Bäume zerstören kann jeder Narr - Jürgen Brôcan - E-Book

Bäume zerstören kann jeder Narr E-Book

Jürgen Brôcan

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Beschreibung

Woher kommt die menschliche Faszination für die Natur? In seinem biografischen Essay bringt uns Jürgen Brôcan nicht nur John Muir näher. Indem er das Leben und Schaffen dieses beeindruckenden Universalgelehrten portraitiert, erklärt er auch zugleich den Ursprung und die Gegenwart eines neuen Genres: das des Nature Writings.

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Inhaltsverzeichnis
Bäume zerstören kann jeder Narr. John Muir und das American Nature Writing
Weitere Titel
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Impressum

Bäume zerstören kann jeder Narr. John Muir und das American Nature Writing

Im Jahre 1867 wanderte ein knapp dreißigjähriger Mann rund tausend Meilen durch den Südosten der USA von Indianapolis zu den Cedar Keys im Golf von Mexiko. Unterwegs schlief er auf Friedhöfen, bei weißen und bei schwarzen Farmern, am Rande der Savanne oder auf einem bewaldeten Hügel, nur einen Baumstamm als Kissen. Seine gepflegte Erscheinung, seine strahlend blauen Augen, der akkurat gekämmte Bart und das freundliche Auftreten machten ihn bei allen sofort beliebt. Seine Wanderung jedoch war eine Rebellion gegen die Konventionen einer bürgerlichen Existenz in der Nachsezessionskriegszeit. Ein Notizbuch aus jenen Tagen enthält folgende denkwürdige Passage:

Die Welt, so hat man uns gesagt, wurde speziell für den Menschen erschaffen — eine Vermutung, die sich auf keinerlei Fakten stützt. Zahlreiche Leute sind bestürzt, wenn sie in Gottes großem Universum etwas Lebendes oder Totes finden, dass sie nicht essen oder sich in irgendeiner Weise zunutze machen können. Sie besitzen präzise dogmatische Einsicht in die Pläne des Schöpfers, und man kann sich der Pietätlosigkeit kaum schuldiger machen, wenn man über ihren Gott spricht, als wenn man über heidnische Götzenbilder spricht. Er wird als kultivierter, gesetzestreuer Gentleman einer republikanischen Regierungsform oder einer eingeschränkten Monarchie angesehen; er glaubt an die Literatur und Sprache Englands; ist ein begeisterter Anhänger der englischen Verfassung, der Sonntagsschulen und Missionsgesellschaften — und ist so vollends ein handgefertigter Artikel wie irgendeine Puppe im Kasperletheater.

Bei derartigen Ansichten über den Schöpfer überrascht es selbstverständlich nicht, dass auch irrige Ansichten über die Schöpfung gehegt werden. Für solche adretten Leute ist zum Beispiel das Schaf ein geringes Problem — Essen und Kleidung ›für uns‹, es frisst Gras und weiße Gänseblümchen aufgrund göttlicher Anordnung zu diesem vorbestimmten Zweck, weil es die Forderung nach Wolle versteht, die durch den Verzehr des Apfels im Garten Eden verursacht wurde.

Nach demselben bequemen Plan sind Wale für uns Öldepots, um den Sternen zu helfen, bis zur Entdeckung der Ölquellen in Pennsylvania unsere dunklen Straßen zu erhellen. Von den Pflanzen, ganz zu schweigen vom Getreide, erfüllt der Hanf einen offensichtlichen Zweck bei der Takelage der Schiffe, dem Verschnüren von Bündeln und dem Hängen der Frevler. Baumwolle ist ein anderer klarer Fall von Bekleidung. Eisen wurde für Hämmer und Pflüge erschaffen und Blei für Pistolenkugeln; alles nur uns zugedacht. Genau wie andere kleinere unbedeutende Dinge.

Doch sollten wir diese gelehrten Kommentatoren der Absichten Gottes fragen: Wie steht’s mit den menschenfressenden Tieren — Löwen, Tiger, Alligatoren —, die sich die Lippen schlecken überm rohen Menschen? Oder mit diesen Milliarden schädlicher Insekten, die sein Werk zerstören und sein Blut schlürfen? Der Mensch war zweifellos als deren Nahrung und Getränk vorgesehen? Oh nein! Ganz und gar nicht! Dies sind unlösbare Schwierigkeiten, die mit Edens Apfel und dem Teufel in Zusammenhang stehen. Warum ertränkt Wasser seinen Gebieter? Warum vergiften ihn so viele Mineralien? Warum sind so viele Pflanzen und Tiere Todfeinde? Warum ist die Krone der Schöpfung denselben Gesetzen unterworfen wie seine Untergebenen? Oh, all das ist satanisch oder auf irgendeine Weise mit dem ersten Garten verknüpft.

Es scheint diesen Lehrern mit Weitblick niemals in den Sinn zu kommen, dass das Ziel der Natur bei der Erschaffung von Tieren und Pflanzen zuallererst das Glück jedes einzelnen sein könnte und nicht die gesamte Schöpfung für das Glück des einen. Warum sollte sich der Mensch für mehr erachten als ein Teilchen in der großen Schöpfungseinheit? Und welches Wesen, das Gott zu erschaffen bemüht war, ist nicht wichtig für die Vollständigkeit jener Einheit — des Kosmos? Das Universum wäre ohne den Menschen unvollständig; doch es wäre auch unvollständig ohne die winzigste transmikroskopische Kreatur, die jenseits unserer dünkelvollen Augen und Erkenntnisse lebt.

Aus dem Staub der Erde, aus dem gewöhnlichen Vorrat der Elemente hat Gott den Homo sapiens erschaffen. Aus demselben Material hat er jede andere Kreatur gemacht, wie schädlich und unbedeutend sie für uns auch sein mag. Sie sind aus Erde geborene Gefährten und unsere Mitsterblichen. Der ängstliche Gutmensch dieses mühsamen Stückwerks moderner Zivilisation, der Orthodoxe, schreit jedem »Häresie!« entgegen, dessen Sympathien eine Haaresbreite über die Hautgrenzen unserer eigenen Art hinausreichen. Nicht zufrieden damit, die ganze Erde zu nehmen, beanspruchen sie auch das himmlische Land, als die einzigen, die eine Seele besitzen, für die jenes unwägbare Reich entworfen wurde.

Dieser Stern, unsere gute Erde, hat viele erfolgreiche Reisen im Himmelsraum unternommen, bevor der Mensch erschaffen wurde, und ganze Königreiche von Lebewesen haben sich ihres Daseins erfreut und sind zum Staub zurückgekehrt, bevor der Mensch erschien und diese beanspruchte. Nachdem die Menschen ihre Rolle im Plan der Schöpfung gespielt haben, werden sie vielleicht auch ohne allgemeines Verbrennen oder außerordentlichen Tumult verschwinden.

Pflanzen wurde nur trübe und unklare Wahrnehmung zuerkannt, Mineralien absolut keine. Doch warum sollte nicht sogar eine Anordnung mineralischer Materie mit einer Wahrnehmung ausgestattet sein, mit deren Art wir in unserer blinden alleinigen Vollkommenheit nicht kommunizieren können?

Doch ich bin abgeschweift. Vor ein, zwei Seiten habe ich dargelegt, dass der Mensch behauptet hat, die Erde wäre für ihn erschaffen, und ich wollte sagen, dass giftige Tiere, stachelige Pflanzen und tödliche Krankheiten in gewissen Erdteilen beweisen, dass die Welt insgesamt nicht für ihn erschaffen worden ist. Wenn ein Tier aus den Tropen in höhere Breitengrade gebracht wird, kann es an Kälte sterben, dann sagen wir, ein solches Tier war nie für dieses harte Klima bestimmt. Aber wenn der Mensch sich in ungesunde Teile der Tropen begibt und stirbt, kann er nicht einsehen, dass er niemals für diese tödlichen Klimazonen bestimmt war. Nein, er wird eher die erste Mutter der Ursache des Problems beschuldigen, obwohl sie vielleicht nie ein Fiebergebiet gesehen hat; oder es als eine Strafe der Vorsehung für irgendeine selbsterfundene Sünde betrachten.

Darüber hinaus sind alle ungenießbaren und unbezähmbaren Tiere und alle Pflanzen mit Dornen bedauernswerte Übel, die geheimen Untersuchungen des Klerus zufolge der reinigenden Chemie universeller Planetenverbrennung bedürfen. Doch mehr als irgendetwas sonst bedarf die Menschheit der Verbrennung, da sie zum großen Teil verderbt ist, und wenn dieser überweltliche Ofen so verwendet und eingestellt werden kann, dass er uns zur Konformität mit der übrigen irdischen Schöpfung einschmilzt und reinigt, dann wäre die Tofetisation der launischen Gattung Homo ein Ziel, für das man inständig beten sollte. Ich hingegen bin froh, diese ekklesiastischen Feuer und Fehler zu verlassen und voller Freude zur unsterblichen Wahrheit und unsterblichen Schönheit der Natur zurückzukehren.

Auf die Innenseite des Deckels jenes ersten Notizbuchs schrieb der junge Mann eine Adresse, die mehr einem philosophischen Standpunkt als einer Anschrift gleicht: »John Muir, Earth-Planet, Universe«. Denn er war zeitlebens ein Enthusiast, einer, der mit ähnlich superlativischen Empfindungen wie ein gutes halbes Jahrhundert nach ihm der Außenseiter und Polyhistor Jürgen von der Wense auf der anderen Hälfte der Erdkugel durch die Natur streifte. Nur wenige Menschen dürften damals so viele Weltteile gesehen haben wie Muir: Er wanderte im Südosten der Vereinigten Staaten, sah den Großen Salzsee in Utah und den Grand Cañon, verbrachte einen Monat auf Kuba, reiste viermal nach Alaska, zweimal nach Europa, fuhr durch Asien und Ägypten, besuchte Australien, Südamerika und Südafrika — aber zuletzt fühlte er sich nur im Yosemite Valley und in der Sierra Nevada heimisch, dort befand sich seine »Universität der Wildnis«.