Bariona oder Der Sohn des Donners / Die Fliegen - Jean-Paul Sartre - E-Book

Bariona oder Der Sohn des Donners / Die Fliegen E-Book

Jean-Paul Sartre

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

«Bariona», ein Stück, das Sartre im Kriegsgefangenenlager 1940 für die Weihnachtsfeier schrieb, aber erst 1970 veröffentlichen ließ, ist eine geistvolle Verknüpfung von christlicher Verkündigungstheorie und Sartrescher Freiheitsphilosophie. «Das schmerzliche Geheimnis der Götter und der Könige: daß die Menschen frei sind … Wenn erst einmal die Freiheit in einer Menschenseele aufgebrochen ist, vermögen die Götter nichts mehr gegen diesen Menschen.» (Jupiter in «Die Fliegen»)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 268

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jean-Paul Sartre

Bariona oder Der Sohn des Donners • Die Fliegen

Ein Weihnachtsspiel • Drama in drei Akten

 

 

«Bariona oder Der Sohn des Donners»: Mit einem Nachwort neu herausgegeben von Michel Rybalka. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. «Die Fliegen»: Aus dem Französischen von Traugott König.

 

Über dieses Buch

«Bariona», ein Stück, das Sartre im Kriegsgefangenenlager 1940 für die Weihnachtsfeier schrieb, aber erst 1970 veröffentlichen ließ, ist eine geistvolle Verknüpfung von christlicher Verkündigungstheorie und Sartrescher Freiheitsphilosophie.

 

«Das schmerzliche Geheimnis der Götter und der Könige: daß die Menschen frei sind … Wenn erst einmal die Freiheit in einer Menschenseele aufgebrochen ist, vermögen die Götter nichts mehr gegen diesen Menschen.» (Jupiter in «Die Fliegen»)

Vita

Geboren am 21.6.1905, wuchs er nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahre 1906 bis zur Wiederheirat seiner Mutter im Jahre 1917 bei seinen Großeltern Schweitzer in Paris auf. 1929, vor seiner Agrégation in Philosophie, lernte er seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen, mit der er eine unkonventionelle Bindung einging, die für viele zu einem emanzipatorischen Vorbild wurde. 1931–1937 war er Gymnasiallehrer in Philosophie in Le Havre und Laon und 1937–1944 in Paris. 1933 Stipendiat des Institut français in Berlin, wo er sich mit der Philosophie Husserls auseinandersetzte.

 

Am 2.9.1939 wurde er eingezogen und geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er 1941 mit gefälschten Entlassungspapieren entkam. Noch 1943 wurde unter deutscher Besatzung sein erstes Theaterstück «Die Fliegen» aufgeführt; im selben Jahr erschien sein philosophisches Hauptwerk «Das Sein und das Nichts». Unmittelbar nach dem Krieg wurde Sartres Philosophie unter dem journalistischen Schlagwort «Existenzialismus» zu einem modischen Bezugspunkt der Revolte gegen bürgerliche Lebensformen. 1964 lehnte er die Annahme des Nobelpreises ab. Zahlreiche Reisen führten ihn in die USA, die UdSSR, nach China, Haiti, Kuba, Brasilien, Nordafrika, Schwarzafrika, Israel, Japan und in fast alle Länder Europas. Er traf sich mit Roosevelt, Chruschtschow, Mao Tse-tung, Castro, Che Guevara, Tito, Kubitschek, Nasser, Eschkol. Sartre starb am 15.4.1980 in Paris.

 

Auszeichnungen: Prix du roman populiste für «Le mur» (1940); Nobelpreis für Literatur (1964, abgelehnt); Ehrendoktor der Universität Jerusalem (1976).

Impressum

Die französischen Originalausgaben erschienen unter den Titeln «Bariona, ou Le fils du tonnerre» in: Michel Contat/Michel Rybalka «Les écrits de Sartre» bei Éditions Gallimard, Paris, 1970, und «Les mouches» in «Théâtre, I» bei Éditions Gallimard, Paris, 1947.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2024

Copyright © 1991 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Bariona oder Der Sohn des Donners» Copyright © 1983 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Bariona, ou Le fils du tonnerre» Copyright © 1970 Éditions Gallimard, Paris

«Jean-Paul Sartre über Bariona» aus: «Un théâtre de situations» Copyright © 1973 by Éditions Gallimard, Paris

«Die Fliegen» Copyright © 1949/1954 by Rowohlt Verlag GmbH, Stuttgart/ Hamburg

«Die Fliegen» in der Neuübersetzung Copyright © 1989 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Les mouches» Copyright © 1947 by Éditions Gallimard, Paris

«Jean-Paul Sartre über Die Fliegen» aus: «Un théâtre de situations» Copyright © 1973 by Jean-Paul Sartre et Éditions Gallimard, Paris

Die Rechte der Bühnenaufführung, der Verfilmung und der Sendung in Rundfunk und Fernsehen liegen beim Rowohlt Theater Verlag, Reinbek bei Hamburg

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke

Coverabbildung Bavaria

ISBN 978-3-644-01894-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

Bariona oder Der Sohn des Donners

Ein Weihnachtsspiel

Prolog

Akkordeonstück

DER BÄNKELSÄNGER: Meine Herrschaften, ich werde Ihnen die außerordentlichen und einmaligen Erlebnisse von Bariona, dem Sohn des Donners, erzählen. Diese Geschichte spielt in der Zeit, als die Römer Herren in Judäa waren, und ich hoffe, sie wird Sie interessieren. Während ich erzähle, können Sie sich die Bilder hinter mir ansehen; sie werden Ihnen helfen, sich die Dinge so vorzustellen, wie sie waren. Und wenn Sie zufrieden sind, dann zeigen Sie es. Musik! Wir fangen an.

 

Akkordeon

 

Meine Herrschaften, nun der Prolog. Ich bin blind durch einen Unfall, aber bevor ich das Augenlicht verlor, habe ich mir mehr als tausendmal die Bilder angesehen, die Sie betrachten werden, und ich kenne sie auswendig, denn mein Vater war wie ich Bildervorführer und hat mir diese hier als Erbe hinterlassen. Das, was Sie hinter mir sehen und auf das ich mit dem Stock zeige, stellt, wie ich weiß, Maria von Nazareth dar. Ein Engel kommt ihr verkündigen, daß sie einen Sohn bekommen wird und daß dieser Sohn Jesus sein wird, unser Herr.

Der Engel ist riesig, mit Flügeln wie zwei Regenbogen. Sie können ihn sehen; ich sehe ihn nicht mehr, aber ich habe ihn noch im Kopf. Er ist wie eine Überschwemmung in das bescheidene Haus Mariens geströmt und erfüllt es jetzt mit seinem ätherischen heiligen Leib und seinem großen wallenden Gewand. Wenn Sie das Bild aufmerksam betrachten, werden Sie merken, daß man durch den Leib des Engels hindurch die Möbel des Zimmers sieht. So wollte man seine engelhafte Transparenz andeuten. Er steht vor Maria, und Maria sieht ihn kaum an. Sie überlegt. Er brauchte seine Stimme nicht wie einen Orkan zu entfesseln. Er hat nicht gesprochen, denn Maria hat seine Botschaft ohne Worte verstanden; sie spürte ihn schon in ihrem Innern. Jetzt steht der Engel vor Maria, und Maria ist unermeßlich und dunkel wie ein Wald in der Nacht, und die frohe Botschaft hat sich in ihr verloren, wie ein Wanderer sich im Wald verirrt. Und Maria ist erfüllt von Vögeln und Nachtgesichtern und dem langen Rauschen der Blätter. Und tausend Gedanken ohne Worte erwachen in ihr, schwere Gedanken von Frauen, die den Schmerz spüren. Und sehen Sie, der Engel sieht bestürzt aus angesichts dieser allzu menschlichen Gedanken: er bedauert, Engel zu sein, weil Engel weder geboren werden noch leiden können. Und dieser Morgen der Verkündigung vor den überraschten Augen eines Engels ist das Fest der Menschen, denn jetzt ist der Mensch dran, geheiligt zu werden. Sehen Sie sich das Bild gut an, meine Herrschaften, und weiter geht’s mit Musik; der Prolog ist zu Ende; die Geschichte beginnt neun Monate später, am 24. Dezember, in den hohen Bergen von Juda.

 

Musik – Neues Bild

DER BÄNKELSÄNGER: Nun sehen Sie Felsen und einen Esel. Das Bild zeigt einen sehr wilden Gebirgspaß. Der Mann, der auf dem Esel reitet, ist ein römischer Beamter. Er ist dick und fett, aber höchst übellaunig. Neun Monate sind seit der Verkündigung vergangen, und der Römer eilt durch die Schluchten, denn der Abend wird hereinbrechen, und er will Bethsur noch vor der Nacht erreichen. Bethsur ist ein Dorf von achthundert Einwohnern, fünfundzwanzig Meilen von Bethlehem und sieben Meilen von Hebron entfernt. Wer Karten lesen kann, wird es zu Hause in einem Atlas finden können. Jetzt werden Sie sehen, was dieser Beamte vorhat, denn er ist eben in Bethsur angekommen und bei Levy, dem Zöllner, eingetreten.

 

Der Vorhang geht auf

Erstes Bild

Bei Levy, dem Zöllner

ERSTE SZENE

Lelius, der Zöllner

LELIUSverbeugt sich in Richtung der Tür: Meine Verehrung, gnädige Frau. Mein Teuerster, Eure Frau ist charmant. Hm! So, wir müssen an die ernsten Dinge denken. Setzt Euch. Aber ja doch, setzt Euch, und unterhalten wir uns. Ich komme wegen dieser Volkszählung …

DER ZÖLLNER: Vorsicht, Herr Oberstatthalter, Vorsicht. Er zieht seinen Pantoffel aus und haut auf den Boden.

LELIUS: Was war das? Eine Tarantel?

DER ZÖLLNER: Eine Tarantel. Aber in dieser Jahreszeit sind sie durch die Kälte ziemlich starr. Die da kroch noch halb schlafend herum.

LELIUS: Charmant. Und Ihr habt natürlich auch Skorpione. Genauso schlafende Skorpione, die Euch müde gähnend glatt einen Mann von hundertachtzig Pfund töten würden. Die Kälte Eurer Berge kann einen römischen Bürger erstarren lassen, aber Eure dreckigen Viecher läßt sie nicht krepieren. Man sollte die jungen Leute in Rom, die sich auf die Kolonialschule vorbereiten, warnen, daß das Leben eines Kolonialverwalters eine verdammte Qual ist.

DER ZÖLLNER: Oh, Herr Oberstatthalter …

LELIUS: Ich habe gesagt: eine verdammte Qual, mein Teuerster. Zwei Tage irre ich jetzt auf dem Maulesel über diese Berge und habe kein menschliches Wesen gesehen; nicht einmal eine Pflanze, nicht einmal eine Quecke. Rote Steinblöcke unter diesem unbarmherzigen, eisblauen Himmel und dann diese Kälte, immer diese Kälte, die auf mir lastet wie ein Stein, und dann ab und zu ein Kuhdorf wie dieses hier. Brrr … Was für eine Kälte … Selbst hier bei Euch … Ihr Juden könnt natürlich nicht heizen; jedes Jahr werdet ihr vom Winter überrascht, als wäre es der erste Winter der Welt. Ihr seid echte Wilde.

DER ZÖLLNER: Darf ich Euch etwas Schnaps anbieten, damit Euch warm wird?

LELIUS: Schnaps? Hm … Ich muß Euch sagen, daß die Kolonialverwaltung sehr streng ist: wir dürfen von unseren Untergebenen nichts annehmen, wenn wir auf Inspektionsreise sind. Also ich werde hier schlafen müssen. Übermorgen reise ich nach Hebron. Natürlich gibt es keine Herberge?

DER ZÖLLNER: Das Dorf ist sehr arm, Herr Oberstatthalter; hierher kommt nie jemand. Aber wenn ich mir erlauben darf …

LELIUS: Ihr würdet mir ein Bett bei Euch anbieten? Mein armer Freund, Ihr seid sehr nett, aber es ist immer dasselbe: Verbot, bei unseren Untergebenen zu schlafen, wenn wir auf Rundreise sind. Was wollt Ihr, unsere Statuten sind von Beamten verfaßt worden, die Italien nie verlassen haben und die nicht einmal ahnen, was ein Kolonialleben ist. Wo soll ich denn schlafen? Unter freiem Himmel? In einem Stall? Das entspricht auch nicht der Würde eines römischen Beamten.

DER ZÖLLNER: Darf ich mir erlauben, darauf zu bestehen?

LELIUS: Genau, mein Freund. Besteht darauf. Schließlich werde ich vielleicht Eurem inständigen Bitten nachgeben. Wenn ich Euch recht verstehe, wollt Ihr sagen, daß Euer Haus das einzige im Dorf ist, das auf die Ehre hoffen darf, den Repräsentanten Roms zu empfangen? Nun, äh … Oh, und außerdem bin ich eigentlich gar nicht richtig auf Inspektionsreise … Mein Teuerster, ich werde heute bei Euch schlafen.

DER ZÖLLNER: Wie soll ich Euch danken für die Ehre, die Ihr mir erweist? Ich bin zutiefst gerührt …

LELIUS: Ich kann es mir denken, mein Freund, ich kann es mir denken. Aber posaunt es nicht überall aus: Ihr würdet Euch ebenso schaden wie mir.

DER ZÖLLNER: Ich werde niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen sagen.

LELIUS: Ausgezeichnet. Er streckt die Beine aus. Uff, ich bin erschöpft. Ich habe fünfzehn Dörfer besucht. Sagt, Ihr spracht doch eben von einem gewissen Schnaps …

DER ZÖLLNER: Hier.

LELIUS: Ich muß wirklich einen trinken. Da Ihr mir ein Nachtlager anbietet, ist es angemessen, daß Ihr mir auch Essen und Trinken gebt. Hervorragender Schnaps. Es könnte ein römischer sein.

DER ZÖLLNER: Danke, Herr Oberstatthalter.

LELIUS: Uff … Mein Teuerster, diese Zählung ist eine unmögliche Geschichte, und ich weiß nicht, welcher alexandrinische Höfling den göttlichen Cäsar auf die Idee bringen konnte. Es geht einfach darum, alle Menschen auf der Welt zu erfassen. Wohlgemerkt, die Idee ist grandios. Aber nun findet Euch mal in Palästina zurecht: die meisten Eurer Glaubensgenossen wissen nicht einmal das Datum ihrer Geburt. Sie sind im Jahr des großen Hochwassers, im Jahr der großen Ernte, im Jahr des großen Sturms geboren … Echte Wilde. Ich will Euch natürlich nicht kränken. Ihr seid zwar Israelit, aber ein gebildeter Mensch.

DER ZÖLLNER: Ich hatte das große Glück, in Rom zu studieren.

LELIUS: Natürlich. Das sieht man an Euren Manieren. Seht, ihr seid Orientalen, begreift Ihr den Unterschied? Ihr werdet nie Rationalisten sein, ihr seid ein Volk von Zauberern. Unter diesem Gesichtspunkt haben euch eure Propheten großen Schaden zugefügt, sie haben euch an die faule Lösung gewöhnt: den Messias. Der alles wieder einrenken wird, der die römische Herrschaft mit einem Schnipser umwerfen und eure Herrschaft über die Welt errichten wird. Und ihr habt einen Verschleiß an Messiassen … Jede Woche taucht ein neuer auf, und ihr habt ihn nach acht Tagen satt, wie wir in Rom die Music-hallSänger oder die Gladiatoren. Der letzte, den man zu mir gebracht hat, war ein Albino und dreiviertel idiotisch, aber er konnte nachts sehen wie alle seiner Art: die Leute von Hebron staunten nicht schlecht. Soll ich Euch etwas sagen: das jüdische Volk ist nicht erwachsen.

DER ZÖLLNER: In der Tat, Herr Oberstatthalter, es wäre wünschenswert, daß viele unserer Studenten nach Rom gehen könnten.

LELIUS: Ja. Das gäbe Beamte. Bedenkt, daß die Regierung von Rom, sofern sie vorher konsultiert würde, die Wahl eines passenden Messias nicht ungern sähe, zum Beispiel jemand, der aus einer alten jüdischen Familie stammte, bei uns studiert hätte und für sein Ansehen garantieren könnte. Es wäre sogar möglich, daß wir das Unternehmen finanzierten – ganz unter uns, nicht wahr? –, denn wir haben die Herodesse allmählich satt, und außerdem möchten wir, daß das jüdische Volk im eigenen Interesse endlich einmal etwas zur Vernunft kommt. Ein echter Messias, ein Mann, der ein realistisches Verständnis der Lage Judas bewiese, würde uns helfen. Hm … Brr … brr … wie kalt es bei Euch ist. Sagt, habt Ihr den Dorfvorsteher gerufen?

DER ZÖLLNER: Ja, Herr Oberstatthalter. Er wird gleich hier sein.

LELIUS: Er muß diese Zählungsgeschichte in die Hand nehmen; er sollte mir die Listen gleich morgen abend bringen können.

DER ZÖLLNER: Wie Ihr befehlt.

LELIUS: Wieviel seid ihr?

DER ZÖLLNER: Ungefähr achthundert.

LELIUS: Ist das Dorf reich?

DER ZÖLLNER: O weh …

LELIUS: So! So!

DER ZÖLLNER: Man fragt sich, wie die Leute leben können. Es gibt ein paar magere Weiden; außerdem muß man zehn bis fünfzehn Kilometer gehen, um hinzukommen. Das ist alles. Das Dorf entvölkert sich langsam. Jedes Jahr ziehen fünf oder sechs unserer jungen Leute nach Bethlehem hinunter. Der Anteil der Alten überwiegt schon den der Jungen. Zumal die Geburtenrate niedrig ist.

LELIUS: Was wollt Ihr? Die in die Stadt gehen, kann man nicht tadeln. Unsere Kolonisten haben wunderbare Fabriken in Bethlehem errichtet. Vielleicht wird euch von dort die Aufklärung kommen. Eine technische Zivilisation, Ihr versteht, was ich sagen will. He? Sagt, ich bin nicht nur zum Zählen gekommen. Was nehmt Ihr hier ein an Steuern?

DER ZÖLLNER: Nun, es gibt zweihundert Arme, die nichts einbringen, und die anderen zahlen ihre zehn Drachmen. Rechnet durchschnittlich fünftausendfünfhundert Drachmen im Jahr. Ein Elend.

LELIUS: Ja. Hm … Nun, man muß von jetzt an versuchen, ihnen achttausend abzuzapfen. Der Prokurator erhöht die Kopfsteuer auf fünfzehn Drachmen.

DER ZÖLLNER: Fünfzehn Drachmen … Das ist … Das ist unmöglich.

LELIUS: Ach, das ist ein Wort, das Ihr nicht oft gehört haben werdet, als Ihr in Rom wart. Also sie haben sicher mehr Geld, als sie sagen wollen. Und dann … hm, Ihr wißt, daß die Regierung ihre Nase nicht in die Angelegenheiten der Zöllner stecken will, aber jedenfalls glaube ich, daß Ihr dabei keinen Verlust habt. Nicht wahr?

DER ZÖLLNER: Ich sage nicht … Ich sage nicht … Ihr habt doch sechzehn Drachmen gesagt …?

LELIUS: Fünfzehn.

DER ZÖLLNER: Ja, aber die sechzehnte ist für meine Unkosten.

LELIUS: Hm … Soso … Er lacht. Dieser Vorsteher … Was für ein Mann ist das? … Er heißt Bariona, nicht wahr?

DER ZÖLLNER: Ja, Bariona.

LELIUS: Das ist delikat. Sehr delikat. Man hat in Bethlehem einen großen Fehler gemacht. Sein Schwager wohnte in der Stadt, und es hat irgendeine undurchsichtige Diebstahlgeschichte gegeben, und dann hat ihn das jüdische Gericht schließlich zum Tode verurteilt.

DER ZÖLLNER: Ich weiß. Er ist gekreuzigt worden. Die Nachricht hat uns vor ungefähr einem Monat erreicht.

LELIUS: Ja. Hm … Und wie hat der Vorsteher die Sache aufgenommen?

DER ZÖLLNER: Er hat nichts gesagt.

LELIUS: Ja. Schlecht. Sehr schlecht … Oh, das ist ein schwerer Fehler. Ja. Also, was ist das für einer, dieser Bariona?

DER ZÖLLNER: Nicht sehr umgänglich.

LELIUS: So eine Art kleiner Feudalherr. Ich ahnte es. Diese Bergbewohner sind rauh wie ihre Felsen. Bekommt er Geld von uns?

DER ZÖLLNER: Er will nichts annehmen von Rom.

LELIUS: Schade. Soso, das riecht nicht gut. Er mag uns nicht, kann ich mir denken?

DER ZÖLLNER: Man weiß es nicht. Er sagt nichts.

LELIUS: Verheiratet? Kinder?

DER ZÖLLNER: Er möchte welche, sagt man, aber er hat keine. Das ist sein größter Kummer.

LELIUS: Das klingt nicht gut, das klingt überhaupt nicht gut. Es muß doch einen schwachen Punkt geben … Frauen? Orden? Nein? Na, wir werden ja sehen.

DER ZÖLLNER: Da ist er …

LELIUS: Das wird hart.

 

DER ZÖLLNER: Guten Tag, gnädiger Herr.

BARIONA: Raus, Hund: du verpestest die Luft, die du atmest, ich möchte nicht im gleichen Zimmer bleiben wie du. Der Zöllner geht. Meine Hochachtung, Herr Oberstatthalter.

ZWEITE SZENE

Lelius, Bariona

LELIUS: Ich grüße Euch, großer Vorsteher, und bringe Euch den Gruß des Prokurators.

BARIONA: Ich weiß diese Huldigung um so mehr zu schätzen, als ich ihrer ganz und gar unwürdig bin. Ich bin jetzt ein entehrter Mann, das Oberhaupt einer anrüchigen Familie.

LELIUS: Ihr meint diese bedauerliche Affäre? Der Prokurator hat mir extra aufgetragen, Euch zu sagen, wie leid ihm die Strenge des jüdischen Tribunals täte.

BARIONA: Ich bitte Euch, dem Prokurator zu sagen, daß ich ihm für seine freundliche Anteilnahme danke. Sie erfrischt und überrascht mich wie ein wohltuender Regenguß mitten im heißen Sommer. Da ich die Allmacht des Prokurators kannte und sah, daß er die Juden ein solches Urteil fällen ließ, glaubte ich, er stimmte ihnen zu.

LELIUS: Nun, da habt Ihr Euch getäuscht. Da habt Ihr Euch ganz und gar getäuscht. Wir haben versucht, das jüdische Tribunal zu erweichen, aber was konnten wir tun? Es war unerschütterlich, und wir haben seinen unangebrachten Eifer bedauert. Macht es wie wir, Vorsteher: verhärtet Euer Herz und opfert Euren Groll den Interessen Palästinas. Sagt Euch, daß es kein dringenderes Interesse hat, als seine Bräuche und seine lokale Verwaltung zu erhalten, selbst wenn für einige daraus Unannehmlichkeiten entstehen.

BARIONA: Ich bin nur ein Dorfvorsteher, und Ihr werdet entschuldigen, wenn ich von dieser Politik nichts verstehe. Meine Überlegung ist gewiß schlichter: Ich sage mir, ich habe Rom loyal gedient, und Rom vermag alles. Ich scheine ihm also nicht mehr zu gefallen, wenn es mir von meinen Feinden in der Stadt diesen Schimpf antun läßt. Einen Augenblick habe ich geglaubt, seinen Wünsehen entgegenzukommen, wenn ich auf alle meine Machtbefugnisse verzichte. Aber die Einwohner dieses Dorfes, die mir ihr Vertrauen bewahrt haben, baten mich, an ihrer Spitze zu bleiben.

LELIUS: Und Ihr habt eingewilligt? So ist es recht. Ihr habt verstanden, daß für einen Vorsteher die öffentlichen Angelegenheiten gegenüber seinem persönlichen Groll vorgehen müssen.

BARIONA: Ich hege keinen Groll gegen Rom.

LELIUS: Ausgezeichnet. Ausgezeichnet. Hm … Die Interessen Eures Vaterlands, Vorsteher, sind, daß seine Schritte von der festen und wohlwollenden Hand Roms sanft in die Unabhängigkeit geführt werden. Soll ich Euch gleich Gelegenheit geben, dem Prokurator zu beweisen, daß Eure Freundschaft für Rom immer noch genauso lebhaft ist?

BARIONA: Ich höre.

LELIUS: Rom ist wider Willen in einen langen und schwierigen Krieg verwickelt. Mehr noch als eine regelrechte Hilfe würde es einen außerordentlichen Beitrag Judäas zu seinen Kriegsausgaben als Solidaritätsbeweis anerkennen.

BARIONA: Ihr wollt die Steuern erhöhen?

LELIUS: Rom sieht sich dazu gezwungen.

BARIONA: Die Kopfsteuer?

LELIUS: Ja.

BARIONA: Wir können nicht noch mehr zahlen.

LELIUS: Man verlangt nur eine ganz kleine Anstrengung. Der Prokurator hat die Kopfsteuer auf sechzehn Drachmen erhöht.

BARIONA: Sechzehn Drachmen: seht doch selbst. Diese alten Erdhaufen, rot, rissig, schrundig, aufgesprungen wie unsere Hände, das sind unsere Häuser. Sie zerfallen zu Staub; sie sind hundert Jahre alt. Seht die Frau, die da vorbeigeht, gebeugt unter dem Gewicht eines Bündels, diesen dort, der eine Axt trägt: das sind Alte. Alles Alte. Das Dorf liegt im Sterben. Habt Ihr einen Kinderschrei gehört, seit Ihr hier seid? Kinder sind vielleicht noch zwanzig übrig. Bald werden auch sie gehen. Was könnte sie zurückhalten: um den jämmerlichen Pflug kaufen zu können, den das ganze Dorf benützt, haben wir uns bis zum Hals verschuldet; die Steuern erdrücken uns, unsere Hirten müssen zehn Meilen zurücklegen, um unsere Schafe auf magere Weiden zu führen. Das Dorf blutet aus. Seit Eure römischen Kolonisten in Bethlehem mechanische Sägewerke errichtet haben, schießt und sprudelt unser jüngeres Blut wie eine heiße Quelle von Fels zu Fels bis ins Flachland, das es benetzt. Unsere jungen Leute sind da unten in der Stadt. In der Stadt, wo man sie versklavt, wo man ihnen einen Hungerlohn zahlt, in der Stadt, die sie alle töten wird, wie sie Simon, meinen Schwager, getötet hat. Dieses Dorf liegt im Sterben, Herr Oberstatthalter, es stinkt schon. Und Ihr wollte dieses Aas auspressen, Ihr wollt noch Gold von uns fordern für Eure Städte, für die Ebene. Laßt uns doch ruhig sterben. In hundert Jahren wird keine Spur mehr von unserem Flecken übrig sein, weder auf diesem Boden noch im Gedächtnis der Menschen.

LELIUS: Nun, großer Vorsteher, ich für meinen Teil bin sehr empfänglich für das, was Ihr mir habt sagen wollen, und ich verstehe Eure Gründe; aber was kann ich tun? Der Mensch ist von Herzen auf Eurer Seite, aber der römische Beamte hat Befehle empfangen und muß sie ausführen.

BARIONA: Ja. Und wenn wir uns weigern, diese Steuer zu zahlen …?

LELIUS: Das wäre eine große Unvorsichtigkeit. Der Prokurator könnte Böswilligkeit nicht zulassen. Ich glaube Euch sagen zu können, daß er sehr streng sein wird. Man wird euch eure Schafe wegnehmen.

BARIONA: Soldaten werden in unser Dorf kommen wie letztes Jahr in Hebron? Sie werden unsere Frauen vergewaltigen und unsere Tiere mitnehmen?

LELIUS: Es liegt an Euch, das zu vermeiden.

BARIONA: Gut. Ich werde den Ältestenrat versammeln, um ihm Eure Wünsche mitzuteilen. Verlaßt Euch auf eine prompte Erledigung. Ich möchte, daß der Prokurator sich lange an unsere Fügsamkeit erinnert.

LELIUS: Dessen könnt Ihr gewiß sein. Der Prokurator wird Eure gegenwärtigen Schwierigkeiten, die ich ihm getreu schildern werde, berücksichtigen. Seid sicher, daß wir nicht untätig bleiben werden, wenn wir Euch helfen können. Ich grüße Euch, großer Vorsteher.

BARIONA: Meine Hochachtung, Herr Oberstatthalter. Er geht ab.

LELIUSallein: Dieser plötzliche Gehorsam ist mir nicht geheuer; dieser Dunkelhäutige mit seinen feurigen Augen führt etwas Schlimmes im Schilde. Levy! Levy! Der Zöllner kommt. Gebt mir noch etwas von Eurem Schnaps, mein Freund, denn ich muß mich auf größeren Ärger gefaßt machen.

 

Vorhang

DER BÄNKELSÄNGER: Und er hat recht, dieser römische Beamte. Er hat recht, mißtrauisch zu sein, denn als Bariona vom Zöllner kam, hat er die Trompete blasen lassen, um die Ältesten zum Rat zu rufen.

 

Der Vorhang geht auf

Zweites Bild

Vor den Stadtmauern

ERSTE SZENE

Der Chor der Ältesten

 

Trompetentöne hinter den Kulissen, die Ältesten treten nach und nach auf.

CHOR DER ÄLTESTEN:

(Tutti:)

Seht: die Trompete ist erschallt,

Wir haben unsere Festgewänder angelegt

Und die bronzenen Tore durchschritten

Und halten Sitzung vor der Mauer aus roter Erde

Wie einst.

(Tenöre:)

Unser Dorf stirbt, und über unseren Häusern

Aus trockener Erde

Zieht der Rabe seine schwarzen Kreise.

Wozu einen Rat abhalten,

Wenn unser Herz zu Asche geworden ist

Und wir in unserem Kopf

Gedanken der Ohnmacht wälzen?

ERSTER ÄLTESTER: Was will man von uns? Warum sollen wir uns versammeln? Einst, in meiner Jugendzeit, hatten die Entscheidungen des Rats Folgen, und ich bin auch vor dem kühnsten Entschluß nie zurückgeschreckt. Aber wozu heute?

CHOR:

Wozu holt man uns aus den Löchern,

In denen wir uns vergraben, um zu sterben

Wie kranke Tiere.

Von der Höhe dieser Mauern

Haben unsere Väter einst den Feind zurückgeschlagen,

Aber jetzt sind sie rissig; sie verfallen.

Wir sehen uns nicht gern ins Gesicht,

Denn unsere Falten erinnern uns an eine verschwundene Zeit.

ZWEITER ÄLTESTER: Man sagt, ein Römer sei im Dorf eingetroffen und bei Levy, dem Zöllner, abgestiegen.

DRITTER ÄLTESTER: Was will er von uns? Kann man einen toten Esel auspressen? Wir haben kein Geld mehr, und wir wären schlechte Sklaven. Man soll uns doch in Frieden krepieren lassen!

CHOR:

Seht Bariona, unseren Vorsteher.

Er ist noch jung, doch

Sein Herz ist welker als unseres,

Er kommt, seine Stirn

Scheint ihn zu Boden zu ziehen,

Er geht langsam,

Und seine Seele ist voller Ruß.

 

Bariona tritt langsam ein, sie stehen auf.

ZWEITE SZENE

BARIONA: O meine Gefährten!

DER CHOR: Bariona! Bariona!

BARIONA: Ein Römer ist aus der Stadt gekommen und bringt die Befehle des Prokurators. Rom führt offenbar Krieg. Wir sollen von jetzt an eine Kopfsteuer von sechzehn Drachmen zahlen.

DER CHOR: O weh!

ERSTER ÄLTESTER: Bariona, wir können nicht, wir können diese Steuer nicht zahlen. Unsere Arme sind zu schwach, unsere Tiere gehen ein, ein Fluch liegt auf unserem Dorf. Wir dürfen Rom nicht gehorchen.

ZWEITER ÄLTESTER: Gut. Dann werden die Soldaten kommen und dir deine Schafe wegnehmen wie in Hebron letzten Winter; sie werden dich am Bart durch die Straßen schleifen, und das Tribunal von Bethlehem wird dir auf die Fußsohlen schlagen lassen.

ERSTER ÄLTESTER: Dann bist du also dafür, daß man zahlt? Du bist von den Römern gekauft.

ZWEITER ÄLTESTER: Ich bin nicht gekauft, aber ich bin nicht so dumm wie du und sehe die Dinge richtig: Wenn der Feind der Stärkere ist, weiß ich, muß man sich beugen.

ERSTER ÄLTESTER: Hört mir zu, Freunde! Sind wir so tief gefallen? Bisher haben wir uns der Gewalt gebeugt, aber jetzt ist es genug: was wir nicht können, werden wir nicht tun. Wir werden uns diesen Römer bei Levy holen und ihn an den Zinnen der Mauer aufhängen.

ZWEITER ÄLTESTER: Du willst revoltieren, der du nicht einmal mehr die Kraft eines Kindes hast. Dein Schwert würde dir beim ersten Schlag aus der senilen Hand fallen, und wir würden alle umgebracht werden.

ERSTER ÄLTESTER: Habe ich gesagt, ich werde selbst in den Krieg ziehen? Immerhin gibt es unter uns auch noch welche, die keine fünfunddreißig sind.

ZWEITER ÄLTESTER: Und du predigst ihnen den Aufstand? Sie sollen sich schlagen, damit du dein Geld behalten kannst?

DRITTER ÄLTESTER: Ruhe! Hört Bariona!

DER CHOR: Bariona, Bariona, Bariona! Hört Bariona!

BARIONA: Wir werden diese Steuer zahlen.

DER CHOR: O weh!

BARIONA: Wir werden diese Steuer zahlen. Pause. Aber nach uns wird keiner mehr Steuern zahlen in diesem Dorf!

ERSTER ÄLTESTER: Wie soll das zugehen?

BARIONA: Weil niemand mehr da sein wird, um Steuern zu zahlen. O meine Gefährten, seht doch unseren Zustand: Eure Söhne haben euch verlassen, um in die Stadt hinunterzugehen, und ihr wolltet bleiben, weil ihr stolz seid. Und Markus, Simon, Balaam und Jerevah bleiben bei uns, obwohl sie noch jung sind, denn sie sind auch stolz. Und ich, der ich euer Vorsteher bin, habe es gemacht wie sie, so wie es mir meine Vorfahren befahlen. Doch seht: Das Dorf ist wie ein leeres Theater, wenn der Vorhang gefallen ist und die Schauspieler gegangen sind. Die großen Schatten der Berge haben sich darüber gebreitet. Ich habe euch versammelt; wir sind alle da und sitzen in der untergehenden Sonne. Doch jeder von uns ist allein, im Dunkel, und die Stille ist um uns wie eine Mauer. Eine sehr erstaunliche Stille: Der geringste Kinderschrei würde genügen, sie zu zerreißen, aber wir können lange unsere Kräfte vereinen und alle zusammen schreien, unsere alten Stimmen würden an ihr zerbrechen. Wir sind an unseren Felsen gekettet wie alte stinkige Adler. Diejenigen unter uns, die noch einen jugendlichen Körper haben, sind darunter gealtert, und ihr Herz ist hart wie Stein, denn sie haben seit ihrer Kindheit nichts mehr zu erhoffen. Sie haben nichts mehr zu erhoffen außer dem Tod. Aber das war schon so zur Zeit unserer Väter: das Dorf liegt im Sterben, seit die Römer nach Palästina gekommen sind, und wer unter uns Kinder zeugt, ist schuldig, denn er verlängert diese Agonie. Hört: Letzten Monat, als man mir den Tod meines Schwagers mitteilte, bin ich auf den Berg Saron gestiegen; von oben habe ich unser sonnenversengtes Dorf gesehen und im Herzen überlegt. Ich habe gedacht: Ich bin nie von meinem Horst heruntergekommen, und doch kenne ich die Welt, denn wo auch ein Mensch ist, drängt sich die ganze Welt um ihn zusammen. Mein Arm ist noch kräftig, aber ich bin weise wie ein Greis. Jetzt ist es Zeit, meine Weisheit zu befragen. Die Adler schwebten über meinem Kopf am kalten Himmel, ich sah auf unser Dorf, und meine Weisheit sagte mir: Die Welt ist nur ein unendlicher, weicher Sturz. Die Welt ist nur ein Erdklumpen, der nicht aufhört zu fallen. Leute und Dinge erscheinen plötzlich an einem Punkt des Falls, und kaum erschienen, werden sie von diesem Weltensturz erfaßt; sie fangen an zu fallen, zersetzen sich und lösen sich auf. O Gefährten, meine Weisheit hat mir gesagt: Das Leben ist eine Niederlage, niemand ist siegreich, alle werden besiegt; alles ist immer schlecht gegangen, und der größte Wahnsinn auf Erden ist die Hoffnung.

DER CHOR: Der größte Wahnsinn auf Erden ist die Hoffnung!

BARIONA: Aber, meine Gefährten, wir dürfen uns nicht mit dem Sturz abfinden, denn Resignation ist eines Menschen unwürdig. Deshalb sage ich euch: Wir müssen unsere Seelen zur Hoffnungslosigkeit bestimmen. Als ich vom Berg Saron hinabstieg, hatte sich mein Herz wie eine Faust um mein Leid geschlossen und umklammerte es fest und hart, wie ein Blinder mit der Hand seinen Stock umklammert. Meine Gefährten, schließt eure Herzen um euer Leid, umklammert es fest, umklammert es hart, denn die Würde des Menschen liegt in der Hoffnungslosigkeit. Das ist meine Entscheidung: Wir werden keineswegs revoltieren – einen räudigen alten Hund, der revoltiert, befördert man mit einem Fußtritt in seine Ecke. Wir werden die Steuer zahlen, damit unsere Frauen nicht leiden. Aber das Dorf wird sich mit eigenen Händen begraben. Wir werden keine Kinder mehr machen. Ich habe gesprochen.

ERSTER ÄLTESTER: Was! Keine Kinder mehr!

BARIONA: Keine Kinder mehr. Wir werden keinen Verkehr mehr haben mit unseren Frauen. Wir wollen das Leben nicht mehr fortpflanzen und die Leiden unserer Rasse nicht verlängern. Wir werden keine Kinder mehr zeugen, wir werden unser Leben vollenden in der Betrachtung des Bösen, der Ungerechtigkeit und des Leidens. Und in einem Vierteljahrhundert werden dann die letzten von uns tot sein. Vielleicht werde ich als letzter scheiden. Dann, wenn ich spüre, daß meine Stunde kommt, werde ich meine Festgewänder anziehen und mich auf den großen Platz legen mit dem Gesicht zum Himmel. Die Krähen werden mein Aas abnagen, und der Wind wird meine Knochen zerstreuen. Dann wird das Dorf wieder zu Erde werden. Der Wind wird die Türen der leeren Häuser schlagen, unsere Erdmauern werden absacken wie der Frühjahrsschnee an den Berghängen, nichts wird von uns bleiben auf der Erde oder im Gedächtnis der Menschen.

CHOR:

Ist es möglich, daß wir den Rest unserer Tage verbringen,

Ohne das Lächeln eines Kindes zu sehen?

Die eherne Stille verdichtet sich um uns.