Befähigungsgerechtigkeit - Peter Dabrock - E-Book

Befähigungsgerechtigkeit E-Book

Peter Dabrock

4,9
32,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was bedeutet Gerechtigkeit heute?

- Eine kritische Überprüfung des Konzeptes der Befähigungsgerechtigkeit an entscheidenden sozialethischen Konfliktfeldern der Gegenwart

Was bedeutet Gerechtigkeit heute? Das sozialethische Konzept der »Befähigungsgerechtigkeit« – von dem Nobelpreisträger Amartya Sen entworfen und von der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum weiterentwickelt – antwortet, indem es bei den grundlegenden Fähigkeiten des Menschen ansetzt, die die Grundlage eines guten Lebens sind: die Fähigkeiten, gesund zu sein, Bindungen einzugehen, sein Leben selbstverantwortet zu planen usw. Aus diesen Fähigkeiten leitet das Konzept sozialethische Postulate ab: Staat und Gesellschaft sollen die Bedingungen gewährleisten, unter denen Menschen solche Fähigkeiten entfalten können.

Aber: Kann dieses Konzept in einer hoch differenzierten sozialen Wirklichkeit konkrete Handlungsperspektiven eröffnen und z.B. Kriterien für eine Priorisierung knapper werdender Ressourcen im Bereich der Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellen?

Peter Dabrock erschließt die Prinzipien und Argumentationsweise des Konzepts der Befähigungsgerechtigkeit und prüft seine Reichweite an wichtigen sozialethischen Konfliktfeldern der Gegenwart.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 679

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
17
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

EinleitungKapitel I - Konkrete Sozialethik in fundamentaltheologischer Perspektive
1. Konkrete Ethik zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen
1.1 Angewandt-ethische Argumentation – eine Typologie gegenwärtiger Modelle1.2 Der Mehrwert des weiten Überlegungsgleichgewichtes1.3 Menschenwürde und Menschenrechte als Fixpunkte im Überlegungsgleichgewicht
2. Sozialethik in der funktional differenzierten Gesellschaft
2.1 Zur Unterscheidung von Sozial- und Personalethik2.2 Moral und Ethik in der fu n ktional differenzierten Gesellschaft – systemtheoretische Perspektiven
2.2.1 Die funktional differenzierte Gesellschaft2.2.2 Moralische Kommunikation und die Rolle der Ethik
Copyright

Einleitung

Offensichtlich verstummen Fragen nach sozialer Gerechtigkeit nicht. Im internationalen wie im nationalen Kontext begegnen wir überall massiver Ungleichheit an Einkommen, an Lebensmöglichkeiten oder an Gesundheitschancen. Und diese Ungleichheiten nehmen nicht nur nicht ab, sie wachsen – in Deutschland stärker als in den meisten anderen OECD-Staaten.1 Beobachtungen zum engen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit, individueller Zufriedenheit und gesellschaftlicher Stabilität drängen sich immer mehr auf und können kaum noch als pure Inszenierung geleugnet werden.2 Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat ihren Teil dazu beigetragen, die sozialen Gegensätze zu verschärfen und in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, dass diejenigen, die von der Liberalisierung der Finanzmärkte profitiert und durch unverantwortliche Spekulationen den Zusammenbruch heraufbeschworen haben, im Wesentlichen ungeschoren davonkommen, während die Allgemeinheit zahlen muss. Der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit schallt daher wieder vermehrt durch die Lande. Gegenüber der Forderung nach Nachhaltigkeit, um künftigen Generationen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen, war es in den letzten Jahren etwas stiller um dieses Thema geworden. Nun ist das Verlangen nach einer an sozialer Gerechtigkeit orientierten Verbesserung der Lebenslagen aller Menschen wieder lauter hörbar, und zwar nicht nur lokal, sondern global. »Empört euch!«, ruft der ehemalige Widerstandskämpfer Stéphane Hessel der jungen Generation zu,3 und die neuen Protestbewegungen in Kairo und Tel Aviv, in Madrid und Athen belegen, dass immer mehr Menschen nicht länger bereit sind, sich mit den sozialen Missständen in ihren Heimatländern abzufinden. In Deutschland, das die Wirtschaftskrise vergleichsweise gut überstanden hat, scheint der Jugend zwar die nötige »Wut im Bauch« zu fehlen, um auf die Straße zu gehen.4 Wie die aus den USA herüberschwappende Diskussion um eine stärkere Besteuerung der Reichen zeigt,5 wächst jedoch auch hierzulande das Empfinden, dass die »Früchte und Lasten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit« (John Rawls6) unter der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung zu ungleich verteilt sind, um noch als gerecht gelten zu können.

An kirchlichen Stellungnahmen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland mangelt es dabei nicht. Seit dem gemeinsamen Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit von 1997 haben die beiden großen Konfessionen immer wieder ihre Stimme erhoben und sich im Sinne der »vorrangigen Option für die Benachteiligten« in die Debatte eingemischt.7 Man wird sogar sagen können, dass soziale Gerechtigkeit neben Frieden, Nachhaltigkeit und dem Schutz der Menschenwürde angesichts des biotechnischen Fortschritts das große Anliegen ist, für das sich die Kirchen in der Öffentlichkeit stark machen. Diesem sozialpolitischen Engagement korrespondiert jedoch zumindest auf evangelischer Seite keine entsprechend intensive theoretische Auseinandersetzung innerhalb der theologischen Sozialethik. Seit den einschlägigen Arbeiten von Wolfgang Huber und Heinrich Bedford-Strohm in den neunziger Jahren, in denen die Auseinandersetzung mit der monumentalen Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls eine zentrale Rolle spielt,8 sind keine umfassenderen Studien mehr erschienen, in denen der philosophische Gerechtigkeitsdiskurs der letzten zehn oder fünfzehn Jahre aufgearbeitet worden wäre. Dies ist nicht zuletzt deswegen ein Manko, weil sich mit der zweiten Welle der Egalitarismuskritik, die um die Jahrtausendwende auch Deutschland erreicht hat, die Frontlinien der Diskussion in nicht unerheblicher Weise verändert haben. Das über lange Zeit in der evangelischen Sozialethik geradezu enthusiastisch rezipierte Rawls’sche Differenzprinzip ist in die Defensive geraten; Umverteilungen stehen wieder unter einem größeren Rechtfertigungsdruck. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass der Zugang zu den Rawls’schen Grundgütern Einkommen und Vermögen keinen hinreichenden Index für gesellschaftliche Benachteiligung darstellt. Armut, so wird mittlerweile auch von der EKD pointiert formuliert, ist »fehlende Teilhabe«.9 Mit Niklas Luhmann, auf dessen Ansatz im Folgenden immer wieder zurückgegriffen wird, könnte man auch sagen: Armut entsteht, wo Menschen von einer Negativspirale wechselseitiger Exklusionsverstärkung erfasst werden. Wie können diese soziologischen Einsichten jedoch so in den sozialethischen und -politischen Diskurs eingebracht werden, dass sie als rechtfertigungsfähige Forderungen nach der Beseitigung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten erscheinen und dabei auch theoretisch gegenüber alternativen Deutungen des Konzeptes ›soziale Gerechtigkeit‹ bestehen können?

Angesichts der Vielfalt an konkurrierenden Gerechtigkeitskonzeptionen unterbreitet, entfaltet und begründet das vorliegende Buch den folgenden semantischen Vorschlag: Menschen zur realen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu befähigen, ist der Schlüssel für ein aktuelles Verständnis sozialer Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit ist kriterial als Befähigungsgerechtigkeit zu bestimmen. Aus der Sicht einer theologischen Sozialethik, die sich um Sprachfähigkeit im außertheologischen Diskurs bemüht, zeichnet sich das Kriterium der Befähigungsgerechtigkeit dadurch aus, dass es zentrale Aspekte des biblischen Gerechtigkeitsverständnisses in einer auch Nichtgläubigen zugänglichen Form zu reformulieren vermag. Gleichzeitig ist es geeignet, in der Auseinandersetzung zwischen Egalitaristen und Egalitarismuskritikern10 einen plausiblen dritten Weg aufzuzeigen und damit auch philosophische Gerechtigkeitsdebatten zu befruchten.

Das Konzept der Befähigungsgerechtigkeit kann jedoch nicht nur als Brücke zwischen philosophischen und theologischen Beiträgen im Gerechtigkeitsdiskurs fungieren, sondern auch theoretische Begründungsdiskurse und konkrete Debatten mit Anwendungsperspektiven verknüpfen. Damit erweist es sich als vorzügliches Leitkriterium einer konkreten Ethik, die Entscheidungskriterienberatung im sittlich-politischen Diskurs leistet und dabei methodologische, konzeptionelle und anwendungsbezogene Fragestellungen miteinander verbindet. Zugangsart und Sachgehalt können nämlich – wie es ein phänomenologisches Axiom auf den Punkt bringt – nicht unabhängig voneinander gedacht und bestimmt werden. Semantische Bestimmungen und Wahrnehmung wie Deutung gesellschaftlicher Strukturen bedingen sich wechselseitig. Keiner der genannten Dimensionen wird daher per se ein Vorrang eingeräumt; ob und wann deduktiv oder induktiv zu argumentieren ist, muss sich im Vollzug der Argumentation als nachvollziehbar, als plausibel erweisen.

Die sozialpolitische Anschlussfähigkeit des Befähigungsgerechtigkeitskonzeptes zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es in den vergangenen Jahren Eingang in wichtige regierungsamtliche Dokumente wie den Armuts- und Reichtumsbericht und den Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung gefunden hat.11 Auch Diakonie und Caritas haben sich dieses Kriterium zu eigen gemacht,12 und die EKD bezieht sich in mehreren Denkschriften darauf. 13 So erfreulich die breite Rezeption des Befähigungsansatzes an sich ist, hat sie freilich auch dazu geführt, dass sich im öffentlichen Diskurs mittlerweile sehr unterschiedliche und nicht immer untereinander kompatible Ideen damit verbinden. Ein wesentliches Ziel der vorliegenden Studie besteht daher auch darin, diesen Ansatz konzeptionell wieder stärker zu profilieren und das hier im Anschluss an Martha Nussbaum vertretene Verständnis von Befähigungsgerechtigkeit gegenüber alternativen Deutungen abzugrenzen. Nur wo ›Befähigungsgerechtigkeit‹ mehr ist als ein populäres Schlagwort, kann das spezifische Orientierungspotential des capabilities approach gegenüber anderen Gerechtigkeitstheorien nämlich hinreichend zur Geltung gebracht werden.

Um zu zeigen, dass mit dem Konzept der Befähigungsgerechtigkeit ein gleichermaßen begründungs- wie anwendungsfähiges Kriterium sozialer Gerechtigkeit bereit steht, schlägt die vorliegende Studie einen Bogen von allgemeinen methodologischen Überlegungen zu einer konkreten Sozialethik in fundamentaltheologischer Perspektive (Kap. I) bis hin zur exemplarisch anhand des demographischen Wandels und des (vermeintlichen) Generationenkonfliktes erörterten Frage nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Solidarität (Kap. V). Dazwischen steht die Auseinandersetzung mit spezielleren Fragen der Rechtfertigung von Gerechtigkeit (Kap. II) und – als Herzstück der Studie – die Entfaltung des Konzeptes der Befähigungsgerechtigkeit (Kap. III) sowie seine Bewährung anhand eines konkreten sozialethischen Problemfeldes, der Frage nach Gerechtigkeit im Gesundheitswesen (Kap. IV). Dabei wird jeweils gezielt das Gespräch mit philosophischen, soziologischen, gesundheitswissenschaftlichen und anderen Theorien gesucht.

Nun ist nicht zu leugnen, dass die Frage nach sozialer Gerechtigkeit noch umfangreichere Studien erforderte. Konzeptionell wäre der Zusammenhang von (sozialer) Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Stabilität und Frieden noch intensiver herauszuarbeiten. Mit Blick auf den Anwendungskontext drängen sich in den letzten Jahren zunehmend Fragen der sog. internationalen oder globalen Gerechtigkeit in den Vordergrund. Auch diese Herausforderung konnte in der vorliegenden Studie nicht mehr bearbeitet werden. Sie konzentriert sich vielmehr darauf, auf der Schwelle von Begründungs- und Anwendungsdiskurs Befähigungsgerechtigkeit als Grundkategorie einer solchen theologischen Ethik herauszuarbeiten, die theologische Reflexion gesprächsfähig halten will in plural verfassten gesellschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Diskursen. Dass sich von dem sozialtheoretischen Grundkonzept Befähigungsgerechtigkeit Linien zu den genannten, hier nicht mehr bearbeiteten Fragestellungen ziehen lassen, ist jedoch offensichtlich. Möge die intendierte Brückenfunktion des Befähigungsgerechtigkeitskonzeptes einen kleinen Beitrag leisten bei der Suche nach der Stadt Bestem (vgl. Jer 29,7).

Die in dieser Form nun vorliegende Studie geht auf Einzelveröffentlichungen zu den Themenbereichen ›soziale Gerechtigkeit‹, ›Befähigungsgerechtigkeit‹, ›Methodologie konkreter theologischer Sozialethik in evangelisch-fundamentaltheologischer Perspektive‹, ›Ethik der Gesundheitsversorgung‹ und ›demographischer Wandel‹ zurück. Konkret sind folgende, im Literaturverzeichnis identifizierbare Beiträge eingeflossen: in Kap. I Dabrock 2002a, 2005a, 2006a, 2007; in Kap. II Dabrock 2008d, 2005a, 2008e; in Kap. III Dabrock 2006b, 2008b; in Kap. IV Dabrock 2000b, 2001a, 2002b, 2005b, 2006d, 2006e, 2006f, Dabrock, Ried 2009; in Kap. V Dabrock 2008a.

Die Studie ist jedoch mehr als eine Aufsatzsammlung. Da ich seit vielen Jahren die Absicht hegte, eine Monographie im Themenspektrum ›soziale Gerechtigkeit‹ unter besonderer Zuspitzung des Anfang der 2000er Jahre von mir eingeführten Begriffs ›Befähigungsgerechtigkeit‹ zu verfassen, hatte ich immer wieder versucht, einzelne Kapitel dieser geplanten Monographie in Aufsatzform vorweg zu schreiben. Dennoch sind die genannten Beiträge nicht einfach eins zu eins übernommen worden. Sie sind vielmehr stilistisch überarbeitet worden, Redundanzen, die sich aus der Artikelform ergaben, wurden gekürzt, woanders wurden Auslassungen ergänzt, sachliche Mängel, soweit sie ansichtig wurden, (hoffentlich) ausgeglichen, die Diskussion mit als maßgeblich erachteter Literatur nach Erscheinen der Erstveröffentlichungen aufgenommen. Zum Teil sind ganze Abschnitte neu verfasst worden. Der Grundgedanke, Befähigungsgerechtigkeit als Grundkonzept einer konkreten Sozialethik in evangelisch-fundamentaltheologischer Perspektive zu erweisen, hat sich durch diese Veränderungen durchgehalten.

All dies wäre nicht zustande gekommen, wenn mich meine Mitarbeiterin Ruth Denkhaus mit ihrer intellektuellen Schärfe und handwerklichen Präzision, aber auch mit ihrer Hartnäckigkeit nicht kräftig in der Zusammenführung des Ganzen unterstützt hätte. Ihr gebührt daher der größte Dank bei der Fertigstellung der »Befähigungsgerechtigkeit«. Sie hat nicht nur inhaltliche Verbesserungsvorschläge eingebracht, sondern die oben genannten Einzelveröffentlichungen in Rücksprache mit mir selbständig überarbeitet und dabei auch einzelne Passagen neu verfasst. Dies betrifft vor allem Luhmanns Moral-und Inklusionsverständnis, das Faktum des vernünftigen Pluralismus bei Rawls, die unterschiedlichen Varianten der Egalitarismuskritik und das Verhältnis von Menschenwürde und capabilities bei Nussbaum in Kap. I und III sowie die verstärkte Einbeziehung der Frage nach der gerechten Finanzierung des Gesundheitswesens in Kap. IV. Auch um Recherche und Einarbeitung aktueller Literatur ebenso wie um die Aktualisierung statistischer Angaben hat sie sich gekümmert. Schließlich hat sie sich um die finale Fassung mit ihren notwendigen Straffungen und Übergängen verdient gemacht. Es ist mir deshalb ein Anliegen, dass ihre Mitarbeit bei der Fertigstellung des Werkes auch im Titel zum Ausdruck kommt.

Meinem Assistenten Dr. Jens Ried bin ich dafür dankbar, dass Absatz 5.3 in Kap. IV aus unserem Beitrag Dabrock/Ried 2009 übernommen werden konnte. Für wertvolle Unterstützung bei Recherche und Korrekturen sowie bei der Erstellung des Registers danke ich allen voran Friedemann Sommer, der großartige Arbeit geleistet hat, aber auch Daniela Appee, Lea Chilian, Eva-Maria Kreitschmann, Theresa Lauterbach, Kerstin Menzel, Johanna Stein und Julian Zeyher.

Bei Herrn Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus möchte ich mich nicht nur für die – wie immer – hervorragende Betreuung bedanken, sondern auch für seine ungeheure Geduld, das Projekt nicht aus den Augen verloren zu haben.

Was wäre die wunderbare Berufung des Professorenamtes ohne die zahlreichen Diskussionen mit Studierenden, Kolleginnen und Kollegen, den vielen Menschen, die man bei allerlei beruflichen Gelegenheiten begegnen darf, aber auch die überaus gedeihliche Arbeitsatmosphäre in Marburg und Erlangen, schließlich das Geschenk meiner Familie – Danke vor allem Dir, Steffi! – und den alles tragenden Grund …

Erlangen, Pfingsten 2012

Peter Dabrock

Kapitel I

Konkrete Sozialethik in fundamentaltheologischer Perspektive

Wo der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit erhoben wird, geschieht dies zumeist im Kontext sozialpolitischer Auseinandersetzungen. ›Gerechtigkeit‹ ist – zugespitzt gesagt – ein Begriff, der seine Heimat nicht zuerst in akademischen Debatten, sondern auf der Straße hat. Weil Gerechtigkeitsforderungen, wie in Kap. II noch näher darzulegen sein wird, der Rechtfertigung bedürfen, sind sie jedoch zugleich ein Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen, genauer: ein Gegenstand der normativen Ethik, die auf moralische und sittliche Legitimierungsstrategien menschlichen Verhaltens und organisationeller Strukturen reflektiert. Allerdings lässt sich das Thema ›soziale Gerechtigkeit‹ innerhalb der gegenwärtigen Ethikdebatte keineswegs eindeutig verorten. Sofern es dabei um konkrete Probleme geht, deren Lösung nicht nur argumentative Kompetenz, sondern empirische Detailkenntnis erfordert, scheint es in den Zuständigkeitsbereich der sogenannten angewandten Ethik zu fallen, die sich in den letzten Jahren zunehmend als eigenständiges interdisziplinäres Forschungsfeld etabliert hat. Allerdings ist die Entwicklung der angewandten Ethik wesentlich von den immer rasanteren Fortschritten im Bereich der Biomedizin und den damit verbundenen individualethischen Problemen im Umgang mit Grenzstadien und -formen menschlichen Lebens vorangetrieben worden. Bei Fragen der sozialen Gerechtigkeit handelt es sich dagegen um typische Fragen der Sozialethik, die einen eigenständigen methodischen Zugriff erfordern. Auch der Begründungsdiskurs der politischen Philosophie, in dem der allgemeine Gerechtigkeitsbegriff seine primäre Heimstatt hat, stößt hier schnell an seine Grenzen, weil die Eigenheiten moderner, funktional differenzierter Gesellschaften dort nicht hinreichend berücksichtigt werden. Innerhalb der theologischen Ethik, die die Sozialethik schon seit langem als eigenständigen Schwerpunkt kultiviert und dabei immer wieder das Gespräch mit den Sozialwissenschaften gesucht hat,14 hat wiederum allzu lange Zeit das Bewusstsein dafür gefehlt, dass theologische Überzeugungen in Auseinandersetzung mit philosophischen Entwürfen entwickelt und in eine auch Nicht- und Andersgläubigen zugängliche Sprache übersetzt werden müssen.

Die vorliegende Studie versucht diesen komplementären Defiziten bzw. Einseitigkeiten Rechnung zu tragen, indem sie sich dem Thema ›soziale Gerechtigkeit‹ aus der Perspektive einer fundamentaltheologisch ansetzenden konkreten Sozialethik nähert. Was damit gemeint ist, soll in diesem Kapitel schrittweise erläutert werden.

Im Abschnitt 1 wird ein Überblick über die wichtigsten Argumentationsmodelle innerhalb der angewandten Ethik skizziert und der hier vertretene Ansatz einer konkreten Ethik innerhalb dieses Spektrums verortet. In den beiden folgenden Abschnitten wird dann anhand der beiden spezifischen Merkmale moderner Gesellschaften, funktionaler Differenzierung und semantischem Pluralismus, auf die spezifischen Herausforderungen eingegangen, mit denen sich eine konkrete Sozialethik (Abschnitt 2) in fundamentaltheologischer Perspektive (Abschnitt 3) konfrontiert sieht.

1. Konkrete Ethik zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen

1.1 Angewandt-ethische Argumentation – eine Typologie gegenwärtiger Modelle

Innerhalb der philosophischen Ethik wird üblicherweise zwischen einer auf Begründungsfragen spezialisierten allgemeinen Ethik, die ein dezidiert akademisches Unternehmen darstellt, und einer auf Anwendungsfragen spezialisierten angewandten Ethik, praktischen Ethik oder Bereichsethik15 unterschieden, die zwar auch als akademische Disziplin, i. e. in Form entsprechender Lehrstühle, Forschungsinstitute etc. institutionalisiert werden kann, sich jedoch vor allem durch ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Diskurs über moralisch strittige Fragen und ihren Versuch, in diesem Diskurs praktische Orientierung zu vermitteln, auszeichnet.16 Die neuartigen Aufgaben, die sich damit verbinden, haben in jüngster Zeit zu verstärkten Bemühungen um eine »Selbstaufklärung angewandter Ethik«17 geführt. Ausgelöst wurde diese Debatte um Methode, Status und Aufgaben der angewandten Ethik einerseits durch externe Kritik, die sich vor allem an der neuen Disziplin »Bioethik« entzündet und diese teilweise pauschal zu delegitimieren versucht hatte,18 andererseits durch das für neu konstituierte Disziplinen typische Bedürfnis nach Selbstvergewisserung innerhalb der angewandten Ethik selbst. Dass diese Klärungsbemühungen nicht zu einem einheitlichen Verständnis von angewandter Ethik, sondern lediglich zur präziseren Abgrenzung der Alternativen und damit letztlich zu einer Diversifizierung des Spektrums unterschiedlicher Auffassungen geführt haben, kann nicht weiter überraschen, sondern entspricht der Logik des gesellschaftlichen Funktionssystems Wissenschaft. Immerhin haben sich im Verlauf der Debatte drei idealtypische Auffassungen des Verhältnisses von allgemeiner und angewandter Ethik herauskristallisiert, die sich auch für die erste Einordnung des hier vertretenen Ansatzes konkreter Ethik als hilfreich erweisen:19

Top-Down-Ansätze (auch als »Deduktivismus« bezeichnet20) gehen davon aus, dass ein klares Geltungsgefälle vom Allgemeinen zum Besonderen besteht. Im Idealfall stellt sich ihnen die Moral bzw. Ethik als ein hierarchisches Gefüge von ethischer Theorie, allgemeinen Prinzipien, Regeln mittlerer Reichweite und singulären Urteilen dar, wobei die einzelnen Elemente der verschiedenen Ebenen jeweils einlinig von denen der übergeordneten Ebene abhängig sind.21 Das theoretische Interesse gilt daher primär den beiden oberen Ebenen, d. h. der Begründung des leitenden allgemeinen Prinzips (bzw. im Fall von Mehrprinzipienansätzen: der leitenden Prinzipien22) im Rahmen der jeweiligen ethischen Theorie, weil hier – etwa in der Debatte zwischen Kantianern und Utilitaristen – die eigentlichen Entscheidungen fallen, die alles weitere präjudizieren. 23 Konflikte auf den unteren Ebenen resultieren nach diesem Verständnis eher aus mangelnder Informiertheit denn aus echten Moral (Prinzipien-)dilemmata und sind durch Aufklärung zu lösen.24 Die angewandte Ethik erscheint damit tendenziell als bloßer Appendix der allgemeinen Ethik, der allenfalls wegen der empirischen Komplexität der jeweils verhandelten Probleme besondere Aufmerksamkeit verdient, jedoch keinen eigenständigen Gegenstand philosophischer Reflexion darstellt.

Für diese – hier sehr holzschnittartig charakterisierten – Ansätze spricht ihr Anspruch, eine möglichst hohe Konsistenz der sittlichen Urteilsbildung durch die Rückbindung konkreter Einzelurteile an bereichsübergreifende Prinzipien garantieren zu wollen und dadurch für eine möglichst weitgehende Transparenz der ethischen Kriteriologie zu sorgen. Gegen sie spricht die mehr oder minder latente Tendenz, leichtfertig oder zu schnell die Situation zu einem reinen Fall (des Prinzips) zu degradieren. Zumindest dort, wo nicht in abstracto spekuliert wird, sondern echte menschliche oder gesellschaftliche Problemkonstellationen verhandelt werden, sollte aber – jedenfalls bei einer Ethik, die vom Grundsatz ausgeht, dass Menschen nicht auf bloße Mittel zum Zweck reduziert werden dürfen – eine Sensibilität für Einzelne und für Individuelles konzeptionell gewahrt bleiben.

Bottom-Up-Ansätze (auch als »Kontextualismus« bezeichnet 25) versuchen diesem Risiko zu entgehen, indem sie von vornherein beim Besonderen ansetzen, den jeweiligen Fall also explizit zum Ausgangspunkt der ethischen Reflexion machen und sich bei der Entscheidungsfindung entweder auf eine im Umgang mit ähnlichen Fällen gewonnene moralische Urteilskompetenz (Kasuistik) oder auf die situationserschließende Kraft narrativ tradierter Deutungsmuster (narrative Ethik) verlassen.26 Dies geschieht unter der Voraussetzung, dass Menschen sich schon immer in einer Welt, die nicht nur, aber auch moralisch aufgeladen ist, orientieren und nicht einfach ab ovo moralische Konflikte bewerten. Allgemeine Regeln und Prinzipien spielen in diesen Ansätzen daher keine oder nur eine untergeordnete Rolle; wenn überhaupt, erscheinen sie als provisorische Versuche, die Vielfalt der Einzelurteile zu systematisieren bzw. einen sich in diesen Urteilen manifestierenden moral sense auf den Begriff zu bringen, und insofern als einer weitergehenden Begründung weder fähig noch bedürftig. Die angewandte Ethik wird damit von den Begründungsdiskursen der allgemeinen Ethik weitgehend abgekoppelt und zu einem eigenständigen, mehr oder weniger selbstgenügsamen Forschungsfeld erklärt.

Wenn sich jedoch Ethik – so erwidern Kritiker – von ihrem Anspruch auf rationale Nachvollziehbarkeit und kontextübergreifende Geltung ihrer Urteile verabschiedet, droht die Beliebigkeit des anything goes, die Macht der Gewohnheit oder sogar das Recht des Stärkeren. Der Forderung nach Begründung wohnt nämlich ein emanzipatorischer Impuls inne, der nicht leichtfertig ignoriert werden darf. Die positiv zu würdigende Praxisnähe der Bottom-up-Ansätze wird durch eine drohende ethische Intransparenz und Inkonsistenz erkauft, die sich aus dem induktiven Verfahrensweg ergibt: Wenn Akzeptabilität und Prägung durch formelle und informelle Diskursmilieuvorgaben die Moralität einer Handlung oder Entscheidung und ihre ethische Beurteilung bestimmen, dann ist – wie Michel Foucault immer wieder angemahnt hat27 – schwer auszuschließen, dass mehr oder minder subtile formelle und informelle Machtpraktiken an Stelle von moralischen Gründen das ethische Urteil leiten.

Reflective-Equilibrium-Ansätze (auch als »Kohärentismus« bezeichnet28) versuchen, einen Weg zwischen der Skylla Praxisferne der Top-down-Ansätze und der Charybdis Moralfunktionalisierung der Bottom-up-Ansätze zu finden, in dem sie weder dem Allgemeinen noch dem Besonderen einen eindeutigen Geltungsvorrang einräumen, sondern davon ausgehen, dass Theorie und Praxis, Prinzipien und Einzelurteile in einem dynamischen Wechselverhältnis stehen. Als Vorbild dient dabei John Rawls’ Vorgehen in der Theorie der Gerechtigkeit, der im Anschluss an neuere Überlegungen in der philosophischen Logik die exklusive oder präferentielle Orientierung an einer bestimmten moralischen Erkenntnisquelle (seien es wohlüberlegte moralische Urteile bzw. Intuitionen oder übergeordnete Prinzipien) durch das Streben nach Kohärenz zwischen wohlüberlegten moralischen Urteilen bzw. Intuitionen 29 einerseits und Prinzipien30 andererseits ersetzt.31 Durch wechselseitige Kritik und Korrektur der genannten Elemente soll sich ein Überlegungsgleichgewicht einstellen, d. h. ein Zustand, in dem wohlüberlegte Urteile bzw. Intuitionen und Prinzipien in einem Passungsverhältnis stehen.32 Allgemeine und angewandte Ethik sind nach diesem Verständnis konstitutiv aufeinander bezogen; konkrete sittliche Konfliktfälle können nicht unabhängig vom Begründungsdiskurs der allgemeinen Ethik bearbeitet werden, während dieser umgekehrt immer bereits Anwendungsfragen in den Blick nehmen muss. Obwohl Rawls’ eigene philosophische Arbeiten eher im Kontext der allgemeinen Ethik bzw. der politischen Philosophie angesiedelt sind, kann es daher nicht verwundern, dass seine Methode des reflective equilibrium in der Folgezeit auch von Vertretern der angewandten Ethik rezipiert worden ist.33 Als Wegbereiter haben dabei vor allem Tom L. Beauchamp und James Childress gewirkt, die seit der vierten Auflage ihres medizinethischen Standardwerks Principles of Biomedical Ethics explizit und programmatisch von diesem Modell Gebrauch machen .34 Innerhalb der Bio- und Medizinethik hat sich das RE-Modell gegenüber den Top-down- und Bottom-up-Ansätzen mittlerweile sogar soweit durchgesetzt, dass einige Beobachter den Methodenstreit für beendet erklären bzw. nur noch Unterschiede in der jeweiligen Interpretation des reflective equilibrium zu erkennen vermeinen.35

Angesichts der skizzierten Schwächen von reinen Top-down- oder Bottom-up -Ansätzen ist das Interesse an vermittelnden Ansätzen wie dem Reflective-Equilibrium- Modell leicht nachvollziehbar. Vergleicht man den Gebrauch, den Beauchamp und Childress – und mit Ihnen zahlreiche andere Verfechter des Überlegungsgleichgewichtes – von diesem Modell machen, mit dem ursprünglichen Verfahren, wie es von John Rawls entwickelt und von seinem Schüler Norman Daniels weiter ausgearbeitet und präzisiert worden ist, so fällt freilich auf, dass die Beauchamp/Childress-Variante gegenüber dem Original unterkomplex bleibt.36 Dies betrifft vor allem die Vernachlässigung von Hintergrundtheorien, denen im Rawls’schen Rechtfertigungsverfahren eine eigenständige Bedeutung zukommt. Wie Daniels überzeugend gezeigt hat, zielt dieses Verfahren nämlich entgegen dem ersten Anschein nicht nur auf ein enges Überlegungsgleichgewicht (narrow reflective equilibrium) zwischen wohlüberlegten moralischen Urteilen und Prinzipien, sondern auf ein weites Überlegungsgleichgewicht (wide reflective equilibrium) zwischen moralischen Urteilen, Prinzipien und Hintergrundtheorien .37

1.2 Der Mehrwert des weiten Überlegungsgleichgewichtes

Unter einem »wide reflective equilibrium« versteht Daniels, auf den die (explizite) Unterscheidung zwischen engem und weitem Überlegungsgleichgewicht zurückgeht, »a coherent ordered triple of sets of beliefs held by a particular person, namely, a set of considered moral judgments, (a); a set of moral principles, (b); and a set of relevant background theories, (c) .«38 Zu den relevanten Hintergrundtheorien können deskriptive und normative Theorien über Mensch und Gesellschaft, umfassende Wirklichkeitsannahmen, aber auch Annahmen über empirische Sachverhalte zählen: »They include our beliefs about particular cases; about rules, principles, and virtues and how to apply or act on them; about the right-making properties of actions, policies, and institutions; about the conflict between consequentialist and deontological views; about partiality and impartiality and the moral point of view; about motivation, moral development, strains of moral commitment, and the limits of ethics; about the nature of persons; about the function of ethics in our lives; about the implications of game theory, decision theory, and accounts of rationality for morality; about human psychology, sociology, and political and economic behavior; about the ways we should reply to moral skepticism and moral disagreement; and about moral justification itself.«39 Daniels hat die Unterscheidung zwischen einem engen und einem weiten Überlegungsgleichgewicht eingeführt, um deutlich zu machen, dass es sich bei Rawls’ Methode nicht – wie von Kritikern gerne behauptet – um einen verkappten moralischen Intuitionismus handelt .40 Die beiden Rawls’schen Gerechtigkeitsprinzipien41, so Daniels, sind nicht einfach nur ein Versuch, unsere vorgängigen Gerechtigkeitsintuitionen auf den Begriff zu bringen und zu systematisieren. Sie stellen das Ergebnis eines komplexen Prozesses dar, in den Überlegungen und Argumente unterschiedlichster Art eingeflossen sind .42 Sofern diese Überlegungen und Argumente sich ihrerseits auf ein bestimmtes Verständnis der Person und der Rolle der Moral innerhalb der Gesellschaft, aber auch auf generelle Annahmen über Verfahrensgerechtigkeit etc. stützen,43 fungieren nicht nur wohlüberlegte moralische Urteile, sondern auch relevante (bzw. für relevant erachtete) Hintergrundtheorien als Prüfstein für die Gültigkeit von Prinzipien. Das RE-Verfahren dient daher, richtig verstanden, keineswegs (nur) zur Bestätigung der vorgängigen Überzeugungen einer Person, sondern ebenso sehr zu ihrer Kritik; es kann diese Überzeugungen (bzw. einzelne davon) stabilisieren, aber ebenso gut auch destabilisieren; kurz: es ist ein Verfahren mit offenem Ausgang.44

Die Pointe des weiten gegenüber dem engen Überlegungsgleichgewicht liegt nach Daniels also darin, dass es dem latenten Konservatismus einer allein an der Übereinstimmung von wohlüberlegten moralischen Urteilen bzw. Intuitionen und Prinzipien orientierten Rechtfertigungsmethode entgegenwirkt. Tatsächlich bietet der Ansatz des wide reflective equilibrium jedoch noch weitere, nicht minder bedeutsame Vorteile. Dazu gehört vor allem die methodisch kontrollierte Einbeziehung von Elementen der ethischen Urteilsbildung, die in einfacheren Modellen keinen Platz finden. Dies wird besonders deutlich, wenn man die von Daniels unter dem Überbegriff ›Hintergrundtheorien‹ zusammengefassten heterogenen Annahmen, Begriffe, Konzeptionen und Theorien noch einmal differenziert in empirisch basierte Theorien über einzelne Gegenstandsbereiche bzw. gesellschaftliche Funktionssysteme (Wirtschaft, Recht, Erziehung etc.) einerseits und umfassende Wirklichkeitsannahmen bzw. Identitätsbilder andererseits. Über die Einbeziehung von Hintergrundtheorien des ersten Typs wird dann nämlich eine explizite Auseinandersetzung mit der Sachlogik des gesellschaftlichen Funktionsbereiches möglich, dem der jeweilige ethische Konfliktfall zuzuordnen ist. Auf diese Weise kann der Tatsache Rechnung getragen werden, dass – wie Julian Nida-Rümelin es formuliert – »für verschiedene Bereiche menschlicher Praxis unterschiedliche normative Kriterien angemessen sind, die sich […] nicht auf ein einziges System moralischer Prinzipien und Regeln reduzieren lassen.«45 Wie dies geschehen kann, ohne dass die Ethik ihren Anspruch auf eine kritische Reflexion der jeweiligen Verhältnisse preisgibt, wird weiter unten noch zu diskutieren sein. Die Einbeziehung von Hintergrundtheorien des zweiten Typs, also von umfassenden Wirklichkeitsannahmen und Identitätsbildern, ist besonders für eine theologische Ethik von Interesse, die davon ausgeht, dass in konkrete sittlich-politische Entscheidungen »moralische und andere Gründe«46 hineinspielen. Solche anderen, transmoralischen Gründe verweisen auf die Notwendigkeit, im ethischen Diskurs immer auch die eigene Identität (die nach evangelischem Verständnis eine verdankte und damit zugleich eine offene, responsive ist) zu verantworten. Dabei schärft die bewusst geübte Praxis der Identitätsrechenschaft zugleich das Bewusstsein dafür, dass auch dort, wo vermeintlich unkontroverse, weil allgemein anerkannte und / oder empirisch fundierte Einsichten herangezogen werden, (krypto-)normative Annahmen in Gestalt von impliziten Menschen- und Gesellschaftsbildern die Argumentation prägen.

Die Erweiterung des Modells des Überlegungsgleichgewichtes um das Element der Hintergrundtheorien (in den beiden beschriebenen Varianten) ist also nicht nur geeignet, den Vorwurf des Intuitionismus oder Konservatismus aufzufangen, sondern erlaubt es auch, die Komplexität ethischer Entscheidungen unter Realbedingungen adäquat abzubilden und führt damit zu einer größeren Transparenz des Rechtfertigungsverfahrens. Um dieses Zusammenbringen bzw. Zusammenwachsenlassen von normativen bzw. evaluativen Orientierungsmustern und deskriptiven Beobachtungen und Theorien auf erster und zweiter Ebene, ohne dass ein Element per se Vorrang vor den anderen genießen würde, zu beschreiben und den entsprechenden Ansatz auch von alternativen Konzeptionen angewandter Ethik – insbesondere den einseitigen Top-down- oder Bottom-up-Modellen – auch sprachlich abzugrenzen, wird im Folgenden der von Ludwig Siep eingeführte Ausdruck konkrete Ethik gewählt.

Ludwig Siep will mit der Kennzeichnung seines Ansatzes als »konkrete Ethik« drei Merkmale hervorheben: Dass die ethische Argumentation die Gestalt eines Prozesses der Konkretisierung annimmt, und zwar der Konkretisierung von Kriterien einer guten Welt, dass sie dabei auf Erfahrung und ihre Gegenstände Bezug nimmt (gemeint ist dabei sowohl Erfahrung im Sinne der Erfahrungswissenschaften, deren Erkenntnisse nach Siep von einer konkreten Ethik nicht ignoriert werden können, als auch Erfahrung im Umgang mit Werten47), und dass sie konkrete Fragen und Probleme in Blick nimmt, wie sie sich in bestimmten gesellschaftlichen Handlungsfeldern stellen.48 Was den Gegenstandsbereich betrifft, deckt sich eine konkrete Ethik nach Siep also mit der angewandten Ethik; in methodischer Hinsicht zeichnet sie sich durch den systematischen Rekurs auf Erfahrung sowie das Bemühen um problemangemessene Konkretisierung von Normen bzw. moralischen Grundbegriffen, die ihrerseits evaluativen Welt- und Menschenbildern entstammen, aus.49 Diese Konkretisierung verfährt holistisch, sofern zwischen den früheren und den späteren Schritten der Argumentation eine Wechselbeziehung besteht;50 Ziel ist ein Reflexionsgleichgewicht »nicht nur zwischen den Teilen und Ebenen der Theorie, sondern auch zwischen ›Prinzip und Erfahrung‹«.51 Gegenüber einem deduktivistischen Verständnis von angewandter Ethik betont Siep, dass es nicht einfach um die Anwendung allgemeiner ethischer Prinzipien gehe;52 gegenüber Nida-Rümelins Konzept der Bereichsethiken besteht er darauf, dass die Ethik »über einen ›Rahmen‹ der Beurteilung verfügen [muss], auch wenn dieser kein unkorrigierbares System von Regeln darstellt«.53 Auch bei Siep kommt die konkrete Ethik mit ihrem Bemühen um ein Reflexions- bzw. Überlegungsgleichgewicht also zwischen Top-down-Ansätzen und Bottom-up-Ansätzen zu stehen,54 und obwohl Siep nicht zwischen engem und weitem Überlegungsgleichgewicht unterscheidet, spielen sowohl empirische Theorien als auch Welt- und Menschenbilder bei ihm eine zentrale Rolle. Unterschiede zu dem hier vertretenen Ansatz ergeben sich vor allem im Blick auf den Begriff der ›guten Welt‹, den damit verbundenen umfassenden (nach Siep zugleich inhaltlichen, methodischen, evaluativen bzw. normativen und ontologischen) Holismus und den von Siep explizit verteidigten moralischen Realismus. Gegenüber Sieps Konzept einer ›Ethik der möglichen guten Welt‹, in die die zwischenmenschliche Moral der wechselseitigen Anerkennung lediglich eingebettet wird,55 besteht der hier vertretene Ansatz – darin stärker Kant folgend – auf dem methodischen und sachlichen Primat der wechselseitigen Anerkennung, der Dialektik von Gutem und Gerechtem und der Differenz zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen, die sich aus der Sonderstellung des Menschen als Verantwortungssubjekt ergibt. Was dies für die ethische Urteilsbildung im Sinne des wide reflective equilibrium bedeutet, wird im Folgenden noch näher zu erörtern sein.

1.3 Menschenwürde und Menschenrechte als Fixpunkte im Überlegungsgleichgewicht

Wie oben dargelegt worden ist, zeichnet sich die Methode des wide reflective equilibrium dadurch aus, dass sie weder wohlüberlegten Urteilen bzw. Intuitionen noch Prinzipien noch Hintergrundtheorien den Status eines Fundamentes einräumt, auf dem alles weitere aufzubauen wäre. Keines der genannten Elemente genießt einen prinzipiellen Vorrang vor den anderen, und keines ist immun gegenüber Kritik und Korrektur. Nach Rawls fungieren die wohlüberlegten Urteile zwar als vorläufige Fixpunkte, können im Verlauf der weiteren Argumentation jedoch auch wieder aufgegeben werden: »Although in order to get started various judgments are viewed as firm enough to be taken provisionally as fixed points, there are no judgments on any level of generality that are in principle immune to revision.«56 Die Pointe dieses kohärentistischen Ansatzes besteht also gerade darin, dass im Zuge der Rechtfertigung prinzipiell alles zur Disposition gestellt werden kann. Was sich als wirksames Antidotum gegenüber dem Konventionalismus der Bottom-up-Ansätze, aber auch des narrow reflective equilibrium erweist, wirft in der Praxis freilich seinerseits Probleme auf. Schon bei der Rechtfertigung einer vollständigen Moralkonzeption, wie sie Rawls vorschwebt, können nämlich angesichts begrenzter Zeit und begrenzter Informationsverarbeitungskapazitäten niemals alle relevanten Aspekte berücksichtigt werden. Selbst wenn es keine Überzeugungen gibt, die a priori immun gegenüber Revisionen sind, müssen daher einige (um nicht zu sagen: die große Mehrheit) »immun gestellt«, d. h. von der Überprüfung ausgenommen werden, wenn das Verfahren überhaupt irgendwelche Ergebnisse zeitigen soll.57

Noch deutlicher tritt dieses Problem hervor, wenn das erklärte Ziel nicht die Rechtfertigung vollständiger Moralkonzeptionen, sondern die Beurteilung von Verhaltensalternativen in einem konkreten moralischen Konfliktfall ist. Je weiter »unten« man von der Methode des wide reflective equilibrium Gebrauch macht, desto stärkerer vorgängiger Festlegungen bedarf es. Man kann nicht jeden Einzelfall zum Anlass nehmen, das Verfahren neu zu eröffnen und alle bis dato als gültig angenommenen Überzeugungen zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Auf dieses Problem ist auch in den Methodendiskussionen zur angewandten Ethik hingewiesen worden: »Although the inclusiveness of WRE initially strikes us as a major advantage over foundationalist theories, it is also a source of pragmatic concerns about the method’s practicability. […] Once we transcend narrow RE to encompass standard moral theories and their philosophical justifications – not to mention all those other background moral, political, and empirical theories – the ordinary working stiff bioethicist is likely to find WRE to be a hopelessly cumbersome method of moral justification«, heißt es treffend in einem Überblicksartikel über die Verwendung des WRE im Kontext der Bioethik.58 Um sich im Rahmen einer konkreten Ethik als brauchbares methodisches Instrumentarium zu erweisen, bedarf das formale Kriterium der Kohärenz daher der Ergänzung durch inhaltliche Kriterien, die auch im Prozess des wechselseitigen Abgleichens von moralischen Urteilen bzw. Intuitionen, Prinzipien und Hintergrundtheorien nicht zur Disposition stehen. Für diese wird nicht etwa – das ist der entscheidende Unterschied zu einem rechtfertigungstheoretischen Fundamentismus – theoretische Unhintergehbarkeit im Sinne der Selbstevidenz oder der logischen bzw. pragmatischen Nichtnegierbarkeit in Anspruch genommen, sondern lediglich praktische Unhintergehbarkeit im Kontext einer bestimmten historisch-kulturellen Diskussionslage. Im Sinne einer solchen praktischen Unhintergehbarkeit sind nach dem hier vertretenen Ansatz alle konkreten Handlungsentscheidungen an der Menschenwürde bzw. den Menschenrechten als (zumindest auf dieser Ebene) absolutem Fixpunkt konkret-ethischer Entscheidungsfindung zu bewähren .59

Das Ethos von Menschenwürde und Menschenrechten 60 hat in philosophischen Theoriedebatten seit Renaissance und Aufklärung vielfache Begründungen gefunden; es hat sich vor allem gegenüber massivem Unrecht praktisch und politisch ins kulturelle Gedächtnis der Menschheit eingegraben.61 Auch von religiösen Traditionen wie der biblisch-jüdisch-christlichen mit ihrer Überzeugung, in jedem Menschen einfach als Mensch, unabhängig von irgendwelchen Eigenschaften, ein Ebenbild Gottes sehen zu dürfen, wird es unterstützt.62 Angesichts dieser vielfältigen, philosophischen, religiösen, theologischen, kulturellen, politischen und protestkommunikativen Rekonstruierbarkeit kann und soll dieser Kern von Moral und Ethik hier ohne weitere Begründung vorausgesetzt werden. Inhaltlich geht es bei der Rede von Menschenwürde und Menschenrechten darum, diejenige fundamentale Anerkennung zu indizieren, die sich Menschen unter allen Umständen wechselseitig schulden.63 Mit Hannah Arendt kann man in diesem Zusammenhang auch von einem »Recht, Rechte zu haben«64 sprechen, mit Avishai Margalit von einem Demütigungsverbot65 oder mit Günter Dürig davon, dass der konkrete Mensch nicht »zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt« werden dürfe.66 In jedem Fall schließt die Anerkennung der Menschenwürde die Gewährung des Rechtes auf gleiche Freiheit ein,67 wobei Freiheit angesichts der konstitutiven Verletzbarkeit und Bedürftigkeit des Menschen nicht nur negativ aufgefasst werden darf, sondern positiv konturiert werden muss. Menschenrechte sind daher auch nicht nur als Abwehr-, sondern ebenso als Anspruchsrechte zu verstehen, die die notwendigen Bedingungen eines guten Lebens garantieren. Dass die inhaltliche Füllung dieser Begriffe im Einzelnen durchaus strittig sein kann, versteht sich von selbst. Wenn hier von Menschenwürde und Menschenrechten als Fixpunkten im Überlegungsgleichgewicht die Rede ist, dann ist dies daher auch nicht als Plädoyer für eine neue Form von Deduktivismus (so als sei die Menschenwürde ein Prinzip, aus dem sich alles Weitere von selbst ergebe) zu verstehen. Was aus der Orientierung an Menschenwürde, wechselseitiger Anerkennung und gleicher Freiheit für konkrete sozialethische Fragen folgt, kann seinerseits nicht ohne Rekurs auf wohlüberlegte moralische Urteile bzw. Intuitionen und Hintergrundtheorien erörtert werden. Wie eine solche sozialethische Konkretisierung des Menschenrechtsethos aussehen kann, wird im weiteren Verlauf dieses Buches am Beispiel des Konzeptes der Befähigungsgerechtigkeit zu zeigen sein.

Ehe die Auseinandersetzung mit inhaltlichen Fragen aufgenommen werden kann, sind jedoch noch weitergehende methodologische Reflexionen notwendig. Mit den vorangegangenen Ausführungen ist der hier vertretene Ansatz einer konkreten Ethik zwar hinreichend innerhalb der gegenwärtigen Theoriedebatten zur angewandten Ethik verortet worden. Wenn sich eine konkrete Ethik an der öffentlichen Debatte um die Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen beteiligen, also dezidiert als Sozialethik fungieren will, muss sie sich jedoch über den innerethischen Methodendiskurs hinaus für Einsichten der Gesellschaftstheorie, aber auch für Fragen und Themen der politischen Philosophie öffnen. 68 Aus den beiden zentralen Merkmalen der modernen Gesellschaft, funktionaler Differenzierung und semantischem Pluralismus, ergeben sich nämlich spezifische Herausforderungen für die Sozialethik im Allgemeinen und eine theologische Sozialethik im Besonderen. Im folgenden Abschnitt soll daher zunächst die Auseinandersetzung mit der wichtigsten Theorie funktionaler Differenzierung – der Luhmann’schen Systemtheorie – gesucht werden. In Abschnitt 3 wird dann die vor allem innerhalb der politischen Philosophie diskutierte Frage nach der Rolle von Religionen im öffentlichen Diskurs einer semantisch pluralen Gesellschaft im Vordergrund stehen.

2. Sozialethik in der funktional differenzierten Gesellschaft

2.1 Zur Unterscheidung von Sozial- und Personalethik

Wer die im Zentrum dieses Buches stehende Frage nach sozialer Gerechtigkeit aufwirft, befasst sich mit einem Thema, das eindeutig in den Bereich der Sozialethik fällt. Innerhalb der Methodendebatten der angewandten Ethik, als deren Paradigma vielfach die biomedizinische Ethik betrachtet wird, spielt der Unterschied zwischen Personalethik69 und Sozialethik jedoch kaum eine Rolle. Dies ist insofern unbefriedigend, als die Bearbeitung personal- und sozialethischer Fragestellungen jeweils ein unterschiedliches methodisches Instrumentarium erfordert. Zwar spielen sich – das ist der bleibende Wahrheitsgehalt der These, dass jede Ethik als Sozialethik verstanden werden könnte70 – auch personale Interaktionen immer in einem gesellschaftlichen Raum ab. Fragestellungen der traditionellen Personalethik sind insofern grundsätzlich und von vornherein durch geschichtlich gewachsene und sozial vermittelte Diskurs- und Denkformationen geprägt. Auch die in den Zeiten elektronischer Kommunikation gerne als authentische Alternative beschworenen face-to-face-Beziehungen sind nicht rein oder unmittelbar, ihre moralische Bewertung ist daher nicht ohne Rücksicht auf die »gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit«71 denkbar. Dennoch ist es sinnvoll, makro- von mikrosozialethischen bzw. – in der traditionellen Terminologie – sozialethische von personalethischen Fragestellungen zu unterscheiden. Personalethische Reflexionen konzentrieren sich dann trotz des nicht zu leugnenden gesellschaftlichen Settings auf die Normierungen und Bewertungen interpersoneller Interaktionen, während Sozialethik die strukturellen und organisationellen Rahmenbedingungen menschlichen Handelns und Entscheidens untersucht. In der Personalethik stehen – um im Vorgriff auf das Folgende bereits von systemtheoretischer Terminologie Gebrauch zu machen – die Kommunikationen (als Oberbegriff von Handlung und Sprache) psychischer, resp. leiblicher 72 Systeme im Mittelpunkt des Interesses, Sozialethik ist dagegen auf soziale Systeme und Organisationsstrukturen ausgerichtet. Da die Kommunikationen leiblicher und sozialer Systeme trotz wechselseitiger Kopplungen nicht aufeinander reduzierbar sind, erfordern letztere eine eigenständige Analyseperspektive.

Eine Sozialethik, die anwendungsorientiert sein will, hat jedoch nicht nur die Differenz zwischen Personal- und Sozialethik zu berücksichtigen, indem sie sich auf die strukturellen und organisationellen Rahmenbedingungen menschlichen Handelns konzentriert, sondern hat auch die beiden Spezifika moderner Gesellschaften – funktionale Differenzierung und semantischen Pluralismus – zu beachten. Während der Pluralismus der Semantiken, i. e. der unterschiedlichen Ausdrucksformen und Deutungsmuster, auch die Personalethik entscheidend prägt oder zumindest prägen sollte (und in seinen Konsequenzen speziell für eine theologische Ethik in Abschnitt 3 noch näher zu erörtern sein wird), stellt die bereits von Talcott Parsons beschriebene und dann vor allem von Niklas Luhmann theoretisch reflektierte funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft die Sozialethik vor originäre Herausforderungen. Denn die Autonomie der Funktionssysteme, die als operativ geschlossene ihrer je eigenen Funktionslogik folgen und externe Einflüsse lediglich als Rauschen verbuchen, scheint für eine um Regulierung und Steuerung bemühte Ethik bzw. Moral keinen Platz zu lassen.73 Dass Luhmann selbst sich über die Möglichkeiten der Ethik in der modernen Gesellschaft ausgesprochen skeptisch geäußert hat, mag zusätzlich zu der Annahme verleiten, dass die Systemtheorie bzw. die systemtheoretische Beschreibung der Gesellschaft mit einer sozialethischen Beobachtung derselben inkompatibel sei. Wie sich eine konkrete Sozialethik auf die empirischen Realitäten der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme so einlassen kann, dass sie weder bloß abstrakt dekretiert noch vor der Normativität des Faktischen kapituliert, soll im Folgenden in kritischer Auseinandersetzung mit Luhmann erörtert werden.

2.2 Moral und Ethik in der fu n ktional differenzierten Gesellschaft – systemtheoretische Perspektiven

2.2.1 Die funktional differenzierte Gesellschaft

Die Übertragung der allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme auf soziale Systeme, wie Luhmann sie in seinen beiden Hauptwerken Soziale Systeme und Die Gesellschaft der Gesellschaft vornimmt, impliziert einen Bruch mit zentralen Annahmen und Themen der differenzierungstheoretischen Tradition. Während für Durkheim und Parsons die Frage nach dem Verhältnis von Differenzierung und Integration, also die Frage, was die arbeitsteilige (Durkheim) bzw. in Funktionssysteme ausdifferenzierte (Parsons) Gesellschaft zusammenhält, im Vordergrund stand,74 geht Luhmann davon aus, dass die Gesellschaft einer solchen gegenläufig zur Differenzierung wirkenden Integration weder fähig noch bedürftig ist. 75 Indem sich die einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme – Recht, Politik, Wirtschaft, Religion, Erziehung, Wissenschaft etc. – exklusiv auf eine bestimmte Funktion spezialisieren und einen entsprechenden binären Code ausbilden, konstituieren sie sich als autopoietische Systeme, die in ihren Operationen immer nur auf sich selbst, d. h. auf vorangegangene Operationen rekurrieren.76 Jedes Funktionssystem operiert damit nach seiner eigenen Logik, ohne sich durch die Logik anderer Systeme, die vom jeweiligen System aus als Umwelt erscheinen, bestimmen zu lassen. Eine Kommunikation zwischen System und Umwelt folgt einem asymmetrischen Komplexitätsgefälle: Die Umwelt, die für das jeweilige System und seine Codierung77 kommunikativ nicht zugänglich ist, kann zwar die jeweilige Systemlogik stören. Dieses systemexterne Rauschen muss allerdings das entsprechende System systemimmanent durch die Beobachtung von Beobachtern, die es selbst beobachten, und mit den je eigenen zur Verfügung stehenden, mit Hilfe solcher Metabeobachtungen entwickelten Programmen, die dennoch dem jeweiligen systemischen Code gehorchen, verarbeiten. Solche systeminternen Reaktionen auf Umweltstörungen, die zugleich funktional an die Stelle der von Durkheim und Parsons vorgeschlagenen Integrationsmechanismen treten, nennt Luhmann im Anschluss an H. R. Maturana und F. J. Varela »strukturelle Kopplungen«. 78

Wie komplex solche strukturellen Kopplungen gesamtgesellschaftlich betrachtet sind, weil unterschiedliche Teilsysteme und deren Kommunikationen an einem Sachverhalt je unterschiedlich beteiligt sind, zeigt das folgende kleine Beispiel: Angenommen, ein Pharmaunternehmen muss nach medial inszeniertem Protest durch eine Umwelt-NGO und nach entsprechender Gesetzesänderung höhere Sicherheitsstandards für seine Produktionsstätten erfüllen. Dadurch steigen seine Betriebskosten. Diese einfache Situation lässt sich systemtheoretisch unter Berücksichtigung der Idee struktureller Kopplungen verschiedener systemischer Rationalitätsformen wie folgt reformulieren: Die Industrie muss in betriebswirtschaftliche Bilanzen den Faktor Umwelt eintragen, wenn es der ökologischen Protestkommunikation unter Benutzung der Massenmedien und unter Hinweis auf wissenschaftliche Beobachtung ökologischer Veränderungen und unter moralischer Pression gelungen ist, auf das politische System derart einzuwirken, dass dieses ein Gesetz oder Verordnungen verabschiedet, die den Ordnungsrahmen einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft festlegen. Der nur scheinbar identische Sachverhalt wird also einmal ökonomisch nach der Codierung ›zahlen / nicht zahlen‹, einmal protestfunktional nach der Codierung ›besorgt sein / nicht besorgt sein‹, einmal massenmedial nach der Codierung ›Aufmerksamkeit / Nichtaufmerksamkeit‹, dann wissenschaftlich nach der Codierung ›wahr / falsch‹, schließlich moralisch nach der Codierung ›gut / schlecht‹, aber auch politisch nach dem Kalkül ›Macht haben / keine Macht haben‹, fernerhin rechtlich nach der Codierung ›recht / unrecht‹ bearbeitet. Eine Organisation der Ökonomie, also ein Unternehmen, muss schließlich eine der Systemlogik des Teilsystems Wirtschaft adäquate Operationsweise finden, die gestiegenen Kosten, sei es über erhöhte Preise, sei es über Rationalisierungen wie downsizing oder outsourcing oder Produktinnovation, aufzufangen. Als eine der Systemlogik der Wirtschaft unterworfene Organisation kann das Unternehmen nicht einfach das Gesetz, das ein rechtliches Programm ist, abschaffen oder es nicht befolgen – es sei denn, es riskiert den Rechtsbruch und den damit oftmals einhergehenden Imageschaden, der sich wieder vielfach negativ in den Bilanzen spiegelt.79

Die Komplexität der modernen Gesellschaft besteht also darin, dass jedes Teilsystem für die ganze Gesellschaft mit seinen durch die anderen Systeme nicht substituierbaren Funktionen agiert oder bestimmte Leistungen für einzelne andere Systeme nach je eigenem Code, mit je eigenem Programm, eigenem symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium, eigener Kontingenzformel, eigenen Organisationen, eigener Symbiosis für die ganze Gesellschaft bereitstellt.80 Wegen dieser Nichtsubstituierbarkeit eines gesellschaftlichen Systems durch ein anderes81 spricht Luhmann von der jeweiligen operativen Geschlossenheit autopoietischer Systeme.82 D. h. aber auch: Weil eine letzte Integrationsebene fehlt,83 kommt es zu ganz unterschiedlichen lateralen System- /Umwelt-Interdependenzen, die wiederum die Variabilität, aber auch die Unwahrscheinlichkeit erfolgreicher Kommunikationen erhöhen.84 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind – wie es Luhmann ausdrückt  – evolutive Errungenschaften 85 , die solcher Erfolgsunwahrscheinlichkeit von Kommunikation in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft entgegensteuern, indem sie Komplexität auf die (in dem jeweiligen Teilsystem) funktional wichtige Form reduzieren. Zur Beschreibung dieser nie vollständig beobachtbaren Komplexität spricht Luhmann im Anschluss an Gotthart Günther von »Polykontexturalität«.86

2.2.2 Moralische Kommunikation und die Rolle der Ethik

Welche Rolle kann Moral in der »Polykontexturalität« einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft noch spielen? Wie die vorangegangenen Ausführungen bereits deutlich gemacht haben sollten, kann sie jedenfalls nicht mehr die strukturelle oder funktionale Integrationsleistung ausüben, die sie ihrem Selbstanspruch nach in der Semantik Alteuropas besaß .87 Bei oberflächlicher Lektüre mag man sogar den Eindruck gewinnen, dass Moral für Luhmann lediglich ein Residuum älterer Gesellschaftsformationen darstellt, auf das die moderne Gesellschaft ohne Verlust verzichten kann. Zu beißend ist der Spott, den er über diejenigen ergießt, die angesichts sozialer Pathologien ihre Hoffnung auf Moral oder gar auf Ethik – Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von einer angeblich »mit geradezu astrologischer Regelmäßigkeit« gegen Ende jedes Jahrhunderts zu beobachtenden »Ethikwelle«88 – setzen. Die bisweilen reichlich abschätzigen Bemerkungen (»inhaltsleerer Distanziermechanismus«, »akademische Naivitäten«89) sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Moral und Ethik auch nach Luhmann keinesfalls obsolet sind. Allerdings schränkt er deren Aufgabenbereich in einer Weise ein, die von der Ethik selbst nicht unwidersprochen hingenommen werden kann und auch von Luhmanns eigenen Prämissen her keinesfalls zwingend erscheint.

Moral wird im Rahmen des Luhmann’schen Kommunikationsparadigmas als »eine besondere Art von Kommunikation« definiert, »die Hinweise auf Achtung und Missachtung mitführt« .90 Dies geschieht entweder direkt, »durch Lob oder Tadel«, oder indirekt, »durch Hinweis auf Bedingungen, die regeln, welche Ansichten und welche Handlungen Achtung oder Missachtung verdienen«,91 also gut oder schlecht sind .92 Entscheidend ist dabei, dass die jeweiligen Bedingungen symmetrisch gelten, also für Ego und Alter dieselben sind; wer moralisch kommuniziert, bindet folglich nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst. 93 Komplexe, arbeitsteilige Gesellschaften operieren deshalb typischerweise mit einer Unterscheidung zwischen (fachlichem oder sonstigem) Respekt, der sich auf spezielle Leistungen bezieht, und Achtung, die sich auf die Person als ganze und ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft bezieht. 94 Während die Bedingungen für die Zuerkennung von Respekt durchaus asymmetrisch angelegt sein können (nicht jeder muss Spezialist für alles sein), lässt die Moral keine Asymmetrisierungen zu.95 Ob ein bestimmtes Verhalten Achtung oder Missachtung verdient, hängt nicht davon ab, wer es ist, der sich so verhält. Moralische Kommunikation ist daher prinzipiell geeignet, »die existentielle Differenz von Ego und Alter zu überbrücken« 96; sie »vollzieht gesellschaftliche Inklusion, indem sie die Kommunikation so einrichtet, dass Bedingungen der Übereinstimmung symbolisiert und in der Kommunikation signalisiert werden können«97 – oder versucht dies zumindest. Kennzeichnend für die moderne Gesellschaft ist nämlich, dass über die Programme, die regeln, welches Verhalten positiv bzw. negativ zu beurteilen ist, keine Einigkeit mehr besteht. Der Code ›gut / schlecht‹ wird nach wie vor benutzt, aber er läuft – so Luhmann »gleichsam leer. Es fehlt Konsens über die Kriterien, nach denen die Werte gut bzw. schlecht zuzuteilen sind.«98 Moralisiert wird also nach wie vor, aber gleichsam unkontrolliert. 99 Weil die Moral eine »gesellschaftsweit zirkulierende Kommunikationsweise« ist, also kein eigenes Teilsystem ausbildet, sondern dazu neigt, sich parasitär in andere Kommunikationen einzuspielen, können die Folgen dieses blinden Moralisierens dramatisch sein. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass es bei moralischer Kommunikation um Achtung oder Missachtung der ganzen Person geht. Statt integrativ zu wirken, nimmt die Moral nach Luhmann daher »polemogene Züge an: sie entsteht aus Konflikten und feuert Konflikte an.« 100

Welche Bedeutung kommt angesichts der skizzierten Inflationierung der Moral der Ethik zu? Bekannt ist vor allem Luhmanns viel zitierte These, dass die vordringlichste Aufgabe der Ethik darin bestehe, »vor Moral zu warnen«. 101 Tatsächlich plädiert Luhmann wiederholt für eine kritische Distanz der Ethik gegenüber der Moral. Anders als eine oberflächliche Lektüre suggerieren könnte, will er die normative Ethik jedoch keineswegs abschaffen oder eine Soziologie der Moral an ihre Stelle setzen.102 So lange es moralische Kommunikation gibt, bedarf es auch einer Ethik, die dazu Stellung nimmt.103 Die Unverzichtbarkeit der Ethik ergibt sich also aus der faktischen Existenz der Moral. Auf deren Auswirkungen hat sie zu reflektieren104 – analog zu den Reflexionstheorien, die von den anderen Funktionssystemen ausgebildet worden sind. 105 Angesichts der Komplexität der modernen Gesellschaft ist sie dabei auf die Kooperation mit anderen Disziplinen – nicht zuletzt der Soziologie – angewiesen; sie hat »die Strukturen des Gesellschaftssystems mit[zu]reflektier[en], wenn sie der Moral ein Gütezeugnis oder auch nur eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstellt.«106 Ihre spezifische Aufgabe besteht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

1. Auflage

Copyright © 2012 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlagmotiv: Robert Delaunay, »Lebensfreude«, Öl auf Leinwand (1930), Centre Pompidou, Paris; © der Vorlage: bpk | CNAC-MNAM | Philippe Migeat Satz: SatzWeise, Föhren

eISBN 978-3-641-10042-1

www.gtvh.de

www.randomhouse.de

Leseprobe

1

Vgl. OECD 2011, 67.

2

Vgl. Pickett, Wilkinson 2010.

3

Hessel 2011a.

4

So jedenfalls die These von Klaus Hurrelmann; vgl. Kerstan, Schenk 2011.

5

Vgl. Buffett 2011 sowie die daran anschließende Diskussion in der Zeit und anderen deutschen Zeitungen.

6

Rawls 1975, 21.

7

Vgl. EKD, DBK 1997, 45f. (Ziff. 105-107).

8

Huber 1996 (die überarbeitete Auflage von 2006 enthält im Blick auf die Rezeption des philosophischen Gerechtigkeitsdiskurses keine relevanten Änderungen); Bedford-Strohm 1993.

9

EKD 2006, 43 (Ziff. 61).

10

Da sich bisher noch keine stilistisch überzeugende Alternative zur Verwendung des generischen Maskulinums durchgesetzt hat, wird auch in der vorliegenden Studie immer wieder von dieser Form Gebrauch gemacht. Dabei handelt es sich um einen Kompromiss zwischen dem Anliegen, die Gleichberechtigung der Geschlechter auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen, und dem Anliegen, den Text lesbar und übersichtlich zu halten, der zwar unbefriedigend, bis auf weiteres jedoch unvermeidlich ist.

11

Bundesregierung 2005 und 2009.

12

Siehe http://www.diakonie.de/armut-2220.htm; http://www.caritas.de/34809.html.

13

Siehe EKD 2006 und 2009a.

14

Vgl. zur Geschichte der evangelischen Sozialethik Hebblethwaite 2000; Nethöfel, Dabrock, Keil 2009, Teil III (mit Schwerpunkt auf dem sozialethischen Seminar der Universität Marburg).

15

Die Frage nach der angemessenen Bezeichnung derjenigen ethischen Teildisziplin, die sich mit konkreten moralischen Problemen befasst, ist von Anfang an kontrovers diskutiert worden; vgl. Bayertz 1991b; Düwell 2001; Engels 1999 sowie von theologischer Seite Honecker 1999 und Körtner 2008, 62-64. Obwohl sich die meisten Autoren einig sind, dass der Ausdruck ›angewandte Ethik‹ irreführend ist, weil er eine mehr oder weniger mechanische Anwendung fixer Prinzipien auf Einzelfälle suggeriert (vgl. Daniels 1996g, 344: »Nearly all disputants agree that the term ›applied ethics‹ is terribly misleading«), hat sich bislang keine der vorgeschlagenen Alternativen auf breiter Front durchsetzen können.

16

Zum Profil angewandter Ethik vgl. u. a. Bayertz 2004; Bayertz 2008; Düwell 2001; Kettner 2000b; Knoepffler 2006; Nida-Rümelin 2005b sowie die entsprechenden Kapitel in Fenner 2010; Knoepffler 2010; Vieth 2006; aus dezidiert theologischer Perspektive Fischer u. a. 2007, Lektion 4 sowie Mathwig 2000.

17

So der Untertitel eines Buches von Johann Ach und Christa Runtenberg, das seinerseits aus dem DFG-Projekt »Zur Selbst aufklärung der Bioethik« an der Universität Münster hervorgegangen ist (Ach, Runtenberg 2002; vgl. auch Bayertz 1999).

18

Vgl. zusammenfassend Ach, Runtenberg 2002, Kap. V; Düwell, Steigleder 2003b, 26-28. Während die Vorbehalte gegenüber der Bioethik in der Anfangsphase teilweise auf Missverständnissen, vor allem auf einer Gleichsetzung der Bioethik mit einer utilitaristischen Ethik der Nutzenmaximierung beruhten, die inzwischen als ausgeräumt gelten dürfen, hat sich eine spezielle Linie der Bioethik-Kritik, die sich auf Foucaults Konzept der Biomacht bzw. der Biopolitik beruft, nicht nur bis in die Gegenwart gehalten, sondern trifft im Bereich der Sozial- und Politikwissenschaften sogar auf zunehmende Resonanz; vgl. dazu Braun 2000; Gehring 2006; Gehring 2010; Lemke 2007.

19

In Anlehnung an Beauchamp, Childress 2009, 369-387; vgl. auch (mit teilweise etwas abweichender Terminologie) Ach, Runtenberg 2002, 110-137; Bayertz 2008, 169-176; Daniels 1996g; Fenner 2010, 15-36; Knoepffler 2010, 50-57. Typologien stehen immer in der Gefahr, zu Stereotypen zu verkommen. Um diese Gefahr wissend soll es hier nur darum gehen, Schneisen in den dichten und oft unübersichtlichen Wald von Theoriemodellen angewandter Ethik zu schlagen. Es versteht sich deshalb nahezu von selbst, dass kein Autor ungeprüft einem Modell in toto zugeordnet werden darf. Dies gilt umso mehr, als sich die meisten Autoren mittlerweile selbst dem Vermittlungsansatz des reflective equilibrium zuordnen, also von reinen Top-down-Ansätzen oder Bottom-up-Ansätzen distanzieren, so dass die Differenzen sich oft auf unterschiedliche Gewichtungen der einzelnen Komponenten innerhalb des reflective equilibrium reduzieren.

20

Vgl. Ach, Runtenberg 2002, 113 ff.; Bayertz 2008, 175.

21

Vgl. Beauchamp, Childress 1994, 15; Bayertz 1991b, 10-13.

22

Streng deduktivistische Ansätze tendieren dazu, alle singulären Urteile und Regeln mittlerer Reichweite auf ein einziges Moralprinzip zurückzuführen. Als Beispiele für solche Ein-Prinzipien-Ansätze in der Bioethik können der Präferenzutilitarismus von R. M. Hare (Hare 1996) und Peter Singer (Singer 1994) sowie der vor allem von Deryck Beyleveld für bioethische Fragen fruchtbar gemachte Ansatz von Alan Gewirth (Beyleveld, Brownsword 2001) gelten, während der sog. principlism von Beauchamp und Childress gerade nicht als reiner top down approach zu klassifizieren ist, sondern – wie die beiden Autoren selbst zunehmend deutlich gemacht haben – eine Mischform darstellt. Zum Verhältnis von Ein-Prinzipien-Ansätzen und Mehr-Prinzipien-Ansätzen in der angewandten Ethik allgemein vgl. Düwell 2006.

23

Vgl. dazu auch Bayertz 1991b, 12, der treffend von einem »drastischen Relevanzgefälle« zwischen den einzelnen Ebenen spricht.

24

Vgl. Bayertz 1991b, 30 ff.; Thielemann 2000, 350.

25

Vgl. Ach, Runtenberg 2002, 113 ff.; Bayertz 2008, 175.

26

Vgl. zur narrativen Ethik Lesch 2003 und Lesch 2011; zur Kasuistik Steigleder 2003.

27

Vgl. besonders Foucault 1991.

28

Vgl. Ach, Runtenberg 2002, 113 ff.; Bayertz 2008, 175. – Streng genommen handelt es sich bei Reflective-Equilibrium-Ansätzen um einen bestimmten, von John Rawls entwickelten Typ von Kohärentismus, der prinzipiell mit anderen Typen kontrastiert werden kann. Da die Besonderheiten des Rawls’schen Ansatzes in der Debatte um das Reflective-Equilibrium-Modell kaum noch eine Rolle spielen, fällt diese Qualifikation in der Praxis jedoch nicht ins Gewicht. Im Folgenden werden die Ausdrücke ›Reflective-Equilibrium-Modell‹ und ›Kohärentismus‹ daher im Wesentlichen gleichbedeutend verwendet.

29

Rawls spricht in der Theorie der Gerechtigkeit in der Regel von wohlüberlegten Urteilen; andere Autoren (z. B. Fischer 2002, 239-251) bevorzugen den Ausdruck ›Intuition‹. Nach meiner Auffassung können je nach Situation sowohl reflexive, aber vortheoretische moralische Auffassungen als auch bedingt reflexive moralische Affekte auf die moralische Urteilsbildung Einfluss nehmen. Um dies zu signalisieren, wird im Folgenden durchgängig von »wohlüberlegten moralischen Urteilen bzw. Intuitionen« gesprochen.

30

Gegenüber allzu starken Begründungsansprüchen metaphysischer oder transzendentaler Reflexionen reicht es aus, unter moralischen Prinzipien prädeliberative, d. h. weithin auf Einverständnis setzen könnende, auf die Gesamtheit einer Situation zielende Prüfmechanismen moralischer oder sittlicher Verhaltensstandards zu verstehen. Entwickelt sind sie in der Regel nicht gegen lebensweltliche Normstandards, sondern aus ihnen heraus. Diese heuristisch bedeutsame Funktion bringt unprätentiös Dewey auf den Punkt: »A moral principle […] gives the agent a basis for looking at and examining a particular question that comes up. It holds before him possible aspects of the act; it warns him against taking a short or partial view on the act. It economizes his thinking by supplying him with the main heads by reference to which to consider the bearings of his desires and purposes; it guides him in his thinking by suggesting to him the important considerations for which he should be on the lookout. A moral principle, then, is not a command to act or forbear acting in a given way: it is a tool for analyzing a special situation in its entirety, and not by the rule as such.« (Dewey 1996, 141)

31

Vgl. Rawls 1975, 34-39.68-71. – Auf die Frage nach den konstitutiven Grenzen aller Kohärenzbemühungen und dem kohärenztheoretischen Umgang damit wird in Kap. II, Abschnitt 2 am Beispiel des sozialethischen Zentralbegriffs der Gerechtigkeit noch näher einzugehen sein.

32

Von »reflective equilibrium« [Hervorhebung PD] spricht Rawls, um deutlich zu machen, dass dieses Passungsverhältnis nicht zufällig zustande gekommen ist, sondern das Resultat eines bewussten Reflexionsprozesses darstellt (vgl. Rawls 1975, 38).

33

Vgl. speziell für die Bioethik Arras 2007 und Arras 2010.

34

Vgl. dazu Arras 2007 und 2010. – Vorbereitet worden ist die medizinethische Rezeption des RE-Modells sicherlich durch Norman Daniels’ theoretische Arbeiten zum Überlegungsgleichgewicht (Daniels 1996b; 1996c; 1996d; 1996e; 1996f; 1996g; vgl. zusammenfassend auch Daniels 2011) sowie seine Anwendung des RE-Verfahrens im Kontext gesundheitsethischer Fragestellungen (Daniels 1985). Eine eigenständige Linie der Rezeption des RE-Modells innerhalb der angewandten Ethik findet sich bei Robert Heeger und seinen Schülerinnen und Schülern; vgl. van Willigenburg, Heeger 1991; Heeger 1992; Heeger 1997 sowie den Heeger gewidmeten Sammelband Reflective Equilibrium (van der Burg, van Willigenburg 1998). Zur theologischen Rezeption und Kritik vgl. Fischer 2002, 239-251.

35

Vgl. Ach, Runtenberg 2002, 137 sowie den programmatischen Titel von John Arras’ Beitrag zum Oxford Handbook of Bioethics (Arras 2007), »The Way We Reason Now: Reflective Equilibrium in Bioethics«.

36

Zur Diskussion von Beauchamps und Childress’ Rezeption des Reflective-Equilibrium -Modells vgl. auch Charbonnier 2005; Clausen 2005.

37

Vgl. Daniels 1996b; 1996c; 1996d. – Rawls unterscheidet in Gerechtigkeit als Fairness. Eine Neuauflage ebenfalls zwischen einem engen und einem weiten Überlegungsgleichgewicht, verwendet die Begriffe jedoch etwas anders als Daniels (Rawls 2003, 61 f. und Rawls 1974/75, 8, wo die Unterscheidung zum ersten Mal auftaucht). Auf mögliche sachliche Differenzen zwischen Rawls und Daniels kann hier nicht weiter eingegangen werden. Wenn im Folgenden von einem wide reflective equilibrium die Rede ist, wird dieser Ausdruck jedenfalls im Anschluss an Daniels verwendet, i. e. zur Kennzeichnung eines um Hintergrundtheorien erweiterten Überlegungsgleichgewichtes.

38

Daniels 1996d, 48.

39

Daniels 1996b, 6.

40

Vgl. Daniels 1996c, 21. – Den Vorwurf des Intuitionismus hatte vor allem R. M. Hare gegen Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit erhoben; vgl. Hare 1973.

41

Vgl. zu den beiden Rawls’schen Gerechtigkeitsprinzipien ausführlicher Kap. III, Abschnitt 1.1

42

Daniels 1996c, 22.

43

In der Theorie der Gerechtigkeit wirken diese Annahmen über die Konkretisierung des Urzustandes bzw. des »Vertragsapparates« auf das Rechtfertigungsverfahren ein; vgl. Daniels 1996d.

44

Auf die Möglichkeit radikaler Korrekturen an den ursprünglichen Gerechtigkeitsvorstellungen einer Person weist auch Rawls hin; vgl. Rawls 1975, 69.

45

Nida-Rümelin 2005b, 63.

46

Fischer 1998.

47

Vgl. Siep 2004, 9.

48

Vgl. a.a.O., 20.

49

Vgl. a. a. O., 9 u. 24.

50

Vgl. a. a. O., 24.

51

A. a. O., 25.

52

Vgl. a. a.O., 20.

53

A. a. O., 23.

54

Vgl. dazu auch Knoepffler 2010, 53 ff.

55

Vgl. Siep 2004, 98 f.

56

Rawls 1974/75, 8.

57

Das schließt natürlich nicht aus, auch solche »immun gestellten« Überzeugungen erneut der Überprüfung auszusetzen, wenn sie ernsthaft in Frage gestellt werden.

58

Arras 2007, 55f.

59

Über den durch Menschenwürde und Menschenrechte markierten Kernbestand normativer Orientierungsmuster hinaus, der als praktisch unhintergehbar dem Verfahren der wechselseitigen Korrektur und Kritik von wohlüberlegten moralischen Urteilen, Prinzipien und Hintergrundtheorien entzogen ist, bedarf es vielfältiger Regeln der Beweislastverteilung, um die Methode des weiten Überlegungsgleichgewichtes in der Praxis handhabbar zu machen. In den folgenden Kapiteln wird die Frage, welche Position in einem konkret-ethischen Konfliktfall die Beweislast zu tragen hat, deswegen immer wieder eine zentrale Rolle spielen.

60

Es kommt dabei nicht darauf an, ob man nun den Terminus ›Menschenwürde‹ als Summar der Menschenrechte begreift oder nicht. Auch ist nicht entscheidend, dass man mit ›Menschenrechten‹ genau den Inhalt der Menschenrechtserklärung von 1948 oder die beiden Menschenrechtspakte der 1960er Jahre meint. Gerade die Geschichte von Menschenwürde und Menschenrechten hat ja schon bisher gezeigt, dass diese Ideen immer wieder – eben meistens angestoßen durch die Wahrnehmung und Verarbeitung weiteren massiven Unrechts – fortgeschrieben worden sind. Warum soll man ähnliches nicht auch für die Zukunft erwarten?

61

Dies gilt keineswegs nur für die so genannte westliche Hemisphäre. Versuche, die Menschenrechte als westliche Idee oder gar als eine Form von Imperialismus zu diskreditieren, können daher nicht überzeugen. Abgesehen davon, dass (zumindest formell) ein Großteil der Völker dieser Welt entsprechende völkerrechtliche Pakte unterzeichnet hat, besteht im Sinne der oben hervorgehobenen Revisionsoffenheit im Übrigen auch die Möglichkeit, Einsichten aus anderen Kulturkreisen in den Menschenrechtskreis hineinzunehmen. Die Debatten um kulturelle oder ökologische Menschenrechte scheinen ja von solchen nichtwestlichen Anregungen inspiriert zu sein. Als entscheidend bei diesen noch offenen Diskussionen muss sich der Grundgedanke erweisen, mit den Ideen und Konzepten von Menschenwürde, Menschenrechten und fundamentaler wechselseitiger Anerkennung, die alle auf der Schwelle von Moral und Recht situiert sind, ein Instrumentarium an der Hand zu haben, mit welchem Menschen als Einzelne und als Kollektive, in denen der einzelne als einzelner zählt, so zu schützen und zu achten sind, dass sie ein Leben führen können, welches sich menschlich zu leben lohnt. Dass man hier – wie zuvor erwähnt – aus einer zirkulären Argumentation nicht herauskommt, spricht dafür, dass man fundamentale Anerkennung, Menschenwürde und Menschenrechte eben nicht nochmals tiefer begründen kann

62

Vgl. dazu aus evangelisch-theologischer Perspektive u. a. Dabrock, Klinnert, Schardien 2004; Härle 2005; Härle 2010; Huber 2006; Preul 2005; Vögele 2000 sowie die theologischen Beiträge in Bahr, Heinig 2006. Da ich mich in früheren Publikationen (vgl. Dabrock 2004b; Dabrock 2004c; Dabrock 2010a) ausführlich mit dem Thema befasst habe, begnüge ich mich an dieser Stelle mit einer knappen Zusammenfassung der wichtigsten Gedanken.

63

Empirisch anerkennen sich Menschen natürlich nicht immer. Der Begriff der Anerkennung wird hier wie in weiten Teilen des ausdifferenzierten Diskurses in eine geradezu transzendentale Funktion gerückt. Er soll normativ und kontrafaktisch zum Ausdruck bringen, dass in jeder Form gelingender Kommunikation diese grundsätzliche Achtung immer schon, oft unthematisch, mitläuft. Erst wenn gegen diese elementare Bedingung des Menschseins verstoßen wird, weil Personen stigmatisiert, diskriminiert oder gedemütigt werden, wird via negationis diese grundlegende Dimension menschlichen Zusammenlebens sichtbar. Vgl. zum fundamentalethischen Terminus der Anerkennung insgesamt Bedorf 2010; Honneth 1992; Ricœur 2006 (die in ihrer Verwendung des Begriffs allerdings teilweise über die hier angesprochene quasi-transzendentale Funktion hinausgehen).

64

Arendt 2009, 614.

65

Vgl. Margalit 1997.

66

Dürig 1956, 127.

67

Vgl. Pauer-Studer 2000, 37-54; Steinvorth 1999 sowie die Ausführungen zum Verhältnis von Freiheit und Gleichheit in Kap. III, Abschnitt 1 und 2.

68

Nicht umsonst fragt Niklas Luhmann die Ethik seiner Zeit (hier: um 1990), wie sie in Angelegenheiten einer Gesellschaft urteilen wolle, die sie nicht kenne (Luhmann 2008g, 264). Zugunsten der (evangelisch-)theologischen Sozialethik muss man freilich festhalten, dass sie sich seit ihrer Entstehung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts beständig im Gespräch mit der Soziologie befunden hat und namhafte Vertreter des Faches eine entsprechende Doppelqualifikation aufweisen konnten.

69