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Being E-Book

Kevin Brooks

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Beschreibung

Atemberaubend spannend Als Robert Smith, 17 Jahre alt, nach einer Magenspiegelung aus der Narkose erwacht, ist das Leben, das er kannte, auf einen Schlag vorbei. Fassungslos starren die Ärzte auf das Videobild seiner inneren Organe: ein Gewirr von Plastik und Metall. Neben dem medizinischen Personal steht ein Mann im schwarzen Anzug - der Geheimdienstler Ryan, der wild entschlossen ist, das Rätsel um Roberts offenbar außermenschliche Identität zu lösen. Es gelingt Robert jedoch, sich zu befreien und zu fliehen. Nachdenken über das Erlebte will er später. Bald wird ihm klar, dass ihn Ryan und seine Leute mit allen Mitteln finden wollen und auch nicht davor zurückschrecken, ihm einen Mord anzuhängen. Eine wilde Jagd kreuz und quer durch England beginnt. Robert hat nur eine Chance, wenn er untertauchen kann. Und dabei hilft ihm Eddi, die Freundin eines früheren Freundes. Sie ahnt nichts von Roberts geheimnisvoller Identität...

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Seitenzahl: 386

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Kevin Brooks

Being

Roman

Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn

Deutscher Taschenbuch Verlag

Deutsche Erstausgabe 2009© der deutschsprachigen Ausgabe:Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung -und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-41045-8 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71345-0Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/​ebooks

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

|5|Eins

Es muss so gegen halb zehn gewesen sein, als sich die Tür zum Wartezimmer öffnete und der Mann mit den sandfarbenen Haaren und dem Klemmbrett in der Hand hereinkam. Mein Termin war eigentlich für neun angesetzt gewesen, also hatte ich bereits eine Weile gewartet, doch ich war nicht besonders in Sorge deswegen. Ich glaube, ich fühlte mich nur einfach ein bisschen ängstlich, und das Krankenhaushemd hatte etwas an sich, das ein seltsames Unbehagen in mir auslöste, aber ich lief nicht im Zimmer hin und her oder kaute an den Fingernägeln und so. Ich stand bloß am Fenster, schaute hinaus auf das Krankenhausgelände und versuchte, mich zu beruhigen, dass schon alles in Ordnung sein würde.

Es war schließlich nur eine Routineuntersuchung.

Das Einzige, was sie tun würden, war, mir einen Schlauch durch die Kehle zu schieben und einen gründlichen Blick in meinen Magen zu werfen.

Worüber sollte ich mir also Sorgen machen?

»Robert Smith?«, sagte der Mann an der Tür und blickte von seinem Klemmbrett auf.

Ich weiß nicht, warum er fragte, schließlich war ich der Einzige |6|im Zimmer. Aber wahrscheinlich musste er einfach irgendwas sagen.

Ich sah ihn an.

Er nickte mir zu. »Hier lang, bitte.«

Ich folgte ihm aus dem Wartezimmer und er führte mich durch einen langen weißen Gang. Ich war mir nicht sicher, was er war – Krankenpfleger, Verwaltungsangestellter, irgendeine Art Assistent–, doch er trug einen Krankenhauskittel mit einem an der Tasche befestigten Namensschild, also ging ich davon aus, dass er wusste, was er tat. Er lief schnell, mit energischen kleinen Schritten, und wie wir so über den gebohnerten Fußboden eilten, hatte ich ziemliche Mühe mitzuhalten. Zum Gehen war es zu schnell und zum Rennen zu langsam. Ich hetzte hinter ihm her.

»Dr.Andrews wird die Endoskopie durchführen«, erklärte er mir über die Schulter blickend. »Der macht das sehr gut.« Er lächelte beruhigend – ein kurzes, berufsmäßiges Lächeln. »Also kein Grund zur Sorge. Ehe du was merkst, ist schon alles vorbei.« Ich warf ihm einen Blick zu – halb lächelnd, halb schulterzuckend–, um ihm zu zeigen, dass ich mir gar keine Sorgen machte. Doch er hatte sich schon wieder seinem Klemmbrett zugewandt und marschierte weiter den Gang entlang.

Ich wischte die schwitzigen Hände an meinem Kittel ab und folgte ihm.

Am Ende des Gangs hielt er vor einem grünen Vorhang abrupt an, schoss herum und sah mich an. Stolpernd kam ich vor ihm zum Stehen.

»Huch, Entschuldigung«, murmelte er und linste auf sein Klemmbrett. »Ich muss nur noch… ähm… Entschuldigung, mir |7|ist da gerade was eingefallen.« Einen Moment blickte er düster vor sich hin, dann sah er auf und lächelte mich verkniffen an. »Dauert nur eine Minute.«

»Ähm… ja gut«, fing ich an. »Was soll ich…?«

Doch ehe ich den Satz beenden konnte, wandte er sich schon um, lief davon und ließ mich vor dem grünen Vorhang stehen. Ich fingerte nervös am Saum meines Kittels herum und wusste nicht, was ich tun sollte.

Ich verschränkte die Arme, löste sie wieder, legte sie auf den Rücken.

Ich ging ein bisschen hin und her.

Ich schaute mich um.

Ich blieb stehen und starrte zu Boden.

Ich hörte gedämpfte Geräusche hinter dem grünen Vorhang. Gesenkte Stimmen, medizinisches Gemurmel, das Gescharre kurzer Schritte. Vorbereitungen. Das Klirren und Klimpern von Instrumenten. Ich horchte genau und versuchte, mir zu überlegen, was da ablief, doch ich konnte mir nichts vorstellen. Es waren bloß Krankenhausgeräusche.

Ich rieb mir die Augen.

Ich kratzte mich im Nacken.

Ich ging wieder ein bisschen hin und her und starrte weiter den Fußboden an.

Ich starrte abermals zu Boden.

Zeit verging. Sekunden, Minuten…

Nichts geschah.

Das ganze Krankenhaus um mich herum war in Bewegung. Helfer, Schwestern, Patienten, Ärzte, Männer und Frauen in Anzügen. |8|Alle waren beschäftigt.

Ich stand da und wartete.

Als der Mann mit den sandfarbenen Haaren schließlich zurückkehrte, hielt er einen großen braunen Umschlag in der Hand. »Tut mir leid«, sagte er leicht außer Atem.

Ich sah ihn an und fragte mich, ob der Umschlag etwas mit mir zu tun hatte. Wenn, dann sagte er es zumindest nicht.

»Also dann«, meinte er und schob den grünen Vorhang zurück. »Auf geht’s.«

Der kleine Raum hinter dem grünen Vorhang war eigentlich gar kein richtiger Raum. Er glich mehr einem kurzen weißen Gang. Einer Kammer. Einem Zwischenort. Einer Art Vorraum vielleicht… was immer das sein mag. Ein sehr kleiner Ort, mit Maschinen vollgestellt und von stummer Hektik erfüllt. Voller Geräte, Ärzte, Schwestern, Krankenbetten. Monitore, Instrumente, Flaschen, Schläuche.

Die Geräte summten und surrten.

Die Ärzte und Schwestern murmelten leise.

Es war ein Ort klaren Selbstvertrauens, Gefühle hatten hier keinen Platz. Jeder wusste genau, was er tat. Jeder außer mir.

Die Luft roch nach Metall und sauberen Händen.

Aus einer schmalen Öffnung am anderen Ende des Gangs leuchtete unter dem Schein eines verborgenen Lichts ein Dunkel auf. Unvertraute Geräusche drangen daraus hervor und ich wusste, dort kam ich hinein.

In das Dunkel.

|9|Es passierte so schnell.

So schnell, so endgültig.

»Leg dich bitte auf die Liege.«

Ich kam mir wirklich unbeholfen vor, als ich auf die Liege stieg. Ich fühlte mich dumm, ungeschickt und hilflos.

Ich stieg drauf.

Ich setzte mich.

Ich legte mich hin.

Jetzt lag ich auf dem Rücken und starrte nach oben zu einer Neonröhre an der Decke. Das Licht wirkte steril, durchdringend.

Ich blinzelte.

Schluckte.

Wartete.

Nichts geschah.

Als ich den Kopf hob und mich umsah, entdeckte ich einen Mann in grünem Kittel, der eine Spritze aus ihrer sterilen Verpackung befreite. Wahrscheinlich Dr.Andrews. Er legte die Spritze auf eine Arbeitsplatte aus mattem Metall. Sie bewegte sich ein bisschen. Er hielt sie fest. Er sagte etwas zu einer Schwester. (Was sagte er?) Sie nickte und wandte sich ab. Irgendwo hinter mir summte jemand eine Melodie – hmm, hmm, hmm. Schuhe scharrten leise über den weiß gefliesten Boden.

Mein Nacken war steif.

Eine Schwester kam herüber und legte mir eine Manschette zum Blutdruckmessen um den Arm. Sie schaute auf den Monitor und las ein paar Zahlen ab.

Dr.Andrews sagte etwas zu ihr.

Sie nickte wieder.

|10|Sie bat mich, den Mund zu öffnen.

Ich öffnete den Mund.

Sie sagte, sie würde mir zur Betäubung etwas hinten in den Rachen sprühen. »Tut nicht weh«, sagte sie. »Du darfst nur weder atmen noch schlucken, solange ich spraye.«

Ich nickte.

Sie sprühte.

Es fühlte sich kalt an.

»Jetzt kannst du schlucken«, sagte sie.

Meine Kehle fühlte sich taub an und es war schwierig zu schlucken, doch ich schluckte, so gut ich konnte.

Dr.Andrews hatte jetzt eine Nadel in der Hand. Eine kurze Nadel, an der ein kleines Plastikteil befestigt war. Er trat neben mich und nahm meinen Arm.

»Okay?«, sagte er.

»Mh-hmm.«

Vorsichtig rieb er meinen Handrücken, betrachtete ihn und suchte nach einer Vene. Sprach. Rieb. Sprach…

Er sprach mit mir.

»…nur ein ganz leichtes Anästhetikum, Robert, eigentlich eher ein Beruhigungsmittel. Vielleicht verlierst du das Bewusstsein, aber mach dir keine Sorgen, wenn nicht. Es ist nicht unüblich, dass man während der ganzen Untersuchung bei Bewusstsein bleibt.«

Ich bemühte mich zuzuhören, während er den Rest der Prozedur erklärte, aber irgendwie konnte ich mich nicht konzentrieren. Ich war unsicher und es blockierte mich zu wissen, dass ich zuhören sollte. Als er weiterredete, mit ruhiger, überzeugter Stimme, merkte ich, dass meine Empfindlichkeit gegenüber jeder Berührung |11|unnatürlich gestiegen war. Ich spürte alles – die Entschlossenheit seiner Finger auf meinem Handrücken, das gepolsterte Metall der Krankenhausliege, die getrocknete Spucke, die in meinen Mundwinkeln klebte. Das Einzige, was ich nicht spürte, war der hintere Teil meiner Kehle.

»Okay?«, fragte der Arzt.

»Mh-hmm.«

Ich sah genau hin, als er die Nadel in die aus dem Handrücken hervortretende Vene stach.

Ping – ein leichter Schmerz, spitz und blank.

Für einen Moment schloss ich die Augen, dann öffnete ich sie wieder. Der Arzt hielt jetzt die Spritze selbst in der Hand. Betrachtete sie, prüfte sie. Sie wirkte so klein. Ein winziges Kunststoffröhrchen mit einer fast durchsichtigen Flüssigkeit drin…

Ich fragte mich, wie das ging. Ein Kunststoffröhrchen mit einer fast durchsichtigen Flüssigkeit drin… wie funktionierte das? Wie bewirkte es das, was es bewirken sollte? Was war in der Spritze drin? War der Inhalt vorgefüllt? Ich hatte den Arzt die Spritze nicht aufziehen sehen. Oder doch? Ich wusste es nicht.

Abwesend, als ob er das schon tausendmal getan hätte, machte er etwas mit der Spritze – schüttelte sie, klopfte dagegen, schwenkte sie zwischen den Fingern hin und her. Ich überlegte, warum Nadel und Spritze getrennt sein mochten. Ich wusste, es war nicht wichtig, doch ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken. Warum ist die Spritze zweigeteilt? Wieso ist die Nadel vom Spritzenkörper getrennt? Warum wird die Nadel erst ohne die Spritze in meine Vene gestochen und dann mit dem Spritzenkörper verbunden?

Die Frage wuchs sich immer weiter aus und verbarg meine |12|Angst, als der Kolben heruntergedrückt und das Betäubungsmittel in mein Blut gespritzt wurde.

Ich spürte es – diesen spitzen, fremden, flüssigen Druck…

Warum ist die Spritze zweigeteilt?

Ein Grund, überlegte ich.

Ein medizinischer Grund…

Und dann dachte ich gar nichts mehr.

|13|Zwei

nunuuuuuuunuuuuunnununnunsaasaaa dah dahah ah hsa da und dh dhs is ah ununumgänglich da sss ssbis wir wissen, naa na niemand na professorcasing muss as wissen, kla-aar? Natürlich, Cooper, sag Hayes, sie soll die Namen, wer außer unsunandrews? Jemand vden Schwestern? Nanana, da war nichts zu sehen, na. Nichts, nichts Physisches mein ich. Auf einem Bildschirm. Auf Band. War auf dem Bildschirm. Stimmt. Also, wer noch? Ingle, der Assistent. Kamal hier, der Anästhesist. Kamal

Stimmen.

Sie wissen, wir könnihnich mehr lange bewusstlos, ja einfach abwarten. Abwarten. Professor? Was mein Sie Cooper. Wos Ryan? Kommt gleich, Sir. Bilder noch mal angucken. Verdammt. Was ist das? Was zum Teufel ist das?

Scheiße

Ein Gefühl wie Gummi und Gas. Schläuche.

|14|Stimmen.

Scheiße.

Was zum Teufel ist das?

Sauberes Gummi. Weißes Gas. Der Geschmack von Plastikschläuchen tief in meiner Kehle. Kratzend und steif. Der Geschmack von Medikamenten. Was ist das? Das hier sollte nicht passieren. Sollte nicht sein. Ich liege mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Ein weißes Laken bedeckt meinen Körper. Unter dem Laken bin ich nackt.

Kribbeln…

Nadeln im Handrücken.

Schläuche, Schläuche… dünne Drähte festgeklebt auf der Brust. Ich atme durch einen Schlauch… Gummi und Gas. Zischender Atem. Atme. Eine Art Maske.

Meine Augen lassen sich nicht öffnen.

Warte einen Augenblick, warte…

Und jetzt bewegen.

Finger, Zehen, Arme, Beine, Hände, Kopf – nichts. Ich kann mich nicht bewegen. Ich bin unfähig, mich zu rühren.

Gelähmt.

Das ist nicht in Ordnung. Überhaupt nicht in Ordnung. Das ist ganz schlecht. Warte einen Augenblick, warte, warte…

Was ist das?

Wo bin ich?

|15|Stimmen.

Wo is Ryan? Kommt gleich, Sirda daisser

Wer sind diese Leute?

Was ist das?

Eine Tür geht auf. Jemand betritt den Raum.

Ich hör wieder Stimmen.

Morris.

Sir, das ist der hinzugezogene Facharzt– Professor Casing. Ryan. Ist er das?

Ja.

Die Stimmen kommen näher. Ich spüre jetzt Menschen, die neben mir stehen. Ich kann sie nicht sehen. Meine Augen sind geschlossen. Ich bin nichts – ein erstarrter Behälter. Das Einzige, was ich tun kann, ist still daliegen und zuhören.

Was liegt an?

Robert Smith. Sechzehn Jahre. Verdacht auf ein Magengeschwür. Zur Endoskopie eingewiesen von seinem Hausarzt. Das ist eine –

Ich weiß, was eine Endoskopie ist, Morris. Was ist passiert?

Professor?

Ein Mann hustet, räuspert sich.

Heute Morgen um 9.45Uhr wurde der Patient anästhesiert und in |16|den Untersuchungsbereich gebracht, wo Dr.Andrews mit der Prozedur begann.

War der Patient bei Bewusstsein?

Das Anästhetikum, das wir verwenden, wirkt nur ganz leicht, nicht viel stärker als ein Sedativum, aber oft genug macht es den Patienten bewusstlos.

Also hat er nicht mitbekommen, was passiert ist?

Wir glauben nicht.

Und Sie haben ihn bis jetzt weiter bewusstlos gehalten?

Wir dachten, es wäre am besten so.

Gut. Weiter.

Wie Sie wissen, ist die Endoskopie ein ziemlich einfacher Vorgang. In den Mund des Patienten wird ein beweglicher Faseroptik-Schlauch eingeführt und dann vorsichtig den Gastrointestinaltrakt hinabgeschoben. Das Endoskop sendet Bilder auf einen Videoschirm und erlaubt es uns so, den Oesophagus, den Magen, Teile des Dünndarms und so weiter optisch zu untersuchen.

Kurze Pause.

In diesem Fall waren die Bilder des Endoskops… die Bilder auf dem Videoschirm… nicht normal.

Schweigen. Nicht normal?

Können Sie mir das mal zeigen?

Kamal?

Ein Schalter klickt, irgendwas summt.

|17|Diese Videoaufnahme zeigt die Ergebnisse einer normalen Endoskopie.

Hmmm…

Das ist der Oesophagus… schauen Sie, hier. Sie können ziemlich genau sehen, wie das Endoskop nach unten wandert. Jetzt… in den Magen. Da. Sehen Sie, wie das aussieht? So sollte es sein.

Okay.

Jetzt.

Klick.

Das ist, was Dr.Andrews vorgefunden hat.

Schweigen.

Hmm…

Was zum Teufel ist das?

Das, Mr Ryan, ist das Innere dieses Jungen.

Verdammt… sieht ja aus wie irgendwas Kunststoffartiges.

Die Luftröhre ist sehr kurz, nicht länger als zehn Zentimeter. Schauen Sie.

Scheiße. Was war das? Noch mal zurück.

Klick. Surr. Klick.

Was ist das? Schauen Sie, das da.

|18|Schweigen.

Sehen Sie hier? Und hier? Dieser schwärzliche Bereich? Und hier.

Klick.

Diese silbrigen Fäden…

Klick.

Schauen Sie dort.

Sie bewegen sich.

Schauen Sie.

Verdammt.

Schweigen.

Das war’s.

Klick.

Das Summen hört auf.

Wieder langes Schweigen.

Kann ein Instrumentenfehler als Ursache ausgeschlossen werden?

Ist alles überprüft worden. Mehrfach überprüft. Mit den Instrumenten ist alles in Ordnung.

Ist das die einzige Videokopie?

Andrews hat noch ein Duplikat gezogen. Das hat Hayes.

|19|Wieder Schweigen.

Nach einer Weile merke ich, wie jemand sich über mich beugt. Mich betrachtet. Ein Mann. Ich spüre seinen Atem in meinem Gesicht. Den finsteren Geruch eines Mannes. Er atmet tief ein, hält einen Moment die Luft an, dann atmet er wieder aus. Als er spricht, spüre ich sein Flüstern heiß auf meiner Haut.

Zum Teufel, was bist du?

Gar nichts, will ich ihm sagen. Ich bin gar nichts. Ich bin einfach ein Junge mit einem kranken Magen. Ich bin Robert Smith. Was ihr auch denkt über mich, wer ihr auch seid – ihr liegt falsch. Hört zu, da ist was schiefgelaufen. Hört mal her, schaut mich an. Ich bin wach. Ich bin bei Bewusstsein…

Ich möchte schreien.

Aber ich kann den Mund nicht öffnen.

Ich kann mich nicht rühren.

Ich habe viel geträumt. Als ich noch klein war, habe ich oft von einem Wirbelsturm geträumt, der mich tief in mir drin um die eigene Achse wirbelte und hinab zu schrecklichen Orten sog. Ich habe nie begriffen, was die schrecklichen Orte waren, aber ich wusste, sie würden mich töten. Und ich wollte nicht sterben. Ich wollte nicht zu den schrecklichen Orten. Ich wollte einfach nur aufwachen. Ich wusste, wenn ich mich selbst wecken könnte, wäre ich okay. Ich wusste es. Und ich wusste auch, was ich tun musste, |20|um mich zu wecken. Ich musste mich rühren. Irgendetwas bewegen. Einen Finger, eine Hand, ein Bein. Irgendwas. Einfach nur bewegen. Bewegen. Bewegen. Bewegen.

Mich zu bewegen war unmöglich damals, aber es gelang mir immer, den Traum zu zerstören.

Doch das hier war kein Traum. Das hier war alles andere als ein Traum. Das hier war das Schlimmste, was man sich vorstellen konnte. Noch schlimmer: Es war real. Ich lag auf einer Krankenhausliege, gelähmt und stumm, und Unbekannte redeten unbekannte Dinge über mich.

Silbrige Fäden?

Irgendwas Kunststoffartiges?

Es konnte nicht wahr sein.

War es aber.

Ich höre die Stimmen noch immer.

… und ich will, dass die unmittelbare Umgebung unauffällig abgeriegelt wird, und was Andrews und Ingle betrifft, seht zu, dass sie einen Bericht abgeben und bis auf Weiteres festgehalten werden. Ich will seine Patientendaten, seine Kleidung, seine Fingerabdrücke, seine Lebensgeschichte… alles. Ich will alles über ihn wissen. War irgendwer bei ihm, als er hier ankam?

Nein.

Was ist mit seinen Eltern? Wo sind die?

Ist ein Fürsorgekind –

Ein was?

Eine Waise. Direkt nach der Geburt ausgesetzt worden. Hat das |21|ganze Leben in Heimen oder bei Pflegeeltern verbracht. Das letzte Jahr ungefähr hat er bei einem Paar namens Young gelebt. Mrs Young haben wir noch nicht erreichen können, aber zu ihrem Mann besteht schon Kontakt. Ihm wurde gesagt, dass es kleinere Probleme gibt und der Junge über Nacht hierbleiben muss.

Wie hat er reagiert? Wollte er den Jungen sehen?

Er ist gerade auf dem Weg.

Regel das. Los.

Sir.

Die Tür öffnet sich leise, dann geht sie wieder zu.

Jemand schließt ab.

Der Mann, der Ryan heißt, redet weiter.

Warum war das auf den Röntgenbildern nicht zu erkennen? Ist er geröntgt worden?

Vor vier Wochen. Hier.

Flipflap – das Flappen eines Röntgenfilms.

Sind die Aufnahmen normal?

Absolut.

Das ist er?

Ja.

Sicher?

Ja.

Flipflap. Schweigen.

|22|Gut… wir müssen es gleich machen.

Ich versteh nicht.

Ihn öffnen.

Das kann ich nicht –

Sie müssen.

Nein, hören Sie –

Nein, jetzt hören Sie, Professor. Sie tun es gleich und Sie tun es allein.

Aber –

Sie schneiden sofort dieses Ding auf. Verstanden?

Es dauert eine Weile, bis der Schock bei mir ankommt – Sie schneiden sofort dieses Ding auf – das hat er gesagt – Sie schneiden sofort dieses Ding auf. Dann trifft es mich wie ein Schlag. Horror. Terror. Physische Panik. Scheiße, die schneiden mich auf. Jetzt gleich. Die schneiden mich auf. Die SCHNEIDEN MICH AUF …

Ich muss was tun.

Ich muss mich rühren.

Irgendetwas bewegen. Einen Finger, eine Hand, ein Bein. Irgendwas. Bloß bewegen… bewegen bewegen BEWEGEN!

Ich kann mich nicht bewegen.

Ich atme ein, versuche, den Herzschlag zu stabilisieren, atme den Geschmack des Gases ein. Gummi. Gas. Schlauch.

Atme ganz ruhig.

Du darfst nicht in Panik geraten.

Denk nach.

Denk.

Denk.

Denk.

|23|Horch!

Konzentrier dich, horch.

Schweigen. Ein Hintergrundsummen. Irgendwas klickt. Ein schwacher, einsamer Piepston. Keine Stimmen. Einen Moment glaube ich, sie sind gegangen… dann von der anderen Seite des Raums – klatsch – ein gummiartiges Klatschen und wieder das Gemurmel von Stimmen.

Das ist absurd, Ryan. Ohne Zustimmung des Patienten kann ich nicht operieren. Was ist, wenn er stirbt? Was ist, wenn –

Das klär ich dann schon. Ist alles geregelt. Ich hab es im Griff. Passen Sie auf, Sie machen gar nichts – okay? Es ist nur eine belanglose kleine Notoperation. Sie mussten einspringen. So was kommt doch mal vor, oder?

Ja, aber –

Wir müssen Bescheid wissen. Wir müssen das klären. Es gibt keine andere Möglichkeit. Wir müssen es jetzt klären.

Ich versteh nicht –

Klick.

Verstehen Sie jetzt?

Bedrohliches Schweigen.

Okay. Aber nur –

Nur eine genaue Untersuchung. Mehr wollen wir gar nicht.

Ein schwerer Seufzer. Noch einmal ein scharfes Klatschen, das Klatschen eines Operationshandschuhs.

|24|Ziehen Sie die OP-Maske über, Mr Ryan. Ich brauche ein bisschen Assistenz.

Die Angst ist jetzt tödlich, sie überwältigt meine Gedanken. Ich kann nicht mehr denken. Ich muss denken. Ich muss mich bewegen. Bewegen bewegen bewegen. Ich versuche, mich zu rühren – versuche es, zwinge mich, spanne die Muskeln, kämpfe–, versuche, alle meine Gedanken darauf zu richten, dass ich mich rühre. Doch es ist sinnlos. Es besteht keine Verbindung zwischen Gehirn und Fleisch. Nichts. Mein Körper liegt einfach bloß da. Leblos. Er ist nur ein Ding. Ein Behälter. Ich bin mir noch seiner bewusst, seiner Bewusstlosigkeit bewusst, aber ich kann nichts mit ihm anstellen.

Kamal, wie geht’s ihm?

Klick, klick.

Unverändert. Stabil.

Ich brauche Sie, Ryan.

Okay.

Nichts anfassen, tun Sie nur, was ich sage. Kamal?

Okay.

Okay.

Ein Schauer läuft mir über die Haut, als die Decke von meinem Bauch gehoben wird. Ich spüre die kalte weiße Luft. Ich bin nackt. Ungeschützt. Freigelegt. Ich höre das ferne Pfeifgeräusch in meinem Kopf, einen erschreckend weißen Ton. Das Geräusch der |25|Angst. Ich will etwas ballen. Aber ich habe nichts zum Ballen.

Hände, von einer Schutzschicht überzogen, berühren meine Haut. Behutsam. Dann ein bisschen fester. Knetend, sondierend.

Worte.

Fühlt sich in Ordnung an… ein bisschen ungewöhnlich. Hier, glaube ich. Irgendwas… kann sein.

Das Pfeifen der Angst wird stärker, dann hört es auf einmal auf. Schlagartig ist es still in meinem Kopf. Leer und tot. Und in der inneren Stille höre ich das unhörbare Geräusch, mit dem das Skalpell von einem Metalltablett heruntergenommen wird.

Ich werde den Schnitt hier setzen.

Nein…

Fingerspitzen… dann eine Handfläche auf meiner Haut.

O nein.

Nein…

Der Schnitt des Skalpells ist schnell und fest. Zuerst spüre ich nichts, nur das stumme Aufklaffen von Haut und Fett, wie ein blutrotes Lächeln… dann plötzlich dringt der Schmerz ein.

Es tut weh.

Verdammt, tut das weh.

ES TUT WEH.

So heftig, dass es sich taub anfühlt, wie Kälte, wie Eis… es |26|brennt wie Feuer…

Es tut weh es tut weh es tut WEH …

Und es gibt nichts, womit ich es aufhalten könnte.

Irgendwo in der schreifreien Ferne reden die Stimmen weiter.

Halten Sie das, Ryan, genau da. Lassen Sie mich das säubern.

Was ist das?

Ich kann es nicht erkennen. Eine Sekunde.

Schmerz und Druck… Druck und Schmerz…

Ich versteh das nicht.

Was ist das Braune da?

Halten Sie das zur Seite.

Schauen Sie sich das an. Jesses!

Das ist doch eine Art… wie ein Panzer. Hart, biegsam. Ein Kunststoff. Ich glaube, er reicht etwa bis hier hinauf.

Ein plötzlicher sengender Schmerz rast durch meinen Bauch… das halt ich nicht aus nicht aus nicht aus nicht aus…

Was ist da drin? Was ist da drunter? Ist das Flüssigkeit? Sind das Leitungen? Sieht aus wie Leitungen, die sich bewegen.

Das hier… ich komm nicht durch. Es hat – schauen Sie – eine Maserung. Sieht nach Knochenstruktur aus. Konturen. Könnte eine Art Schild sein. Das würde das Röntgenbild erklären.

Ein Schild? Ein Körperschild?

Vielleicht…

Gehen Sie mal drunter.

|27|Das kann ich nicht ohne –

Stemmen Sie es verdammt noch mal auf.

Geben Sie mir das.

In dem Moment, gerade als die Spitze der breiten Klinge des Instruments etwas unter meiner Haut berührte… genau da spürte ich, wie sich meine Fäuste ballten. Außer Sicht, unter dem Laken… spürte ich, wie sie sich ballten.

Und lösten.

Ich spürte die Bewegung.

Bewegung.

Ich konnte mich rühren.

Und in diesem wunderlichen Moment sah ich plötzlich ein Gesicht. Über mir. Hinter mir. Es schwebte über meinem Kopf. Braune Augen, olivfarbene Haut, ein kleiner Bart, der sich unter der Operationsmaske abzeichnete. Kamal, der Anästhesist. Ich sah ihn. Meine Augen waren noch immer geschlossen, trotzdem sah ich ihn. Es war eigentlich gar nicht möglich, doch das kümmerte mich nicht. Ich sah ihn.

Ich sah alles um mich herum.

Der Schmerz hatte aufgehört. Wie das?

Wieso hatte der Schmerz aufgehört?

Wieso sah ich alles um mich herum?

Es hätte eigentlich gar keine Zeit sein dürfen, darüber nachzudenken, keine Zeit, alles aufzunehmen… aber irgendwie war sie doch da. Ich hatte alle Zeit der Welt – und ich nahm alles auf:

Einen schmalen weißen und fensterlosen Raum.

Grellweißes Licht.

|28|Apparate und Monitore.

Silberfarbene Schneidinstrumente, ausgebreitet auf einem Tablett, wie eine Messersammlung aus einem Horrorfilm.

Ein Metalltisch, bedeckt mit Papieren, Videobändern und Fotoaufnahmen.

Eine weiße Tür, die von einem stämmigen Typ im Anzug bewacht wurde.

Und dort, über mich gebeugt, zwei Männer mit OP-Masken, die intensiv in meinen Bauch hineinstarrten: Casing und Ryan. Professor Casing war der mit dem schmalen Gesicht, mit dem weißen Kittel und der Brille. Ryan wirkte groß und streng und trug einen schlichten schwarzen Anzug. Er hatte Silberaugen, ein graues Gesicht und pechschwarzes Haar. Hinten an seinem Gürtel hing eine Automatikpistole.

Sie betrachteten mich, sahen in mich hinein und jetzt betrachtete ich sie. Ich wusste nicht, wie, aber ich sah sie.

Sieh dir das an.

Scheiße, sieh dir das an, was sie mit mir gemacht haben. Was haben sie getan? Mein armer Bauch… weiß und flach mit einem roten Schnitt und – Scheiße! – was ist das denn? Sieh dir das an – ein klaffendes Loch, wie das Grinsen eines schlechten Clowns, offen gehalten mit winzigen schwarzen Klammern, und in mir drin…

O Gott, das Zeug da in meinem Innern… das, was ich gesehen habe. Unbekanntes. Schreckliches. Schwarzes und Braunes, Rotes, Silbernes… cremeweiße Formen aus lebendigem Metall, Kunststoff oder weiß Gott was… und alles bewegt sich wie ein dunkler, blutiger Schatten in meinem Innern.

|29|Ich konnte in dem Moment nicht darüber nachdenken. Es war einfach zu viel für mich. Mir blieb keine Zeit. Der erstarrte Moment war fast vorüber – die ganze Zeit der Welt verschwand.

Und ich rührte mich.

Ich rührte mich.

Als Casing einen Spatel in meine Eingeweide schob und Ryan sich herüberbeugte, um besser sehen zu können, verschob sich etwas Elektrisches in mir – und ich bewegte mich schneller, als ich mich je zuvor bewegt hatte. Schoss empor, riss mir die Maske vom Mund, zerrte den Schlauch aus meinem Hals – ich wusste nicht, was ich tat.

Doch etwas in meinem Innern wusste es.

Während überall um mich herum Klebestreifen und Drähte abrissen, sah ich mich die Pistole aus Ryans Gürtelhalfter schnappen und mit dem Lauf auf seinen Kopf schlagen, dann zischte eine Stimme aus meinem Mund.

»Das reicht«, sagte sie – in einem kalten, trockenen Flüsterton.

|30|Drei

Ryan reagierte kaum auf den Laut meiner Stimme, er wandte sich nur langsam um und sah mich an, die Augen ruhig und still. Casing dagegen war unsäglich schockiert. Seinen Blick werde ich nie vergessen – den entsetzten Blick eines Mannes, der gerade ein Monster gesehen hat. Ein blasses, nacktes Monster.

Während er so dastand und mich anstarrte, die Augen weit aufgerissen, schaute ich kurz auf den Spatel, den er noch in der Hand hielt. Die Fläche war verschmiert mit einer dünnflüssigen braunen Masse.

Verschmiert mit irgendetwas.

Mit irgendetwas von mir.

Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Der stämmige Typ an der Tür bewegte sich jetzt auf mich zu und zog eine Pistole aus der Innenseite seiner Jacke. Er war riesig – breit und schwer–, mit einem Schädel wie ein Stier und scharfen kleinen Augen. Einen Moment sah ich ihn an und fragte mich, wie sich ein so schwergewichtiger Mann derart schnell bewegen könne, dann – ohne den Blick von ihm zu wenden – stieß ich die Pistole gegen Ryans Kopf.

»Stehen bleiben«, sagte ich, »oder ich bring ihn um.«

Der Riese zögerte einen Moment, dann blieb er stehen. Er hatte |31|den Raum halb durchquert.

»Waffe fallen lassen«, befahl ich ihm.

Er sah Ryan an.

»Tu, was er sagt, Cooper«, wies Ryan ihn an.

Der Riese behielt mich die ganze Zeit im Auge, während er sich bückte und die Waffe auf den Boden legte.

»Umdrehen«, befahl ich ihm. »Und an die Wand stellen.«

Meine Stimme klang fremd. Trocken und schwach, ein krächziges Geflüster. Und die Worte – stehen bleiben oder ich bring ihn um… Waffe fallen lassen… umdrehen… an die Wand stellen – sie klangen lächerlich. Wie aus einem albernen Spionagefilm. Ich konnte nicht glauben, was ich sagte.

Nichts von alldem konnte ich glauben.

Es konnte nicht real sein. Diese Leute konnten nicht real sein. Reale Leute machen so was nicht. Reale Leute tragen keine Waffen. Reale Leute tun solche Dinge einfach nicht. Nie und nimmer. Und was war mit mir? Wieso tat ich so was? Wieso saß ich hier auf einer Krankenhausliege, ganz nackt und blutig, mit aufgeschnittenem Bauch und einer Waffe in der Hand?

Wie sollte irgendetwas davon real sein?

Ich warf einen Blick hinab auf meinen wüst zugerichteten Bauch und wusste: Es ist real.

Es schmerzte.

Schmerz ist real.

Ich musste raus hier.

»Los«, sagte ich zu Casing, »Waffe aufheben und her damit.«

Er erstarrte für einen Moment, seine Augen zuckten vor Angst, dann beugte er sich langsam hinab, hob Coopers Waffe auf und reichte sie mir vorsichtig.

|32|»Da rüber«, befahl ich ihm und deutete mit der Waffe zur gegenüberliegenden Wand. »Weg von der Tür. Gesicht an die Wand.«

Ich wartete, bis er sich zur Wand gedreht hatte, dann richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Ryan. Die ganze Zeit hatte er sich nicht gerührt. Er stand nur da – kontrolliert und streng–, die Augen ständig auf mich gerichtet. Ich hielt ihm die Pistole noch immer an den Kopf und jetzt zielte ich mit Coopers Waffe vage in Richtung seines Bauchs, doch es schien ihn nicht nervös zu machen.

Er sah mich nur an.

Und ich sah ihn an.

Dann sprach er.

»Robert«, sagte er langsam und ruhig. »Ich werde jetzt die OP-Maske abnehmen. Ist das okay?«

Ich nickte.

Vorsichtig fasste er nach oben, senkte die Maske von seinem Mund und zeigte ein glattes, selbstsicheres Lächeln. Es überraschte mich nicht. Ohne die Maske sah er so aus, wie er war. Ich wusste nicht, wie er war, doch er wirkte wie einer, der niemals aufgab. Hart. Groß. Er war nicht groß und trotzdem war er groß. Groß wie eine glänzende schwarze Wand.

»Warum nimmst du nicht die Waffen runter, Robert?«, sagte er. »Nimm sie runter, dann können wir reden.«

»Klappe«, sagte ich.

Er zog eine makellose Braue hoch, dann senkte er sie wieder. »Was bist du?«

Ich sah über den Pistolenlauf hinweg in seine Augen. Sie waren silbern, wie silberne Monde. Oder nagelneue Geldstücke.

|33|Der Raum war weiß.

Die Pistole war schwarz.

Meine Finger lagen bleich auf dem Abzug.

»Was bist du?«, fragte er wieder.

Das ist die Frage.

Das ist die Frage.

Als ich Ryan sagte, er solle die Klappe halten und sich auf den Boden legen, rührte er sich eine Weile nicht, sondern stand nur da und starrte mir in die Augen. Er schaute nicht auf die Pistole in meiner Hand, doch ich wusste, er überlegte, was ich wohl tun würde, wenn er versuchte, sie sich zu schnappen. Würde ich abdrücken? Würde ich ihn erschießen? Könnte ich es?

Er wusste, dass ich dazu imstande war.

Er sah es mir an.

Es lag in mir.

Mit einem leichten Kopfnicken ließ er sich langsam auf den Boden nieder.

»Gesicht nach unten«, befahl ich ihm. »Hände ausgestreckt zur Seite.«

Er tat, was ich sagte.

Während ich mit beiden Pistolen auf seinen Kopf zielte, warf ich einen Blick zu dem Anästhesisten hinter mir. Er trug einen losen grünen Kittel mit V-Ausschnitt über einem dünnen weißen T-Shirt. In seinen Augen stand die Angst.

»Kamal?«, fragte ich. »Heißen Sie so?«

»Ja.«

Ich nickte in Ryans Richtung. »Können Sie ihn betäuben? Anästhesieren?«

|34|Kamal zögerte. Er warf einen kurzen Blick auf eine Packung Plastikspritzen, die auf einem Metalltablett bereitlag.

Ich sagte: »Ich werde ihn töten, wenn Sie es nicht tun.«

Kamal sah mich noch eine Weile an und für einen Moment dachte ich, er würde gar nichts machen. Ich fing schon an, mich zu fragen, was ich in dem Fall tun würde – ihn erschießen? Alle erschießen? Doch dann sah ich, wie er tief Luft holte. Er nickte und erleichtert registrierte ich, wie er nach der Spritze griff und hinter seinem Gerät hervorkam.

»Reicht die?«, fragte ich ihn und deutete dabei in Richtung der Spritze in seiner Hand. »Wird ihn die außer Gefecht setzen?«

Er nickte wieder.

»Dann los«, kommandierte ich.

Als er sich neben Ryan niederkauerte und ihm den Handrücken rieb, schoss mir plötzlich ein Schmerz durch den Bauch. Ich legte Coopers Pistole zur Seite und drückte meine Hand gegen die Wunde. Es fühlte sich klebrig an, und als ich hinabschaute, sah ich eine dunkle, wässrige Flüssigkeit – schwärzlich rot und braun – durch meine Finger sickern. Ich presste die Hand fester auf den Bauch.

Kamal hantierte jetzt mit der Spritze, klopfte dagegen und sah sie an.

»Na los«, drängte ich. »Rein damit.«

Er warf mir einen Blick leichter Geringschätzung zu und wollte etwas sagen, doch dann änderte er seine Meinung und stach die Nadel in Ryans Handrücken. Ryan zuckte leicht, dann, fast im selben Moment, erschlaffte er.

Der Raum war wieder ruhig.

|35|Weiß und still.

Nur das Geräusch ängstlichen Atmens, das Summen der Monitore und ein leises Zischen von Gas.

Es ist merkwürdig, aber während all das geschah, war es, als ob das Ganze gar nicht wirklich wäre. Ich wusste, dass es geschah, und ich wusste auch, dass es Realität war. Ich wusste, es erschreckte mich zu Tode, doch ich konnte es zu diesem Zeitpunkt nicht als das sehen, was es war. Es war bloß irgendetwas, das stattfand: Geräusche, Bewegung, Worte, Gefühle, Absichten. Die Bestandteile eines Ereignisses. Mehr nicht.

Ein Ereignis.

Ich durchlebte es bloß.

Es lief automatisch ab.

Aber jetzt, während ich es noch einmal durchspiele, während ich auf die Dinge zurückblicke, die geschehen sind, und auf das, was ich getan habe… jetzt ist es alles. Es gibt überhaupt nichts anderes mehr. Es ist das Einzige auf der Welt, die umbringendste Sache der Welt. Und auch wenn die Erinnerung daran nichts weiter als eine Erinnerung ist, reicht sie noch immer, um mich zu zerbrechen und aufzuzehren.

Über Ryans bewusstlosen Körper gebeugt sah Kamal mich an und wartete darauf, dass ich etwas sagte.

»War’s das?«, fragte ich ihn und warf einen Blick auf Ryan.

Kamal blinzelte. »Ja.«

»Wie lange hält die Betäubung an?«

Er zuckte die Schultern. »Eine halbe Stunde.«

Ich sah hinüber zu Casing und Cooper. Casing stand immer |36|noch mit dem Blick zur Wand, aber Cooper schaute über die Schulter hinweg auf Ryan. Er war nicht zufrieden mit dem, was er sah, und als sich seine Augen verdunkelten und er zu mir herüberblickte, nahm ich mir wieder seine Pistole.

»Herkommen«, befahl ich.

Er drehte sich langsam um und bewegte sich auf mich zu, mit Bewegungen wie ein großer, böser Hund – tapp tapp tapp –, die Lippen schweigend verkrampft. Als er den Raum halb durchquert hatte, befahl ich ihm, stehen zu bleiben, doch er tat es nicht. Er kam einfach weiter auf mich zu und wurde mit jedem Schritt größer und immer größer. Ich hob beide Pistolen und befahl ihm noch einmal, stehen zu bleiben, doch ich wusste, er würde es nicht tun. Sein Blick war kalt, es reichte ihm. Meine Hände fassten die Waffen und ich richtete sie beide auf seinen Kopf. Ich schaute über die Läufe hinweg und sah ihn näher und immer näher kommen – noch fünf Schritte, vier, drei, zwei – und dann, gerade als er mich packen wollte, stieß ich ihm, schnell und hart, beide Pistolen krachend ins Gesicht – krachkrach. Die Nase brach und er krümmte sich, stöhnend vor Schmerz. Ich traf ihn noch einmal, hämmerte ihm beide Pistolenläufe gegen den Schädel und der Riese ging zu Boden und lag reglos da.

Ich war schon immer stärker, als ich aussehe. Viel stärker. Ein übler Typ in einem der Heime, in denen ich war, wollte sich mal mit mir anlegen. Als ich ihn dann zusammenschlug, hätte ich ihn fast umgebracht. Nase und Kiefer zertrümmert und den Schädel gebrochen. Dabei hab ich bloß einfach ein paarmal zugeschlagen.

»Casing«, sagte ich. »Kommen Sie hier rüber.«

|37|Der Chirurg drehte sich von der Wand weg und durchquerte zögernd den Raum.

»Da stehen bleiben«, befahl ich ihm und zeigte auf eine Stelle ungefähr einen halben Meter von mir entfernt.

Casing bewegte sich, blieb stehen, sah mich an.

»Weiter«, sagte ich.

Casing bewegte sich ein Stück weiter. Er war starr vor Angst. Zitterte. Ich roch seine Panik – sauer und schal – und der Geruch gab mir Selbstvertrauen. Er hatte mehr Angst vor mir als ich vor ihm.

»Also gut«, sagte ich. »Hören Sie zu. Hören Sie?«

Er nickte.

»Okay«, sagte ich. »Ich lege mich jetzt auf die Liege. Ich lege eine dieser Pistolen weg, aber die andere halte ich genau so.« Ich stieß Ryans Pistole in Casings Bauch. »Ich lege mich hin und Sie werden mich wieder zunähen. Ich will, dass das Loch in meinem Bauch zusammengenäht wird. Verstanden?«

Er nickte.

»Sagen Sie’s.«

»Ich habe verstanden.«

»Gut.« Ich legte Coopers Pistole neben mir auf die Liege, dann verpasste ich Casing einen weiteren Stoß in den Magen. »Wenn ich das Gefühl habe, irgendwas läuft verkehrt – irgendwas–, drück ich ab. Ist das klar?«

»Ja.«

»Okay – holen Sie, was Sie brauchen.«

Mit zitternden Händen nahm Casing eine kleine Schachtel vom Instrumententablett, öffnete sie und zog eine fertig mit Faden versehene Nadel heraus. Die blauschwarze Nadel zitterte in seiner |38|Hand, als er sie mir entgegenhielt, damit ich sie sehen konnte. Ich nickte ihm zu. Dann warf ich einen Blick auf Kamal. Er stand mit auf dem Rücken verschränkten Händen über den zwei bewusstlosen Körpern.

»Ich will nicht hören, dass Sie sich rühren«, warnte ich ihn. »Ist das klar?«

Er antwortete nicht, sondern beugte sich nur ein wenig vor.

Ein letzter Blick auf Casing, dann lehnte ich mich langsam zurück und legte mich auf den OP-Tisch. Der Schmerz im Bauch brach wieder los, brutal und heftig, und ich konnte nicht verhindern, dass mir ein tierischer Laut aus der Lunge fuhr, ein leises, gequältes Knurren. Ich spürte, wie ich anfing, mich schwach zu fühlen. Das grelle Licht über mir brannte in die Augen… die Pistole in meiner Hand wurde schwer. Ich fühlte mich matt. Schwindelig. Krank.

»Machen Sie schon«, sagte ich zu Casing. »Legen Sie los.«

Wieder spürte ich, wie diese in Gummi verpackten Finger nach meinem Fleisch griffen. Und dann den Schmerz, als die Nadel anfing zu stechen. Klar und scharf – Stich… Zug… Stich… Zug… Stich… Zug…

Ich rührte mich im gleichen Rhythmus – ballen… greifen… stöhnen… keuchen. Ich spürte den Schmerz. Zwang mich, ihn zu spüren.

Spür ihn.

Denk nicht nach.

Spür ihn nur.

Ich musste den Schmerz spüren, um mich am Nachdenken zu hindern. Ich wollte nicht nachdenken. Was geschieht mit mir? |39|Was spielt sich da ab? Was bin ich? Nein, ich durfte mir nicht erlauben, so etwas zu denken, nicht zu diesem Zeitpunkt. Es hätte mich umgebracht. Das Einzige, was mir blieb, war runterzuschlucken, das Ganze in einem Loch im hintersten Winkel meines Gehirns zu verstauen und zu versuchen, es zu ignorieren.

Doch es war noch da.

Verstörend in seinem Horror.

Wenn ich nicht normal bin – was bin ich dann?

Die Antworten waren undenkbar: Roboter, Automat, Androide, Cyborg, Bestie, Maschine, Alien – nein nein nein nein nein nein nein nein… raus damit aus meinem Kopf… raus damit, raus damit, RAUS DAMIT!

Nur den Schmerz spüren.

Kapierst du?

Wie kannst du den Schmerz spüren, wenn du irgendwas anderes bist als ein empfindungsfähiges Wesen?

Wie kannst du irgendetwas anderes sein? Du hast gelebt. Du hast dich verletzt und geblutet. Du hast Dinge gesehen und gehört, du hast Dinge gefühlt und getan. Du hast über dich nachgedacht. Du hast ein Ich. Einen Verstand, einen Körper, ein Bewusstsein. Du hast Erinnerungen. Du erinnerst dich an Dinge.

Erinnerung ist Leben.

Du hast gelebt.

Du lebst.

Du isst, du trinkst, du atmest.

Du scheißt, du pisst, du furzt. Du hast Schmerzen.

Was kannst du anderes sein als ein Mensch?

|40|»Das war’s. Fertig.«

Für einen Moment wusste ich nicht, wo ich war.

Ping. Die Nadel fiel in eine Metallschale und der winzige Ton brachte wieder alles zurück ins Bewusstsein. Professor Casing – ängstliche Augen und blutige Hände. Kamal – ruhig wartend, schweigsam und still. Und ich. Sie sahen mich beide an. Ich setzte mich langsam auf, nur mit einem leichten Stöhnen, und schaute auf meinen Bauch. Er sah hässlich aus. Schlecht zusammengenäht und mit merkwürdigen Farben befleckt – Gelblich-schwarz, Schmutzig-rot, Rosa und Braun. Doch die Wunde war jetzt geschlossen. Der Horror in meinem Innern war versteckt.

Ich gab Casing ein Zeichen zurückzutreten, dann schwang ich die Beine herum und stieg von dem OP-Tisch. Als meine Füße den Boden berührten, gaben die Beine nach. Wasser schoss mir in die Augen. Ich beugte mich über die Liege und sog Luft ein, bis der Schwindelanfall abflaute.

Ich war nackt.

Ich spürte, wie das kalte Metall der Pistole an meiner Hüfte die nackte Haut berührte.

Ich sah Casing an: »Ziehen Sie Ryan aus«, befahl ich. »Hemd und Hose, Jacke, Schuhe, Socken.«

Als Casing sich neben Ryan niederkniete und mit der Kleidung abmühte, warf ich einen Blick hinüber zu Kamal. Er war jünger als die andern – Mitte zwanzig vielleicht. Er war ziemlich groß, dünn bis mager, mit länglicher Kopfform, einem schmalen Körper und geschmeidigen Gliedern.

»Sehen Sie den ganzen Krempel da?«, sagte ich zu ihm und deutete auf die Papiere, Fotoaufnahmen und Videos auf dem |41|Stahltisch. »Suchen Sie eine Tasche dafür.«

Als er sich zu dem Tisch hinüberbewegte und die Papiere und alles andere in eine alte braune Aktentasche von irgendwem stopfte, schloss ich für einen Moment die Augen und versuchte nachzudenken. Mach dein Gehirn frei, sagte ich mir. Denk nach. Denk logisch. Bring die Dinge in eine Ordnung. Vergiss all das Unbekannte, vergiss den ganzen Wahnsinn… konzentrier dich auf das, was du weißt. Was weißt du? Woran erinnerst du dich?

Ich sah mich am Morgen das Haus verlassen… die Jacke anziehen, die Haustür zuziehen, die Straße zur Bushaltestelle entlanggehen. Es war Montagmorgen um acht. Der Himmel war grau, der Wind kalt… alles war völlig normal. Bridget hatte mich ins Krankenhaus fahren wollen, doch ihre Schwester war krank geworden und sie hatte schnell hinfahren müssen, und Pete war schon unterwegs zur Arbeit…

»Dann nehm ich eben den Bus«, hörte ich mich sagen.

»Bist du sicher?«, hatte Bridget geantwortet.

»Ja.«

»Na gut… aber zurück fährst du auf jeden Fall mit dem Taxi.«

Ich erinnerte mich an das alles – wie ich auf den Bus wartete, einstieg, im Bus saß… beim Krankenhaus ankam, meine Terminkarte vorlegte… die endlosen Flure entlangging und den Schildern folgte… das Krankenhaushemd anzog und mich ins Wartezimmer setzte… am Fenster stand, nach draußen auf das Krankenhausgelände schaute und mich zu überzeugen versuchte, dass alles in Ordnung sein würde… es war ja nur eine Routineuntersuchung… das Einzige, was sie tun würden, war, mir einen Schlauch durch die Kehle zu schieben und einen gründlichen Blick in meinen Magen zu werfen. Worüber sollte ich mir also |42|Sorgen machen?

Ich schlug die Augen auf und sah auf Ryan hinab. Er war jetzt fast nackt, hatte nur noch Unterwäsche an. Seidenshorts. In dem kalten Licht wirkte seine Haut hart und weiß, wie weißer Kunststoff. Casing stand vor ihm, mit der Kleidung über den Armen, er wirkte verwirrt und fehl am Platz. Ich bin Chirurg und kein Träger, sagte der Ausdruck in seinem Gesicht.

»Her damit«, befahl ich ihm.

Er schlurfte zu mir, ließ die Kleidung auf die Liege fallen und trat wieder zurück. Ich schaute hinüber zu Kamal. Er war fertig mit dem Einpacken aller Sachen in die Aktentasche, stand da und sah mich an. Ich befahl ihm, die Aktentasche auf dem Tisch liegen zu lassen und sich auf den Boden zu setzen.

»Und Sie«, sagte ich zu Casing, »stellen sich wieder da rüber, mit dem Gesicht zur Wand.«

Ich fing an, Ryans Sachen anzuziehen, Hose, weißes Hemd, Socken, Jacke. Alles saß mir ein bisschen zu weit, doch es war ein gutes Gefühl, wieder angezogen zu sein. Es vermittelte mir einen Eindruck von Sicherheit. Stoff auf Haut. Es gab mir das Gefühl, Mensch zu sein.

Ich schlüpfte in die Schuhe, schaute hoch, dann kniete ich mich nieder und band die Schnürsenkel. Ich stand auf und stampfte mit den Füßen, dann ging ich dorthin, wo Kamal mit verschränkten Beinen auf dem Fußboden saß.

»Wie seh ich aus?«, fragte ich ihn.

Er sah zu mir auf. Seine Lippen waren schmal und geschwungen und er besaß kleine milchweiße Zähne.

»Gut«, sagte er.

Ich befahl ihm aufzustehen.

|43|Er erhob sich mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung.

Ich sagte ihm: »Holen Sie Casings Kittel und Maske und bringen Sie sie hier rüber.«

Während Casing seinen weißen Kittel und die Maske auszog und Kamal reichte, sah ich auf Cooper und Ryan hinab und fragte mich, wer sie waren, was sie wohl sein mochten. Polizei? Regierungsbeamte? Irgendeine Art von…

Nein.

Es blieb keine Zeit.

Ich hörte auf nachzudenken.

Kamal trat auf mich zu und brachte mir Casings weißen Kittel und die Operationsmaske. Er blieb vor mir stehen und ich streckte die Hand aus, um sie entgegenzunehmen.

Und dann klopfte jemand an die Tür.

Vier

Klopf klopf klopf.

»Hallo?«

Klopf klopf.

»Sir?« Eine Frauenstimme. »Sir? Ich bin’s – Hayes. Lassen Sie mich rein.«

Für einen Moment starrte ich bloß auf die Tür und hoffte unsinnigerweise, |44|wenn ich nichts täte – wenn ich mich nicht rührte und kein Geräusch machte–, würde alles gut gehen. Das Klopfen würde aufhören. Hayes würde verschwinden. Alles würde verschwinden.

Doch dann rüttelte Hayes an der Klinke und drückte und stieß gegen die abgeschlossene Tür. »Sir?«, rief sie. »Mr Ryan – sind Sie da drin? Was ist los?«

Und ich wusste, nichts würde verschwinden.

Ich richtete die Pistole auf Casing. »Antworten Sie«, flüsterte ich. »Schicken Sie sie weg.«

»Wie denn?«, fragte er.

»Mir egal – machen Sie’s einfach.«

Für eine Sekunde starrte er mich an, dann bewegte er sich auf die Tür zu. Ich folgte ihm durch den Raum und stellte mich mit dem Rücken zur Wand. Wieder sah er mich an. Ich richtete die Pistole auf seinen Kopf.

»Machen Sie keine Dummheiten«, warnte ich ihn. »Wenn Sie hier reinkommt, sind Sie tot.«

Er blinzelte einmal, holte tief Luft, dann schloss er die Tür auf und öffnete sie einen Spalt. »Ja?«, fragte er in sicherem Ton, während er durch den Spalt schaute.

»Was ist los?«, hörte ich Hayes fragen. »Wo ist Ryan? Ich muss mit ihm sprechen.«

»Jetzt nicht«, erklärte ihr Casing, die Stimme mit Arroganz gespickt. »Wir haben zu tun.«

»Ich muss mit ihm reden wegen–«

»Wir haben zu tun«, schnauzte Casing. »Kommen Sie später.«