Beklaute Frauen - Leonie Schöler - E-Book

Beklaute Frauen E-Book

Leonie Schöler

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Beschreibung

Wie Frauen Geschichte schrieben – und Männer dafür den Ruhm bekamen

Muse, Sekretärin, Ehefrau – es gibt viele Bezeichnungen für Frauen, deren Einfluss aus der Geschichte radiert wurde. Für deren Leistungen Männer die Auszeichnungen und den Beifall bekamen: Wissenschaftlerinnen, deren Errungenschaften, im Gegensatz zu denen ihrer männlichen Kollegen, nicht anerkannt wurden. Autorinnen, die sich hinter männlichen Pseudonymen versteckten. Oder Künstlerinnen, die im Schatten ihrer Ehemänner in Vergessenheit geraten sind. Lebendig und unterhaltsam erzählt die Historikerin Leonie Schöler ihre Geschichten, sie zeigt, wer die Frauen sind, die unsere Gesellschaft bis heute wirklich vorangebracht haben. Und sie verdeutlicht, wie wichtig die Diskussion um Teilhabe und Sichtbarkeit ist. Dabei wird klar: Hinter jedem erfolgreichen Mann steht ein System, das ihn bestärkt; vor allen anderen steht ein System, das sie aufhält.

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Seitenzahl: 498

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Wie Frauen Geschichte schrieben – und Männer dafür den Ruhm bekamen

Muse, Sekretärin, Ehefrau – es gibt viele Bezeichnungen für Frauen, deren Einfluss aus der Geschichte radiert wurde. Für deren Leistungen Männer die Auszeichnungen und den Beifall bekamen: Wissenschaftlerinnen, deren Errungenschaften, im Gegensatz zu denen ihrer männlichen Kollegen, nicht anerkannt wurden. Autorinnen, die sich hinter männlichen Pseudonymen versteckten. Oder Künstlerinnen, die im Schatten ihrer Ehemänner in Vergessenheit geraten sind. Lebendig und unterhaltsam erzählt die Historikerin Leonie Schöler ihre Geschichten, sie zeigt, wer die Frauen sind, die unsere Gesellschaft bis heute wirklich vorangebracht haben. Und sie verdeutlicht, wie wichtig die Diskussion um Teilhabe und Sichtbarkeit ist. Dabei wird klar: Hinter jedem erfolgreichen Mann steht ein System, das ihn bestärkt; vor allen anderen steht ein System, das sie aufhält.

Leonie Schöler, geboren 1993, ist Historikerin, Journalistin und Moderatorin. Auf ihren beliebten TikTok- und Instagram-Kanälen (@heeyleonie) vermittelt sie spannendes Geschichtswissen und klärt ihre über 230 000 Follower*innen regelmäßig über die Vergangenheit und aktuelle politische Geschehnisse auf. Als Redakteurin und Filmemacherin mit Fokus auf Webvideos liefen ihre Recherchen bei diversen funk-Produktionen, unter anderem »Jäger und Sammler«, das »Y-Kollektiv« und »Auf Klo«. Im Sommer 2021 erschien ihre Dokumentation über das System Tönnies für ZDFinfo, im Januar 2022 ihre achtteilige Webvideoreihe zur Wannsee-Konferenz für das ZDF. Zudem moderierte Schöler ab November 2022 in ihrer Rolle als Historikerin das ZDFinfo-Format »Heureka« auf YouTube. Leonie Schöler lebt in Berlin. »Beklaute Frauen« ist ihr erstes Sachbuch.

www.penguin-verlag.de

LEONIE SCHÖLER

BEKLAUTE FRAUEN

Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Doreen Fröhlich, Chemnitz

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: © Vibrands Studio/shutterstock

Reproduktion: Lorenz+Zeller GmbH, Inning a. Ammersee

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30996-1V002

www.penguin-verlag.de

Für meine Mütter, meine Schwestern & meine große Liebe

INHALT

EINLEITUNG

Kapitel eins   (K)EINEBÜRGERIN

Der Fisch stinkt vom Kopfe her

Auf den Barrikaden: Frauen in den Revolutionen von 1848/49

Wer hat Angst vorm weißen Mann? »Rasse«, Klasse und Geschlecht im nationalen Selbstverständnis

Frauen als Nicht-Bürgerinnen

Kapitel zwei   ENDSTATION: EHE

Der Matilda-Effekt

Ungleiche Bündnisse zwischen Zusammenarbeit und Ausbeutung

Bis dass der Tod euch scheidet oder: Wo blieb der Widerstand?

Die Lücke im System: Warum zu heiraten sich für Frauen nicht lohnt

Kapitel drei   KÜNSTLERWIRDMITERGESCHRIEBEN

Im Namen des Vaters und des Sohnes: Frauen als Familienangestellte

Berühmte Genies und ihre heimlichen Mitarbeiterinnen

Von der Muse geküsst oder: Können Frauen Kunst?

Kapitel vier   OHNEAUSZEICHNUNG

Prestige und Macht: Wieso Rosalind Franklin keinen Nobelpreis hat

Unsichtbar gemacht: Wieso Lise Meitner keinen Nobelpreis hat

Machtgefälle: Wieso Jocelyn Bell Burnell keinen Nobelpreis hat

Eine Frage der Geschlechtertrennung

Kapitel fünf   WIDERSTAND

Blutrünstige Amazonen oder: Die Furcht vor der kämpfenden Frau

Rote Huren, Soldatenflittchen und Frontschlampen: Frauen im Krieg

Erinnerungskultur ist Identitätspolitik

Wem nützt weißer Feminismus?

Kapitel sechs   VERGESSENUNDAUSGELÖSCHT

Noch nie gehört: Frauen hinter männlichen Pseudonymen

Goethe, Lessing, Brecht und Co.: Bildung ist weiß und männlich

Noch nie gesehen: Das Phänomen der »Wiederentdeckten Frau«

Google mal CEO: Warum Algorithmen männlich denken

SCHLUSSWORT

ANHANG

Dank

Anmerkungen

Literatur- & Quellenverzeichnis

Literaturempfehlungen

Personenregister

Bildnachweis

EINLEITUNG

Es waren einmal die Jäger und die Sammler. Die Männer waren die Jäger, die Frauen die Sammlerinnen. Zogen die Jäger aus, um gemeinsam auf die Pirsch zu gehen, suchten die Sammlerinnen nach essbaren Samen, Nüssen, Kräutern und Wurzeln. Saßen die Männer zusammen, um sich aus Steinen neue Waffen herzustellen, kochten die Frauen nahrhafte Eintöpfe und kümmerten sich um den Nachwuchs. So war alles klar geregelt – die Rollen, die die beiden Geschlechter in der Gemeinschaft ausfüllten, waren aufgrund ihrer Fähigkeiten und biologischen Unterschiede festgelegt. Als vor circa 2,2 Millionen Jahren die ersten Menschen auf Erden wandelten, waren sie in ihrer Entwicklung aus heutiger Sicht vielleicht primitiv – aber das mit der natürlichen Ordnung von Mann und Frau hatten sie bereits verstanden. Mann und Frau, Yin und Yang, Gegensätze ziehen sich an!

So oder so ähnlich lautet die Erzählung der ersten Menschen, wie ich sie in der Schule gelernt habe. Den meisten, die jetzt diese Sätze lesen, wurde es vermutlich nicht anders beigebracht! Ob in Büchern, Filmen oder auch im Museum: Die Geschichte der Jäger und Sammler wird bis heute stark über das Geschlecht erzählt. Bildliche Darstellungen zeigen die Männer der Steinzeit mit Speer und Axt in der Hand, wie sie laut brüllend hinter einem Bison herjagen, während die Frauen friedlich zusammensitzen und mit jeder verfügbaren Brust ein Neugeborenes stillen. »Na und?«, werden jetzt einige sagen, »das stimmt doch auch. Das alles wurde längst durch Ausgrabungen bestätigt!« Und in der Tat: Archäologische Funde belegen, dass diese binäre Geschlechterordnung offenbar seit Beginn der Menschheit existiert. Ein bisschen peinlich für all die Feminist*innen, die von der Gleichheit der Geschlechter faseln, und noch peinlicher für die, die von mehr als zwei natürlichen Geschlechtern ausgehen! Lehrt uns die Geschichte denn nicht alles, was wir über das Zusammenleben von Mann und Frau wissen müssen?

Nun, in der Theorie tut sie das. In der Praxis ist es allerdings etwas komplizierter – denn natürlich können wir unsere erlernten Vorbehalte und Denkmuster auch dann nur schwer ablegen, wenn wir in die Vergangenheit blicken. Bezogen auf das Geschlecht nennt sich das in der Wissenschaft Gender Bias, oder auch: geschlechtsbezogener Verzerrungseffekt. Der beschreibt, dass sich sexistische Vorurteile und Stereotype so sehr auf unser Denken auswirken, dass sie unsere Wahrnehmung der Welt verzerren. Als beispielsweise die Evolutionstheoretiker des 19. Jahrhunderts die biologischen Ursprünge des menschlichen Lebens erforschten, hatten sie ganz klare Vorstellungen von den Geschlechtern. So schrieb Charles Darwin 1871 in seinem Werk Die Abstammung des Menschen:

»Der hauptsächlichste Unterschied in den intellektuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer größeren Höhe in Allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft, oder bloß den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern.«[1]

Ganz ehrlich – wer glaubt nach dem Lesen dieser Aussage ernsthaft, dass Darwin zu neutralen wissenschaftlichen Erkenntnissen über Frauen fähig gewesen wäre? Nun, die männlich dominierte Forschungswelt des 19. Jahrhunderts tat genau das. Die anderen Wissenschaftler hatten nämlich größtenteils exakt die gleichen Vorurteile wie Darwin und suchten in der Geschichte und Biologie des Menschen unermüdlich nach Beweisen für die Überlegenheit des Mannes. Als Ausgangspunkt für diese Annahme funktionierten die Jäger und Sammler ganz fantastisch: Die scheinbar klare Rollenverteilung diente als Argument, dass dies die natürliche Ordnung zwischen Mann und Frau sein müsse, die bereits in ihrer Biologie begründet sei. Erste archäologische Untersuchungen bestätigten diese Auffassung. In den Gräbern von Männern waren Jagdwaffen und Werkzeuge beigelegt, während Frauen Schmuck als Grabbeigabe erhielten. So grub man in den folgenden Jahrzehnten die Geschichte immer weiter um und buddelte ganz viele kleine und große Beweise aus für die eigene Vorstellung von der menschlichen Existenz. Ende!

Oje, bitte jetzt das Buch noch nicht wieder zuklappen. Das hier ist doch erst die Einleitung! Vielleicht sollten wir deshalb lieber mit einem Anfang beginnen statt einem Ende, oder? Also gut: Seit wenigen Jahren gibt es tatsächlich eine neue Perspektive auf unsere Vergangenheit. 2018 wurde in den peruanischen Anden das mit Waffen reich bestückte Grab eines Kriegers gefunden. Mithilfe modernster Technik wurden die circa 9000 Jahre alten Gebeine genealogisch analysiert, es wurde also ein DNA-Test gemacht – und etwas schier Unglaubliches bewiesen: Das Skelett war das einer Frau![2] Da musste ein Fehler passiert sein, oder? Lieber noch mal Knochenproben weiterer Funde in die Genanalyse schicken. Doch tatsächlich: 30 bis 50 Prozent der untersuchten Skelette, die man bisher auf Grundlage der Waffen und Werkzeuge im Grab als männlich identifiziert hatte, waren biologische Frauen.[3] Weitere weltweit durchgeführte Untersuchungen belegen, dass von den Grabbeigaben abgeleitete Aussagen über das Geschlecht in der Vergangenheit fehlerhaft waren.[4] Zuletzt haben Archäolog*innen einen Sensationsfund aus dem Jahr 2008 korrigiert: Damals war in der Nähe des südspanischen Valencia das Grab eines mächtigen Herrschers aus der Kupferzeit entdeckt worden. Er bekam den Namen »Ivory Man«, in Anlehnung an die prächtigen Grabbeigaben und Waffen aus Elfenbein, die sich deutlich von anderen Gräbern aus der Zeit unterschieden. Doch 2023 durchgeführte DNA-Tests ergaben, dass der Ivory Man eigentlich eine Ivory Lady war. Nicht nur das: Die Forschenden kamen in ihrer Studie auch zu dem Ergebnis, dass

»sie zu einer Zeit, in der kein Mann eine auch nur annähernd vergleichbare soziale Stellung einnahm, eine führende gesellschaftliche Persönlichkeit war. Nur andere Frauen, die kurze Zeit später in […] einem Teil desselben Gräberfeldes bestattet wurden, scheinen eine ähnlich hohe soziale Stellung gehabt zu haben.«[5]

Offenbar waren in dieser Region vor 5000 Jahren nur Frauen die Anführerinnen gewesen. Gab es etwa doch gar keine strenge Mann-Frau-Aufteilung unter unseren Vorfahren?

Nun, vielleicht machen wir an dieser Stelle einen kurzen Abstecher zurück ins Hier und Jetzt. In einer anthropologischen Studie von 2023 wurden weltweit 391 Gemeinschaften, die ihre Nahrung weiterhin über Jagen und Sammeln beschaffen, genauestens beobachtet. Die Daten ergaben, dass in 80 Prozent der untersuchten neuzeitlichen Jäger-und-Sammler-Kulturen Frauen an der Jagd beteiligt sind – und das überall auf der Welt.[6] Insgesamt sind die Geschlechterrollen in indigenen Kulturen deutlich weniger starr und nicht ausschließlich binär, also nur Mann und Frau entsprechend.[7] Dass Genderidentitäten in der Geschichte der Menschheit schon immer komplex waren, darauf deuten wiederum ebenfalls weltweit gefundene Gräber hin, in denen gemischte Beigaben enthalten waren. Die beteiligten Archäolog*innen kamen in ihren Studien zu dem Ergebnis, dass diese Ausgrabungen unser westliches, binäres Geschlechterverständnis infrage stellen.[8]

Halten wir also fest: Lange Zeit gingen wir wie selbstverständlich davon aus, dass allein die Grabbeigaben auf das Geschlecht der bestatteten Person schließen lassen. Jedes Grab, das Waffen enthielt oder auf eine Führungsposition zu Lebzeiten hinwies, wurde über Jahrhunderte hinweg automatisch einem Mann zugeordnet. Die Forschungen, die dieses binäre und von sexistischen Vorurteilen geprägte Bild der menschlichen Existenz hinterfragen, haben hingegen gerade erst angefangen. Es stellt sich heraus, dass wir alle einen Gender Bias haben, der unsere Vorstellungen auch von Geschichte stark prägt – wie sehr, das werden wir uns im Laufe dieses Buches genauer ansehen.

Ich werde immer wieder gefragt, warum ich mich so für Geschichte interessiere. Ich antworte dann meistens damit, dass mich die Vergangenheit so fasziniert, weil sie unsere Gegenwart erklärt. Alles ist, wie es ist, weil alles so war, wie es war. Wenn wir ganz genau hinschauen, bietet uns die Geschichte viele Antworten auf heutige Fragen. Wir können beobachten, wie sich Konflikte und Debatten wiederholen. Wir können vergleichen, welche Lösungen wir Menschen in der Vergangenheit für Herausforderungen gefunden haben, und uns fragen, ob wir es heute genauso oder lieber anders machen sollten. Wir können warnen, wenn sich problematische Muster aus der Historie fortsetzen oder wiederholen. Gleichzeitig fühlt sich Geschichte für mich immer ein wenig an wie Detektivarbeit – es gibt noch so viele ungeklärte Fragen und fehlende Puzzleteile, die nur darauf warten, entdeckt und zusammengesetzt zu werden. Das ist nicht immer ganz einfach, denn Geschichte ist auch ein oft unterschätztes Mittel der Macht. Wer bestimmt mit, wie wir über die Geschichte denken, über wen wir etwas wissen, welche Perspektiven wir einnehmen, welchen Narrativen wir zuhören und wessen Stimmen ungehört bleiben? Die ersten Seiten dieser Einleitung deuten bereits an, dass man sich die Vergangenheit – ob bewusst oder unbewusst – auch immer so zurechtschustern kann, wie es einem selbst passt. Sich für komplexe Fragen der Gegenwart einfache Antworten aus der Geschichte zu konstruieren, um damit das eigene Weltbild zu bestätigen, funktioniert nämlich sehr gut. Und ja: Genau das werden mir manche Menschen ebenfalls vorwerfen, wenn sie von diesem Buch hören. Schon wieder eine Frau, die es nicht aushält, dass die Welt von Männern gemacht wurde! Schon wieder eine Feministin, die auf Teufel komm raus die Vergangenheit so lange verzerrt, bis sie in ihre Ideologie passt! Ich weiß, dass diese Vorwürfe kommen werden, weil sie mir schon öfter gemacht wurden. Als Journalistin und Moderatorin drehe ich bereits seit Längerem Filme, die historische Themen behandeln. Seit Ende 2020 bin ich aber auch in den Sozialen Netzwerken unterwegs und poste dort Videos, in denen ich über verschiedene geschichtsbezogene Themen spreche. Ich erhoffe mir dadurch, möglichst viele Menschen für Geschichte zu begeistern! In meiner Arbeit ist es mir zudem ein Anliegen, die Vergangenheit vor allem aus der Perspektive derjenigen zu erzählen, die in der männlich-eurozentrisch geprägten Geschichtsschreibung lange Zeit keinen Platz hatten: Frauen, queere Personen, People of Color und andere Minderheiten. Ich verstehe diesen Ansatz als Korrektiv, denn die Darstellung, dass nur weiße* Männer Dinge von Bedeutung getan, gesagt oder gedacht haben, stimmt einfach nicht – und doch prägt dieses Narrativ unsere Wahrnehmung von Geschichte enorm. Nicht nur, was die Jäger und Sammler betrifft! Wir sind inzwischen so gewöhnt an die »großen Männer der Geschichte«, dass jedes Mal, wenn es nicht um sie geht, schnell der Vorwurf im Raum steht, hier sollen ihre Leistungen abgewertet oder Geschichte umgeschrieben werden. Ich habe schon öfter gehört, meine Arbeit sei aktivistisch – einfach nur, weil ich darüber rede, dass auch Frauen, auch queere Personen, auch People of Color und andere Minderheiten etwas zu unser aller Vergangenheit beigetragen haben. Das liegt sicherlich unter anderem daran, dass es bisher vor allem Aktivist*innen selbst zugefallen war, ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten und für Sichtbarkeit im historischen Diskurs zu kämpfen. Für manche ist es aber weiterhin unvorstellbar – oder nicht ins eigene Weltbild passend –, dass aktuell nicht mehr nur weiße Männer auf dem Thron der Geschichte Platz nehmen. Doch glücklicherweise gibt es immer mehr Menschen, die bereit sind, etwas genauer hinzusehen und zu hinterfragen, ob unser Geschichtsbild eigentlich korrekt ist, so wie es bislang erzählt wird. Es wurden bereits viele Sachbücher und Debattenbeiträge geschrieben, in denen diskriminierende Denkmuster hinterfragt werden und bisher überhörte Perspektiven und Stimmen zu Wort kommen. Ich habe zudem in den letzten Jahren viele Gespräche führen dürfen mit Leiter*innen von Museen, Redaktionen, Uni-Professor*innen und anderen Historiker*innen und nehme wahr, dass ein zunehmend großes Interesse besteht, Geschichte diverser zu erzählen. Auch das Feedback unter meinen Videos und in den Kommentarspalten von anderen Creator*innen stimmt mich positiv, dass das Bewusstsein für eine Aufarbeitung der Vergangenheit, die alle Menschen berücksichtigt, aktuell so groß ist wie vielleicht nie zuvor. Als die Idee entstand, ein Buch zu schreiben, war mir deshalb schnell klar, worum es gehen sollte!

Aber von vorn: Am 28. Februar 2021 habe ich auf meinen Kanälen unter dem Handle @heeyleonie das erste Video gepostet zu einem Thema, von dem ich von vornherein wusste, es würde eine ganze Reihe werden: »Frauen, deren Leistungen von Männern geklaut wurden, womit diese dann berühmt wurden«. In dem Video ging es um die britische Biochemikerin Rosalind Franklin und wie es zwei männliche Kollegen schafften, den Nobelpreis für ihre Arbeit zu erhalten. Inzwischen sind auf meinem Account bereits 16 Videos unter dem Stichwort »Beklaute Frauen« entstanden. Und tja, was soll ich sagen – es gibt so viele Biografien, dass ich damit ein ganzes Buch füllen konnte. Frauen, die Bedeutendes geleistet, erdacht, gesagt, erkämpft haben und deren Namen heute trotzdem vergessen oder hinter denen von »großen Männern« verschwunden sind. Wir alle kennen die Narrenweisheit: »Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau.« Ich finde diese Aussage ziemlich überholt, weil sie genau die ausbeuterische Rolle romantisiert, die Frauen in der Vergangenheit zugedacht wurde: im Hintergrund dem Mann den Rücken freihalten, ihn in seinem Vorankommen unterstützen und sich dabei bloß nicht beklagen, sondern noch dankbar sein dafür, ohne Anerkennung als verlängerter Arm fungieren zu müssen. Und doch ist an dem Spruch zugegebenermaßen einiges dran, und zwar ganz buchstäblich. Denn hinter sehr vielen erfolgreichen Männern der Geschichte standen tatsächlich Frauen, oft auch mehrere, ohne die diese Männer niemals so erfolgreich geworden wären. Diese Rolle haben sich jedoch die wenigsten Frauen ausgesucht, und viele von ihnen sind daran zerbrochen, sich von ihrem Schattendasein nicht befreien zu können. Ich hoffe deshalb sehr, dass ich ihnen mit diesem Buch zumindest einen Teil ihrer Stimme zurückgeben kann und dazu beitrage, dass sie rückwirkend die Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten, die sie zu Lebzeiten verdient hätten.

Ich möchte aber auch deutlich machen, dass es in den folgenden Kapiteln grundsätzlich nicht um Einzelschicksale geht, sondern um das System, das dahintersteckt. Der Spruch von eben müsste nämlich eigentlich heißen: »Hinter jedem erfolgreichen Mann steht ein System, das ihn bestärkt; vor allen anderen steht ein System, das sie aufhält.« Auf den vor uns liegenden Seiten werden wir uns anschauen, wie sich dieses System konkret in den letzten knapp 200 Jahren in Europa etabliert hat und welche Auswirkungen es auf unsere heutigen gesellschaftlichen Werte, politischen Debatten und gesetzlichen Regelungen hat. Ich habe mich für die räumliche Beschränkung entschieden, um die Entwicklung der patriarchalen Strukturen nicht nur punktuell, sondern in ihrer historischen Kontinuität erzählen und einordnen zu können. Denn auch wenn es das Patriarchat in seiner heutigen Ausprägung auf der ganzen Welt gibt (danke, Kolonialismus!), so sind doch die historischen Rahmenbedingungen, politischen Machtverhältnisse und Genderdebatten nicht überall gleich. Um mal ein konkretes Beispiel zu nennen: Im Iran liegt der Frauenanteil an Studierenden von naturwissenschaftlichen oder mathematischen Fächern bei circa 70 Prozent.[9] Auch in den arabischen Nachbarländern dominieren Frauen in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). In Deutschland wäre so eine hohe Quote sicherlich ein Beweis für eine zunehmende Chancengleichheit der Geschlechter; im Iran haben Frauen jedoch unter dem seit 1979 herrschenden Mullah-Regime nicht mal Autonomie über die Kleider, die sie in der Öffentlichkeit tragen. Die Gründe für diese scheinbaren Widersprüche in der Gleichberechtigung der Geschlechter lassen sich in der Geschichte finden. Die strengere Geschlechtertrennung und Kleidervorschriften in den Klassenräumen von muslimisch geprägten Ländern führten Studien zufolge zum Beispiel dazu, dass sich Schülerinnen in wissenschaftlichen Fächern wie Physik nicht so oft fehl am Platz oder auf ihr Geschlecht reduziert fühlten. Speziell im Iran fingen Frauen vor allem während des Ersten Golfkriegs von 1980 bis 1988 an, in die männlich dominierte Berufswelt vorzurücken. Solche Entwicklungen müssen in einem Geschichtsbuch in ihrer Kontinuität und geopolitischen Vergangenheit sauber erzählt und eingeordnet werden. Es gibt tolle Historiker*innen, Journalist*innen, Frauenrechtler*innen und andere Expert*innen, die über das kulturelle und historische Wissen, die Sprachkenntnisse sowie die richtige Perspektive verfügen und genau solche Bücher schon geschrieben haben – so zum Beispiel das Sachbuch Fifty Million Rising: The New Generation of Working Women Transforming the Muslim World (2018), in dem die pakistanische Ökonomin und Geschäftsführerin des Weltwirtschaftsforums Saadia Zahidi anhand diverser Biografien aufzeigte, wie sich muslimische Frauen einen Platz in der Arbeitswelt erkämpfen und die Wirtschaft mitgestalten (eine ausführliche Liste an Literaturempfehlungen findet sich am Ende dieses Buches). Meine eigene Expertise liegt in der neuzeitlichen Sozialgeschichte Europas, und deshalb schreibe ich darüber. Auch die zeitliche Begrenzung habe ich unter anderem deswegen gewählt. Den Anfang dieses Buches machen die Märzrevolutionen Europas 1848/49, in denen es um politische Teilhabe und das Errichten von Demokratien ging. Frauen waren an diesen Revolutionen rege beteiligt, aber im Gegensatz zu den Männern gingen sie anschließend mit weniger statt mit mehr Rechten aus der Sache heraus. Auf den folgenden Seiten werden wir infolgedessen sehr viele Frauen kennenlernen, deren Schicksal von ihrer gesellschaftlich abgesteckten Rolle als Frau geprägt war. Andere Faktoren, wie zum Beispiel ihre Herkunft, ihre Hautfarbe, ihre religiöse oder ethnische Zugehörigkeit, ihre Sexualität oder Genderidentität spielten jedoch auch eine Rolle und waren für den Verlauf mancher Lebensentwürfe mindestens genauso entscheidend wie das biologische Geschlecht. Je weiter wir in der Geschichte vorrücken und uns der Gegenwart nähern, desto mehr Biografien von Menschen sind überliefert, die sich in ihrer Existenz von dem unterscheiden, was spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts als menschliches Ideal definiert wurde: der weiße, christliche Mann des Bürgertums. Das heißt aber umgekehrt auch, je weiter in der Geschichte wir zurückgehen und uns vom Heute entfernen, desto schwieriger wird es, sie zu finden. Frauen, Jüdinnen:Juden, Arbeiter*innen, People of Color, Migrant*innen, Menschen mit Behinderung, Personen der LGBTQIA+-Community, Muslim*innen und viele weitere Gruppen wurden in der europäischen Geschichte lange unsichtbar gemacht. Bildlich gesprochen könnte man vielleicht sagen, dass sie kein Stück vom Kuchen abbekommen haben. In der Realität gesprochen, bekamen diese Menschen keine Beteiligung am politischen Diskurs. Ihnen wurden die Möglichkeiten genommen, sich als Teil der Gesellschaft zu begreifen, sich für sich selbst einzusetzen und eigene Interessen zu vertreten; und wenn sie es doch taten, bekamen sie die volle Macht des politischen Apparates zu spüren, der sie in ihrer Existenz unterdrückte. Ich möchte an dieser Stelle nicht zu viel vorwegnehmen, aber schon mal darauf hinweisen, dass »der politische Apparat« keine ominöse Elite in Hinterzimmern meint, sondern uns alle. Wir alle sind Teil einer Gesellschaft, die wir gemeinsam gestalten. Manche Menschen verfügen jedoch historisch gewachsen über deutlich mehr Ressourcen als andere, um sich Gehör zu verschaffen, eigene Interessen durchzusetzen und die gesellschaftlichen Regeln dadurch zum eigenen Vorteil mitzubestimmen. Springen wir deshalb gut 200 Jahre zurück und begeben uns in ein Europa, in dem der Kampf um genau diese politische Teilhabe unerbittlich geführt wird – und in dem vieles hätte anders kommen können.

*   Wir setzen in diesem Buch weiß kursiv, um zu verdeutlichen, dass es hier nicht um die Beschreibung einer Hautfarbe geht, sondern um das Deutlichmachen einer politischen und gesellschaftlichen Machtposition. Schwarz schreiben wir groß, da es sich um eine politische Selbstbezeichnung von Menschen handelt, die von Anti-Schwarzem Rassismus betroffen sind.

1   (K)EINE BÜRGERIN

»Mann, bist du imstande gerecht zu sein? Es ist eine Frau, die dir diese Frage stellt; dieses Recht wenigstens kannst du ihr nicht nehmen. Sage mir, wer hat dir die souveräne Macht verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken?«[1]

OLYMPEDEGOUGES, FRANZÖSISCHEPHILOSOPHIN, 1791 INDERERKLÄRUNGDERRECHTEDERFRAUUNDBÜRGERIN

Der Fisch stinkt vom Kopfe her

»Versailles schlemmt, Paris hungert!«, lautete der Schlachtruf, der an einem verregneten Vormittag des 5. Oktober 1789 durch die Straßen von Paris hallte.[2] Tausende Frauen hatten sich vor dem Rathaus der Stadt versammelt, bewaffnet mit Spießen und Küchenmessern.[3] Sie waren Arbeiterinnen und Marktverkäuferinnen und litten unter der zuletzt stark gestiegenen Arbeitslosigkeit sowie den immer höheren Brotpreisen, die ein Überleben kaum noch möglich machten.[4] Zu allem Überfluss hatte der König verkünden lassen, dass aufgrund von Getreideknappheit kein Brot mehr verkauft werden solle – während es ihm selbst an nichts mangelte und er weiterhin Banketts feierte![5] Zu Fuß machte sich der skandierende Protestzug deshalb auf zum Versailler Hof, um König Ludwig XVI. zu stellen. Im Zuge der Französischen Revolution war die Stimmung in der Bevölkerung so aufgeheizt, dass sich auch einige Bürgerinnen sowie Aufständische der Nationalgarde dem sechsstündigen Protestmarsch anschlossen. Als der König die Truppen in seinem Schloss empfing und ihnen zusicherte, dass er den Brotpreis senken werde, zogen sie – bestärkt von ihrer gemeinsamen Zahl – deshalb auch nicht gleich wieder ab. Stattdessen zwangen die Frauen Ludwig XVI. auch dazu, endlich zwei bedeutende Dokumente zu unterzeichnen, die bereits Monate zuvor von der im Juli 1789 ins Leben gerufenen Nationalversammlung beschlossen worden waren: die Erklärung der Menschenrechte sowie die Abschaffung der Privilegien des Adels.[6] Nach stundenlangen Protesten, die sich weit bis in den nächsten Morgen zogen, setzte Ludwig XVI. tatsächlich seine Unterschrift unter die Papiere. Diese Errungenschaft war so bedeutend für die Revolution, dass sich inzwischen sogar die Pariser Stadtverwaltung sowie die Nationalversammlung auf den Weg nach Versailles gemacht hatten, um die letzte Forderung zu unterstützen: Der König sollte mit seiner Frau und seinem Sohn nach Paris umziehen, wo die Königsfamilie in unmittelbarer Nähe der politisch aufgeladenen Bevölkerung wohnen würde. Kurz nach Anbruch der Morgenstunden machte sich der lange Zug auf den Weg zurück nach Paris. Dieses Mal lautete der Ausruf: »Wir bringen den Bäcker, die Bäckersfrau und den Bäckerjungen!«[7]

Die Entmachtung des Adels, die Abschaffung der Ständegesellschaft und die Erklärung der Menschenrechte: Dies sind, um es kurz zu fassen, die Errungenschaften der Französischen Revolution. Der Zug der Frauen nach Versailles war dementsprechend ein bedeutsamer Wendepunkt mit Folgen: Die Menschenrechtserklärung wurde unterzeichnet und das Ende der Monarchie eingeläutet. Daran hatten Frauen nicht nur mitgewirkt – wie zuvor schon bei vielen wichtigen revolutionären Ereignissen –, sondern sie waren klar die treibende Kraft gewesen. Folglich wurden die Demonstrantinnen in den Tagen und Wochen danach öffentlich als Heldinnen der Revolution gefeiert und ausgezeichnet. Zudem erhielten Frauen erstmals Zutritt zur Nationalversammlung und kurzzeitig, man glaubt es kaum, sogar das Rederecht auf offiziellen Versammlungen! Doch obwohl die Frauen des sogenannten »Brotmarsches« in nur anderthalb Tagen mehr erreichten als manch hochtrabender Revolutionär in zehn Jahren, brachte ihnen ihr Protest keine anhaltende politische Verbesserung. Bereits zu Lebzeiten wurden sie und ihr Wirken verspottet. Sie bekamen den Titel Poissarden verpasst, wörtlich übersetzt »Fischweiber«, eine geschmacklose Anspielung darauf, dass es sich um Marktverkäuferinnen handelte, von denen einige in den Wochen der größten Hungersnot in die Prostitution getrieben worden waren. Frauen, Arbeiterinnen und Prostituierte als Anführerinnen der Revolution – das war natürlich nicht das Bild, das man sich als respektabler Franzose wünschte. So viele unterschiedliche politische Lager es zu der Zeit auch gab, in einem waren sich Politiker, Journalisten, Revolutionäre und Bürger in der Nationalversammlung ganz schnell einig: Die Revolution durfte nicht den Marktfrauen überlassen werden! In der frisch unterzeichneten Menschenrechtserklärung hieß es zwar:»Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten.«[8] Doch viele der einflussreichen Männer waren bald genervt von den Weibsbildern und dem Pöbel, die politisches Mitspracherecht forderten. Folglich wurden die Ereignisse des 5. Oktobers in Berichten und Zeichnungen rasch umgedeutet. Das Bürgertum inszenierte sich selbst als die Anführer, denen sich die Poissarden als einfach aufzuwiegelndes Proletariat nur angeschlossen hätten. Im Weiteren erklärten sie die Demonstrantinnen zum Negativbeispiel für das weibliche Geschlecht und beschimpften sie in Reden, Zeitungsartikeln und Gedichten für ihre Unsittlichkeit.[9] Eine äußerst erfolgreiche Kampagne: Innerhalb kurzer Zeit wurde die Zulassung für Frauen an öffentlichen Veranstaltungen wieder aufgehoben, sämtliche Frauenvereine verboten, und aufmüpfige Frauenrechtlerinnen wanderten ins Gefängnis oder aufs Schafott. Halleluja, die Revolution gehörte wieder den Männern!

Bewaffnete Marktfrauen, die von einer wohlhabenden Bürgerlichen angeführt werden: Diese Darstellung des Brotmarsches entstand um 1800 und zeigt, wie das Bürgertum rückwirkend einen Anspruch als neue führende Klasse erhob.

Das Bild der großen Männer der Französischen Revolution und ihrer Errungenschaften für die Menschheit bekommt seit einigen Jahren immer mehr Risse – völlig zu Recht! Denn es war gar keine Errungenschaft für die gesamte Menschheit, sondern nur für die wenigen, die sich nach Absetzung des Adels selbst zur neuen Führungselite erhoben. Die Erklärung der Menschenrechte galt nicht für Frauen, ethnische Minderheiten oder das Proletariat, sondern für weiße, gutbürgerliche Männer. So macht die Geschichte der »Fischweiber« deutlich, wie Arbeiterinnen zu Beginn der Revolution als Mitstreiterinnen willkommen waren, doch als sie dann gleiche Rechte einforderten, per Gesetz aus der Öffentlichkeit verbannt wurden. Da sie in einem wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis zu der Bourgeoisie standen und über keine Möglichkeiten verfügten, sich systematisch und über einen längeren Zeitraum hinweg öffentliches Gehör zu verschaffen, zogen sie in diesem politischen Machtkampf den Kürzeren. Die Bestrebungen bürgerlicher Frauenrechtlerinnen, für sich gleiche Rechte wie für den bürgerlichen Mann rauszuschlagen, verliefen derweil nicht selten tödlich. So hieß es beispielsweise über Madame Roland, die regelmäßig an Sitzungen der Nationalversammlungen teilgenommen hatte und für ihre literarischen Salons bekannt war:

»Die Frau Roland […] war ein Ungeheuer in jeder Hinsicht. Sie war Mutter, doch sie hatte die Natur vernachlässigt, indem sie sich über sie erheben wollte; der Wunsch, eine Gelehrte zu sein, brachte sie dazu, die Tugenden ihres Geschlechts zu vergessen, und dieses stets gefährliche Vergessen ließ sie schließlich auf dem Schafott enden.«[10]

Auch die bis heute namentlich bekannteste Frauenrechtlerin der Französischen Revolution wurde hingerichtet: Olympe de Gouges. 1791 verfasste sie die Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin und forderte, diese in die Erklärung der Menschenrechte aufzunehmen: »Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Mann an Rechten gleich.«[11]Nun, daraus wurde nichts. Stattdessen hing ihr Kopf zwei Jahre später in der Guillotine, was in der Presse wie folgt kommentiert wurde:

»Sie wollte ein Staatsmann sein, und es hat den Anschein, als habe das Gesetz diese Verschwörerin dafür bestraft, dass sie die Tugenden, die ihrem Geschlecht eigen sind, vergaß.«[12]

Zwar wurden sowohl Männer als auch Frauen in den Jahren 1792 bis 1794 als »Feinde der Revolution« verfolgt und hingerichtet; doch die öffentliche Bewertung dieser Personen fiel, je nach Geschlecht, sehr unterschiedlich aus. Wurden Männer für ihre politischen Taten zur Rechenschaft gezogen, sollten Frauen primär dafür bestraft werden, ihrer vermeintlich natürlichen Rolle als Hausfrau und Mutter nicht nachgekommen zu sein. Diese Frauen wurden als »Furien« gebrandmarkt[13], und ihr Verruf überdauerte die Jahrhunderte. So frauenverachtend diese Zitate auch sind, lässt sich zwischen den Zeilen eine Wahrheit ableiten: Frauen, die in der Vergangenheit politischen oder gesellschaftlichen Einfluss nahmen, wurden schlechtgeredet und anschließen vergessen. Das bedeutet konkret:

Die meisten Namen von Frauen, die zu ihren Lebzeiten Bedeutendes bewirkten oder zu bewirken versuchten, sind heute vergessen.Sind ihre Namen vergessen, so ist entweder auch ihr Wirken vergessen oder wird Männern zugeordnet.Sollte es doch einmal eine Frau geschafft haben, dass wir uns an ihren Namen erinnern, so wird meist mehr über ihr Wesen und ihren Lebensstil diskutiert als über ihr Wirken.Wird über das Wesen oder den Lebensstil einer Frau diskutiert, so geschieht dies in direktem Bezug auf ihr Geschlecht und wie sehr sie diesem entspricht – oder eben nicht.

Ich möchte euch als Lesende dieses Buches einladen, euch diese Sätze immer wieder in Erinnerung zu rufen. Nehmt euch ein Lesezeichen oder einen Textmarker, unterstreicht sie, denn diese vier Sätze werden uns durch jedes Kapitel begleiten. Jede Person, deren Geschichte ich erzählen werde, tritt gegen diese vier Sätze an. Ich meine damit nicht nur die Frauen, die namentlich in diesem Buch erwähnt werden. Wenn wir uns die ersten beiden Feststellungen anschauen, wird klar: Viele Frauen werden in diesem Buch gesichtslos bleiben und als Zahl, Statistik oder Gruppe genannt. Über Olympe de Gouges könnte ich ein eigenes Buch schreiben, doch die Namen der Frauen, die wir »Fischweiber« nennen, sind nicht bekannt. Das Gleiche gilt auch für die Revolutionen 1848/49 in Europa. Zehntausende Frauen kämpften auf unterschiedliche Art und Weise mit und erhofften sich die Befreiung der Stände, aber auch ihres Geschlechts. Schauen wir uns an, wie viel sie erreichten – und wie viel Würdigung und Erinnerung ihnen anschließend zuteilwurde.

Auf den Barrikaden – Frauen in den Revolutionen von 1848/49

Als 1848 in weiten Teilen Europas die Flamme der Revolution entfacht war und sich in jeder größeren Stadt die Barrikaden türmten, sah es der junge Anwalt und Menschenrechtsaktivist Gyula Sárossy als seine Pflicht an, zu kämpfen. Schon lange vor seiner Geburt war seine Heimat Ungarn ins Kaisertum Österreich eingegliedert worden, was dem slawischen Teil der Bevölkerung sämtliches Mitspracherecht genommen hatte. Nun war die Zeit des Aufbegehrens gekommen! Um die Habsburger Krone zu stürzen und den Ländern des Ostens wieder Autonomie zu bringen, meldete sich Gyula freiwillig bei den ungarischen Kampftruppen. Er wurde im 27. Bataillon eingesetzt, das sich im Osten Rumäniens in der Großstadt Oradea positioniert hatte.[14] Die Kämpfe dort wurden unerbittlich geführt, doch Gyula stellte sich den kaiserlichen Truppen mit Mut und einer herausragenden Schwertführung entgegen. In der militärischen Rangordnung stieg er deshalb schnell auf und wurde schon nach wenigen Wochen zum Wachtmeister ernannt, was ihn zum Kommandieren seiner eigenen Truppe befähigte.[15] Bei einem seiner Einsätze verletzte sich Gyula Sárossy jedoch schwer. Mit zwei Stichwunden in der Brust und Granatsplittern im Rücken schleppten ihn seine Kameraden ins Lazarett, wo die Ärzte ihr das Leben retteten. Notdürftig entfernten sie so viele Splitter wie möglich, nähten ihr die Wunden zu und … Moment mal. Die Ärzte retteten ihr das Leben? Gyula war doch ein Mann gewesen?

Nun, Gyula Sárossy war ein Mann, und er hat auch tatsächlich existiert. Aber die Person, die sich in seinem Namen zum Kampf gemeldet hatte, war nicht Gyula. Der war nämlich jung an einer Krankheit gestorben, Monate bevor die Revolutionen ausgebrochen waren. Er hinterließ nicht viel: ein bisschen Geld, seine Ausweispapiere – und seine frisch angetraute Ehefrau Júlia Bányai, die er kurz vor seinem Tod geheiratet hatte.[16] Júlia kam aus einer armen transsilvanischen Arbeiterfamilie und war Reiterin im Wanderzirkus, als sie im jungen Alter von 24 zur Witwe wurde.[17] Sie hätte vielleicht weiterarbeiten und ihr Leben dadurch absichern können, aber sie entschied sich, für die Revolution in den Kampf zu ziehen. Da gab es nur ein Problem: Júlia war eine Frau – und Frauen durften nicht kämpfen. Kurzum schnappte sie sich die Papiere ihres verstorbenen Mannes, zog seine Kleidung an und meldete sich als Gyula zum Einsatz. Offensichtlich verfügte sie nicht nur über beeindruckende Fähigkeiten im Kampf, sondern besaß auch Talent darin, sich zu maskieren. Ihr wahres Geschlecht flog nämlich erst auf, nachdem sie verwundet worden war und körperlich untersucht wurde.[18] Da Júlia ihren Wert im Kampf jedoch bereits bewiesen hatte und die Unabhängigkeitstruppen im Verlauf der Revolution nicht mehr nur jeden kampfbereiten Mann, sondern auch jede als Mann verkleidete kampfbereite Frau brauchten, durfte sie bleiben. Júlias Wandlungsfähigkeit wurde sogar honoriert: Sie wurde zum Hauptmann ernannt und immer wieder als Spionin eingesetzt. Verkleidet als Schaffner, Seifenverkäufer oder französische Tänzerin, horchte sie bis zum Schluss des Aufstands feindliche Truppen aus.[19] Glück gehabt! Denn normalerweise wurde Frauen in der Ungarischen Revolution schnell der Garaus gemacht. In Cluj-Napoca, das in Transsilvanien im heutigen Rumänien liegt, meldete sich eine Gruppe einheimischer Bürgerinnen als freiwilliges Aufklärungsbataillon zum Einsatz – was der zuständige Commissioner László Csányi sogleich per Dekret unterband:

»Der bewaffnete Dienst von Frauen [kann] nicht akzeptiert werden [….] Frauen sollten stattdessen weibliche Arbeiten verrichten, die ihrer Stärke und ihrem Geschlecht angemessen sind, wie Nähen, Wäscherei und Krankenpflege.«[20]

INFOKASTEN: Ungarn gehörte zu der Zeit dem Kaisertum Österreich an, das, mit kurzen Unterbrechungen, zwischen 1804 und 1867 existierte. Anschließend wurde es Teil des Kaiserreichs Österreich-Ungarn, das erst 1918 mit Ende des Ersten Weltkriegs zerfiel. Die Habsburger Krone besetzte und verwaltete ein riesiges Territorium, das folgende heutige Staaten umfasste: Österreich, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina sowie Teile des heutigen Rumäniens, Montenegros, Polens, der Ukraine, Italiens und Serbiens. Während sich im Rest Europas Nationen gründeten, lebten unter der Monarchie zahlreiche verschiedene Kulturen und Sprachgemeinschaften zusammen. Doch obwohl die slawische Bevölkerung in der Mehrheit war, hatte sie keine Autonomie- oder Mitbestimmungsrechte. Durch die Unterdrückung entwickelten sich im Zeitalter des Nationalismus viele Konflikte, die teilweise bis heute anhalten.

Dieses Bild zeigt wahrscheinlich Maria Lebstück in Uniform und mit Militärauszeichnungen am Kragen.

Trotzdem schlossen sich weitere als Mann verkleidete Frauen den Befreiungskämpfern an: Mária Nyáry, Janka Szentpáli, Appolonia Jagiellonian und Mária Csizmárovits sind einige der überlieferten Namen. Die Maskerade zu wahren war allerdings von großer Bedeutung. Auch innerhalb der eigenen Reihen war in den meisten Fällen klar, dass eine Frau, sobald als Frau enttarnt, auf ihr Geschlecht reduziert werden würde. Da es keine einheitlichen Regeln gab, wurde von Fall zu Fall entschieden, was das konkret bedeutete: Manche Frauen durften weiter im Dienst bleiben, solange sie die Verkleidung aufrechterhielten; andere wurden hinter die Front versetzt oder unehrenhaft entlassen und manche sogar mit einem Gefängnisaufenthalt bestraft. So wie im Fall Maria Lebstück, die sich 1848 als 18-Jährige die Haare abschnitt und von ihrem letzten Geld eine Männeruniform kaufte.[21] Maria war die Tochter eines deutschen Kaufmanns und wurde in Zagreb im heutigen Kroatien geboren. Beim Ausbruch der Revolutionen 1848 wurde sie zu »Karl« und kämpfte in Ungarn in verschiedenen Legionen, Freikorps und Kavallerien. Karl aka Maria zeigte enormen Einsatz im Kampf und wurde deshalb erst zum Leutnant am Schlachtfeld, später sogar zum Oberstleutnant befördert.[22] Der Höhenflug war allerdings vorbei, als Maria, die zwischenzeitlich geheiratet hatte, schwanger wurde.[23] Als dadurch herauskam, dass der tapfere Karl in Wahrheit eine Frau war, kamen sie und ihr Ehemann in Kriegsgefangenschaft. Er starb nach 20-jähriger Haftstrafe, Maria und ihr Sohn wurden nach Kroatien abgeschoben und konnten von dort aus beobachten, wie die Revolutionäre den Kampf verloren. Vielleicht hätten die Truppen doch mehr Frauen in den eigenen Reihen zulassen sollen! Denn die Jahre 1848/49 markierten in weiten Teilen Europas einen bedeutenden historischen Wendepunkt. Knapp 50 Jahre nach der Französischen Revolution kam es erneut zu revolutionären Bestrebungen, die in Frankreich, Italien, Böhmen, Ungarn, Österreich, Polen und den Ländern des Deutschen Bundes – also dem Zusammenschluss der »souveränen Fürsten und freien Städte Deutschlands«[24] mit dem Kaiser von Österreich und den Königen von Preußen, Dänemark und der Niederlande – zu bewaffneten Kämpfen und dem Sturz zahlreicher Monarchen führte. Durch die Industrialisierung und das politische Erstarken des Bürgertums waren die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den meisten Ländern bereits seit Längerem im starken Umbruch, was sich nun gewaltsam entlud. So kämpften zum Beispiel weite Teile Osteuropas für ihre Unabhängigkeit vom Kaisertum Österreich, während man in den Staaten des Deutschen Bundes nach einer nationalen Einigung strebte. Diese revolutionären Prozesse standen im direkten Zusammenhang mit der »sozialen Frage«, also den gesellschaftlichen Missständen infolge der Industrialisierung.[25] Hatte die industrielle Revolution im ausgehenden 19. Jahrhundert zunächst zu einem wirtschaftlichen Aufschwung geführt, wuchsen inzwischen Armut, Hunger und Elend innerhalb des Proletariats rasant an. Der Wandel von Agrar- zu Industrienationen ließ die Städte aus allen Nähten platzen; Wohnungs- und Arbeitslosigkeit grassierten. Selbst wer einen Job besaß, schuftete meist unter katastrophalen Bedingungen für einen Lohn, der kaum zum Leben reichte. Viele der ersten Proteste und Ausschreitungen waren daher spontane Aktionen von Arbeiter*innen. Unter anderem kam es in mehreren europäischen Städten zu sogenannten »Brotkrawallen«, »Kartoffelunruhen« oder »Markttumulten«.[26] Zu großen Teilen wurden sie von Frauen des Proletariats mitgetragen oder gar angeführt, die der Verpflegung ihrer Familien aufgrund von steigenden Preisen und Lebensmittelknappheit immer weniger nachkommen konnten. Aus Hunger, Verzweiflung und der Gewissheit, ohnehin nichts zu verlieren zu haben, plünderten sie städtische Kornspeicher, hielten Sitzblockaden ab oder demonstrierten lauthals vor den Toren einflussreicher Bürger.[27] »Unter den tobenden Haufen befanden sich viele Weiber«, so dokumentierte es beispielsweise das Stadtamt Heilbronn in seinen Berichten vom März 1848.[28]

Eine der ersten Barrikaden im deutschsprachigen Raum wurde im März 1848 an der Rheinbrücke in Mannheim errichtet. Bei der Frau auf der Spitze handelt es sich eventuell um die Arbeiterin Lisette Hatzfeld, die auch in anderen Darstellungen die Revolutionäre anführte.

In den folgenden Monaten ergriffen revolutionäre Bestrebungen weite Teile Europas. Die Menschen errichteten Barrikaden, besetzten politische Institutionen, protestierten auf der Straße gegen die staatlichen Obrigkeiten und forderten Freiheit, Demokratie und nationale Selbstbestimmung. Ob in Prag, Wien oder Berlin, in Barcelona, Stockholm oder Venedig: Frauen wie Männer, Arbeiter*innen wie Bürger*innen kämpften Seite an Seite für ihre Rechte und für Demokratie. Es wurden Nationalversammlungen einberufen, erste Wahlen durchgeführt und die Presse- und Versammlungsfreiheit gelockert. Doch nach einer kurzen, enthusiastischen Anfangsphase wurde die Beteiligung von Arbeiter*innen und Frauen vielen Revolutionären (mal wieder!) ein Dorn im Auge. Sie wollten sich weder mit ihren Angestellten gleich vor dem Gesetz sehen noch mit ihren Ehefrauen – die Verschiebung der Stände sollte in ihren Augen nur zu ihren eigenen Gunsten ausgehen. Da sie gesellschaftlich wie wirtschaftlich am längeren Hebel saßen, entwickelten sich die nationalen Revolutionen auch schnell in genau diese Richtung. In den frisch gewählten Parlamenten saßen größtenteils Männer des Bürgertums, nur wenige Arbeiter und gar keine Frauen. Je länger die Kämpfe andauerten und je besser sie organisiert waren, desto strenger wurde nach Klasse und Geschlecht getrennt beziehungsweise nur noch Politik für Männer des Bürgertums gemacht. Dabei waren die Konflikte ja aus der sozialen Frage gewachsen, die vor allem Arbeiter*innen betraf! Die revolutionäre Spaltung zwischen Bürgern und dem Proletariat sowie Männern und Frauen zog sich immer weiter fort und führte zu verhärteten Fronten und klaren Verlierer*innen. Österreich zum Beispiel führte im Sommer 1848 sogenannte Notstandsarbeiten ein, mittels derer die neu einberufene Regierung Arbeitsplätze schuf. Der zuständige Minister für öffentliche Arbeit war Ernst Schwarzer Edler von Heldenstamm, in dessen Auftrag unter anderem 10 000 Männer, 8000 Frauen sowie einige Tausend Kinder als Erdarbeiter*innen beschäftigt waren.[29] Zwölf Stunden am Tag trugen sie Erde ab, um den Ausbau des Schienennetzes voranzubringen. Für die harte körperliche Arbeit wurden Erwachsene mit 20 Kreuzern und Kinder mit 15 Kreuzern vergütet – ein wahrer Hungerlohn, denn eine warme Mahlzeit kostete bereits um die 16 Kreuzer.[30] Trotzdem kürzte der Herr Arbeitsminister am 19. August den Frauen und Kindern den ohnehin schon mickrigen Lohn um jeweils fünf Kreuzer.[31] Das tat er vermutlich in der Erwartung, dass diese Sparmaßnahme einfach akzeptiert werden würde – was sollten ein paar arme Frauen und Halbstarke schon gegen den Entschluss eines Politikers mit dem Beinamen »Edler von Heldenstamm« unternehmen? Nun, sie legten ihre Harken und Schaufeln nieder und zogen für bessere Arbeitsbedingungen in Demonstrationszügen zusammen aus. Nicht nur das: Solidarisch unterstützt wurden die Arbeiterinnen von ihren männlichen Kollegen sowie einigen Hundert Frauen des Bürgertums. Tag für Tag zog die Gruppe laut skandierend durch den Wiener Prater und forderte bessere Arbeitsbedingungen und gleiche Löhne für Frauen. Die Presse echauffierte sich: »Besonders die Weibsbilder betrugen sich wie Furien. Auf die roheste, empörendste, unsittlichste Weise wurde die Garde beleidigt.«[32] In diesem Zusammenhang kam es am 21. August 1848 auch zu der ersten offiziellen Frauenkundgebung Österreichs. Angeführt wurde diese von der Adeligen Karoline von Perin, die in Reden auf die Bedeutsamkeit der demokratischen Teilhabe von Frauen hinwies: »Am End hat die Perin auf den Barrikaden Vorlesungen über die Würde der Frauen g’halten!«,hieß es in einer Zeitschrift.[33] Vier Tage des dauerhaften Protestes bewegten den Minister Schwarzer jedoch nicht zum Umdenken – ganz im Gegenteil: »Eher sollen 10 000 Arbeiter niedergeschossen werden, ehe ich von meinem Entschluss abstehe«[34], bekräftigte er die Lohnkürzungen. So kam es dann auch: Am 23. August griff die Nationalgarde, eine bürgerliche Organisation, die während der Revolution für »Sicherheit und Ordnung« sorgen sollte, zu den Waffen und schlug die Protestzüge blutig nieder. Bei der sogenannten »Praterschlacht« wurden 22 Menschen getötet und 282 Verwundete registriert. Die Spaltung unter den revolutionären Kräften zwischen Bürgerlichen und Arbeiter*innen war damit auf einem Höhepunkt angekommen.

Karoline von Perin gab sich nicht geschlagen, verschob ihren Fokus allerdings weg von den Arbeiterinnen und primär hin zur Befreiung der bürgerlichen Frau. Fünf Tage nach der Praterschlacht gründete sie deshalb den Ersten Wiener Demokratischen Frauenverein. Es war der erste Verein Österreichs, in dem sich Frauen des Bürgertums nicht ausschließlich zu wohltätigen, sondern zu politischen Zwecken vereinigten und konkrete Forderungen stellten: Es sollten das »demokratische Prinzip in allen weiblichen Kreisen« verbreitet, durch allgemeine Bildung »die Gleichberechtigung der Frauen« angestrebt sowie »alle Opfer der Revolution« entschädigt werden.[35] Durch die Vereinsgründung wurde Karoline von Perin zu einer bekannten politischen Figur in Wien, was sie unter bürgerlichen Männern äußerst unbeliebt machte. Wie unbeliebt, das bekam sie am 17. Oktober 1848 zu spüren. Für diesen Tag hatten sie und rund 300 weitere Frauen – die meisten von ihnen waren Mitglied im Frauenverein – sich etwas ganz Besonderes ausgedacht. Die Demonstrantinnen trugen eine Petition mit 1000 Unterschriften bei sich, die sie dem Reichstag übergeben wollten. Sie forderten darin die Einberufung des Landsturms, um den vordringenden kaiserlichen Kräften etwas entgegensetzen zu können.[36] Doch als die Frauen den Abgeordneten des Wiener Reichstages ihre Forderung übergaben, ernteten sie Spott und Häme. Einen »lächerlichen Eindruck« hätte die »große Prozession von Frauen und Mädchen« gemacht, als ein »freches Eindringen« beschrieb es der Offizier der Nationalgarde Wenzeslav Dundar und fragte: »Was haben die Weiber mit Politik zu schaffen?«[37] Die Aufregung darüber, dass sich Frauen Zutritt zum Parlament verschafft hatten, war so groß, dass über den Inhalt der Petition selbst gar nicht diskutiert wurde – die Herren Abgeordneten lehnten diese sofort ab. In den folgenden Wochen wurde Karoline von Perin in Presse und Öffentlichkeit als »politische Marktschreierin« bezeichnet und für »überspannt, unzurechnungsfähig und verrückt« erklärt.[38]

INFOKASTEN:»Landsturm« bezeichnete die Einberufung aller Wehrpflichtigen, häufig eingesetzt als letzte Maßnahme zur Abwehr feindlicher Angriffe. Auf diese Weise sollte die Bevölkerung zum Kampf gegen die kaiserlichen Truppen aktiviert werden.

Nur wenige Wochen später gelang es der kaiserlichen Armee der Habsburger tatsächlich, Wien zurückzuerobern und die Revolutionen dort wie auch im Rest von Österreich-Ungarn blutig zu beenden. So ganz daneben hatten die »Weiber« mit ihrer Forderung wohl doch nicht gelegen! Doch es nützte nichts – die Revolution war gescheitert. Auch in Deutschland, Frankreich, Italien etc. erleichterten die Machtkämpfe unter den Revolutionär*innen den kaiserlichen und königlichen Truppen die Rückgewinnung ihrer Position. Wie alle mit der 1848er-Bewegung zusammenhängenden Vereine und Gewerkschaften wurde der Erste Wiener Demokratische Frauenverein am 31. Oktober 1848 aufgelöst. Es blieb für Jahrzehnte der einzige und letzte (legale) politische Zusammenschluss von Frauen in Europa. Was aus den ehemaligen Mitgliedern wurde, ist nicht bekannt, einzig über Karoline von Perin wissen wir heute noch mehr als bloß ihren Namen. Sie und ihr Lebensgefährte Alfred Becher waren am 4. November 1848 verhaftet worden. Der Revolutionär Becher wurde standesrechtlich erschossen, Karoline von Perin erlebte im Polizeigefängnis Folter und Missbrauch.[39] Noch in Haft wurde sie für »psychisch krank« erklärt und ihr gesamtes Vermögen konfisziert, zudem wurde ihr das Sorgerecht für ihre drei Kinder entzogen.[40] In den Augen vieler Männer war dies die gerechte Strafe für eine Frau, die es gewagt hatte, in die Politik vorzudringen. Die Zeitschrift Bohemia resümierte: »Möge sie zur Einsicht kommen, dass Frauen Mutterpflichten zu erfüllen haben und keinen Platz in der Avantgarde eines mobilen Heeres.«[41]Nach 23 Tagen kam Karoline von Perin frei und floh ins Exil nach München. Dort versuchte sie, sich von der Revolution und ihrer Rolle darin zu distanzieren und ihr Leben wieder aufzubauen. Dennoch beschrieb sie in ihren Erinnerungen:

»Meine Feinde versäumten nicht, […] über mich die absurdesten und verleumderischen Lügen zu verbreiten […]. Die öffentlichen Blätter bewarfen mich mit Kot […]. Diese Koryphäen der Rache und Bosheit verunglimpften mich mit unbarmherziger Hand, die Humanitätsregeln höhnend, alles, was nicht auf gleicher Niedrigkeit der Gesinnung stand wie sie. Die Geschichte, diese unerbittliche Richterin, wird ihnen einst mit wohlverdienter Münze zahlen.«[42]

Man hätte es Karoline von Perin gewünscht, dass sie recht behalten hätte und ihr Name heute allbekannt wäre, ebenso wie die Namen der anderen Frauen, die damals verunglimpft wurden. Leider ist die Geschichte zumeist keine sehr unerbittliche Richterin, denn sie wird in der Regel von denjenigen geschrieben, die politische Macht haben. Das waren in Europa sehr lange die Kirche und der Adel. An diesem Machtverhältnis wurde im 18. und 19. Jahrhundert so lange gerüttelt, bis es sich zugunsten einer neuen politischen Spielfigur veränderte, die sich jenseits ihres Standes definierte: dem weißen Mann. Der Begriff »alter weißer Mann« ist heute ein geflügeltes Wort, wird teilweise als Beleidigung oder gar als Feindbild aufgefasst und ist zentral in der Debatte darüber, wer in unserer Gesellschaft bestimmte Privilegien genießt. Gern wird so getan, als wäre der »alte weiße Mann« eine Begriffsschöpfung von frechen Feminist*innen und der woken Gen-Z. Dabei wurde der weiße Mann schon weit vorher erfunden – und zwar von weißen Männern selbst.

Wer hat Angst vorm weißen Mann? »Rasse«, Klasse und Geschlecht im nationalen Selbstverständnis

Wer heute ein Lehrbuch der Biologie oder Medizin aufschlägt und nach dem Kapitel über die menschliche Anatomie sucht, wird fast immer auch ein echtes Relikt europäischer Geschichte finden. Probiert es gern aus, eine kurze Internetrecherche tut es auch. Und, habe ich zu viel versprochen? Genau: Zu sehen sind die Körperumrisse von weißen Männern, anhand derer uns der menschliche Muskelaufbau, die Lage von Organen oder Blutgefäßen und unser Skelett erklärt wird. Bingo! Der weiße Mann als Blaupause für den Menschen – an diese Darstellung haben wir uns so gewöhnt, dass sie uns in der Regel gar nicht mehr auffällt oder stört. Vermutlich deshalb, weil wir mit diesem Bild seit Jahrhunderten konfrontiert sind. Denn Ende des 18. Jahrhunderts fingen Biologen, Mediziner, aber auch Philosophen und andere Geisteswissenschaftler in Europa an, den Menschen eingehend zu untersuchen, zu kategorisieren und entsprechend abzubilden. Es wurden Messungen vorgenommen, Kataloge erstellt und Theorien entwickelt, um das menschliche Wesen erklären zu können. Diese Untersuchungen nahmen im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt und kamen schnell zu dem Ergebnis, dass die Definition eines Menschen die eines weißen Mannes sei. Das leuchtet insofern ein, als dass die Theorien von weißen Männern aufgestellt wurden. Wie praktisch, wenn man sich selbst attestieren kann, der Beste zu sein! Um diese neue Hierarchie auch wissenschaftlich begründen zu können, setzte sich bald die Grundannahme durch, dass der Körper den Geist bestimmt. Charakter, Eigenschaften, Fähigkeiten oder Intelligenz waren demnach nichts Individuelles, sondern hauptsächlich davon bestimmt, welches binäre Geschlecht und welche Hautfarbe eine Person besaß.[43] Der weiße, gutbürgerliche Mann wurde in allen Kategorien zur Spitze der Schöpfung erklärt: Er war der Standard, alle anderen galten als eine minderwertige Abwandlung davon. Dafür etablierte sich das Konzept der »Geschlechtscharaktere« mit jeweils klar formulierten geistigen, körperlichen und seelischen Eigenschaften.[44] Männer waren demnach rational, permanent eigenkontrollierend, vernunftbezogen und hierarchieerfahren. Frauen hingegen wurden mit Weichheit, Emotionalität, Kraftlosigkeit und Wankelmütigkeit beschrieben. Ein Mann treffe seine Entscheidungen mit Intelligenz, Verstand und Rationalität. Frauen hingegen ließen sich nicht primär von ihrem Gehirn, sondern ihren Sexualorganen leiten und seien deshalb von ihren Gefühlen und ihrem Gemüt bestimmt. Basierend auf diesen »Charaktereigenschaften« wurde auch festgelegt, welche gesellschaftlichen Rollen und Räume den Geschlechtern jeweils zuzuordnen waren. Im Brockhaus Handwörterbuch für die gebildeten Stände von 1815 hieß es dazu unter anderem:

»Das Weib ist auf einen kleinen Kreis beschränkt, den es aber klarer überschaut; es hat mehr Geduld und Ausdauer in kleinen Arbeiten. Der Mann muss erwerben, das Weib sucht zu erhalten; der Mann mit Gewalt, das Weib mit Güte oder List. Jener gehört dem geräuschvollen öffentlichen Leben an, dieses dem stillen häuslichen Cirkel.«[45]

Wie es der Titel des Handwörterbuches schon ankündigt, bezogen sich diese Ideale klar auf das Bürgertum. Männer niedrigerer Stände konnten zwar theoretisch gesellschaftlich aufsteigen, was in der Realität aber selten vorkam und mit Vorurteilen einherging. Arbeiter wurden aufgrund ihrer körperlichen Tätigkeiten stigmatisiert, die Fähigkeit des »vernunftbegabten, rationalen Denkens« und der natürlichen Führungsstärke wurde ihnen abgesprochen. Für die Lebensrealität von Arbeiterinnen funktionierte die Logik der natürlichen Geschlechtscharaktere überhaupt nicht mehr. Sie waren für den Unterhalt der Familie mitverantwortlich und mussten zwingend arbeiten.[46] Aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen des Proletariats gab es auch keinen »stillen häuslichen Zirkel«, den sie liebevoll verschönern und gestalten hätten können. Nichtsdestotrotz wurde der Grundgedanke des vollendeten Menschen als weißer bürgerlicher Mann überall angewendet. Anatomisch wurde er zum Standard und der ideale Körperbau durch Form, Größe und Schnitt des Gesichts auf den Millimeter genau definiert. Da der Körper den Geist bestimmte, repräsentierte das Aussehen den Grad innerer Schönheit und Charakterstärke. Das führte auch dazu, dass Menschen mit körperlichen Behinderungen, Lernschwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen eine krasse gesellschaftliche Abwertung erfuhren und Opfer systematischer Verfolgung, medizinischer Zwangsuntersuchungen und Ermordung wurden. Die Eugenik beziehungsweise die »Rassenhygiene«, die Menschen nach ihrem vermeintlichen Nutzen für die weiße kapitalistisch orientierte Gesellschaft in Träger von »guten« oder »schlechten« Genen unterteilte, fußte aber nicht nur auf ableistischen – also behindertenfeindlichen – Grundsätzen, sondern auch auf antisemitischem und rassistischem Gedankengut. Die ellenlangen Tabellen, in denen Nase, Kinn und Schädelknochen von Menschen genau vermessen wurden, enthielten nämlich bald nicht mehr nur weiße Männer und Frauen: Parallel zu den Theorien der Geschlechtscharaktere und der Ideologie der »Rassenhygiene« wurden auch die »Rassentheorien« etabliert. Im Gegensatz zu den Geschlechtern war die Hierarchie der »Rassen« in mehr als zwei Stufen unterteilt; ansonsten gipfelten auch hier die Begründungen darin, Abweichungen vom weißen Mann festzustellen oder zu erfinden und als negativ auszulegen.[47] Demnach verfügten nicht-weiße Menschen über eine verminderte Intelligenz, seien unfähig, sich in körperlicher Selbstdisziplin und Kontrolle zu üben oder kulturelle Höchstleistungen zu erbringen. »Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen«[48], formulierte es etwa der Philosoph Immanuel Kant. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr solche vermeintlich menschlichen »Rassen« definiert, von denen man sich nicht nur abheben wollte, sondern die man zudem unterjochen und als menschliche Produktionswerkzeuge versklaven konnte. Die Beschreibung nicht-weißer Menschen lief deshalb stark über ihre Körper, wobei insbesondere Schwarze brutalisiert und Women of Color fetischisiert wurden. Die »Rassentheorien« dienten zur Selbstlegitimierung der Kolonialherrschaft, von Genoziden und Sklaverei und legten auch den Grundstein für die spätere Rassenlehre der Nationalsozialisten.

An dieser Stelle würde ich dieses Kapitel gern mit folgendem Fazit beenden: »Unglaublich, dass man damals so dachte! Zum Glück sind all diese Theorien längst widerlegt und spielen daher heute keine Rolle mehr.« Aber einigen Leser*innen wird bereits aufgefallen sein, dass das leider nicht der Fall ist. Widerlegt wurden die Theorien natürlich mittlerweile schon. Wir wissen, dass es so etwas wie unterschiedliche menschliche »Rassen« nicht gibt und dass auch das Geschlecht nichts über die kognitiven Fähigkeiten, Interessen oder Charaktereigenschaften eines Menschen aussagt. Zumindest wissen wir das in der Theorie; in der Realität begegnen uns diese Denkmuster nach wie vor täglich. Wir diskutieren darüber, ob wir allein von der Herkunft eines Menschen ableiten können, ob er/sie krimineller oder weniger intelligent ist. Wir drücken weiblichen Kleinkindern Puppen in die Hand und ihren Brüdern Bauklötze und Modelleisenbahnen. Wir bezahlen Berufe schlecht, in denen überwiegend Frauen arbeiten, noch schlechter, wenn sie überwiegend von Migrant*innen erledigt werden, und fast gar nicht, wenn Menschen mit Behinderung sie ausüben. Ausgebildete Ärzt*innen machen bei Frauen und People of Color häufiger Behandlungsfehler oder stellen Fehldiagnosen, weil sie ihr Wissen an den Körpern weißer Männer beigebracht bekommen haben.[49] Ich könnte den Rest dieses Buches mit Beispielen oder Geschichten füllen, in denen uns Rassismus, Ableismus und Sexismus täglich begegnen, die sich in der Wurzel mit dem decken, was in den Theorien über »Rasse« und Geschlecht erdacht wurde. Die Quintessenz ist die, dass diese Denkmuster die Jahrhunderte und damit allen wissenschaftlichen Gegenbeweisen zum Trotz überlebt haben. Während in Europa im 19. Jahrhundert Nationen gegründet wurden, die sich den Rest der Welt als Kolonien unter den Nagel rissen, wurden diese Theorien nämlich zur weltweiten Praxis. Gesetze, Regeln und Verbote fußten auf den »wissenschaftlichen Begründungen«, mit denen sich alle Rufe über Diskriminierung und Ausbeutung wegargumentieren ließen.[50] Denn die Idee von Nationen beruhte von Anfang an immer auch darauf, eine innere und äußere Abgrenzung zu durchlaufen und zu definieren, wer als Bürger Teil dieser Nation sein durfte und wer nicht. Als mündiges Mitglied der Öffentlichkeit galt, wer eigene Interessen vertrat, sich geistig, gesellschaftlich und politisch äußerte und Einfluss nahm. Darunter wurden wirtschaftlich, sozial und rechtlich unabhängige Individuen verstanden – was im Umkehrschluss weiße, nicht-behinderte Männer meinte, die zum Bürgertum gehörten. Wenn man das Konzept eines Bürgers klar an die Vorstellung eines weißen Mannes knüpft, wird damit einhergehend festgelegt, dass Frauen, Einheimische kolonialistisch besetzter Gebiete oder ethnische Minderheiten NICHT als Bürger*innen angesehen und somit NICHT gleichwertig behandelt werden müssen. Es bedeutet auch, dass ständig bewertet werden muss, was und wer männlich ist und dazugehören darf – und was und wer nicht. Es reichte auf einmal nicht mehr aus, nur als Mann geboren zu sein, um als Mann gesehen zu werden: Männlichkeit musste bewiesen werden und damit auch permanent performt. Die Performance von Männlichkeit umfasste den Körper, die Tugenden und die gesellschaftliche Stellung und prägt das Männlichkeitsbild vieler Menschen bis heute. Das dickste Portemonnaie, das größte Haus, die breitesten Muskeln, die raffinierteste Erfindung, der längste Bart, der höchste Hut, die schönste Frau, die meisten Frauen, der schnellste Wagen, der renommierteste Job, die meisten Medaillen, die tiefste Stimme, das erfolgreichste Unternehmen, die meisten Connections, die höchste Autorität … stärker, höher, besser, weiter: Männlichkeit bedeutet, immer ein bisschen mehr zu sein oder zu haben als die anderen. Vor allem im Vergleich zu Frauen! Wer sich also beispielsweise schon mal gefragt hat, warum selbst promovierte Wissenschaftlerinnen von x-beliebigen Männern ihr eigenes Fachgebiet erklärt beziehungsweise mansplaint bekommen, warum in Umfragen jeder achte Mann behauptet, gegen die 23-fache Grand-Slam-Gewinnerin Serena Williams mit links gewinnen zu können[51], oder warum junge Typen so gern mit dem geleasten Sportwagen von Vati durch die Innenstadt brettern – all das sind alltägliche Situationen, in denen Männer ihre Männlichkeit unterstreichen wollen. Die klar umrissene Definition und die damit einhergehende Performance von Männlichkeit dient dabei übrigens auch seit jeher der Abwertung und Ausgrenzung queerer Personen. Denn sie brechen durch ihre bloße Existenz, also ihre Sexualität oder ihre Geschlechtsidentität, das Konzept der binären Geschlechter und ihre Beziehung zueinander auf. Wieso werden queere Paare gefragt, wer denn bei ihnen der Mann und wer die Frau sei? Warum wird so vehement versucht, die Existenz von trans und nicht-binären Personen* zu leugnen? Weil sie ein Gesellschaftskonzept infrage stellen, in dem die gesellschaftlichen Rollen von Mann und Frau genauestens bestimmt und angeblich durch die Biologie festgelegt sind. Und deshalb ist das Vordringen von Frauen und Queers in Bereiche, in denen Macht, Geld, Wettkampf und Aufstieg dazugehören, nicht gern gesehen – es ist der Performance von Männlichkeit nicht dienlich. »Es verletzt das deutsche Gefühl, wenn Frauen öffentliche Versammlungen besuchen und wohl gar als Rednerinnen auftreten«, schrieb der konservative Pfarrer Karl Büchsel während der Revolutionen 1848 in Berlin.[52] Was damit eigentlich gemeint war: Es kratzt am männlichen Ego, wenn Frauen etwas auch, genauso gut oder gar besser können, was doch eigentlich nur für Männer bestimmt ist – im Umkehrschluss zerreißt es das Bild von Männlichkeit, wenn Männer etwas tun sollen, was doch eigentlich als »Frauensache« gilt. Um Frauen also aus allen »männlichen« Bereichen auszuschließen, wurden in den Jahren und Jahrzehnten nach 1848 zahlreiche Gesetze erlassen, Frauen juristisch ganz offiziell zu Nicht-Bürgerinnen erklärt und alle erst kürzlich erreichten Fortschritte wieder rückgängig gemacht: Kindergärten wurden geschlossen, Frauenvereine aufgelöst und Verlage in Frauenhand verboten. Als vorderste gesellschaftliche Pflicht einer Frau galt die Ehe, was zahlreiche Gesetze und Verbote untermauerten. Mit der Hochzeit wurde die Frau gesetzlich zum Mündel ihres Ehemannes und durfte Eigentum weder eigenständig erwerben noch besitzen, es war ihr nicht gestattet, zu studieren und einer selbstbestimmten Arbeit nachzugehen. Zudem besaßen Frauen in keinem einzigen europäischen Land das Wahlrecht. In Skandinavien, in Deutschland, Frankreich, Spanien, Bulgarien, der Ukraine, Polen, Russland und weiteren Ländern gründeten sich deshalb ab Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Frauenverbände mit dem Ziel der rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter. Damit begann ein mühsamer, langwieriger Prozess, bei dem um jedes Stück rechtlicher Gleichstellung erbittert gekämpft werden musste.

Frauen als Nicht-Bürgerinnen

Als der erste Ziegelstein flog, prallte er krachend gegen die Mauern des britischen Parlaments. Als der zweite Ziegelstein flog, zersplitterte das Fenster des Büros, in dem die Abgeordneten der Liberal Party eine Besprechung abhielten. Als der dritte, der vierte und der fünfte Stein folgten und vor den Füßen der Politiker landeten, hatten die Angreiferinnen ihr Ziel erreicht – die Konferenz musste aus Sicherheitsgründen abgebrochen werden. Ein Dutzend Frauen hatten sich an diesem Tag im Oktober 1909 zusammengetan, um vor den Toren des House of Commons in London die Kehrtwende von ihren friedlichen Protesten einzuläuten: »Da wir ins Gefängnis gehen müssen, um das Wahlrecht zu erhalten, lass es die Fenster der Regierung sein, die zerbrochen werden, nicht die Frauenkörper!«[53],so lautete ab sofort ihr Motto. Seit inzwischen drei Jahren kämpften die Suffragetten, so nannten sie sich, für das Wahlrecht der Frau in Großbritannien. Sie hatten Demonstrationen mit Hunderttausenden Teilnehmerinnen organisiert, Konferenzen abgehalten und politische Bittschreiben an den Herrn Premierminister H. H. Asquith übergeben. Mehr als ein paar müde Lippenbekenntnisse waren bisher nicht dabei rumgekommen, schlimmer noch: Ihre Aktionen wurden seit einigen Monaten mit zunehmender Polizeigewalt beantwortet. Auf Protestrufe folgten Schläge, Tritte und der Knüppel, den Frauen wurden ihre Banner entrissen, Hunderte Demonstrantinnen waren verhaftet worden. Doch statt sich einschüchtern zu lassen und aufzugeben, gingen die Suffragetten zum Gegenangriff über. Mussten sie eben Steine und Dachziegel werfen, um die Politiker an ihre Forderungen zu erinnern!

Die Prinzessin Sophia Duleep Singh 1913 beim Verkauf der Zeitschrift Suffragette. Durch Fotos wie dieses warben die britischen Frauenrechtlerinnen stolz mit ihrer royalen Mitstreiterin.

Im Jahr 1909 schloss sich auch eine Frau den Suffragetten an, der man das Schmeißen von Steinen auf den ersten Blick vielleicht nicht zugetraut hätte: Prinzessin Sophia Alexandra Duleep Singh, Patentochter von Queen Victoria. Als Aristokratin hatte Sophia den Großteil ihres Lebens mit ihren drei Brüdern und vier Schwestern am britischen Königshof verbracht. Ihr Vater war Duleep Singh, der letzte Maharadscha des Reichs der Sikh. 1849, da war er gerade mal zehn Jahre alt, wurde sein Königreich von der Britischen Ostindien-Kompanie gestürzt und stand seitdem unter kolonialer Herrschaft.[54] Im Zuge dessen wurde er von seiner Mutter Rani Jindan Kaur getrennt, die vorher in seinem Namen regiert hatte, und als Mündel ins Haus des schottischen Arztes John Login geschickt. Der arbeitete für die Ostindien-Kompanie und setzte alles daran, den Jungen systematisch seiner Kultur zu entfremden: Duleep durfte sich nicht frei bewegen, keinen Kontakt zu seiner Mutter haben und keine anderen Inder*innen treffen. Bald darauf konvertierte er zum Christentum – wie freiwillig, das sei mal dahingestellt – und wurde aus Indien ausgewiesen.[55]