ihr euch das vor?«

»Komm, Thies, was soll sein? Passiert doch mal wieder nix in Fredenbüll«, wendet Bounty ein. Thies wirft ihm einen bösen Blick zu. Aber er hat ja recht. In der letzten Zeit war es tatsächlich ziemlich ruhig. Nur die üblichen Raser und Falschparker am Deich. »Hmm …« Thies nickt zögernd.

Jetzt sehen alle Antje herausfordernd an.

»Ich kann doch den Imbiss nich einfach dichtmachen. Wat is mit meiner Kundschaft?«

»Kundschaft?«, wundert sich Paulsen. »Wieso, wir sind doch dann alle drüben.«

Antje überlegt. »Dann pack ich uns aber schön ’ne Kühltasche mit ’n paar ›Croque Störtebeker‹ und dann vielleicht ’n Kasten Bier.«

»Ihr glaubt dat nich, aber Bier haben die da auch auf der Insel«, gibt Paulsen zu bedenken. In dem Moment klingelt Thies’ Handy. Er wirft einen Blick auf das Display.

»Heike?«, fragt Klaas.

»Nee, Knut Boyssen. Wat will der denn?«

»Wat von den siebentausend abhaben«, vermutet der Schimmelreiter.

Als Thies den Anruf annimmt, bekommt er schlagartig seinen Kuhblick. »Um Gottes willen! Wat is mit den Zwillingen?!«, stammelt er.

Dem Fredenbüller Dorfpolizisten ist plötzlich sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Er greift sich panisch in seinen blonden Frontspoiler. Antje stellt augenblicklich das Sportstudio auf stumm. Die Belegschaft an den beiden Stehtischen ist mit einem Mal wieder nüchtern.

»Thies, wat is?«, will Antje wissen.

»’n Toter auf der Fähre. Und Telje und Tadje mittendrin. Ich muss sofort Nicole Bescheid sagen.«

6

»Der ist voll tot.« Gina-Marie dreht sich mit ernster und wichtiger Miene zu ihren Mitschülern um und lässt fast etwas Stolz in der Stimme mitschwingen. Sie, Silja und Sophie haben den Mann in der Regenjacke schließlich entdeckt. Aber jetzt sind sie doch geschockt.

»Das ist echt so derbe«, haucht Silja und starrt fasziniert auf den Toten.

»Krass«, bestätigt Lasse, der schon wieder leicht ins Grünliche tendiert.

»Achtung, Digga, nich umkippen«, brummt Ove und streicht sich einmal über seine Teppichfliesen-Frisur.

Trotz des heftigen Regens hat sich auf dem Sonnendeck der »MS Rungholt« eine Menschentraube gebildet. Einige der Schüler aus der Husumer 10a haben sofort wieder ihre Handys gezückt und halten die Apparate über ihre Köpfe, um ein Foto zu schießen. Durch das Gedrängel aus Schülern und neugierigen Herbsturlaubern ist kaum ein Durchkommen. Der Seemann mit der Narbe blickt kurz aus seiner Luke heraus. Dann schließt sich die Stahltür mit der Aufschrift »Zutritt verboten« wieder.

Der Mann in der orangen Regenjacke sitzt in sich zusammengesunken auf der langen Kunststoffbank im Regen. Er ist kalkweiß und vollkommen durchnässt. Auf der Sitzbank neben ihm steht das Wasser. Ein an der Schiffsbrücke hängender Bordscheinwerfer ist wie ein Bühnenlicht auf ihn gerichtet. Das schrille Orange seiner Windjacke schreit durch die graue, stürmische Nacht. Die modische kaum getragene Jacke ist vorne auf der Brust beschädigt. Auf den ersten Blick ist es kaum zu erkennen. Es sieht aus wie ein sauberer Schnitt, ziemlich exakt in der Herzgegend. Aus diesem Schlitz muss reichlich Blut geflossen sein. Denn darunter sind rote Flecken zu erkennen. Eher undeutlich. Die rote Farbe ist durch den Regen streifig heruntergewaschen. Auf dem grellorangen Goretex-Stoff hebt sich das Blutrot kaum ab.

Seine Frau in Steppweste sitzt mit Sohn Heinrich abseits ein paar Bänke weiter und starrt auf den nächtlichen Fähranleger. Sie sind genauso regungslos. Nur ihre rechte Hand zupft abwesend an der Perlenkette.

Knut Boyksen ist sofort nach Wittdün an den Anleger gekommen und hat die Abendfähre in Empfang genommen. Die Schülerinnen hatten den Toten bei Windstärke zehn vor Langeneß entdeckt. Der Käptn hatte gleich den Wachhabenden Nis Nissen auf Föhr informiert und sicherheitshalber auch Knut Boyksen. Die kleine Polizeiwache auf der Insel war vor ein paar Jahren geschlossen worden. Seitdem ist Föhr zuständig. Aber ehe der immer etwas tranige, wenig gesprächige Kollege mit dem Boot von der Nachbarinsel herübergekommen ist, wenden die Amrumer sich lieber gleich vertrauensvoll an Knut Boyksen, der auch nach der Pensionierung noch nicht ganz von der Polizeiarbeit lassen kann. Bei den Insulanern genießt der ehemalige Polizeiobermeister höchste Anerkennung. Bei der weiblichen Inselbevölkerung hilft ihm dabei sicher auch seine entfernte Ähnlichkeit mit George Clooney. »Man muss sich ihn nur zwanzig Jahre jünger, ohne grauen Bart und Schippermütze vorstellen«, sagt Klaas.

Während auf der »Rungholt« alles drunter und drüber geht, hat Boyksen die Lage voll unter Kontrolle. »Keiner verlässt die Fähre ohne meine Erlaubnis«, brummt Boyksen mit rollendem R. »Nix berühren hier … auf gar keinen Fall die orange Regenjacke anfassen.« Wie Boyksen mit Schiffermütze und gelber Öljacke inmitten der Schaulustigen steht, sieht es aus, als wolle er gleich zu einer geführten Wattwanderung aufbrechen. Er genießt seine Rolle ganz offensichtlich.

»Dat ist der junge Blankenhorn«, ruft einer der Fährleute.

»Von dieser Hamburger Reederei?«, fragt ein anderer und macht eine wegwerfende Handbewegung. Knut Boyksen nickt.

Die Frau hat ihren toten Mann natürlich sofort identifiziert. Es handelt sich um Bent Blankenhorn, den Juniorchef der Hamburger Reederei »Blankenhorn Shipping«, die bei der Crew der NFR, der »Nordfriesischen Fährreederei«, nicht sonderlich beliebt ist. In der letzten Zeit wurde der schnieke Jungreeder des Öfteren auf den Inseln gesichtet. Boyksen hat mit ihm sogar schon mal ein Bier in seiner Stammkneipe »Zum Lustigen Seehund« getrunken. Es gibt Gerüchte, »Blankenhorn Shipping« wolle in das Fährgeschäft auf den nordfriesischen Inseln einsteigen.

Über seinen Handy-Knochen aus den Kindertagen der digitalen Revolution ist Boyksen in ständigem Kontakt mit seinem alten Kollegen Thies Detlefsen und der Hauptkommissarin Nicole Stappenbek von der Mord Zwei in Kiel. Boyksen ist sich nicht ganz sicher, wie er mit dem Toten verfahren soll, bis die Kollegen von der Spusi angerückt sind.

»Nix anfassen, ich weiß schon«, brummt er in sein Handy. »Aber wenn der Tote hier die ganze Nacht im Regen sitzt, dann gibt dat keine Spuren mehr. Außerdem läuft die ›Rungholt‹ morgen früh um sechs wieder aus. Dat macht sich nich so gut, wenn unser Freund in Orange dann noch an Deck sitzt.«