Bennys Bluff oder Ein unheimlicher Fall - Klaus Möckel - E-Book

Bennys Bluff oder Ein unheimlicher Fall E-Book

Klaus Möckel

0,0

Beschreibung

Berlin, wenige Wochen nach der Maueröffnung 1989. Benny, zwölf Jahre alt, findet, als er eines Tages vom Spielen heimkommt, seine Mutter tot in ihrem Bett. War es Mord? Das Tatwerkzeug deutet darauf hin und bringt Ralf in Verdacht, einen ihrer Freunde. Für den Jungen ein doppelter Schlag, denn er hätte sich diesen Mann gut als einen Ersatzvater vorstellen können. Verzweifelt macht sich Benny auf die Suche nach Ralf, der sich in den Westteil der Stadt abgesetzt hat. Dabei muss er Hindernisse aller Art überwinden, erlebt tiefe Enttäuschung, findet aber auch unerwartete Hilfe. Die Spur aber verzweigt sich, und es bedarf eines besonderen Bluffs, um den Täter schließlich zu entlarven. Das Buch, 1991 beim Rowohlt-Verlag erschienen und längst vergriffen, lenkt in seiner spannenden Handlung den Blick auf eine bereits historisch gewordene Zeit, auf die zugleich aufregende und verworrene Situation in den Monaten nach der Wende.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 138

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Klaus Möckel

Bennys Bluff oder Ein unheimlicher Fall

Krimi für Kinder, Eltern und Großeltern

ISBN 978-3-86394-177-2 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1991 im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek.

Die kriminellen Sprüche wurden dem Buch "Wer zu Mörders essen geht..." von Klaus Möckel, erschienen 1993 bei Frieling & Partner GmbH Berlin, entnommen (auch als E-Book bei EDITION digital erschienen).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Bennys Bluff oder Ein unheimlicher Fall

1. Kapitel

Benny Wetzmann, auch Ben, Benno oder, wenn seine Mutter wütend ist, Ben-ja-min genannt, biegt in die Stargarder Straße ein, wechselt vor einem langsam dahintuckernden Trabi auf die andere Seite und setzt sich auf den Stapel Bretter, der hier liegt, seit sie die Hausdächer reparieren - seit Monaten also.

Benny ist zufrieden mit dem Tag. In der Schule gab es heute nur das halbe Programm, weil ein paar Lehrer ausgefallen sind, und auch später lief es gut. Die Stunden vergingen, er wusste nicht wie. Benny überlegt, ob er jetzt schon auf «Mellas Bude» gehen soll oder noch ein bisschen herumziehen. Es ist zwar Abendbrotzeit, doch oben gibt es vielleicht bloß wieder Krach.

Mella ist Bennys Mutter und Mellas Bude sein Zuhause; irgendein Kerl, der sich vor einem halben Jahr öfter bei ihr sehen ließ, hat den Ausdruck geprägt, und Benny hat ihn übernommen.

Das ist das Einzige, was von dem Macker damals geblieben ist, das heißt nein, es gibt im Küchenschrank noch eine grüne Blechbüchse mit goldenen Punkten drauf, in der mal Bonbons waren. Die hat der Mann bei einem seiner Besuche mitgebracht.

Benny hätte sie längst weggeschmissen, er konnte den Macker nicht leiden, wie überhaupt die wenigsten von Mutters Bekannten, er steht bloß auf Ralf, aber Mella hängt an dem Kram.

Sie hängt an Blechbüchsen, geflochtenen Körbchen, aber auch an großen Glitzerohrringen, an jeglichem Klimperzeug, eben ein Weib.

Selbst Jessika, die zwölf ist, ein halbes Jahr jünger als Benny, liebt rote Teebüchsen, Armreifen aus buntem Plast und Blechketten um den Hals.

Mit Jessika war er heute nach der Schule an der S-Bahnbrücke bei der Kaufhalle. Sie sind den Hang hinuntergeklettert, haben gequatscht, sich was zusammengesponnen. Wo sie hinfahren würden, wenn sie Westknete hätten und so. Obwohl Jessika ein Kaninchen ist und am liebsten mit ihren Kassetten im Bau hockt.

Mit Jessika würde Benny schon mal was losmachen, wenn sie nur wollte, einen Fahrradtrip oder per Anhalter an die See. Was ganz anderes aber ist es mit Ralf, denn für den würde er sich eine Kerbe ins Bein schneiden lassen. War das eine Freude gewesen, als Ralf nach einem halben Jahr Abwesenheit wieder in Mellas Bude auftauchte, nach einem halben Jahr, als wäre er nie weggeblieben. «Na, Benny, wie wär's, wenn wir beide uns 'ne Kerbe ins Bein schneiden?»

«Können wir», hat Benny da ganz ernsthaft erwidert, «sofort, wenn du willst.» Damals, als Ralf bei ihnen wohnte, hat er nämlich immer behauptet, so richtige Freunde sollten sich 'ne Kerbe ins Bein schneiden, damit sie einander nie vergessen.

Mella hat gegrient und gesagt: «Erzähl Benny nicht solchen Blödsinn, der ist so dumm und glaubt's.»

«Das verstehst du nicht, das ist Männersache, was Benny?»

Er hat genickt, glücklich genickt. Natürlich wusste er, dass es Blödsinn war, aber Ralf ist eben Ralf. Der einzige, der eine Ahnung vom Segeln hat, alles über Schiffe weiß, über Autos, über Computerspiele, der sich Zeit für ihn nimmt. Nicht genügend Zeit, aber immerhin.

Seinetwegen hat sich Benny mit Hering verkracht, seinem besten Kumpel, es tut ihm nicht leid.

Hering hat Ralf beleidigt und Mella und ihn, vor allem aber Ralf. «Du gehst mir auf den Senkel mit deinem Onkel, er kommt, weil er deine Mutter bocken will, genau wie alle andern, bloß dass er ihr mehr Geschenke macht.»

«Du Schwein, feiges Aas, deine Mutter lässt sich selber bocken.» Sie sind mit Fäusten aufeinander losgegangen.

In Wirklichkeit ist Herings Mutter (mit richtigem Namen heißt er Gilbert Herzring) anders als Mella, nämlich eine richtige Ehefrau. Benny weiß es durchaus, und er weiß auch, dass seine Mama wegen ihres Lebenswandels im Haus und überall schlecht angesehen ist. Selbst die Großmutter, die in Erkner wohnt, am Rande von Berlin, stöhnt über die vielen Kerle und den Leichtsinn der Tochter, wenn sie Benny gegenüber auch den Mund hält. Er bekommt es auf andere Art mit, durch Gespräche der Oma mit ihrer Freundin, Anspielungen im Haus und nicht zuletzt durch Mella selbst. Sie schickt ihn weg, wenn die Macker da sind, sie bleibt abends aus und kommt mitten in der Nacht mit einem wildfremden Mann heim.

Manchmal ist für einen Monat Ruhe, gibt es keine Kerle, dann wieder tauchen innerhalb einer Woche gleich zwei Bekannte auf. Einmal hat er sie sogar beim Bocken überrascht, splitternackt sie und der Mann, später dann hat er durchs Schlüsselloch gespäht. Bis sie ihn erwischte und windelweich klopfte. Doch was geht das Hering an und was hat es mit Ralf zu tun, mit seinem großen einzigen Freund.

Benny erhebt sich vom Bretterstapel, er hat sich überlegt, dass es nicht immer Streit gibt, wenn Ralf kommt, dass er jetzt oben sein kann und ihn nicht wegschicken wird. Später vielleicht ins Bett, aber das ist was anderes. Außerdem hat Benny Hunger. Er steuert das Haus an, in dem sie wohnen.

Ein Altbau in einer alten Straße des Stadtbezirks Prenzlauer Berg, von vorn sieht er ganz passabel aus, wurde vor zwei Jahren neu verputzt, im Hinterhof aber ist er abgewrackt. Rußige Wände, Müllcontainer, die überquellen, Hundedreck, in der Mitte des Hofes ein kümmerliches Bäumchen. Benny sieht das jeden Tag, Benny denkt sich nichts dabei.

Obwohl es schon dunkel ist, schaut die alte Frau Kent aus dem Fenster im linken Seitenflügel, als er vorbeigeht, und ihm entgegen kommt vom Seitengebäude rechts Familie Blettner. Er, Herr Blettner, steif aufgerichtet wie ein Stock - so läuft er immer - sie blässlich und krumm. Sie gehen aus, möglicherweise rüber nach Westberlin, sie hat da ihre Schwester, sagt Mutter. Sie konnte schon früher rüber, weil sie behindert ist, nur er durfte nicht, aber jetzt hat sich das ja geändert.

Benny grüßt so höflich er kann, denn das ist ihm von Mella eingeschärft worden. Die Blettners sind wichtig, von ihnen borgt Mutter mitunter Geld.

Frau Blettner grüßt freundlich zurück, Herr Blettner nickt nur kurz, wie er es immer tut. Heute sogar noch kürzer als sonst, er schaut Benny nicht an. Mächtig eingebildet ist er, arbeitet bei einer hohen Verwaltung und hält sich für was ganz Besonderes.

Hoffentlich ist Ralf da, und hoffentlich streiten sie sich nicht wieder, denkt Benny erneut. Am Abend zuvor oder schon halb in der Nacht ist er von dem Krawall aufgewacht, den die beiden machten. Geschrei, Geschimpfe und vielleicht sogar Schläge. Jedenfalls hatte Mella am Morgen ein blaues Auge. Kaum aber saßen sie beim Frühstück, blafften sie sich schon wieder an.

Weshalb nur können sich die beiden nicht vertragen. Eine Weile geht es gut, und plötzlich herrschen Mord und Totschlag. Dabei sind die anderen Kerle in den letzten Wochen weggeblieben, und überhaupt ist das eine Zeit nach dem Geschmack von Mella und Ralf. Behaupten sie ja selber. Die Grenze offen, Möglichkeiten, die man nie erhofft hätte. Demos, die Laune machen, alles ganz aufregend, da könnten sie doch zusammenhalten. Aber nein, sie brüllen sich an.

Mella schmeißt mit Gegenständen, Geschirr, Topfdeckeln, er scheuert ihr eine.

Sie braust schnell auf, pocht immer auf ihre Freiheit, er aber ist jähzornig, und Benny klemmt zwischen den beiden. Wenn er sich dann nicht doch lieber verdrückt.

Der Junge steht jetzt vor der Wohnungstür, er hat das Hinterhaus betreten, ohne sich an dem Schummerlicht unten, an der zerbrochenen Lampe im ersten Stock zu stören. Er ist die Treppen zur zweiten Etage hochgestiegen, nun drückt er auf den Klingelknopf. Ein durchdringendes Schnarren, doch drinnen rührt sich nichts. Nochmals geklingelt, kein Schritt oder Ruf, dunkel ist's auch hinter der Tür, man sieht es durch das Schlüsselloch. Also ist keiner da.

Ein wenig Enttäuschung bei Benny, aber sie hält sich in Grenzen. Nach dem Krach gestern und heute Morgen wäre es wohl zuviel verlangt, wenn Ralf gleich wiederkäme. Kann auch sein, dass sie bei ihm zu Hause sind oder ausgegangen, um Versöhnung zu feiern. Das ist schon ein paar Mal passiert, Benny weiß es.

Er kramt den Schlüssel hervor, schaltet die Treppenhausbeleuchtung wieder ein, die erloschen ist, öffnet. Weiterhin Stille in der Wohnung, im Flur aber stehen Mellas Stiefel, und auch ihr Mantel hängt an der Garderobe. Die Türen zur Küche und zum Wohnzimmer sind zu, das ist ungewöhnlich, meist bleiben sie angelehnt, wenn die Mutter weggeht und die Gasheizung ausdreht.

Benny inspiziert zuerst die Küche: schmutziges Geschirr im Abwaschbecken, aber nichts für ihn zum Abendbrot. Nichts vorbereitet, weder auf dem Tisch, noch auf der Anrichte, noch im Kühlschrank.

Na ja, ganz ungewöhnlich ist das nicht, manchmal vergisst sie's, wenn sie ausgeht, doch meist sind ein paar Stullen geschmiert, liegt ein Zettel neben der Teekanne: Komme dann und dann wieder, nimm dir das, mach jenes. Auch wenn sie sich nicht daran hält, irgendwie ist man informiert.

Im Brotfach Fettsemmeln. Benny greift sich eine, öffnet eine Flasche Citrus, trinkt. Plötzlich kommt ihm der Gedanke, Mella könne einfach im Bett liegen und schlafen. Vielleicht war sie heute nicht zur Arbeit, hat auf ihren Kummer hin einen gepichelt. Das wäre gleichfalls nicht neu.

Er wirft seine Jacke auf einen Küchenstuhl, geht, nun leiser, durch den Flur bis zur Schlafzimmertür. Horcht, hört aber nichts. Drückt die Klinke nieder. Fahles Mondlicht erhellt den schmalen Raum mit dem großen Fenster. Natürlich, da liegt sie, auf dem Rücken und halb angezogen. Benny will die Tür schon wieder schließen, irgendwie stört, beschämt es ihn, wenn seine Mutter besoffen ist, aber da fällt ihm der unnatürlich zur Seite gedrehte Kopf auf und auch, dass man keinerlei Atemzüge hört. Er erschrickt, lauscht erneut, öffnet schließlich weit die Tür und betritt das Zimmer.

Benny macht kein Licht, er kommt gar nicht auf den Gedanken, Licht zu machen, aber der Schein vom Flur dringt breit durch die Türöffnung, fällt auf die Frau im Bett.

Da sieht er die starren Augen Mellas, das Blut an ihrem Kopf, die leblose Hand, die herunterhängt, und ein Schauer erfasst ihn. Er sieht seine Mutter, und er begreift, dass ihr etwas Schreckliches, etwas ungeheuer Schreckliches zugestoßen ist.

2. Kapitel

Die Nachbarin heißt Britt. Sie ist fast vierzig, also schon alt. Früher hat sie geschuftet, wie sie oft behauptet, jetzt arbeitet sie bloß noch. Bei SERO, sie hat eine kleine Annahmestelle für Altpapier übernommen, für Gläser, Lumpen, Plastzeug. Sie trinkt gern klare Sachen: Korn, Wodka, und manchmal säuft sie richtig. Dann ist es nichts mit der Arbeit, dann lässt sie sich krankschreiben und hängt zu Hause rum. Das mit dem Krankschreiben behaupten wenigstens die Leute.

Zwischen Mella und Britt gibt es keine Freundschaft, aber so was wie eine gegenseitige Hilfe, wenn's not tut. Manchmal tut es bei Britt Not, öfter jedoch bei Mella, die ja Benny hat und die verschiedenen Kerle. Immer vergisst sie, was zu erledigen, nie kümmert sie sich um so lächerliche Dinge wie Hausordnung oder Reparaturen im Haushalt. Britt dagegen hat ihre Angelegenheiten im Griff, sie ist ganz brav deutsch erzogen, das sagt sie selber. Bei ihr in der Wohnung sieht es auch aufgeräumter aus, jedenfalls solange sie nicht versackt, sich mit Schnaps voll pumpt.

Als Benny jetzt wie verrückt auf den Klingelknopf an Britts Tür drückt, als er ruft, mit den Fäusten gegen das Holz trommelt, dauert es eine Weile, bis die Frau auftaucht, und dann erscheint sie einigermaßen aufgelöst. Das Haar unordentlich, die Augen glänzend, eine Alkoholfahne. «Was ist los, bist du irre, ich guck gerade die 'Aktuelle'.» Das ist auch so ein Ding, dass jetzt Leute, die nie einen Blick fürs Ostfernsehen übrig hatten, die «Aktuelle Kamera» gucken. Bloß hat Benny im Augenblick keinen Sinn dafür.

«Komm schnell, Britt, schnell... Mutter... ich glaub, ihr ist was passiert.»

«Hat sie sich den Hintern verrenkt?» Wenn Britt ein bestimmtes Maß intus hat, wird sie ordinär. «Ist ihr Betthupfer nicht da? In der letzten Zeit hatte sie ja keine Minute übrig für unsereins.»

Bei jeder anderen Geschichte würde Benny jetzt gehen, sie anfauchen und stehen lassen, schon wegen der Beleidigung Ralfs, den sie als Betthupfer bezeichnet hat, doch diesmal hört er das gar nicht. Er fleht: «Tante Britt» - er sagt wirklich Tante - «ich glaube... ich glaub... meine Mutter ist tot.»

Das trifft die Frau, das bringt Ernüchterung in ihren Schädel, sie zuckt zusammen, reißt die Augen auf: «Was? Was ist los?»

«Ich weiß nicht, sie liegt so komisch da, auf dem Bett. Sie ist ganz blutig.»

«Junge, erzähl keinen Unsinn, begreifst du überhaupt, was du sagst?»

Benny schaut sie nur hilflos an, und zehn Sekunden später sind sie drüben bei Mella; die Türen bleiben weit offen, auch ihre, nicht einmal den Schlüssel nimmt sie mit. Und Britt sieht gleichfalls das Blut, sieht die Würgespuren am Hals, den zur Seite gedrehten Kopf. Sie versucht, den Puls zu fühlen, und begreift trotz ihrer Trunkenheit, dass da offenbar nichts mehr zu machen ist. Sie steht und schluckt, dann murmelt sie: «Das ist ein Verbrechen, rühr nichts an, Ben. Ach du Elend, armer Junge, ach du Elend.»

Sie will aus dem Zimmer rennen, besinnt sich aber und fügt tonlos hinzu: «Wir müssen die Polizei rufen, geh in die Küche und bleib dort, ich lauf zu Schreibers, bin gleich zurück.»

Benny nickt, ihm ist scheußlich zumute, blass ist er, ein Weißkäse. Mella, denkt er, Mutter, Mama, aber ein richtiges Denken ist das gar nicht, eher so ein wirres, dumpfes Fantasieren. Er steht am Bett, er schaut die tote Frau an, ihr Antlitz, Britt, die nun weg ist, hat Licht gemacht, so dass er dieses Gesicht noch deutlicher sieht als zuvor, und er kann nicht begreifen, dass sie tot ist. Er weiß es und kann es nicht begreifen. Aus, vorbei, heute Morgen hat die Mutter noch gesprochen, Kaffee hingestellt, später nebenan mit Ralf geschimpft. Ralf, denkt er, Ralf.

Und dann entdeckt er halb unterm Bett einen Gegenstand, der dort nicht hingehört. Er entdeckt das Ding mit den Blutspuren, die stählerne Kugel mit dem kurzen Eisenstiel, in die eine Fratze geschnitten ist. Er hat bisher nicht hingeschaut, aber nun sieht er es.

Das Tatwerkzeug - für ihn ist es ganz klar das Tatwerkzeug, nicht viel Blut ist dran, und trotzdem. «Rühr nichts an», hat Britt gesagt, «das ist ein Verbrechen», und Benny weiß auch, dass er nichts anrühren darf. Er weiß alles, er hat genug Krimis gesehen. Man darf keine Spuren vernichten, niemals, wenn man nicht die Aufklärung behindern will.

Benny will die Aufklärung nicht behindern, schon gar nicht, wenn es sich um Mella handelt, seine Mutter, die ihm Stullen gemacht und ihn geprügelt hat, manchmal verwöhnt, oft allein gelassen, und von der er doch wusste, dass sie ihn liebt. Er begreift nicht, dass sie stumm, tot sein soll, er würde am liebsten weggehen und tun, als gäbe es das alles nicht. Doch da ist noch was anderes, da ist ganz einfach die Tatsache, dass er diese Kugel, dieses Eisengesicht, dass er diese Schlagwaffe kennt.

Benny heult, mit einem Mal merkt er, dass er heult, es ist ihm lange nicht passiert, aber nun rollen ihm die Tränen übers Gesicht. Doch gleichzeitig arbeiten seine Gedanken, arbeiten gut und schnell. Er zögert nicht mehr, er läuft in die Küche, nimmt eine Papierserviette aus der Schublade oben links, geht zu Mella zurück und hebt mit dem Papiertuch vorsichtig, ganz vorsichtig das Stück Eisen auf. Er wickelt es ein, trägt es auf sein Zimmer, packt es in die Pappschachtel mit Stickern, Abziehbildern und Fotos. Unter die Abziehbilder packt er es und unter die Fotos. Dann setzt er sich, wie es ihm Britt aufgetragen hat, in die Küche.

Wenig später ist die Nachbarin mit Herrn Schreiber aus dem Vorderhaus da, der Telefon hat und einen dicken Bauch. Dann kommt der ABV, der Abschnittsbevollmächtigte, ihn gibt es also noch. Benny hat ihn in der letzten Zeit, als wegen der Demonstrationen und der Mauer alles drunter und drüber ging, nicht mehr gesehen, aber jetzt ist er in seiner grünen Uniform da, und kurz danach trifft die Kripo ein.

Ein wenig ist Benny die Hauptperson, trotz Blitzlicht, Arzt, trotz Britt und Herrn Schreiber, und es ist kaum zu glauben, aber wahr, er fühlt sich geschmeichelt.

Er schämt sich deswegen, er denkt an Mella und heult wieder, doch er gibt Auskunft, als ihn die Kripo ausfragt, erzählt, wie er ahnungslos in die Wohnung kam und die Mutter fand.

Sein Hirn funktioniert genau, er vergisst nicht das mehrmalige Klingeln an der Tür und die Fettsemmel in der Küche, die übrigens noch angebissen auf der Anrichte liegt. Bloß zwei Dinge lässt er aus, die einzig wichtigen: den Krach zwischen Ralf und Mella gestern Abend und natürlich das Eisending unten in der Pappschachtel in seiner Schublade.

Nach Besuchern fragen sie selbstverständlich auch, und nun kann er Ralf unmöglich verschweigen, zumal Britt in dieser Hinsicht nicht zurückhaltend ist, sie konnte bisher noch keinen von Mellas Männern leiden. Aber Benny tut, als wisse er kaum etwas von seinem großen, einzigen Freund, er verschweigt seine Adresse. Denkt an das Stück Eisen und schweigt. Gibt stattdessen vor, furchtbar müde zu sein und alles durcheinander zu bringen. Zum Glück macht sich Herr Schreiber, der nichts weiß, ungeheuer wichtig und erzählt von den Kerlen, die vorher da waren. Erfindet noch welche dazu. Der Kriminalpolizist notiert alles.

«Du schläfst heut Nacht bei mir», ordnet Britt an, «hol dir ein paar Sachen, morgen sehen wir weiter.» Benny ist das recht, er hat tatsächlich keine Lust, in der leeren Wohnung zu bleiben, selbst wenn sie das erlauben würden. Sie wollen ihn nun nicht mehr zu seiner Mutter lassen, die, wie sie sagen, bald abgeholt wird. Er erzwingt es sich, schaut sie nochmals an, ist verzweifelt, so verzweifelt.