Befangen - Scott Turow - E-Book

Befangen E-Book

Scott Turow

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Beschreibung

Ein Thriller wie ein perfekter Espresso – kurz, stark, elektrisierend

Richter George Mason steht mit dem Rücken zur Wand. Vor die Kammer seines Berufungsgerichts kommt der komplizierte Fall einer Vergewaltigung und ruft in Mason Erinnerungen an einen dunklen Fleck in seiner Vergangenheit wach. Zudem bedroht ihn ein anonymer E-Mail-Schreiber mit dem Tod. Der Moment der Entscheidung im Vergewaltigungsfall rückt unaufhaltsam näher. Weg laufen kann Mason nicht. Und eine zweite Chance bekommt man nicht geschenkt.

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Inhaltsverzeichnis

Widmung1 - DIE ANHÖRUNG2 - #13 - ANRUF IM KRANKENHAUS4 - DIE KONFERENZ5 - DAS PARKHAUS6 - PATRICE7 - DER CHEF8 - EIN ENTWURF9 - JEMANDES KIND10 - FUNDSACHE11 - ENDE DER GEDULD12 - DIE NACHRICHT KOMMT AN13 - CORAZÓNS ARM14 - EIN OPFER15 - ÜBERLEBEN16 - DER BLICK DER ÖFFENTLICHKEIT17 - 2. REVIER18 - COMPUTERRECHERCHE19 - CASSIE20 - VERGEBEN21 - DAS URTEILCopyright

Für Vivian und Richard

Ungern hört man die Sünde, die doch gern getan.

Shakespeare,

PERIKLES, AKT I, SZENE II

1

DIE ANHÖRUNG

»Hohes Gericht«, dröhnt Jordan Sappersteins Stimme vom Podium. »Dieser Fall muss wieder aufgenommen werden. Sie haben keine andere Wahl.«

Richter George Mason, der einige Meter entfernt hinter dem erhöhten Walnusstisch thront, muss sich zusammenreißen, sonst könnte er bei Sappersteins Theatralik keine ruhige Miene bewahren. Für gewöhnlich scheut er sich nicht, einem Anwalt deutlich zu verstehen zu geben, dass dessen Argumente nicht überzeugend sind, aber eine Grimasse zu ziehen ist – wie er schon vor langer Zeit als Kind in Virginia von seinem Vater gelernt hat – einfach unhöflich.

Die Wahrheit ist, dass George Mason gegenüber dem Fall Das Volk gegen Jacob Warnovits et al. einen noch größeren Widerwillen empfindet als gegenüber dem prominenten Anwalt, der jetzt seine Argumente vorträgt. Ehe er mit siebenundvierzig Jahren zum Richter berufen wurde, war George Strafverteidiger, und Gesetzesbrecher lösten bei ihm stets widerstreitende Gefühle aus – Verachtung, Belustigung, Interesse, Neid. Doch seit ihm die Verwaltung des Berufungsgerichts vor fünf Wochen den Fall Warnovits aufs Auge gedrückt hat, macht ihm der zu schaffen. Es fällt ihm ungewöhnlich schwer, die Schriftsätze zu lesen und sich die Prozessprotokolle des Kammergerichts von Kindle County anzusehen, wo die vier jungen Angeklagten vor neunzehn Monaten wegen Vergewaltigung schuldig gesprochen und zur vorgeschriebenen Mindeststrafe von sechs Jahren verurteilt wurden. Jetzt denkt der Richter wie jedes Mal, wenn ihm der Fall unwillkürlich in den Sinn kommt: Schwierigen Fällen wird die Justiz nicht gerecht.

Als Vorsitzender des aus drei Richtern bestehenden Gremiums sitzt Richter Mason in der Mitte des langen Tisches zwischen seinen beiden Kollegen. Richter Summerset Purfoyle mit seinem von der Zeit gezeichneten dunklen Gesicht und dem weißen krausen Haarschopf ist inzwischen eine noch eindrucksvollere Erscheinung als zu seiner Zeit als Soulballadensänger. Der andere Richter, Nathan Koll, klein und dick mit einem Doppelkinn wie ein weiches Croissant, beäugt Sapperstein von dessen ersten Worten an mit einem finsteren, gnadenlosen Blick.

Im Zuschauerraum hinter den Anwälten haben die Sicherheitsbeamten möglichst viele der Wartenden, die an der Tür des Gerichtssaals Schlange gestanden haben, auf die Walnussholzbänke gezwängt, was an diesem warmen Tag Anfang Juni für stickige Luft sorgt. In der ersten Reihe halten die Reporter und Zeichner hastig alles fest, was sie können. Die Zuschauer hinter ihnen – Jurastudenten, Gerichtsfans, Freunde der Angeklagten und Unterstützer des Opfers – lauschen jetzt gebannt, nachdem sie an diesem Morgen bereits drei Zivilfälle vor demselben Gremium durchgestanden haben. Nicht einmal der imposante Saal mit seinen dunkelroten Marmorsäulen, die zwei Stockwerke hoch bis zur Gewölbedecke aufragen, und den vergoldeten Rokokoornamenten im Mobiliar kann die kontroverse Anspannung dämpfen, die der Fall Warnovits unter Tausenden von Menschen ausgelöst hat, die die Rechtsgrundsätze, um die es hier geht, ebenso wenig kennen wie die zugrunde liegenden Fakten.

Das Opfer der Straftat ist Mindy DeBoyer, wobei ihr Name als mutmaßliches Vergewaltigungsopfer in der Berichterstattung der Medien nie erwähnt wird. Vor über sieben Jahren, im März 1999, war die damals fünfzehn Jahre alte Mindy Gast auf einer wilden Party für die Eishockeymannschaft der Glen Brae Highschool, die an diesem Tag den zweiten Platz im Kampf um die Meisterschaft von Illinois belegt hatte. Die Spieler waren ausgepumpt und enttäuscht – sie hatten sechs Spiele in sechs Tagen bestritten und den Titel nur knapp verpasst –, und die Feier, die zu Hause beim zweiten Kapitän Jacob Warnovits stattfand, weil seine Eltern auf einer Hochzeit in New York waren, lief von Anfang an aus dem Ruder. Mindy DeBoyer war laut eigener Aussage durch eine Kombination aus Rum und einer Pille, die Warnovits ihr gegeben hatte, »hackezu« und landete irgendwann völlig weggetreten in seinem Zimmer.

Warnovits behauptete, er habe sie dort gefunden und Mindys Lage, wie Goldlöckchen im Bett von einem der drei Bären, als Aufforderung verstanden. Die Geschworenen kauften ihm diese Erklärung eindeutig nicht ab, vermutlich weil Warnovits auch noch drei seiner Mannschaftskameraden dazuholte und sich alle an der jungen Frau vergingen, die so bewusst- und leblos war wie eine Stoffpuppe. Warnovits hielt jede einzelne Vergewaltigung auf Video fest, wobei er die Kamera häufig derart grotesk einsetzte, dass es selbst einen Pornofilmer schockiert hätte. Der Soundtrack, eine Aneinanderreihung übelster Zoten aus Warnovits’ Mund, endete nach über fünfzig Minuten damit, dass er seine Freunde aufforderte, Mindy rauszuschaffen und »bloß die Klappe zu halten«.

Als Mindy DeBoyer gegen fünf Uhr morgens im nach leeren Bierdosen und vollen Aschenbechern stinkenden Wohnzimmer der Familie Warnovits wach wurde, hatte sie keine Ahnung, was passiert war. Da sie bereits erste sexuelle Erfahrungen gemacht hatte, war ihr klar, dass sie ziemlich grob behandelt worden war, und sie merkte, dass sie den Rock falsch herum anhatte. Doch an die Ereignisse der vergangenen Nacht hatte sie keine Erinnerung. Sobald sie zu Hause war, rief sie andere an, die auf der Party gewesen waren, aber niemand konnte sich erinnern, mit wem Mindy mitgegangen war. Im Gespräch mit ihrer besten Freundin Vera Hartal äußerte Mindy DeBoyer den Verdacht, vielleicht vergewaltigt worden zu sein. Aber sie war fünfzehn und hatte Angst, sich an einen Erwachsenen zu wenden, geschweige denn zuzugeben, wo sie gewesen war. Allmählich fand sie sich damit ab und sagte kein Wort.

Und so ging das Leben weiter. Die vier Jungs machten den Highschool-Abschluss und gingen aufs College, ebenso wie Mindy zweieinhalb Jahre später. Jacob Warnovits, der sich mit der Zeit in Sicherheit wiegte, konnte nicht widerstehen, das Video ab und zu in seinem Studentenwohnheim vorzuführen. Zufällig war einer seiner Kommilitonen, Michael Willets, ein guter Bekannter der Familie DeBoyer, und nach einem längeren Gespräch mit seiner Schwester gab er der Polizei einen Tipp, die prompt mit einem Durchsuchungsbeschluss im Wohnheim auftauchte. Eine entsetzte Mindy DeBoyer musste sich das Videoband ansehen, und bald darauf, am 14. Januar 2003, wurden Warnovits und die drei anderen jungen Männer angeklagt.

Laut George Masons Einschätzung ist das juristische Hauptproblem, um das es in diesem Fall geht, die vorgeschriebene Verjährungsfrist, die nach bundesstaatlichem Gesetz für Gewaltverbrechen drei Jahre beträgt. Aber bei Mindy DeBoyer kommt hinzu, dass sie schwarz ist. Sie stammt aus gutem Hause, genau wie ihre Vergewaltiger, doch ihre Eltern, er Anwalt, sie Betriebswirtin, stellten in ihrem ersten Zorn unwillkürlich die Frage an die Öffentlichkeit, ob einer jungen Weißen in Glen Brae das Gleiche widerfahren wäre, einem Vorort, in dem die Rassenintegration auf einigen Widerstand gestoßen war.

Die Rassismusvorwürfe hatten die Stimmung in Glen Brae angeheizt. Familien aus dem Freundeskreis der vier Täter warnten davor, das Leben der jungen Männer wegen einer Tat zu zerstören, die so lange zurücklag und unter der das Opfer doch eigentlich nicht gelitten habe. Sie unterstellten, dass die Männer aufgrund der Rassenfrage für eine Missetat bestraft werden sollten, die sie als Kinder begangen hatten. Die heftigen Diskussionen unter den Nachbarn fanden ihren Niederschlag in der Presse, die überwiegend die Haltung der DeBoyers vertrat. Die meisten Veröffentlichungen stellten die Angeklagten als verwöhnte reiche Jüngelchen dar, die nach einer bestialischen Nacht in der Sklavenhütte beinahe ungestraft davongekommen wären, obwohl keine einzige der zahlreichen hässlichen Bezeichnungen, mit denen die Jungs Mindy auf dem Video bedacht hatten, auf ihre Hautfarbe anspielte.

Dank der grundlegenden offenen Fragen, die im Berufungsverfahren geklärt werden müssen, sind die jungen Männer gegen Kaution auf freiem Fuß, und alle vier, mittlerweile Anfang zwanzig, sitzen jetzt neben den Journalisten in der ersten Reihe des Zuschauerraums. Ihr Schicksal liegt in den Händen von Jordan Sapperstein. Der trägt einen cremefarbenen Anzug mit breiten schwarzen Nadelstreifen, gestikuliert viel und setzt dabei zur Unterstreichung seinen üppigen grauen Haarschopf ein. Richter Mason hat nie so ganz verstanden, welches Bild ein Mensch von sich vermitteln will, wenn er sich eine so auffällige Frisur zulegt, aber Sapperstein ist genau das, was Patrice, die Frau des Richters, gern als Fernsehanwalt bezeichnet.

Sapperstein stammt aus Kalifornien und hat sich vor zwanzig Jahren als Juraprofessor in Stanford mit zwei beeindruckenden Siegen am Obersten Bundesgericht einen Namen gemacht. Seitdem ist er in juristischen Kreisen berühmt für seine Bereitschaft, sich innerhalb von dreißig Sekunden in Rage zu reden, sobald das rote Lämpchen an einer Kamera aufleuchtet. Ständig taucht er im Fernsehen auf, bei CNN, in Talkrunden oder irgendwelchen Gerichtsshows, und er ist so allgegenwärtig, dass man, selbst wenn man nur das Fußballspiel der eigenen Nichte mit der Videokamera festhält, schon fast mit ihm im Hintergrund rechnet. Die verzweifelten Eltern der »Vier aus Glen Brae« sollen ihm angeblich einige Hunderttausend Dollar bezahlt haben, damit er sie bei der Berufung vertritt.

George vermutet, dass sich Sappersteins Berühmtheit mitunter als Plus erweisen kann, wenn ein Richter ohnehin schon geneigt ist, das Urteil aufzuheben. Nicht so hier. Sappersteins Prominenz ist für Georges Kollegen Nathan Koll geradezu ein Ruf zu den Waffen. Koll, der seine Tätigkeit als geachtetes Mitglied der juristischen Fakultät des Easton College für eine fünfjährige Amtszeit am Berufungsgericht unterbrochen hat, behandelt Anwälte gern wie seine Studenten und bombardiert sie mit hinterlistigen hypothetischen Fragen, um ihre Position zu unterminieren. Irgendwelche Spaßvögel haben seinen sokratischen Fragestil längst »das Spiel, das nur einer spielen kann« getauft, und gegen Nathan hat keiner eine Chance. In Wahrheit geht es für ihn nämlich bei jedem Fall ungeachtet des jeweils anstehenden juristischen Problems immer nur um eines: Er will beweisen, dass er der cleverste Jurist im Saal ist. Oder vielleicht im ganzen Universum. George ist nicht klar, wo Nathans Allmachtsanspruch an seine Grenzen stößt.

Wie dem auch sei, mit seiner Donnerstimme und dem beißenden Inquisitionsstil liefert er eine beeindruckende Vorstellung, und kaum hat Sapperstein sein Plädoyer mit dem Zitat eines angesehenen Rechtskommentators begonnen, das wiederum auf Worte des Obersten Bundesgerichts zurückgreift, da fällt er auch schon über den Anwalt her.

»In der Verjährung von Straftaten, wie sie ›in allen aufgeklärten Rechtssystemen verankert ist‹, schlägt sich implizit das gesetzlich festgelegte Verständnis nieder, dass die moralische Schwere einer Straftat daran bemessen werden kann, mit welcher Dringlichkeit die Strafverfolgung betrieben wird. ›Die allgemeine Erfahrung der Menschheit‹ ist die, dass echte Verbrechen ›meist nicht ungestraft bleiben‹«, deklamiert Sapperstein.

»Da bin ich anderer Meinung«, entgegnet Koll unverzüglich. Obwohl er sitzt, erinnert er George an einen Footballspieler kurz vor dem Angriff, die Schultern voraus, die kräftigen Hände ausgebreitet, als wollte er jeden Versuch vereiteln, ihm auszuweichen. »Verjährungsfristen, Mr. Sapperstein, basieren letztlich auf der Befürchtung, dass die Erinnerung mit der Zeit verblasst und Beweise verloren gehen. Was uns nicht weiter beunruhigen sollte, wenn es eine Videoaufnahme von der Tat gibt.«

Sapperstein will nicht so leicht klein beigeben, und das akademische Scharmützel zwischen Richter und Anwalt geht einige Minuten weiter, zwei Juristenpfaue, die ihr Gefieder spreizen. In Georges Augen spielt es kaum eine Rolle, was nach Meinung anerkannter Rechtsgelehrter die Gründe dafür sind, dass die angloamerikanische Rechtsprechung Verjährungsfristen zulässt. Ausschlaggebend ist allein die Tatsache, dass die Legislative in diesem Bundesstaat eine Verjährungsfrist beschlossen hat. Und als Richter sieht George seine primäre Aufgabe darin, eventuelle Zweifel hinsichtlich der Bedeutung des Wortlauts auszuräumen, der von den Gesetzgebern verwendet wurde.

Normalerweise würde er sich vielleicht mit einer Bemerkung in diesem Sinne einschalten, aber unterm Strich zieht er einen gewissen Abstand zu diesem Fall vor. Außerdem ist es nicht eben leicht, überhaupt zu Wort zu kommen, wenn Nathan Koll beisitzt. Rechts von George hat sich Richter Purfoyle einige Fragen auf seinem Block notiert, aber Koll ist längst nicht bereit, das Wort abzugeben, obwohl Summerset schon einige höfliche Versuche gestartet hat.

Außerdem wird George abgelenkt, als seine Assistentin Cassandra Oakey unüberhörbar den Saal betritt. Cassie erregt Aufmerksamkeit, wo immer sie auftaucht: Sie ist zu energisch, groß und attraktiv und gänzlich ungeschult in Sachen Selbstbeherrschung. Doch während sie auf den Tisch für die Gerichtssekretäre auf der anderen Seite des Saales zustrebt, merkt George, dass sie nicht einfach nur zu spät kommt, wie er erwartet hätte. Cassie wirft ihm mit ihren großen dunklen Augen beschwörende Blicke zu, und er sieht, dass sie einen Zettel in der Hand hält. Sofort krampft ein Anflug von Panik das Herz des Richters zusammen. Patrice, denkt er. Dergleichen passiert George Mason mehrmals am Tag. Wenn er in berufliche Dinge vertieft ist, die ihn schon immer mitgerissen haben wie ein Sirenenruf, erschrickt er jedes Mal und kommt sich egoistisch vor, sobald die Erinnerung ihn plötzlich einholt: Patrice hat Krebs. Seit zwei Tagen ist sie zur Bestrahlung im Krankenhaus, und ihn erfasst die Angst, dass irgendwas schiefgelaufen ist.

Cassie schleicht sich zu Marcus, Georges Gerichtsdiener mit dem weißen Backenbart, und gibt ihm den gefalteten Zettel, den er weiter nach oben reicht. Doch die Nachricht betrifft, wie George jetzt liest, sein eigenes Wohlergehen, nicht das von Patrice. Dineesha, seine Sekretärin, hat geschrieben:

#1 hat sich wieder gemeldet. Marina würde Ihnen gern berichten, was sie vom FBI erfahren hat, ist aber heute ab 1 Uhr nicht mehr im Haus. Besteht die Möglichkeit, dass Sie die Richterkonferenz um eine halbe Stunde verschieben, damit Sie mit ihr sprechen können?

George hebt einen hinhaltenden Finger in Cassies Richtung. Koll ist jetzt dabei, Sappersteins zweites Hauptargument auseinanderzunehmen, nämlich dass die Videoaufnahme von der Vergewaltigung zu plastisch und aufhetzerisch war und drastisch hätte gekürzt werden müssen, ehe die Geschworenen sie zu sehen bekamen, insbesondere die Szenen mit den gegenseitigen phallischen Zurschaustellungen der Jungen sowie Warnovits’ gynäkologische Inspektionen von Mindy mit der Kamera.

»Sie wollen doch wohl nicht behaupten«, sagt Koll, »dass die Videoaufnahme, zumindest in gewisser Weise, unzulässig war?«

»Euer Ehren, die Videoaufnahme, die die Geschworenen zu sehen bekommen haben, hätte so nicht als Beweismittel zugelassen werden dürfen.«

»Aber nur, weil einige Elemente die Geschworenen über Gebühr beeinflusst haben könnten?«

Sapperstein besitzt genug Prozesserfahrung, um zu wittern, dass ihm eine Falle gestellt werden soll, doch seine Ausweichmanöver bewirken nur, dass Koll noch stärker versucht, ihn unter Druck zu setzen.

Es reicht, denkt George. Er blickt zum Tisch der Gerichtssekretäre. Dort hat John Banion, ebenfalls Assistent des Richters, die Finger auf den Knöpfen für die drei kleinen Signallämpchen oben auf dem Rednerpult, die signalisieren, wie viel Redezeit einem Anwalt noch bleibt. Im Augenblick leuchtet vor Sapperstein das orangegelbe Lämpchen in der Mitte. Banion, eine teigige Gestalt Anfang vierzig, wird hinter seinem Rücken von Kollegen häufig als der »Druide« bezeichnet, weil er zurückhaltend ist wie ein Einsiedler. Doch im Laufe der Jahre hat sich gezeigt, dass er auf die beruflichen Bedürfnisse des Richters wunderbar eingestimmt ist, und George muss das Kinn nur minimal senken, und schon schaltet John das rote Licht ein, das Sapperstein zu verstehen gibt, dass seine Zeit abgelaufen ist.

»Danke, Mr. Sapperstein«, sagt George und schneidet ihm mitten im Satz das Wort ab.

Am Anwaltstisch etwas weiter entfernt, näher bei den Sekretären, erhebt sich Tommy Molto, der Staatsanwalt von Kindle County, mit einem Wust von Papieren in den Händen. George bittet um eine kurze Unterbrechung und hält sein Mikro zu, eine schwarze Knospe auf schwarzem Stiel, um leise erst mit Purfoyle, dann mit Koll zu reden. Koll kann sich nicht ganz zu einer freundlichen Miene durchringen, ist aber wie Purfoyle bereit, George als dem vorsitzenden Richter eine halbstündige Pause vor der Konferenz zu gewähren, die normalerweise gleich im Anschluss an die Anhörung erfolgt. Dort werden die drei Richter über die Fälle, die sie am Vormittag gehört haben, entscheiden und das Abfassen der Urteilsbegründungen untereinander aufteilen.

»Bestell Dineesha, ich spreche mit Marina«, sagt der Richter zu Cassie, nachdem er sie zu sich gewinkt hat. Cassie, die neben dem hohen Ledersessel des Richters in die Hocke gegangen ist, will sich auf den Weg machen, doch George hält sie zurück. »Was schreibt #1?«

Ihre braunen Augen gleiten ab, während sie sich den Pony des blonden Pagenschnitts aus dem Gesicht streicht.

»Bloß das gleiche Gewäsch«, flüstert sie schließlich.

»Wünscht er mir wieder Gesundheit und alles Gute?«, fragt George, unsicher, ob der Scherz tapfer oder tollkühn klingt.

»Klar«, sagt sie.

Doch ihre Schweigsamkeit reizt ihn nur noch mehr, und er lässt die Hand kreisen, will mehr hören.

»Er, sie, es – wer immer sich dahinter verbirgt, hat einen Link geschickt«, erläutert Cassie.

»Einen Link?«

»Zu einer Webseite.«

»Was für eine Webseite?«

Cassie runzelt die Stirn. »Sie heißt ›Death Watch‹«, erwidert sie.

2

#1

Richter George Mason ist im letzten Jahr seiner zehnjährigen Amtszeit am »Berufungsgericht des dritten Bezirks«, wobei der Bezirk in der Hauptsache Kindle County umfasst. Die Chance auf eine Ernennung zum Berufungsrichter hatte sich völlig unerwartet ergeben. Da war er gerade mal ein Jahr Richter am Kammergericht gewesen, wo er bei Strafprozessen in einem Saal hier im Erdgeschoss des Hauptjustizgebäudes den Vorsitz hatte. Viele Freunde hatten ihm abgeraten, den höheren Posten ins Auge zu fassen, und ihm prophezeit, er würde dieses Leben nach einer Laufbahn voller Prozessschlachten an vorderster Front als einsam und passiv empfinden, doch die neue Aufgabe – die Anhörungen, das Nachdenken über Schriftsätze und Präzedenzfälle, das schriftliche Begründen von Entscheidungen – sagt ihm zu. Für George Mason hat das Gesetz immer schon die grundlegenden Rätsel gestellt, die zu lösen er als seine Lebensaufgabe betrachtet.

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