Behindert? - Was soll’s! - Mario Ganß - E-Book

Behindert? - Was soll’s! E-Book

Mario Ganß

5,0

Beschreibung

Mit erstaunlicher Genauigkeit, leisem Humor und großer Dankbarkeit erinnert sich der Autor an eine Lebensphase, die ihn außerordentlich geprägt hat: seine Schulzeit in einem Internat für Körperbehinderte in der DDR. Wäre da beispielsweise nicht sein wunderbarer Lehrer Herr Reimert gewesen, der mit seinem unerschöpflichen Ideenreichtum und Basteltalent zum Funktionieren einer der ersten Spezialschreibmaschinen, die aus dem Westen importiert wurden, beigetragen hat, dann würde es dieses Buch offensichtlich nicht geben. Man stelle sich heute vor: Ein Pfleger wirft sich einfach ein behindertes Kind über die Schulter und trägt es die Treppe hinauf, nicht aus Spaß, nein, weil es weder eine Schräge noch einen Aufzug gibt. Das war Alltag und in eben jenem Alltag selbstverständlich, ebenso selbstverständlich wie das Staunen über den ersten Elektrorollstuhl, kleine und größere Missgeschicke, Tränen und Erfolge, die sich in kleinen Schritten einstellen. Es herrscht ein leichter, ja heiterer Ton in diesem Buch, in dem nicht geurteilt, sondern auf beeindruckende Weise erzählt wird, wie wunderbar Leben sein kann, auch mit Handicap.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 479

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mario Ganß

BEHINDERT? WAS SOLL’S!

Mein Leben im Internat für Körperbehinderte in der DDR

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die realen Namen wurden im Buch geändert.

Zweite überarbeitete Auflage

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Lieber Kai!

In den 3 1/2 Jahren, in denen ich mit dir zusammenarbeitete, warst du nicht nur mein Lektor. Bei der Suche nach einem geeigneten Verlag und nach Sponsoren hast du mir stets geholfen und mir so den Rücken für das Schreiben freigehalten!

Wir plauderten aber auch öfters über ganz persönliche Dinge. Du hast mir oft rechtliche Sachverhalte erklärt, auf die wir Behinderten Anspruch haben, von denen ich noch nichts wusste. Letztendlich hast du mich bestärkt, den Weg zu einer persönlichen Assistenz zu gehen. Danke!

Kai, du bist mir ein guter Freund geworden! Leider kannst du nicht mehr das fertige Buch in deinen Händen halten. Du bist viel zu früh von uns gegangen. Dennoch wirst du immer ein Teil meines Buches und demzufolge meines Lebens bleiben.

Im stillen Gedenken

Mario

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Meine körperliche Behinderung annehmen

Die Zeit bei Oma

Oehrenfeld

Vorbereitung auf die Schule

Eine Entscheidung stand an

Urlaub auf dem Campingplatz

Der langersehnte Tag

Der Schulalltag begann

Die Kunst des richtigen Sitzens

Der Pioniergeburtstag

Mein erstes Zeugnis

Schreibversuche

Das richtige Schreibwerkzeug

Nicht für alles ist eine Pille gut

Auch ein guter Schüler muss nachsitzen

Alltag in der Schule und in der Freizeit

Endlich echte Schreiber(le)gebnisse

Die erneute Suche nach einem geeigneten Hilfsmittel

Für die ganze Republik geschrieben

Keine Stubenhocker

Zwei Dreckspatzen im Garten

Hautnah in der Natur

Das verpasste Osterfeuer

Mein neues Zuhause

Der ungewohnte Schulalltag

Jedes Haus hat seinen Namen

Schul- und Heimalltag

Ein weiteres Handicap

Neuerungen

Schule auf Sparflamme

Viele neue Fächer

Ein kleines bisschen Spaß

Schicksalstag in der Familie

Freizeit oder nachdrückliche Erziehung?

Die Medien

Eine verrückte Idee

Was normalerweise nicht sein durfte

Abenteuer auf vier Rädern

Schmetterlinge

Endspurt

Abschied

Meine körperliche Behinderung annehmen

Im November 1967 wurde ich in Roßlau (Elbe) geboren. Wir wohnten in Zerbst (Sachsen-Anhalt). Während meiner Geburt gab es Komplikationen. Da aber die Ärzte im Zerbster Krankenhaus leider den Ernst der Lage nicht erkannten, wurde meine Mutter mit dem Krankenwagen und bei Glatteis ins 15 Kilometer entfernte Roßlauer Krankenhaus gebracht. Durch diese Prozedur verging wertvolle Zeit. In Roßlau führte man dann endlich den für meine Mutter und mich so lebensnotwendigen Kaiserschnitt durch. Durch diesen Eingriff wurde ich zwar gerettet, jedoch erlitt ich bei der Geburt einen erheblichen Sauerstoffmangel. Das ist auch der Grund für meine spastische Lähmung. Diese körperliche Beeinträchtigung äußert sich darin, dass ich krampfhafte Bewegungseinschränkungen der Arme und Beine habe. Meine Sprachfähigkeit ist dadurch ebenfalls gestört und meine Aussprache oft sehr undeutlich. Falls man mich jedoch nicht richtig versteht, muss ich das Gesagte eben noch einmal wiederholen. Geistig bin ich jedoch zweifelsohne voll auf der Höhe!

Über meine körperliche Behinderung denke ich nur selten so richtig nach. Ich brauche sie auch nicht anzunehmen und zu akzeptieren wie andere Menschen, die, eventuell durch einen Unfall, plötzlich zu ihrer Behinderung »gekommen« sind. Für mich gehört sie zu mir wie meine Hände und Füße, denn ich bin schließlich damit aufgewachsen. Wenn ich heute im Rollstuhl sitze und mich von einem Ort zum anderen bewege, sage ich trotzdem umgangssprachlich: »Ich gehe da und da hin.« Und das ist schon so okay.

Obwohl meine Mutter eine schwere Geburt hinter sich hatte, bei der es nun einmal offensichtlich Komplikationen gab, meinten die Ärzte, ich sei ein vollkommen gesundes Kind.

Nach ein paar Monaten merkten meine Eltern und meine Oma schnell, dass ich mich nicht richtig entwickelte. Unter anderem konnte ich meinen Kopf nicht gerade halten, er hing immer zur Seite. Die Antwort der Ärzte war lapidar: »Das ist ein Schiefhals, das gibt sich wieder.« So überließen die Ärzte mich und meinen Eltern einfach dem Schicksal. Nur durch Eigeninitiative meiner Eltern konnte ich mich meinem Alter entsprechend entwickeln!

Die Zeit bei Oma

Wegen meines Handicaps weigerte sich jeder Kindergarten mich aufzunehmen. Zu groß waren in der damaligen Zeit die Berührungsängste. Die meisten Erzieherinnen meinten: »Wenn ich so ein Kind anfasse, dann tue ich ihm weh.«

Da meine Mutter wieder arbeiten gehen wollte, verbrachte ich ab dem ersten Lebensjahr tagsüber die Arbeitswoche bei meinen Großeltern. Meine Oma unterbrach meinetwegen ihre Tätigkeit und kümmerte sich die Woche über rührend um mich.

Meine Oma war sehr um meine körperliche Entwicklung bedacht. Bis zum dritten Lebensjahr konnte ich keine feste Nahrung zu mir nehmen. Mein Saugreflex war so stark ausgeprägt, dass ich jegliches Essen mit der Zunge wieder aus meinem Mund presste. Ich konnte nur aus der Flasche durch einen Nuckel Nahrung zu mir nehmen. So hieß es für meine Eltern und Großeltern entweder zähflüssiges Essen wie Brei für mich herzustellen oder Speisen extra zu pürieren. In den Nuckel wurde daher ein ziemlich großes Loch geschnitten, damit die breiige Nahrung hindurch passen konnte.

Doch meine Oma zeigte hier sehr viel Geduld. Immer und immer wieder versuchte sie, mich mit einem Löffel zu füttern. Als mich meine Mutter eines Tages abholte, sagte Oma: »Heute hat er grüne Bohnensuppe gegessen.« Bis heute weiß ich nicht, warum es ausgerechnet grüne Bohnensuppe war, die ich als erste feste Nahrung zu mir nahm. Heutzutage mag ich diese nämlich überhaupt nicht!

Die ganzen Jahre – bis zur Vorschule – konnte ich nicht allein auf einem Stuhl sitzen. Das Sitzen an sich schien gar nicht einmal das eigentliche Problem zu sein. Scheinbar hatte ich nur Angst herunter zu fallen. So wandte Oma einen raffinierten Trick an. Sie setzte mich auf einen Stuhl und schob mich an den Tisch. So gaben mir die Tischkante und die Rückenlehne zunächst einen sicheren Halt. Um mir nun die Sicherheit zu geben, auch seitlich nicht herunterfallen zu können, stellte sie je einen Stuhl links und rechts, mit der Lehne zu mir gewandt, an meine Seite. Ich war somit in der Lage, vorläufig allein auf einem Stuhl sitzen zu können.

Ein besonderes Augenmerk richtete Oma stets auf die Feinmotorik meiner Hände und Finger. Um mich zu motivieren, erfand sie dabei lustige Spielchen, die es so nirgends gab. Gut, wir spielten auch mal mit Autos oder ähnlichem Spielzeug, welches uns damals zur Verfügung stand. Das machte zwar auch Spaß, doch Omas Ideen waren viel interessanter und kreativer.

Meine Großeltern besaßen ein großes Haus. Die Treppe muss für mich irgendwie sehr anziehend gewesen sein. Von hier oben nach unten zu sehen und meinem Opa zuzurufen, war für mich faszinierend. Oma merkte außerdem, dass es mir Spaß machte, kleine Gegenstände wie etwa Bohnen oder Erbsen aus einer Schüssel zu greifen und sie einfach wegzuwerfen. Das war eine perfekte Übung für meine Finger! Diese beiden Vorlieben kombinierte sie einfach. Sie oder Opa trugen mich die Treppe eine Etage hinauf. Oma brachte eine Schüssel mit besagten Gegenständen hinterher. Dann setzte sie mich an das Treppengeländer und steckte meine Beine zwischen die Gitterstäbe, sodass sie herunter hingen. Vorsorglich zog sie mir meine Schuhe aus, damit diese niemand auf den Kopf bekam. Sie setzte sich hinter mich. So hatte ich einen sicheren Halt. Dann ging das Spiel los. Oma reichte mir eine Bohne nach der anderen. Diese griff ich mit meinen teilweise verkrampften Händen. Oft gelang mir das nicht gleich beim ersten Mal. Doch meine Oma zeigte unendliche Geduld und gab mir die Bohnen immer wieder in die Hände. Hatte ich sie dann fest umschlossen, warf ich sie durch das Geländer nach unten. Es lässt sich kaum beschreiben, welche Freude mir dieses Spiel bereitete. Wenn die Schüssel leer war, durfte Opa alles Heruntergefallene aufsuchen und es uns wieder nach oben bringen, damit das Spielchen von vorn anfangen konnte.

Die schöne Zeit bei meinen Großeltern wurde durch einen zweijährigen und meiner Einschätzung nach ziemlich sinnlosen Aufenthalt im Krankenhaus unterbrochen. Mit zwei Jahren wurde ich in die »Pfeiffersche Stiftung« in Magdeburg eingewiesen. Zu diesem Zeitpunkt hatten meine Eltern immer noch keine konkrete Diagnose beziehungsweise Prognose von den Ärzten erhalten. Dass ich eine körperliche Behinderung habe, war ihnen mittlerweile selbst klar geworden. Aber ob diese jemals heilbar sein würde, sagte ihnen niemand.

In der orthopädischen Abteilung sollte versucht werden, mich mit gezielten gymnastischen Übungen zu »heilen«. Doch meinen Eltern wurde niemals plausibel erklärt, was eigentlich mit diesem Turnen bezweckt werden sollte. Eine bessere Beweglichkeit meiner Gliedmaßen zu ermöglichen, so weit war die Maßnahme noch einzusehen. Aber hätte eine ambulante Behandlung nicht auch ausgereicht?

Während die eigentlichen Therapien wie Gymnastik und Schwimmen noch erträglich waren, ließ die sonstige Betreuung allerdings sehr zu wünschen übrig. An die 16 Kinder lagen in einem Zimmer (eigentlich war dies schon ein Schlafsaal). Ich erinnere mich noch, dass morgens und abends immer gebetet wurde, da es sich um ein kirchliches Krankenhaus handelte. Dies ließ sich ja noch ertragen, denn zum einen verstand ich noch nicht den Sinn dieses Rituals, zum anderen tat mir dabei auch niemand weh. Das einprägsamste Erlebnis dort war die allabendliche Spritze. Diese bekam fast jeder. Wozu sie nützlich war, wusste jedoch niemand von uns. Als Reaktion darauf schrieen wir fast schon solidarisch im Chor!

Zum großen Entsetzen meiner Eltern und Großeltern stellte sich heraus, dass im Krankenhaus niemals auf die körperliche Hygiene geachtet wurde. Bis zu meiner Einweisung war ich sauber, das hieß, ich brauchte keine Windeln mehr. Dies änderte sich nun schlagartig. Am Morgen wurde mir eine Windel umgelegt und diese erst abends wieder erneuert.

Wir Kinder durften nur zweimal in der Woche Besuch empfangen, mittwochs und sonntags, und das zu festgelegten Zeiten. Wenn dann meine Angehörigen in unser Zimmer kamen, fing ich schon an zu schreien. Ein Blick meiner Eltern bzw. Großeltern unter meine Bettdecke bestätigte ihren Verdacht. Ich hatte wieder einmal die Hosen voll. Es war ein äußerst unangenehmes Gefühl, aus dem sie mich bei jedem Besuch erst einmal befreien mussten.

Zu dieser Zeit studierte mein Vater in Karl-Marx-Stadt (dem heutigen Chemnitz) Maschinenbau. Als zukünftiger Ingenieur sollte er dann auch Schüler unterrichten dürfen. In einem Studienfach (Soziologie) wurde unter anderem über verschiedene Arten von Behinderungen gesprochen. So erfuhr mein Vater erstmals auch etwas über Spastiker und dass diese Krankheit nicht heilbar sei. Mit dieser tiefgreifenden Erkenntnis fuhr er sofort an seinem freien Wochenende ins Krankenhaus und nahm mich ohne jeglichen Kommentar mit nach Hause.

Wann immer es die Zeit zuließ, unternahmen meine Eltern und Großeltern mit mir sehr viel, zum Beispiel Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung.

In der Wohnung, aber auch größtenteils im Garten, bewegte ich mich meistens krabbelnd auf allen Vieren vorwärts. Einige Schritte konnte ich jedoch auch mit Unterstützung gehen. Das hieß bei mir immer »battern«. Woher dieser Ausdruck kommt und wer ihn erfunden hat, kann ich nicht sagen. Wenn ich andeutete: »Mal battern«, wusste schon jeder was ich wollte. Dann griff mich derjenige, der gerade in meiner Nähe war, von hinten unter die Arme und stellte mich auf meine Beine. Ich konnte mich dann mit meinem Rücken an den Körper desjenigen, der mir gerade half, anlehnen. Zwar hing ich oft größtenteils in dessen Armen, aber ich bewegte meine Beine doch irgendwie vorwärts. Mit der Zeit achteten meine Eltern und Großeltern immer häufiger darauf, dass ich nicht nur so da hing, sondern meine Füße richtigen Bodenkontakt hatten. Auch wurde zunehmend Wert darauf gelegt, dass mein Oberkörper etwas nach vorn geneigt war und ich mich nicht nach hinten stemmte. Ich sollte lernen, mit einem möglichst aufrechten Gang zu gehen.

Außer Haus schob mich meine Familie in einem Kindersportwagen. Dieser war etwas größer als ein herkömmlicher Kinderwagen, passte aber dennoch zusammengeklappt in unseren Pkw.

Das Bild, welches meine Mutti mit mir und meinem vier Jahre jüngeren Bruder Andreas beim Ausfahren mit dem Sportwagen abgab, schien schon ziemlich witzig zu sein. Es war ein Glück und Zufall in einem, dass Andreas schon mit neun Monaten anfing zu laufen. Sonst wäre es für meine Mutti allein fast nicht möglich gewesen, mit uns irgendwo hin zu gehen. Die Blicke der anderen Passanten waren uns dabei gewiss. Da saß ich schon ziemlich großer Junge in einem Wagen und der kleine Knirps musste nebenher laufen.

Ging meine Mutti einmal kurz in ein Geschäft, ließ sie mich und Andreas draußen stehen. Auffahrten für Kinderwagen oder gar Rollstühle gab es nur sehr selten.

Kaum war meine Mutti im Geschäft verschwunden, kamen oft größere Kinder und lachten mich und meinen Bruder aus. Dies empfand ich als sehr unangenehm. Da ich spürte, dass mich die Kinder wegen meiner Sprachbehinderung sowieso nicht verstehen und so noch mehr lachen würden, traute ich mich nicht, sie anzusprechen. Andreas war noch zu klein, um die richtigen Worte zu finden. Es kam auch manchmal vor, dass Kinder ihre Eltern fragten, was mit mir los sei. Die Antwort war meist: »Der ist krank.«

Mit der Zeit passte ich nicht mehr in den Sportwagen. Deshalb bekam ich von der zu DDR-Zeiten existierenden Sozialversicherungskasse (SVK) dann meinen ersten »echten« Rollstuhl. Durch diesen Rollstuhl sollten unter anderem die Blicke der Kinder, aber auch anderer Leute, gemildert werden. Es machte natürlich ein »besseres« Bild, einen etwas größeren Jungen in einem Rollstuhl, als in einem Kinderwagen zu sehen.

Leider war dieser Rollstuhl für uns fast unbrauchbar. Die Mitarbeiter der SVK mussten ihn aus irgendeinem Lager ausgegraben haben. Wahrscheinlich stammte er noch aus Vorkriegszeiten und war irgendwie ein echtes Geschoss und somit extrem klobig und unhandlich! Der Rollstuhl hatte eine längliche Sitzfläche. Für die Füße gab es einen abklappbaren Fußkasten, welcher den Rollstuhl aber noch länger machte. Vorne hatte er zwei starre Räder und hinten zwei zum Lenken. Eine extrem lange Schiebestange verlängerte den Rollstuhl nochmals. Kein Teil konnte man zügig abmontieren. Schnellsteckverbindungen, wie man sie heute von modernen Rollis kennt, wurden früher nicht verwendet.

So war es verständlich, dass wir diesen Rollstuhl kaum benutzten. Zum einen passte er kaum in ein Auto, zum anderen ließ er sich nur unter großer Mühe schieben. Die Bordsteinkanten konnte man den Rollstuhl nur rückwärts hochziehen, da sich die starren Räder vorne befanden. So fuhren mich meine Eltern und Großeltern notgedrungen weiterhin mit dem Sportwagen durch die Gegend.

Die Tage, Wochen und schließlich auch die Jahre, die ich größtenteils tagsüber bei meiner Oma verlebte, vergingen wie im Flug, zumal ich gerne bei ihr war.

Natürlich machten sich meine Eltern und Großeltern während dieser Zeit immer wieder große Gedanken, ob und in welche Schule ich gehen könnte.

Mit mir wurde sehr viel geübt und – so gut es Eltern bzw. Großeltern können – mir fast alles beigebracht, was ein Kind mit vier bis fünf Jahren wissen sollte. Ich konnte zählen und kannte alle Farben. Die Geschichten aus dem Struwwelpeter sagte ich auswendig vor. Ich war geistig, entsprechend meinem Alter völlig normal entwickelt. Dennoch war meiner Familie klar, dass sie mir niemals einen Lehrer ersetzen können. Ich musste also irgendwie zur Schule gehen.

Meine Eltern gingen mit mir zur Vorschuluntersuchung. Frau Dr. Reichelt, eine Allgemeinärztin, war dafür zuständig, Vorschulkinder auf ihre Schultauglichkeit zu testen. Die Frau machte allerdings den Eindruck, als hätte sie noch nie etwas mit körperlich behinderten Kindern zu tun gehabt. Als Frau Dr. Reichelt mich sah, meinte sie daher nur: »Wenn sie dem Kind das unbedingt antun wollen …« und schickte meine Eltern und mich wieder nach Hause.

Was in den darauffolgenden Wochen wirklich geschah, ist heute für mich leider nicht mehr nachvollziehbar. Eines Tages erreichte uns ein Brief von einer Schule für Körperbehinderte in Oehrenfeld. Ich sollte dorthin kommen und man wollte erst einmal für vier Wochen testen, ob ich überhaupt schultauglich sei. Mit dieser Aufforderung konnte zunächst niemand von uns etwas anfangen. Vermutlich muss sich Frau Dr. Reichelt doch ein Herz gefasst und sich mit dieser Sonderschule in Verbindung gesetzt haben. So sollte ich vielleicht doch eine Chance bekommen, eine Schule besuchen zu dürfen.

Meine Eltern machten sich kundig, wo Oehrenfeld überhaupt liegt und was das genau für eine Einrichtung war. Ein Blick auf die Landkarte blieb erfolglos. Wir fragten uns: »Gibt es diesen Ort eigentlich?« Aber wenn es so in dem Brief stand, musste es ihn ja geben.

Die Spur führte in den Harz. Nahe Wernigerode liegt der Ort Darlingerode und Oehrenfeld ist davon ein Ortsteil. So richtig vorstellen, wo es wirklich liegt, konnte sich dennoch niemand. Zwei Dinge standen allerdings fest: Es musste irgendwo im Harz und ziemlich nah an der damaligen innerdeutschen Grenze liegen.

Zu dieser Schule gehörte ein Internat. Es war gut, dass ich dieses Wort noch nicht kannte und mir meine Eltern immer nur von den schönen Seiten eines Internats erzählten. Aus heutiger Sicht denke ich, dass ich mich strikt geweigert hätte dorthin zu fahren, wenn ich gewusst hätte, was eigentlich auf mich zukam bzw. mich erwartete. Ein Leben in einem Internat bedeutet, getrennt von lieben Menschen zu sein. Dies ist bei Weitem keine leichte Entscheidung für Eltern, zumal sie abwägen müssen, was das Beste für ihr Kind ist. Meinen Eltern, aber auch meinen Großeltern, wurde es mulmig bei dem Gedanken, mich bald in diese Einrichtung abgeben zu müssen. Doch war dies die einzige Chance, mich eine Schule besuchen zu lassen!

Oehrenfeld liegt zirka 130 Kilometer von Zerbst entfernt; viel zu weit, um jeden Tag mit dem Auto zu fahren. Es führte daher kein Weg daran vorbei: Wenn ich zur Schule gehen wollte – und sollte – musste ich in dieses Internat!

Oehrenfeld

Am 3. September 1973, ein Montag, war es so weit. Ein neuer Lebensabschnitt sollte für mich, aber auch für meine Eltern beginnen. Dieser Tag muss so prägend für mich gewesen sein, dass ich mich bis heute nahezu an jede Kleinigkeit erinnere.

Da noch immer niemand genau wusste, wo Oehrenfeld genau liegt, wurden meine Mutti und ich in aller Frühe von einem Krankentransport abgeholt. Diese Fahrt war eine unvergessliche Tortur für mich, denn ich musste nahezu während der ganzen Strecke hinten auf der schmalen Pritsche liegen. Zudem roch es sehr stark nach Desinfektionsmittel. Meine Mutti saß die ganze Zeit neben mir. Wegen der Milchverglasung konnte auch sie kaum nach draußen schauen. Bei Halberstadt nahm sie mich auf den Arm, damit ich eine bessere Sicht auf die nun zum Vorschein kommenden Berge hatte. Es zeigten sich schon erste Anzeichen der einsetzenden Laubfärbung. Frau Dr. Reichelt, die Ärztin, die mich vor wenigen Wochen noch nicht einmal einschulen wollte, fuhr mit. Sie saß vorn. Als sie sah, dass meine Mutti mich hochnahm, sagte sie streng: »Aber gleich wieder hinlegen.«

Es war eine Irrfahrt ohne Gleichen. Wenn man nicht richtig sieht bzw. hört, wohin man hinfährt und was da vorne gesprochen wird, ist das doppelt so aufregend. Ja, ich freute mich zu diesem Zeitpunkt immer noch auf das Internat, denn ich ahnte noch nicht, was da auf mich zukommen sollte.

Nach und nach nahm die Zahl der Bäume merkwürdigerweise stark zu. Der Weg wurde unebener und steiniger. Der Fahrer meinte: »Hier können wir nicht richtig sein«, und schon standen wir mit unserem Krankenwagen mitten in einem dunklen Wald. Dies war mit Sicherheit nicht der richtige Weg. Es dauerte auch nicht lange und ein Soldat mit einem Gewehr kam uns entgegen. Wir mussten irgendwie bis hinter Ilsenburg gefahren sein. Hier begann das Sperrgebiet der damaligen Grenze. Der Wachposten wirkte jedoch recht nett. Er musste den Weg nach Oehrenfeld gekannt haben. Sicherlich waren wir nicht die Ersten, die sich hier verirrt hatten.

Nach etwa einer weiteren Viertelstunde fanden wir Oehrenfeld und das Internat. Ich dachte: »Nun ist es so weit, jetzt kommst du in dieses Internat.« Aus dem Krankenwagen konnte ich nicht wirklich viel erkennen. Ich sah nur einige gelblich gestrichene Baracken und eine Villa, die in Fachwerkbauweise errichtet war. Umgrenzt wurde das Ganze von einem braun-grauen Zaun.

Frau Dr. Reichelt stieg aus und ging zielstrebig in die Villa. In dieser muss sie wohl Leute angetroffen haben, die ihr Auskunft gaben. Als sie zurückkam, winkte sie. Wir sollten weiterfahren. Es gab ein zweites Haus, nicht weit vom ersten entfernt, welches wir auch nach kurzer Zeit fanden.

Es handelte sich um eine weitere schöne, alte Villa. Zu dieser führte ein steiniger Schotterweg, welcher sich kurz vor dem Haus gabelte. Direkt davor stand ein riesiger Ahornbaum.

Der Krankenwagen hielt und wir stiegen aus. Meine Mutti trug mich etwa fünf Stufen hoch und hinein in einen Flachbau, der links die Villa erweiterte. Wir schienen den Eingang für Besucher erwischt zu haben. Erst später stellten wir fest, dass es noch einen ebenerdigen Eingang für die Kinder und die Rollstühle gab, der sich an der rechten Seite der Villa befand. Dies war jedoch für uns in diesem Moment nur nebensächlich.

Zunächst betraten wir einen länglichen Flur, der durch eine Fensterfront recht hell wirkte und nach frisch gestrichenem Holz roch. Niemand war zu sehen. Wir gingen den Flur entlang und kamen in die an den Flachbau angrenzende Villa. Es muss so eine Art Vorraum gewesen sein. Dieser erschien sehr dunkel, da er fast zentral im Haus lag und in ihn kaum Licht fiel. Ein Geruch von alten Mauern und Holz von den Treppen verbreitete sich. Hier trafen wir eine Frau, die zum Personal gehören musste. Sie sprach uns an und führte uns gleich in einen großen Raum, der sehr riesig erschien. In dessen Mitte stand ein deckenstützender Pfeiler. Dieser war im Gegensatz zum Flur regelrecht lichtdurchflutet. Wir standen im Gruppenraum der Vorschule.

Dort saßen, für mich ungewöhnlich, viele Kinder an einem großen langen Tisch sowie auf dem Fußboden. Sie spielten. Zwei Frauen, die Erzieherinnen Fräulein Fischer und Fräulein Kleinert, unterhielten sich gerade an einem weiteren Tisch. Beide waren noch recht jung. Sie konnten noch nicht lange in diesem Beruf tätig gewesen sein. Fräulein Fischer trug lange schwarze Haare und wirkte lang gewachsen und zierlich. Fräulein Kleinert hingegen hatte kurze, helle Haare und erschien etwas kleiner und pummeliger.

Als sie meine Mutti mit mir auf dem Arm sahen, standen sie sofort auf und nahmen uns freundlich in Empfang. Meine Mutti war froh, mich endlich einmal absetzen zu können, denn ich wurde ihr auf dem Arm doch mit der Zeit ziemlich schwer. Ich sollte mich nun zu den anderen Kindern an den Tisch setzen. Auf einen Stuhl! »Aber hier sind ja gar keine seitlich stehenden Stühle, so wie bei Oma!«, dachte ich. Ich bekam Angst! Diese spürte Fräulein Kleinert anscheinend und sagte einfühlsam zu meiner Mutti: »Dann setzen wir ihn hier mit auf die Matte.« Dort konnte ich wie gewohnt sitzen und war erst einmal zufrieden. Neben mir saß ein Junge, Ingo. Ich empfand ihn als einen Riesen. Er war bestimmt einen ganzen Kopf größer als ich.

Meine Mutti nahm an dem Tisch der beiden jungen Erzieherinnen Platz. Sie sprachen sicherlich über einige organisatorische Dinge. Dies interessierte mich wenig. Zunächst! Ich spielte mit Ingo. Er hatte einen schönen großen Bagger, der mich mehr interessierte. Obwohl Ingo so riesig war, freundete ich mich mit ihm gleich an.

Auf einmal schaute ich zu Mutti. Doch an dem Tisch saß sie nicht mehr! Aufgeregt und völlig aufgelöst sah ich mich im Raum um. Mutti war weg! Einfach nicht mehr da! Und richtig. Auf Anraten von Fräulein Fischer und Fräulein Kleinert schlich sich meine Mutti in einem Augenblick, in dem ich abgelenkt spielte, aus dem Raum.

Noch nie zuvor gesehene, dicke Tränen schossen mir ins Gesicht. Ich fing nicht an leise zu weinen, sondern brüllte aus voller Kehle drauf los. Nun wusste ich, was es hieß, in einem Internat zu sein. Getrennt von den Lieben zu Hause und von der gewohnten Umgebung. Ich schrie fast das ganze Haus zusammen. Irgendwie schafften es die beiden Erzieherinnen mich zu beruhigen. Fräulein Kleinert nahm mich mit Bedacht auf ihren Arm, setzte mich an den großen Tisch und blieb neben mir sitzen. So milderte sie meine Angst, vom Stuhl zu fallen. Es gab Mittagessen, Grießbrei mit Kirschen. Liebevoll fütterte sie mich.

Nun war ich in Oehrenfeld, einer Schule für körperbehinderte Kinder und Jugendliche, der ein Internat angehörte. Eigentlich stimmt dieser Sachverhalt nicht ganz. Es verhielt sich tatsächlich andersrum. Die »Heilstätte für konservative Orthopädie«, so die damalige korrekte Bezeichnung, war eine Einrichtung des Gesundheitswesens – also ein Internat mit angeschlossener zehnklassiger Oberschule, die den Jugendlichen einen allgemein anerkannten Schulabschluss ermöglichte. Zwar gab es einen schulischen Direktor, Herrn Rudi Mertens, doch der Arzt, Herr Medizinalrat Dr. Werner Friedrich war Leiter dieser Einrichtung.

Die Einrichtung in Oehrenfeld existierte schon seit 1924. Sie diente zunächst hilfsbedürftigen Kindern als Erholungsstätte. Der Arzt Dr. Helmut Eckhardt (Name nicht geändert) gründete hieraus 1955 diese Heilstätte des Gesundheitswesens mit besagter Schule.

Die gesamte Einrichtung unterteilte sich in zwei Komplexe, einen größeren, genannt »Heim I« und einen kleineren, dem »Heim II«. Beide lagen etwa 500 Meter auseinander.

Im größeren Komplex waren die Kinder und Jugendlichen der Klassen 3 bis 10 untergebracht. Diesen Komplex sollte ich erst einige Jahre später kennen lernen.

Das »Heim II« bestand aus der schon erwähnten alten Villa und dahinter einem schönen großen Garten mit einem Spielplatz.

Etwa zehn Meter rechts seitlich und parallel zur Villa stand ein ziemlich großer Backsteinbau mit einem hohen Schornstein. Die beiden Gebäude schlossen so den Hof ein. Neben zahlreichen Kammern zum Aufbewahren von Gartengeräten und -möbeln befand sich in diesem Steinbau auch der Heizungskeller. Von hier aus wurde die gesamte Villa geheizt. Quer über den Hof ging in gewisser Höhe ein dickes, eingepacktes Rohr, wahrscheinlich der Vorlauf für die Heizung. Direkt darunter auf dem Boden sah man einen abgedeckten Schacht. In ihm verlief entsprechend das Rohr für den Rücklauf der Heizung.

Den Backsteinbau und die Villa verbanden im hinteren Drittel des Hofes ein Schleppdach und eine auf der Rückseite der zwei Gebäude verbindende Bretterwand. Durch diese Wand führte eine kleine Tür in den Garten. Den größten Teil des so überdachten Hofes nahm das Lager für die benötigte Kohle in Anspruch.

Ach ja, an dem sogenannten Heizhaus befand sich noch ein winziger Seitenanbau, der dem Personal Platz für ihre Toilette bot. Es muss im Winter auf diesem Örtchen bestimmt lausig kalt gewesen sein, wenn jemand dort hinüber ging.

Das gesamte Grundstück umgab ein dunkelbraun gestrichener Zaun. Auf der Länge zwischen den beiden Gebäuden war er höher und die Bretter so eng, dass man kaum hindurch sehen konnte. Hinter dem niedrigen Zaun sah man schön angelegte Blumenrabatten.

Die Villa hatte ein Erdgeschoss, eine obere Etage sowie einen ausgebauten Dachboden. Das Erdgeschoss war seitlich noch um den schon erwähnten Flachbau erweitert worden. Auf der gesamten unteren Ebene fand man den Raum für die Vorschule, welcher auch der größte war. Außerdem befanden sich hier einige Schlafräume, der Waschraum, ein bis zwei Klassenzimmer sowie der Gymnastikraum. In einer kleinen Küche bereitete man die Mahlzeiten zu. Das Mittagessen wurde jedoch jeden Tag aus der großen Küche gebracht, die sich im »Heim I« befand.

Die obere Etage des »Heims II« beherbergte zwei weitere Klassenräume, einen kleinen Aufenthaltsraum für das Personal sowie weitere Schlafräume. Zu diesen Räumlichkeiten führten zwei Treppen. Einige Kinder, die unten ihren Klassenraum hatten, schliefen teilweise hier oben. Diejenigen, die nicht allein die Treppen hinauf kamen, wurden hoch getragen. Einen Fahrstuhl gab es nicht.

Im Dachgeschoss richtete man einige Zimmer für das Personal her, welches von weiter entfernt kam und nicht jeden Tag zur Arbeit fahren konnte. Hier oben hatten ebenfalls die Lehrer ihr Zimmer. Desweiteren existierten auf dem Boden noch kleine Kammern, die zur Aufbewahrung von Dingen jeglicher Art dienten.

Im Innenbereich des Heims II sah man kaum Rollstühle, das war den Kindern aber egal, da sie sich auch ohne gut fortbewegen konnten. Wir bewegten uns so vorwärts, wie wir es von zu Hause her gewohnt waren, meistens krabbelnd. Sollten die Hände nach dem Waschen einmal sauber bleiben, dann wurden wir von den Erziehern oder Pflegern an den Tisch gesetzt oder ins Bett getragen.

Für unser körperliches Wohlbefinden kümmerte sich das pflegerische Personal. Es sorgte unter anderem für hygienische und medizinische Maßnahmen, wie zum Beispiel die Medikamentengabe. Neben den Lehrern waren auch Erzieher tätig, die uns hauptsächlich am Nachmittag betreuten und mit uns beispielsweise Hausaufgaben machten. Aber die Erzieher brachten uns abends auch ins Bett und unsere Pflegekräfte schauten uns bei den Hausaufgaben schon mal über die Schulter. Es war ein harmonisches Zusammenspiel der Mitarbeiter, ein Hand in Hand aller Angestellten. Durch diese enge Zusammenarbeit entstand eine Atmosphäre, die einer Großfamilie glich. Egal ob Lehrer, Erzieher oder Pfleger, der eine war einfach für den anderen da, wenn auch vornehmlich für seinen zuständigen Bereich. Niemand hielt sich für etwas Besseres! Jeder der Beschäftigten brachte uns Kindern seine ganz eigene Fürsorge, ja teilweise Liebe entgegen. Wir fühlten uns geborgen! Und gerade dieses persönliche Engagement der Mitarbeiter machte unter anderem das Einmalige dieser Einrichtung aus.

Schnell lebte ich mich in Oehrenfeld ein. Das Leben und das Spielen in der Vorschule mit den anderen Kindern machten mir richtig viel Spaß. Ich lachte viel und gern.

Seitdem ich in Oehrenfeld war, hatte ich ein Problem. Ich konnte immer noch nicht ohne Unterstützung allein auf einem Stuhl sitzen. Eines Tages kam Fräulein Kleinert auf die Idee, einmal auf dem Dachboden zu sehen, ob sich dort nicht noch eine alte Sitzgelegenheit auftreiben ließ. Und tatsächlich wurde sie fündig. Es war ein ganz kleines niedriges Stühlchen aus Holz. Schnell befreite sie es vom Schmutz. Zu meiner Freude hatte der Stuhl sogar seitliche Lehnen. Der schien gerade auf mich gewartet zu haben! Als der Stuhl sauber war, wurde ich gleich hineingesetzt. Jeder war gespannt, wie ich mit ihm zurechtkam.

Ein erster Erfolg zeigte sich dann gleich. Ich schrie schon mal nicht mehr. Doch noch immer muss ich Angst gehabt haben. Ich machte mich so steif, dass ich die Beine hochnahm und so nach vorne vom Stuhl rutschte. Es half nur noch eine Methode. Man holte eine Binde und wickelte sie um mich und die Rückenlehne des Stuhles. So konnte ich wenigstens halbwegs – »gefesselt« – allein auf einem Stuhl sitzen. Eine Lösung auf Dauer war dies natürlich nicht. Da half nur eins: Physiotherapie!

Um unsere körperlichen Fähigkeiten zu testen und zu fördern, hatten wir von Anfang an Physiotherapie. (Dies wurde bei uns früher als »Heilgymnastik« bezeichnet. Später sagte man aber »Physiotherapie«, da das Wort »Heil…« nicht mehr genannt werden sollte, weil es an vergangene Zeiten erinnerte.)

Fast alle Kinder gingen überhaupt nicht gern dorthin. Dies hatte einen triftigen Grund: die Physiotherapeutin Frau Ziegenbarth, eine schon ältere Frau. Sie erschien in kräftiger und hochgewachsener Gestalt mit grau meliertem Pagenschnitt. Die Frau trat sehr resolut auf. Schon allein dies flößte uns gehörigen Respekt ein. Sie hatte außerdem Methoden, einem etwas beizubringen, die aus damaliger Sicht haarsträubend, ja fast unmenschlich waren. Diese sollte jeder von uns mehr oder weniger stark zu spüren bekommen.

Wie schon erwähnt, konnte ich kaum auf einem normalen Stuhl sitzen, geschweige dann auf einer Turnbank. Doch dies sollte ich nun erlernen:

Frau Ziegenbarth setzte mich auf eine solche Bank. Ich machte mich sofort steif und rutschte gleich wieder hinunter. Unsere Therapeutin setzte mich ein weiteres Mal auf diese Bank und schwups lag ich erneut unten. Das Spielchen ging ewig. Frau Ziegenbarth schien unendliche Ausdauer zu haben, ich aber auch! Letztendlich schmiss ich mich schon aus Gnatz auf den Boden. Ich schrie, kratzte und biss sogar. Sie packte mich immer wieder an den Sachen und stauchte mich regelrecht auf die Bank. Ich weinte bitterlich und rief nach meinen Eltern. Doch die waren ja nun einmal nicht da. Ich dachte: »Das scheint die auszunutzen.«

Mit der Zeit merkte ich langsam, dass ich mit Gnatz und einem Böckchen bei Frau Ziegenbarth nicht durchkam. Dies schien ihr Herz nicht zu erweichen. Ich zeigte einen guten Willen. Und siehe da, sie wurde auf einmal ganz zugänglich. Nun übte sie mit mir ganz ruhig und verständnisvoll das Sitzen auf der Turnbank. Bald konnte ich es. Von da an klappte auch das Sitzen auf meinem Stühlchen alleine und ohne fesselnde Binde.

Frau Ziegenbarth hatte allgemein sehr eigene Methoden, uns Kindern etwas beizubringen. So zum Beispiel bei denjenigen, die durch eine Halbseitenlähmung ihren einen Arm beziehungsweise ihre Hand nicht richtig bewegen konnten. Sobald sie merkte, dass dieses Kind keinen Willen zeigte, seinen »kranken« Arm zu benutzen, band sie den »gesunden« auf den Rücken. So wurde das Kind kurzerhand gezwungen, seine gelähmte Hand beziehungsweise seinen Arm zu benutzen.

Viele Eltern beschwerten sich bei Herrn Mertens und Herrn Friedrich über die Behandlungsmethoden von Frau Ziegenbarth. Erfolg hatten sie kaum. So gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder die Eltern nahmen ihre Kinder aus der Physiotherapie oder sie duldeten die ungewöhnlichen Lernmethoden. Meine entschieden sich für Letzteres, wofür ich ihnen heute sehr dankbar bin!

Einsicht kommt meistens spät. So verhält es sich auch bei mir. Aber wie soll man als kleines Kind wissen, dass es so eine Frau im Grunde nur gut mit einem meint? Man denkt in diesem Augenblick nur: »Die Frau tut mir weh. Die ist böse.« Was Frau Ziegenbarth mit ihren durchaus umstrittenen Methoden bezwecken wollte, das begreift man erst hinterher.

Vorbereitung auf die Schule

Die ersten Wochen und Monate in der Vorschule vergingen sehr schnell. Die vier Wochen Probezeit hatte ich ohne besondere Vorkommnisse hinter mir und lebte mich schnell in die Gruppe ein. Man wollte mich vorerst in Oehrenfeld behalten und mich zu gegebener Zeit noch einmal auf meine Schultauglichkeit testen.

Doch für ein Mädchen aus unserer Vorschulgruppe war die Probezeit nach vier Wochen vorbei. Schnell merkte man, dass sie uns anderen Kindern geistig weit unterlegen war. Sie störte die Beschäftigungen und besonders die Nachtruhe. Sie lief nachts umher und machte sich in der Regel in der Küche zu schaffen. Dann aß sie aus dem Futtereimer, in dem eigentlich die Speisereste für die Schweine gesammelt wurden. Das Verhalten des Mädchens war einfach zu auffällig und so wurden ihre Eltern gebeten, ihr Kind wieder mit nach Hause zu nehmen.

Da viele Kinder von weit entfernt nach Oehrenfeld kamen, lohnte es sich kaum, dass unsere Eltern uns jedes Wochenende nach Hause holten. Abgesehen von den langen Fahrzeiten wäre dies für uns Kinder eine viel zu ungeheuerliche Achterbahn der Gefühle geworden. Frühestens am Freitagmittag hätten unsere Eltern anreisen können. Die Freude darauf wäre bei uns Kindern natürlich unendlich groß gewesen. Doch die effektive Zeit, die wir dann in unserem Elternhaus verbringen würden, wäre nicht wirklich lang gewesen. Schon spätestens Sonntag nach dem Mittagessen hieße es dann wieder: »Ab nach Oehrenfeld«. Traurigkeit machte sich so den ganzen Sonntag breit.

Um uns diese Gefühlsschwankungen zu ersparen, zeigte die Erfahrung, dass es für uns Kinder, aber auch für die Eltern besser war, uns nur zu den Ferien abzuholen. Waren die Zeiten zwischen den Ferien etwas zu lang (unter anderem zwischen den Herbst- und Weihnachtsferien) richtete man einen Besuchssonntag ein.

Solche Sonntage hasste ich eigentlich. Zwar freute ich mich, dass ich meine Eltern einmal wieder sah. Doch wusste ich, dass sie nach wenigen Stunden abermals ohne mich nach Hause fahren würden. Meistens war an diesen doch ersehnten Sonntagen auch noch Elternversammlung. So blieb im Grunde noch weniger gemeinsame Zeit für uns mit unseren Eltern.

Am ersten Besuchssonntag, den ich in Oehrenfeld erlebte, fand ein Gespräch zwischen Herrn Dr. Friedrich und meinen Eltern statt. Herr Dr. Friedrich hatte sehr viele Erfahrungen aus seinem jahrelangen Umgang mit körperlich behinderten Kindern. Er konnte zum ersten Mal meinen Eltern klipp und klar sagen, was es mit meiner Behinderung auf sich hat. Meine Eltern erfuhren, dass ich geistig vollkommen entwickelt bin. Nur das Gehirn konnte auf Grund des Sauerstoffmangels bei der Geburt meinen Körper nicht richtig steuern. Deshalb habe ich diese krampfartigen Bewegungen. Etwas scherzhaft meinte Herr Dr. Friedrich: »Mit dieser Behinderung kann ihr Sohn hundert Jahre alt werden.«

In den Monaten vor der Einschulung wurden ich und die anderen Kinder intensiv auf die Schule vorbereitet. Wir waren sechs Kinder in der Vorschulgruppe. Durch diese überschaubare Anzahl konnte mit jedem von uns intensiv geübt werden.

Da es in Oehrenfeld eine allgemein übliche zehnklassige polytechnische Oberschule gab, orientierten sich auch die Beschäftigungen in der Vorschule an dem Bildungs- und Erziehungsplan des damaligen Bildungswesens.

In zahlreichen und durchaus lustigen Beschäftigungen brachten uns Fräulein Kleinert und Fräulein Fischer bei, mit Mengen zu rechnen und zu zeichnen. Beim Zeichnen übte man mit uns unter anderem schräge und gerade Striche sowie verschiedene Bögen. Die Kinder aus meiner Vorschulgruppe meisterten diese Übungen relativ leicht, konnten sie doch zumindest eine ihrer Hand richtig bewegen. Bei Detlef, der ebenfalls wie ich Spastiker war und Koordinierungsschwierigkeiten der Hände hatte, konnte man immerhin mit ein wenig Geduld erkennen, was er zeichnete. Hingegen war bei mir auch nicht mit größter Fantasie zu erahnen, was ich da unter gewaltigen Anstrengungen zu Papier brachte. Nur durch Führen meiner Hand war ein einigermaßen akzeptables Ergebnis erkennbar.

Zum Rechnen nahmen wir kleine farbige Holzstäbchen, aber auch andere geometrische Figuren zu Hilfe. Während ich das Rechnen problemlos im Kopf bewältigte, bereitete es mir große Mühe, die Stäbchen und Figuren auf dem Tisch geordnet hinzulegen. Immer wieder stieß ich sie durch meine unkontrollierten Bewegungen der Hände durcheinander. Auch hier gelang es mir nur mit Hilfe der Erzieherinnen (sie führten meine Hände), die Stäbchen und Figuren einigermaßen richtig abzulegen.

Natürlich stand auch Basteln auf unserem Programm. In den meisten Fällen war hier der Umgang mit einer Schere erforderlich. Während die anderen Kinder bei dieser nicht ganz ungefährlichen Tätigkeit unter strenger Kontrolle der Erzieherinnen standen, gab man mir verständlicherweise erst gar keine Schere in die Hand. Zu groß wäre für mich und die Anderen die Verletzungsgefahr gewesen.

In weiteren Beschäftigungen lernten wir Lieder und Gedichte, was mir besonders leicht fiel und mir immer Freude bereitete. Als mich meine Eltern Ostern wieder einmal nach Hause holten, sagte ich ihnen spontan ein für diesen Anlass gelerntes Gedicht auf, worüber sie sich sehr freuten.

Das Radio war zu diesem Zeitpunkt so ziemlich die einzige Verbindung zur Medienwelt. Es gab zwar in unserem Haus einen Fernsehapparat (damals in schwarz/weiß), doch dieser stand in der ersten Etage und wir Kinder vermissten ihn im Grunde auch überhaupt nicht.

Neben der Unterhaltung wurde das Radio natürlich für einige Beschäftigungen genutzt. Da gab es eine Sendung, die speziell für Vorschulkinder gemacht wurde, das »Butzemannhaus«. Dies kam in der Woche immer morgens von 8.40 bis 9.00 Uhr im »Radio der DDR«. An jedem Tag der Woche stand die Sendung unter einem anderen Thema. So wurden meines Wissens nach Geschichten erzählt, zum Beispiel»Vom kleinen Pfennig«.1 An einem anderen Tag sangen Kinder bekannte Lieder, bei denen wir mit einstimmen konnten. Mit der Zeit wussten wir schon immer, was an welchem Tag kam. Das »Butzemannhaus« stellte einen festen Bestandteil unserer Beschäftigungen dar, sofern keine besonderen Aktivitäten wie Spaziergänge geplant waren. Dementsprechend freuten wir uns mehr oder weniger auf die Sendungen, je nach dem, welches Thema an den Tagen dran war. Doch einen besonderen Tag werde ich nicht vergessen:

Es war wieder einmal ein Mittwoch, die Zeit um den 30. November, meinem Geburtstag. Draußen begann es in der düsteren Zeit gerade Tag zu werden. Fräulein Kleinert setzte uns vor das Radio – es war noch ein alter großer aus Holz gefertigter Röhrenapparat – um das »Butzemannhaus« zu hören. Für uns Kinder verlief alles wie gewohnt. Wir quasselten noch miteinander, während die Sendung schon anfing. Wir wussten, dass mittwochs immer die »Glückwunschtante« mit ihrem Teddy »Brummelchen« Glückwünsche für Kinder über den Sender schickte. Dies fanden wir eher langweilig. Kannten wir die Kinder ja sowieso nicht, die da genannt wurden.

Doch an diesem Tag mahnte uns Fräulein Kleinert ungewöhnlich oft zur Ruhe. Warum nur? Hatte sie sich etwas ausgedacht, von dem wir noch nichts ahnten?

Ja und so war es tatsächlich. Immer wenn die »Glückwunschtante« die Namen der Kinder aufzählte, die Geburtstag hatten, sollten wir ganz still sein und Fräulein Kleinert drehte das Radio ein wenig lauter. Und ganz plötzlich, total unerwartet erklang aus dem Lautsprecher mein Name, »Mario Ganß«. Schlagartig war es natürlich dann mit der Ruhe vorbei! Ich hüpfte vor lauter Aufregung fast aus meinem Stühlchen. Die anderen Kinder riefen in heller Begeisterung wild durcheinander: »Mario, du warst im Radio!« Man kann sich vorstellen, dass es anschließend fast unmöglich war, die Sendung noch zu Ende zu hören. Aber das nahm Fräulein Kleinert spielend in Kauf, denn ihr war ja die Überraschung absolut gelungen!

Hinterher erzählte mir Fräulein Kleinert, dass meine Oma die ganze Sache ausgeheckt hatte. Sie rief beim Sender an und bestellte die Glückwünsche zu meinem Geburtstag.

Richtig viel Spaß machten uns die Turnstunden mit Fräulein Fischer und Fräulein Kleinert. Hier konnten wir, im Gegensatz zur Physiotherapie, einmal nach Herzenslust so richtig herumtoben. Keiner achtete dabei so streng darauf, dass wir uns nicht so bewegten, wie wir es eigentlich bei Frau Ziegenbarth immer tun mussten.

Nach den lehrreichen Beschäftigungen blieb natürlich viel Zeit zum Spielen. Dafür eignete sich unser Gruppenraum bestens, da er sehr groß war. Der riesige Traktorreifen hatte es uns allen besonders angetan. Mit ihm spielten wir alle am liebsten. Konnte man sich doch in seinem Inneren so schön verstecken und sich mit ihm durch die Gegend rollen lassen.

Wenn der gegenüberliegende Gymnastikraum nicht gerade für die Physiotherapie oder den Sportunterricht genutzt wurde, durften wir auch in diesem spielen, meistens am Nachmittag oder am Wochenende. Dann waren auch die anderen Kinder aus der ersten und zweiten Klasse dabei. Oft spielten wir »Feuer, Wasser, Sturm«. Dieses Spiel mochten wir fast alle sehr gerne, denn es eignete sich gut zum Austoben. Dabei ging es darum, Kommandos einer Erzieherin so schnell wie möglich zu folgen. Sagte sie »Feuer«, dann rannten beziehungsweise krabbelten alle Kinder durch den Raum. Bei »Wasser« suchte sich jeder etwas, worauf man klettern konnte, die Sprossenleiter zum Beispiel, aber eine Matte tat es auch. »Sturm« war das Zeichen, sich flach auf den Boden zu legen. Derjenige, der bei diesen Anweisungen jeweils der Letzte war, schied aus.

Die Spaziergänge an der frischen Luft standen bei uns Knirpsen ganz oben auf unserer Wunschliste.

Für diese Ausfahrten standen uns solche Rollstühle zur Verfügung, wie ich einen davon zu Hause hatte. Obwohl sich der Rollstuhl für meine Eltern eher als unhandlich erwies, war dieser für Spazierfahrten mit mehreren Kindern durchaus praktisch. Wegen der langen Sitzfläche hatten in ihm gleich zwei Kinder Platz. Einige Kinder aus der Vorschule waren recht gut zu Fuß. Dennoch erwies es sich als günstiger für sie bei längeren Spaziergängen eine Sitz- und Fahrgelegenheit zu haben. So bot unter gegebenen Umständen der lange Fußkasten des Rollstuhles Platz für ein drittes Kind. Auf diese Weise bekamen unsere beiden Erzieherinnen uns sechs Kinder auf einmal unter. Wegen den größeren starren Rädern vorn am Rollstuhl war dieser auch ganz gut für die in dieser Gegend verbreiteten unebenen Wege geeignet.

Die nähere Umgebung bot sich für schöne Spaziergänge regelrecht an. Nicht weit von unserem Haus entfernt begann ein großer Wald. Unweit von diesem schloss sich ein kleiner Teich mit einer hübschen Wiese an. Hier ließ es sich hervorragend spielen und herumtoben. Wenn der Boden nicht zu nass war, setzten uns die Erzieherinnen auf die Wiese und wir konnten herumkrabbeln. Manchmal nahmen wir Decken und etwas zu essen mit. Das Picknick am Teich war dann immer etwas Besonderes.

Einen erfrischenden Spaziergang durch den Wald empfand ich oft als ziemlich schaurig. Es gab Stellen, an denen der Baumwuchs der Fichten sehr dicht war. Düsterheit und somit eine gewisse gruselige Stimmung machten sich breit. Oft kamen wir an Kreuzungen vorbei, deren Wege noch tiefer in den Wald hineingingen. Insgeheim wäre ich diese Wege gern einmal entlang gegangen, um zu erfahren, wo sie hinführten.

Selbst der Winter hinderte uns nicht daran, die kalte, aber klare Luft zu genießen. Dann größtenteils auf zwei Kufen. Zwar bedeutete dies für unsere Erzieherinnen immer zusätzliche Arbeit. Mussten wir doch zunächst einmal warm angezogen werden. Dann wurden die Schlitten herausgeholt. Einen nicht unerheblichen Nachteil bei diesen Aktionen gab es: kurioserweise die vom Schnee geräumten Wege. Die Kinder, die einigermaßen gut zu Fuß waren, konnten ja die betreffenden geräumten Stellen selbst gehen. Doch mich, der noch nicht einmal alleine stehen konnte, musste man mit dem Schlitten über den so manchmal blanken Weg ziehen. Da auch andere Kinder, gerade bei Schnee, schlecht laufen konnten, wurden auch schon einmal zwei Kinder auf einen Schlitten gesetzt. Dies bedeutete oft für die Erzieherinnen eine ganz gewaltige Plackerei, zwei Kinder gleichzeitig über stellenweise blanke Steine zu ziehen. Doch niemand von ihnen tat dies widerwillig, da sie ebenfalls durchaus Spaß an der Sache hatten!

An Bergen für ein flottes Rodeln mangelte es bei uns keinesfalls. Unter anderem schlängelte sich ein geeigneter langer Berg gleich hinter unserem Haus entlang. Bei solchen Schlittenfahrten gingen Frau Fischer und Fräulein Kleinert entweder nur mit einigen Kindern oder es kamen noch ein oder zwei von den Pflegern hinzu. Ein weiterer leerer Schlitten wurde mitgenommen. Der Grund war einfach. Es passten zwar immer zwei Kinder auf einen Schlitten, doch beim Herunterrodeln der Berge musste immer ein Erwachsener mitfahren. Während dieser Zeit setzte man das zweite Kind auf den leeren Schlitten. Man konnte uns ja nicht einfach in den Schnee setzen und warten lassen, bis die anderen gerodelt waren.

Aber auch ohne Spaziergänge hielten wir uns viel in unserem Garten hinter dem Haus auf. Neben Zierrasen mit Blumenrabatten, die wir nicht betreten durften, lud uns eine große Wiese zum Spielen und Herumtoben ein. Von dieser extra abgetrennt gab es Spielgeräte wie ein Karussell und eine Schaukel. Bänke fand man hier natürlich auch. Wer nicht allein laufen konnte, wurde in den Garten getragen und auf eine Bank oder gleich auf die Wiese gesetzt.

Ich kann mich kaum erinnern, dass wir Rollstühle benutzten, wenn wir in den Garten gingen. Wenige Ausnahmen gab es, und zwar für die Kinder, die entweder zu schwer waren oder sich gerade etwas gebrochen hatten. Dies kam gar nicht so selten vor, denn einige Kinder hatten die sogenannte »Glasknochenkrankheit«.

Etwas, dem wohl alle Kinder während eines Schuljahres entgegenfiebern, sind die großen und kleineren Ferien. Da machten wir Vorschulkinder keine Ausnahme. Wir hatten immer mit den Schulkindern zeitgleich Ferien. Den Tag der Abreise konnten wir verständlicherweise kaum erwarten. War so endlich erneut die Zeit gekommen, seine Eltern nach etwa vier bis sechs Wochen in die Arme schließen zu können. Die Koffer waren meistens schon gepackt und so hieß es, so schnell wie möglich ins Auto und ab nach Hause. Unterhielten sich meine Eltern dann noch mit den Erzieherinnen, so drängelte ich vehement. Die Freude, nach so langer Zeit in seine gewohnte Heimat zu kommen und seine lieben Verwandten wiederzusehen, war einfach riesig!

Aber so groß die Freude war, einmal nach Hause zu fahren, bedeutete dies auch ebenso jedes Mal Schmerz, wieder nach Oehrenfeld fahren zu müssen. Diese Tage hasste ich sehr! Schon ab Halberstadt fing ich an zu schluchzen. Dies steigerte sich bis Oehrenfeld in ein tränenreiches und lautes Weinen. Man wird es wohl schon vom Weiten gehört und sich gedacht haben: »Jetzt ist wieder Mario Ganß im Anmarsch.« Meine Eltern fackelten beim Abschied auch nicht lange. Sie übergaben mich dem Personal und verschwanden dann gleich. Auch wenn diese Art und Weise vielleicht nicht gerade die schönste war, sich voneinander zu verabschieden, stellte sie sich dennoch für mich als die beste heraus. Nachdem meine Eltern gingen, weinte ich noch einen kurzen Moment. Dann sah ich meine Freunde, fing an, mit ihnen zu reden oder zu spielen und die Welt war für mich halbwegs in Ordnung.

Mit der Zeit und in den kommenden Jahren wurde dieser Trennungsschmerz zwar immer weniger, doch so richtig verschwand er nie.

Eine Entscheidung stand an

Das Jahr in der Vorschule näherte sich dem Ende. Doch ehe es endlich in die ersten langersehnten großen Ferien ging, stand uns Kindern ein abschließender Test bevor. In ihm wollte man noch einmal jedes Kind einzeln prüfen, ob es geistig und physisch in der Lage sein würde, die Schule zu besuchen.

Der Test hatte aber noch einen weiteren Hintergrund, von dem wir Kinder zu diesem Zeitpunkt noch nichts mitbekamen. Eines war klar: Alle Kinder, die in Oehrenfeld eingeschult wurden, mussten schon gewisse geistige Voraussetzungen erfüllen. Nicht umsonst war es eine zehnklassige Oberschule mit einem ganz normalen Lehrplan, nach dem sich auch diese Schule zu richten hatte. Nun gab es aber Kinder, die zwar geistig völlig auf der Höhe ihres Alters waren, aber aufgrund ihrer schweren körperlichen Behinderung trotzdem Schwierigkeiten in der Schule gehabt hätten. Wie sollten diese Kinder unter anderem im Unterricht schreiben? Für langes Üben und Experimentieren mit ihnen sah der vorgeschriebene Lehrplan keine Zeit vor.

Um diesen Kindern trotzdem die Möglichkeit zu geben, in angemessener Weise am Unterricht teilzunehmen und ihr Defizit durch gezieltes Üben zu mindern, sollten ab dem kommenden Schuljahr erstmals sogenannte S-Klassen (Sonder-Klassen) eingeführt werden. Man teilte die ersten zwei regulären Schuljahre in drei auf, also in die Klassen S1, S2 und S3. So gingen wir je anderthalb Jahre in die erste beziehungsweise in die zweite Klasse. Unter diesen Gegebenheiten würde der Klassenlehrer mehr Zeit haben, jedes Kind individuell zu fördern.

Unsere Erzieherinnen bereiteten uns Wochen zuvor in Beschäftigungen auf dieses Ereignis vor. Es sollte ein kleiner Test mit jedem einzelnen Kind durchgeführt werden, der ähnlich einer Beschäftigung ablaufen sollte. Man erzählte uns, dass an diesem Test der Schuldirektor, Herr Mertens, der ärztliche Leiter, Herr Dr. Friedrich und unser zukünftiger Klassenlehrer, Herr Reimert, daran teilnehmen würden. Außerdem sollte unsere Erzieherin, Fräulein Kleinert auch an diesem Tag mit dabei sein. Dies beruhigte mich etwas. Hatte ich so wenigstens eine vertraute Person an meiner Seite.

Der Tag, an dem der Test stattfand, war gekommen. Spannung, was da auf mich zukommen würde, machte sich in mir breit. Jedoch Angst, so wie vor richtigen Prüfungen, hatte ich keine. Ich war einfach noch zu klein, um den wichtigen Sinn dieser Aktion zu begreifen.

Wahrscheinlich wollte man uns schon einmal die Atmosphäre eines echten Klassenzimmers spüren lassen. Deshalb wurde der Test in unserem zukünftigen Klassenraum durchgeführt. Er lag in der oberen Etage. Als letztes von uns sechs Kindern war ich an der Reihe. Vielleicht weil sich meine Behinderung und die damit zu erwartenden Probleme in der Schule als am schwierigsten erwiesen. Fräulein Kleinert trug mich die zwei Treppen hinauf. Wir betraten den Raum. Da er genau über Eck des Hauses lag, hatte er zu zwei Seiten Fenster. Diese ließen sehr viel Licht hinein. In der Mitte des Raumes wurde aus vier kleinen quadratischen Tischen ein großer zusammengestellt. An diesem saßen schon Herr Mertens, Herr Friedrich sowie Herr Reimert. Fräulein Kleinert setzte mich mit in die Runde und nahm neben mir Platz.

Die kleine Beschäftigung führte – zu meiner Freude – Fräulein Kleinert durch. Deshalb war alles fast so gewohnt, wie in den anderen Beschäftigungen auch, abgesehen davon, dass jetzt noch drei für mich relativ fremde Personen zusahen. Eine gewisse Unruhe stieg in mir auf. Dies merkte Fräulein Kleinert und beruhigte mich. Wir fingen einfach mit den doch schon vertrauten Übungen an.

Zuerst sollte ich im Kopf rechnen. Dies fiel mir natürlich nicht schwer und so meisterte ich die erste Aufgabe mit Bravour. Doch dann kamen die bunten Stäbchen ins Spiel. Kaum lagen sie vor mir auf dem Tisch, flogen sie wegen einer unkontrollierten Bewegung meiner Hände auch schon wieder durch die Luft. Fräulein Kleinert hob sie auf und half mir durch Führen meiner Hände, die Stäbchen geordnet hinzulegen, so wie es in dieser Aufgabe verlangt wurde.

Anschließend sollte ich Kreise, Bögen und Linien zu Papier bringen. Dabei unterstützte mich meine Erzieherin ebenfalls, so wie ich es aus den Beschäftigungen zuvor gewohnt war. Dies beobachteten die drei anwesenden Herren mit besonders kritischen Blicken. Der Umgang mit Stift und Papier stellte sich – wie es schon abzusehen war – als die für mich größte Schwierigkeit heraus. Wie sollte ich ohne zu schreiben jemals den vorgegebenen Unterrichtsstoff bewältigen? Zehn Jahre nur theoretischen Unterricht zu haben, das schien fast aussichtslos.

Nach diesen drei Übungen berieten sich Herr Mertens, Herr Friedrich und Herr Reimert. Womöglich länger als bei den Kindern vor mir. Gespannt und voller Ungeduld wartete ich auf ihre Entscheidung. Dann, endlich fiel diese! Da ich mich sonst als ein pfiffiges Kerlchen erwies, wollten sie mich, zunächst unter Vorbehalt, doch einschulen. In den S-Klassen sollte ich die Chance und die Zeit erhalten, wenigstens ein kleines Stückchen Lesbares zu Papier zu bekommen. Herr Reimert, mein zukünftiger Klassenlehrer, war relativ zuversichtlich, dass er auf irgendeinem Weg doch eine Lösung finden würde, mir das Schreiben beizubringen.

So bestand ich also in meinem noch jungen Leben meine erste Prüfung. Meiner Einschulung stand nichts mehr im Weg! Das, wofür meine Eltern so lange gekämpft hatten, sollte nun endlich wahr werden! Fräulein Kleinert nahm mich lächelnd in den Arm und drückte mich ganz fest, sicherlich auch stellvertretend für meine Eltern. Sie erhielten die freudige Nachricht erst einige Tage später in einem Brief. Doch dies tat der frohen Kunde keinen Abbruch.

Schnell vergingen die übrigen Tage bis zu den Sommerferien. Zurückblickend kann ich sagen, dass sich das eine Jahr in der Vorschule vielleicht als eines der prägendsten in meinem Leben erwies. Musste ich mich hier erstmals mit Kindern meines Alters auseinandersetzen. Außerdem lernte ich, von anderen, vorwiegend fremden Personen, Hilfe anzunehmen. Dies ist nun einmal Voraussetzung, um in einem Leben mit einer Behinderung bestehen zu können und so nicht nur auf wenige vertraute Menschen, zum Beispiel seine Eltern, fixiert zu sein.

Endlich war es soweit. Meine Eltern reisten an, um mit mir nach Hause zu fahren. Ich freute mich riesig, denn ich wusste, dass wir in diesem Jahr wieder zelten fahren würden. Doch vor der Heimfahrt gab es noch einen kleinen Wermutstropfen. Ich musste mich von meinen Freunden für längere Zeit verabschieden. Diese Trennung überwand ich jedoch sehr schnell, denn ich sollte alle Kinder im kommenden Schuljahr wiedersehen. Allerdings fiel mir der Abschied von Fräulein Kleinert sehr schwer. Schließlich war sie mir in dem einen Jahr ganz besonders ans Herz gewachsen. Sie fand immer tröstende Worte, wenn ich mal wieder Heimweh bekam oder es mir sonst nicht gut ging und sie war für mich schon fast eine Ersatzmutter geworden.

Letztendlich überwog doch die Freude auf mein Zuhause, nach meinen Großeltern und meinem Bruder. Schnell wurden die Sachen im Auto verstaut und es ging in Richtung Heimat. Acht Wochen verblieben mir, bevor der Ernst des Lebens und somit die Schule für mich beginnen sollte.

Urlaub auf dem Campingplatz

In den Ferien unternahmen meine Eltern und Großeltern mit mir und meinem Bruder stets recht viel.

Schon als Knirps von einem Jahr fuhren meine Eltern mit mir jedes Jahr zum Zelten nach Lehnin. Diese Tradition wurde nun auch in der Ferienzeit beibehalten. Die ersten Jahre kamen meine Großeltern immer noch mit.

Lehnin ist ein kleines Örtchen im Land Brandenburg, direkt an der A2 gelegen. Bekannt ist dieses vielleicht durch sein Kloster.

Natürlich kann ich mich nicht an die allerersten Jahre erinnern. Erst etwa ab da, wo Andreas geboren und dann im Sommer mit zum Zelten genommen wurde.

Jedes Jahr spielte sich etwa drei Wochen vor unserem Urlaub das gleiche Szenario ab. Auf der großen Wiese im Garten meiner Großeltern wurden die Zelte an einem sonnigen Tag aufgebaut. So konnte man sehen, ob alle Teile vom Gestänge und alle Heringe vorhanden waren. Natürlich war ich immer mit von der Partie. Ich krabbelte dann durch das grüne Gras und erkundete jeden Beutel, was da wohl drinnen sei. Manchmal nahm ich mir auch einen Hering und begann, damit Löcher in die Wiese zu bohren. Das bereitete mir ziemlich viel Spaß, wurde mir aber immer wieder bedauerlicherweise untersagt.

Das Raten begann jedes Mal aufs Neue, wohin welche Zeltstange nun hingehört. Mein Vater und Opa begannen dann auch mal die Stangen zu nummerieren. Doch irgendwie half dies nicht wirklich. Sie tüftelten trotzdem mehrere Stunden, bis die Zeltgerüste standen. Hinterher schien alles ganz einfach und logisch zu sein und sie waren frohen Mutes, der Aufbau der Zelte in Lehnin würde zügig voran gehen.

Unsere Familie fuhr mehrere Jahre immer für drei Wochen nach Lehnin, meistens im Juli oder August. Schon allein die Fahrt dorthin war beziehungsweise konnte sehr abenteuerlich werden.

Anfangs besaßen meine Eltern noch kein Auto, sondern nur ein Motorrad. Meine Großeltern fuhren mit ihrem Pkw namens »Trabant« vorne weg und nahmen unser Gepäck mit. Dann kamen wir: mein Vater, meine Mutti und ich. Ja, das ging, zu dritt auf einem Motorrad! Ich saß sozusagen im Sandwich gut geschützt in der Mitte. An manchen Kreuzungen standen damals noch Polizisten, die den Verkehr mit der Hand regelten. Als sie uns drei auf dem Motorrad sahen, schüttelten sie nur lächelnd den Kopf. Was mögen die nur gedacht haben?

Als Andreas dann mitfuhr, hatten wir auch einen Trabant Kombi. Einen, geschweige zwei Anhänger besaßen wir zunächst nicht. Das Gepäck wurde jedoch von Jahr zu Jahr mehr. Um alles auf einmal weg zu bekommen, klappten wir die Rückbänke der Autos um. So hatten wir bedeutend mehr Stauraum zur Verfügung. Nur war so für meinen Bruder und mich eigentlich kein Platz mehr im Auto. Was heutzutage höchst fahrlässig ist, schien damals problemlos möglich. Mein Bruder fuhr bei meiner Mutti und ich bei meiner Oma vorne mit; und zwar jeweils auf ihrem Schoß sitzend! Ans Anschnallen war in diesen Zeiten noch nicht zu denken, von Kindersitzen ganz zu schweigen.

Es schien schon etwas kurios, aber jedes Jahr konnten wir regelrecht darauf warten. Am Morgen, als wir von Zerbst losfuhren, begann es wie aus Gießkannen zu schütten. Bei so einem Wetter hätte man keinen Hund vor die Tür gejagt und erst recht wäre man nicht zum Zelten aufgebrochen. Doch die Erfahrung zeigte es: In Lehnin würde die Sonne scheinen! Und so war es auch tatsächlich! Fast jedes Jahr!

Obwohl Lehnin nur rund 80 Kilometer von Zerbst entfernt liegt und die Fahrt etwas mehr als eine Stunde dauerte, konnte unterwegs viel passieren. Pausen zum Austreten waren ja schon eingeplant. Da hatten wir »unsere« Stelle, an der routinemäßig gehalten wurde. Eine Panne am Auto erwies sich schon als problematischer.

Am ehesten verstopfte mal eine Zündkerze. Sie selbst zu wechseln, war beim Trabant in der Regel kein Problem. Nur lagen die Reservekerzen und das Werkzeug meistens beim Reserverad. Und das lag unter der Abdeckung im Kofferraum. Um dort ranzukommen, musste dann der halbe Kofferraum leer geräumt werden. Da kam Freude auf! Doch eine Panne am Auto kam Gott sei Dank bei Weitem nicht bei jeder Fahrt