Berufsschulen auf dem Abstellgleis - Katharina Blaß - E-Book

Berufsschulen auf dem Abstellgleis E-Book

Katharina Blaß

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Beschreibung

330 anerkannte Ausbildungsberufe gibt es aktuell in Deutschland - und rund 17.400 Studiengänge: eine fatale Entwicklung für das duale Ausbildungssystem, Exportschlager von Portugal bis Lettland. Rächt sich nun, dass die Politik noch immer die Erhöhung der Akademikerquote anstrebt - und die Berufsschulen einfach vergessen hat? Katharina Blaß und Armin Himmelrath sind sich sicher: Die Bedeutung der Berufsschulen wird seit Jahrzehnten unterschätzt, ihre Leistungen werden hartnäckig ignoriert. Dabei bieten Alltag und Praxis der häufigsten Schulform heute schon Antworten auf viele der aktuell diskutierten Herausforderungen unseres Schulsystems. Die Autoren skizzieren die aktuelle Lage deutscher Berufsschulen und sprachen mit Lehrern, Ausbildern und Auszubildenden. Sie zeigen bestehende Defizite auf, die vor allem der langen Vernachlässigung dieser Schulform geschuldet sind. Und sie begründen, warum die Berufsschulen zu echten Reformlaboren für notwendige Veränderungen unserer Bildungs- und Ausbildungslandschaft werden könnten - wenn alle den Mut und den Willen dazu aufbrächten.

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Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Berufsschule in der Krise. Zur aktuellen Situation der berufskundlichen Schulen
Unterschätzt und leistungsfähig. Berufsschule aus schulischer und unternehmerischer Sicht
Ein langer, schwerer Weg. Berufsschullehrerin oder Berufsschullehrer werden
Dual und mit Abitur. Was Berufsschule kann und könnte
Motor und Ideengeber. Warum wir die Berufsschule brauchen
Der Blick nach vorn. Berufsschulen als Lokomotiven im Bildungsdiskurs
Schematischer Überblick über die Besonderheiten der Systeme der beruflichen Bildung in den einzelnen Bundesländern
Literatur
Über die Autoren

Vorbemerkung

Ausgebremst, in der Öffentlichkeit fast völlig übersehen und in der schulpolitischen Debatte ohne echte Stimme – so nehmen nicht nur betroffene Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch Schüler und Eltern die heutige Rolle der Berufsschulen wahr. Diese Bildungseinrichtungen, den Zahlen nach übrigens die verbreitetste Schulform in Deutschland, könnte man mit etwas Zynismus fast schon als Phantomschulen bezeichnen, über die kaum jemand spricht, obwohl sie erheblich zum Funktionieren des weiterführenden Schulbereichs beitragen. Wer genauer hinschaut, erkennt schnell: Die berufsbildenden Schulen bieten in ihrer Vielfalt ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an guten pädagogischen Ideen und praxisorientierter Allgemeinbildung, an nachhaltigen Unterrichtsmodellen und individueller, gelebter Bildungsdifferenzierung. Sie bieten Antworten auf viele der aktuell diskutierten Herausforderungen des Schulsystems – nicht flächendeckend und überall, aber doch in bemerkenswerter Vielfalt.

Andererseits aber wird diese Erfahrungsressource beim Umgang mit aktuellen Herausforderungen viel zu wenig abgerufen. Berufsschulen könnten ein Motor für die Schul- und Bildungslandschaft sein – wenn sie sich denn ihrer Stärken bewusst würden und diese offensiv nach außen kommunizierten. Zahlreiche Beispiele für zukunftsweisende Konzepte und Projekte stellen wir in diesem Band beispielhaft vor. Und sie alle zeigen: Berufsschulen sind längst Ideengeber, weil sie …

… die große Herausforderung Diversität und Integration unterschiedlichster Schülerinnen und Schüler längst bewältigen,

… das Schwarz-Weiß-Denken zwischen dualer Ausbildung einerseits und akademischem Werdegang andererseits bereits heute wirksam durchbrechen,

… wie keine andere Schulform individualisieren und differenzieren und durch ihre modulartige Struktur auf unterschiedlichste Bildungsbedürfnisse von Schülern reagieren können.

Als Schulen sollen sie, so schreibt es das Grabler Wirtschaftslexikon, von Berufsschulpflichtigen oder -berechtigten besucht werden, die sich in der beruflichen Ausbildung befinden oder ihre Schulpflicht (bis zum vollendeten 18. Lebensjahr oder nach einer Ausbildung) noch nicht erfüllt haben. Als Lernort in der dualen Berufsbildung soll die Berufsschule allgemeine und fachliche Lerninhalte unter besonderer Berücksichtigung der Anforderungen der Berufsausbildung vermitteln – sie ist also, zumindest der Idee nach, gleichberechtigter Partner auf diesem berufspraktisch orientierten Ausbildungsweg. Sie ist traditionell nach Fachrichtungen unterteilt in kaufmännisch-verwaltende, gewerblich-technische, hauswirtschaftlich-pflegerische, landwirtschaftliche und bergbauliche Berufsschulen. Ihre Vielfalt nicht nur in Anzahl, Fachrichtungen, Stundenplangestaltung und individueller Förderung der einzelnen Schülerinnen und Schüler ist nahezu unüberschaubar in Deutschland.

Diese Ausdifferenzierung und Vielfalt ist – einerseits – eine Stärke der berufsbildenden Schulen und ein Ausdruck ihrer Lebendigkeit. Sie ist – andererseits – aber auch ihre große Schwäche: Berufsschulen werden nicht als einheitliches System wie etwa das Gymnasium wahrgenommen, sondern agieren häufig in Vereinzelung und damit gewissermaßen unter dem Radar der (fach-)öffentlichen Wahrnehmung. Hinzu kommt, dass sie in der Debatte um den sogenannten »Akademisierungswahn« an den Rand gedrängt werden, weil es um den scheinbaren Gegensatz zwischen Abitur und Studium auf der einen und betrieblicher Ausbildung auf der anderen Seite geht; für die Berufsschulen bleibt in diesem Streit nur die Rolle als Anhängsel der dualen Ausbildung. Und diese Rolle am Rand der Wahrnehmung wird von den Akteuren allzu oft widerspruchslos akzeptiert.

Tatsächlich lässt sich bei den Bildungsentscheidungen seit einigen Jahren eine brisante Entwicklung beobachten, bei der immer mehr junge Menschen aus unterschiedlichen – nicht nur persönlichen, sondern auch dem System geschuldeten – Motiven lieber zur Hochschule gehen, als Stationen der beruflichen Bildung zu durchlaufen. Diesen Trend sehen viele Experten sehr kritisch. »Der Akademisierungstrend gefährdet das Bildungssystem: Wenn die akademische Bildung so hohe Anteile erreicht hat, verbleiben für die berufspraktischen Ausbildungsgänge nur noch schulschwache Jugendliche. Damit gerät die Berufsbildung in ein soziales Stigma, sie wird zum Bildungsweg der Schwachen und ›Dummen‹«, sagt der Schweizer Ökonom und Autor Rudolf H. Strahm in seinem Werk »Die Akademisierungsfalle« (Strahm 2014, S. 6). Er bezieht sich in seiner Argumentation vor allem auf eine »bildungspolitische Fehlentwicklung, die junge Menschen unter dem Diktat von Bologna an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts vorbei ausbildet – und gleichzeitig andere Qualitäten des Menschen vernachlässigt, etwa die Qualifizierung der praktischen Intelligenz oder die emotionale Intelligenz, die Zuverlässigkeit, die Exaktheit und das Verantwortungsbewusstsein. Nicht nur Individuen, sondern ganze Volkswirtschaften stecken in der Akademisierungsfalle fest.« Befürworter der Akademisierung sagen, dass die Entwicklung von ihren Kritikern für viele Missstände verantwortlich gemacht wird, die jedoch an anderer Stelle zu beheben seien. Jugendliche sollten ihren Bildungsweg nach wie vor frei wählen können, und angesichts der Erstsemesterzahlen und der sehr guten Bildungs- und Berufschancen nach einem Studium sei ein Studium für junge Menschen offensichtlich attraktiver als eine Ausbildung. Für die Befürworter der Akademisierung ist die logische Konsequenz, dass die Hochschulfinanzierung neu gedacht werden und massiv in die akademische Lehre investiert werden sollte, um die Chancengerechtigkeit weiter gewährleisten zu können.

Der Philosoph und Kulturpolitiker Julian Nida-Rümelin ist einer der bekanntesten Akademisierungskritiker. Er warnt in seinem Werk »Der Akademisierungswahn« vor einer Herabwürdigung und Vernachlässigung des dualen Ausbildungssystems. In der Debatte um Akademisierung des deutschen Bildungssystems geht es um Grundsatzfragen der Berufswahrnehmung. Nida-Rümelin selbst spitzt die zentrale Debatte zur Akademisierung so zu: »Es geht um eine Frage, die das ganze Bildungssystem berührt: Soll die Universität eine Vielzahl von Berufen aufnehmen und sie akademisieren? Und soll dann das Gros der Studierenden nach drei Jahren von der Universität abgehen, wie es die Bologna-Reform mit ihren Bachelorstudiengängen vorsieht? Oder wollen wir die besondere Stärke des deutschen Bildungssystems erhalten?« (Nida-Rümelin 2014, S. 227).

Seine »These des Akademisierungswahns« kann in drei Aussagen zusammengefasst werden: »Es ist falsch, Jugendlichen zu suggerieren, dass sie auf ihrem Bildungsweg gescheitert sind, wenn sie nicht die Hochschulreife erreichen und dann ein Studium aufnehmen. Auch ist es falsch, Studienberechtigte für die Aufnahme eines Ausbildungsberufes zu kritisieren. Der generelle Trend, immer mehr Berufsausbildungsgänge zu Hochschulstudiengängen umzubilden, ist falsch. Wachsende Studierendenzahlen bei sinkenden Jahrgangsstärken durch den demografischen Wandel bedeuten ein – unbeabsichtigtes – Abwracken der nichtakademischen Berufsbildung im dualen System« (Nida-Rümelin 2014, S. 15ff.).

Nida-Rümelin kommt zu dem Schluss: »Der durch die Verunsicherung in Deutschland ausgelöste Anpassungsdruck an vermeintliche und tatsächliche internationale Bildungstrends droht eine der Stärken des deutschen Bildungssystems, das duale System, und generell die berufliche Bildung langfristig zu ruinieren.« Und er fährt fort: »Es gibt unterschiedliche Talente und Interessen.« Es gelte der gleiche Respekt vor allen Talenten: »Jede Begabung ist gleichwertig, eine Elektrotechnikerin verdient die gleiche Anerkennung wie ein Professor oder ein Manager oder eine Erzieherin« (Nida-Rümelin 2014, S. 247ff.).

Das vorliegende Buch will sich in der Debatte um Akademisierung weder auf die Seite der Skeptiker noch auf die der Befürworter schlagen, sondern zeigt einen dritten, einen weiterführenden Weg. Wir nehmen die unter anderem von Nida-Rümelin aufgezeigten Missstände zum Anlass, eine Zukunftsperspektive für die Berufsschulen vor dem Hintergrund der vorhandenen Veränderungen im Bildungssystem aufzuzeigen. Und wir belegen, dass weder der ausschließlich eine noch der ausschließlich andere Weg zukunftsweisend sein wird, sondern die Durchmischung, die Kooperation beider Seiten, letztlich: der Brückenschlag zwischen Lehre und Studium, der auf der Arbeit der Berufsschulen aufbaut und auf ihre Kreativität und Professionalität angewiesen ist. Es geht um die zwingende Entwicklung einer Durchlässigkeit der hochschulischen und beruflichen Bildung, deren Kombination miteinander und eine für jeden individuell wählbare Berufsbiografie – mit und ohne Abitur, je nach Veranlagung. In dieser Öffnung, im Ermöglichen individualisierter Entscheidungen und ganz persönlicher Bildungszugänge, liegt das große Potenzial der Berufsschulen – und damit auch ihr möglicher Beitrag zu einer Attraktivitätssteigerung des dualen Ausbildungssystems. Wer mit der Entscheidung für eine berufliche Ausbildung nicht mehr automatisch eine Schulform mit vermeintlich reduziertem Bildungsanspruch besucht, verzichtet auch nicht auf die Option eines später doch noch möglichen Studiums. Und genau darum geht es uns: den schon jetzt hohen Bildungsanspruch berufsbildender Schulen herauszustellen, die Nachhaltigkeit ihrer Konzepte zu verdeutlichen und sie herauszuholen aus der Nische ihrer Phantomexistenz, in die sie geraten sind, weil sich niemand mehr richtig auskennt, viele Schulen vor sich hin unterrichten und bei Reforminitiativen gern vergessen werden. Die Berufsschule kann viel, und sie hat ein enormes Potenzial – nur scheint es leider manchmal so, als würden das nicht einmal ihre Befürworter richtig wahrnehmen.

Abschließend noch eine Anmerkung zur Begrifflichkeit: Weil in 16 Bundesländern jeweils eigene Berufsschulsysteme mit ganz unterschiedlichen Institutionenbezeichnungen und Bildungswegen existieren, reden wir hier verallgemeinernd von »Berufsschulen« oder »berufsbildenden Schulen« – wohl wissend, dass damit mancherorts ganz spezifische Schulformen gemeint sind.

Köln und Hamburg, im März 2016

Berufsschule in der Krise.Zur aktuellen Situation der berufskundlichen Schulen

»Ars sine scientia nihil est«, die Kunst ist nichts ohne die Wissenschaft. Das wussten schon die Kirchenbauer Mitte des 12. Jahrhunderts: Nachdem diverse Bauten eingestürzt waren, wurden für Dombaumeister, aber auch für Handwerker wie Steinmetze schriftliche didaktische Standardisierungen geschaffen, die man als frühe Qualitätssicherungsinstrumente betrachten kann (Lipsmeier 2014, S. 7). Der Bildungsforscher Antonius Lipsmeier vertritt damit die These, dass eine Diskussion um die Qualität beruflicher Bildung krisenevoziert ist: Veränderung entsteht erst dann, wenn der Leidensdruck groß genug ist. So zog auch die Lehrlingsbewegung, eine soziale Protestbewegung von Auszubildenden des dualen Ausbildungssystems zwischen 1968 und 1972, eine Debatte über die Qualität des Ausbildungssystems nach sich. Im Fahrwasser der Bewegung entstand 1969 das erste Berufsbildungsgesetz.

Und heute? Es scheint wieder an der Zeit, die Leistungsfähigkeit des Berufsbildungssystems auf den Prüfstand zu stellen. Diesmal jedoch nicht, weil systemimmanente Schwächen einer Überarbeitung bedürfen. Diesmal sind es die Menschen und die Gesellschaft, die sich derart gewandelt haben, dass die Möglichkeiten zur individuellen Entwicklung jedes Einzelnen, aber auch zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik, die allesamt im Berufsbildungssystem bereits angelegt sind, weiter und anders ausgeschöpft werden müssen. Berufsbildung muss heute neu gedacht werden. Dabei ist es vor allem die Berufsschule, die im Laufe der Zeit aufs Abstellgleis geraten ist. In ihr steckt das Potenzial, unser gutes Ausbildungssystem zu einem sehr guten zu machen. Nur leider bleibt sie in Reformen und Initiativen meist außen vor. Dieses Buch richtet sich an alle, die mit beruflicher Ausbildung zu tun haben: Ausbilder und Unternehmer, Berufsschullehrer und Bildungspolitiker. Es soll Mut machen, die Berufsschule als Reformlabor und Impulsgeber zu betrachten und nicht als mehr oder weniger lästiges Anhängsel einer vor allem betrieblich orientierten Ausbildung. Sie ist die am meisten vernachlässigte Schulform in Deutschland – und hat gerade deshalb die Chance, zum Motor für Veränderungen zu werden. Zahlreiche Praxisbeispiele aus mehreren Bundesländern zeigen, wie das gehen kann.

Permanentes Bildungs-Upgrade, stärkere Akademisierungstendenzen sowohl in Berufen als auch in Bildungsbiografien, die Entwicklung hin zur Industrie 4.0: Das duale Ausbildungssystem, ein deutsches Erfolgsmodell, ist unter Druck geraten. Die Inhalte der Ausbildungsberufe werden immer anspruchsvoller, ebenso die Wünsche der Chefs an zukünftige Auszubildende. Die Zahl der Ausbildungsberufe und der Lehrlinge sinkt. Die Anzahl der Studenten liegt seit dem Jahr 2009 über der der Auszubildenden. 2,13 Millionen junge Menschen waren damals an den Universitäten eingeschrieben, aber nur 2,11 Millionen junge Erwachsene wählten eine Berufsausbildung. In den Jahrzehnten davor hatte es immer mehr Auszubildende als Studierende gegeben. 2012 studierten bereits mehr als 2,5 Millionen junge Menschen an einer Hochschule, aber nur 1,98 Millionen hatten einen Ausbildungsvertrag unterschrieben. Und die Differenz ist weiter gewachsen: Im Wintersemester 2015/2016 sind so viele Studierende wie noch nie an den deutschen Hochschulen eingeschrieben: nach ersten vorläufigen Ergebnissen rund 2,8 Millionen. Damit erhöhte sich die Zahl der Studierenden im Vergleich zum Wintersemester 2014/2015 um rund 60.000. Die Zahl der Auszubildenden hingegen sank auf 1,4 Millionen.

Betrug die Studienanfängerquote im Jahr 2000 nur 33 Prozent, so erreichte sie 2013 einen Rekordwert von 57 Prozent. Damit wurde das Ziel, das sich Bund und Länder 2008 auf dem Dresdner Bildungsgipfel gesetzt hatten, nämlich die Quote der Studienanfänger bis 2015 auf 40 Prozent eines Jahrgangs zu erhöhen, weit übertroffen. Auch wenn man die Studienanfängerquote um den Effekt doppelter Abiturjahrgänge und den Anteil der Studenten aus dem Ausland bereinigt, liegt sie 2013 noch immer deutlich über 40 Prozent (vgl. Arp 2015). In Deutschland droht – gemessen am OECD-Durchschnitt – zwar keine Akademikerschwemme, jedoch fehlen immer mehr Menschen in der beruflichen Ausbildung: Wenn sich der Zulauf an die Hochschulen fortsetzt, müssen die Unternehmen in Deutschland laut der Bertelsmann Stiftung in 15 Jahren mit rund 80.000 Lehrlingen weniger auskommen. Noch größer würde die Lücke durch den demografischen Wandel – dieser lässt die Zahlen in allen Bereichen der nachschulischen Bildung sinken. So sei 2030 nur noch mit rund 700.000 Schulabgängern zu rechnen – 2011 waren es noch 880.000. Weil darunter immer mehr Abiturienten sind, die an die Universitäten drängen, werde der Rückgang dort weniger spürbar sein: Die Studie geht davon aus, dass die Erstsemesterzahlen nur gering absinken, auf dann rund 485.000.

Es scheint, als habe die Lehre als Einstieg in eine berufliche Karriere ihren Zenit überschritten. Zumindest steckt sie als Institution in einer ernsten Krise.

»Es gibt eine Fehlwahrnehmung, dass man nur mit Abitur und Studium ein anständiger Mensch in Deutschland ist. Das müssen wir ändern«, sagte Bundeswirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel Ende 2015. In der Frage, wie Unternehmen, Bildungspolitik und Gesellschaft dieser Krise begegnen sollen, richtet sich der Fokus fast immer auf die betriebliche Seite der Ausbildung. Der zweite Teil des dualen Systems jedoch, die beruflichen Schulen, bleibt in den Debatten außen vor. Ein folgenreicher Fehler: Denn diese Schulform bietet, auch wenn sie von der Krise genauso betroffen ist wie die betriebliche Seite, Veränderungs- und Reformpotenzial, das permanent übersehen wird. Die Berufsschule segelt gewissermaßen im Schatten der großen anderen Schulformen – was einerseits dazu führt, dass sie mit ihren Schwierigkeiten nicht angemessen wahrgenommen wird, ihr andererseits aber auch ungeahnte und selten ausgeschöpfte Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Und nicht nur das: Die Berufsschule hat, vielleicht als einzige Schulform, die Chance, zum Brückenbauer zu werden zwischen immer weiter steigenden Bildungsansprüchen an die Jugendlichen und den Erfordernissen einer Wirtschaft, die einerseits Auszubildende sucht, andererseits aber auch selbst immer größere Anforderungen an ihre Mitarbeiter stellt – und stellen muss. Mit anderen Worten: Die Berufsschule kann, wenn engagierte Lehrer und Unternehmen Hand in Hand arbeiten, sowohl die Schullandschaft mit Reformimpulsen erneuern als auch die duale Ausbildung zu einem zeitgemäßen Karriereeinstieg weiterentwickeln; einem Karriereeinstieg, der durch modularisierte Bildungsanteile dem einzelnen Schüler die Möglichkeit bietet, einen hochgradig individualisierten und differenzierten Qualifikationsweg zu beschreiten und damit den vermeintlichen Gegensatz von praktischer Ausbildung oder akademischer Orientierung zu durchbrechen und zu überwinden.

Aktuelle Probleme

Berufliche Schulen begleiten junge Menschen beim Übergang in die Arbeitswelt und vermitteln ihnen eine berufliche Grundbildung oder einen berufsqualifizierenden Abschluss. Das institutionalisierte Berufsbildungssystem mit den stark involvierten Berufsschulen ist aus diversen Gründen als Erfolgsmodell zu bewerten. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sagt: In wenigen OECD-Ländern hat das Berufsbildungssystem einen so hohen Stellenwert wie in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Menschen mit Berufsabschluss in diesen Ländern, räumt die Organisation ein, »weisen überdurchschnittliche Beschäftigungsquoten auf, insbesondere die jüngeren Erwachsenen« (OECD 2014). Viele Berufsschullehrer berichteten im Zuge der Recherche zu diesem Buch, dass die Berufsschule »das große Plus« in der deutschen Bildungslandschaft sei. Es sei das Merkmal der deutschen Facharbeiter, dass sie eine Vorstellung von der ethischen, übergeordneten Dimension ihrer Tätigkeit hätten – dass sie also Bildung in einem über die unmittelbare Handlungsqualifikation hinaus verstandenen Sinn mitbringen. Die Zeit, die Berufsschüler mit Inhalten verbringen, die nur mittelbar mit ihrer späteren Tätigkeit zu tun haben, mache die Gesellschaft zu mehr als nur einer Ansammlung von Arbeitern und Akademikern. Es ist immer wieder zu hören, dass eine Vorstellung von Genese, Entwicklung und Zukunft des eigenen Berufsstandes nicht nur die eigene Entwicklung, sondern auch letzten Endes das Wirtschaftswachstum befördere. All dies findet in der Berufsschule statt, dort wird die Grundlage für diese Art von Reflexionsfähigkeit gelegt. Sie ist der Motor der Facharbeiterschicht.

Die duale Ausbildung ermöglicht zudem einen schnellen Berufseinstieg. Die Merkmale staatlich anerkannter Ausbildungsberufe sind im Berufsbildungsgesetz (BBiG) und in der Handwerksordnung (HwO) festgelegt. Zur Ausbildungsdauer (§ 5 Abs. 1 BBiG bzw. § 26 Abs. 2 HwO) heißt es dort, sie »soll nicht mehr als drei und nicht weniger als zwei Jahre betragen«. Diese Regelung wurde unverändert vom vormaligen Berufsbildungsgesetz, das 1969 erlassen wurde und bis zur Novellierung 2005 gültig war, übernommen. Damit ermöglicht die duale Ausbildung einen schnellen Berufseinstieg und erspart lernunwilligen Schülern ein langes Schulbankdrücken. Die Ausbildung konzentriert sich zudem passgenau auf einen bestimmten Beruf. Das klare Berufsbild ermöglicht einerseits bereits früh eine hohe Fachkompetenz in den Betrieben, andererseits halten sich die Schüler nicht mit dem Lernen von unanwendbarem Wissen auf.

Durch die duale Konstellation von Betrieben und Berufsschulen lernen die Auszubildenden von Anfang an die Realität des Berufslebens kennen, ohne auf schulische Allgemein- und Fachbildung zu verzichten. Sie erhalten so ein direktes individuelles Feedback zu ihrer Arbeit und haben im Idealfall erste Erfolgserlebnisse. Der Übergang zwischen Bildungssystem und Berufsleben fällt den Auszubildenden so oft leichter als Studenten, die sich viele Jahre vor allem mit theoretischen Fragen befassen und dann erst auf dem Arbeitsmarkt landen.

Das Modell der dualen Ausbildung genießt internationale Anerkennung, die geringe Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland wird zu einem erheblichen Teil diesem Berufsbildungssystem zugeschrieben. Einige Länder wollen deshalb eine duale Ausbildung nach deutschem Muster einführen (vgl. Bundesregierung 2012). Und die Chancen auf Übernahme nach einer Ausbildung sind für die Absolventen nach wie vor sehr gut. 68 Prozent der Unternehmen gaben für 2015 an, alle Auszubildenden übernehmen zu wollen. Das ergab eine DHIK-Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags. 2014 waren es noch 66 Prozent. Der Wunsch der Unternehmen nach einer dauerhaften Zusammenarbeit wächst demnach mit dem zunehmenden Fachkräftemangel. Die Unternehmen und auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag wissen: Das Rekrutieren von Fachkräften über den Arbeitsmarkt reicht nicht aus, viele engagieren sich daher aktiv in der Ausbildung und bieten sehr gute Perspektiven (vgl. DIHK 2015). In Deutschland investieren die Unternehmen jedes Jahr rund 26 Milliarden Euro in die duale Berufsausbildung, schätzt der Deutsche Industrie- und Handelskammertag. Über die verschiedenen Instanzen der beruflichen Bildung hat jeder die Chance, auch ohne Abitur am Gymnasium eine seiner Qualifikation entsprechende Laufbahn einzuschlagen und es auf verschiedenen Wegen unter Umständen bis zum Hochschulstudium zu schaffen.

Warum ist die berufliche Bildung dennoch unter Druck geraten? Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt ist durch zwei scheinbar widersprüchliche Entwicklungen gekennzeichnet: Auf der einen Seite haben Betriebe zunehmend Schwierigkeiten, ihre angebotenen Ausbildungsstellen zu besetzen. Auf der anderen Seite gibt es immer noch zu viele junge Menschen, denen der Einstieg in eine Ausbildung nicht unmittelbar gelingt. Das Ausbildungssystem leidet an strukturellen Mängeln.

◾Fachkräftemangel: Geburtenschwache Jahrgänge stellen Betriebe vor sehr viel größere Herausforderungen als Hochschulen. Seit 2007 ist die Zahl der Bewerber für alle Ausbildungsplätze bundesweit von 756.000 auf 613.000 gesunken – ein Rückgang um 19 Prozent. Die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze ging von 644.000 auf 563.000 zwar ebenfalls zurück, trotzdem bleiben Lehrstellen schon rein rechnerisch unbesetzt (vgl. Bertelsmann Stiftung 2015). Ein weiterer Rückgang der Auszubildendenzahlen könnte in vielen Branchen einen Fachkräftemangel beschleunigen, weil zugleich geburtenstarke Jahrgänge in den Ruhestand gehen. Schätzungen zufolge werden 2030 rund 10,5 Millionen Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung oder Fachabschluss aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Trotz des demografischen Wandels und der deshalb sinkenden Zahl an Schulabgängern werden die Hochschulen hingegen kaum Studienanfänger einbüßen. Eine Besetzung der freien Arbeitsplätze ausschließlich durch Akademiker scheint dennoch keine praktikable Lösung.

◾Kaum Chancen mit Hauptschulabschluss: Laut einer Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) bleiben von knapp 44.000 offenen Stellen der Lehrstellenbörse 2014 etwa 62 Prozent Jugendlichen mit einem Hauptschulabschluss verschlossen (Anbuhl 2015). Obwohl viele Betriebe händeringend Auszubildende für ihre Lehrstellen suchen, setzten sie nach wie vor auf eine Bestenauslese. Damit bleibt das System, das einst für die niedrigeren Schulabschlüsse prädestiniert war, vielen Jugendlichen, die einen weiteren Schulbesuch ablehnen oder aus anderen Gründen nicht erfolgreich absolvieren können, verschlossen. So begannen 2005 nur 48 Prozent der Bewerber mit Hauptschulabschluss direkt eine betriebliche Lehre oder vollzeitschulische Ausbildung. 2013 waren es mit 51 Prozent unwesentlich mehr. Große Unterschiede zeigen sich dabei im Bundesländervergleich: Während beispielsweise in Bayern 71 Prozent der Hauptschüler direkt eine Ausbildung beginnen, sind es in Schleswig-Holstein nur 37 Prozent (vgl. Bertelsmann Stiftung 2015). Hinzu kommt, dass vermehrt Ausbildungsgänge nicht mehr mit einem Hauptschulabschluss zugänglich sind, weil es einen generellen Trend zum Upgrading bei den Bildungsvoraussetzungen gibt: So stellen die Polizeibehörden der Länder keine Bewerber mit Hauptschulabschluss mehr ein. Und für eine Lehre als Bankkaufmann, noch vor wenigen Jahren auch mit der mittleren Reife zugänglich, gilt mittlerweile das Abitur als zumindest informelle Mindestvoraussetzung. Die Anforderungen werden immer weiter angehoben – und die Schulabgänger mit Hauptschulabschluss haben das Nachsehen.

◾Einen Ausbildungsplatz zu finden ist gerade für Jugendliche mit Migrationshintergrund schwer: Nur 37 Prozent von ihnen finden direkt eine Lehrstelle – deutlich weniger als deutsche Hauptschüler (54 Prozent). Doch je höher der Schulabschluss, desto weniger Einfluss hat die Nationalität auf den Erfolg beim Ausbildungseinstieg (vgl. Bertelsmann Stiftung 2015). Prekäre Beschäftigung für lediglich angelernte Hilfskräfte ist die Folge, Zuwanderung in die betriebliche Ausbildung findet also kaum statt. In Bezug auf die Flüchtlinge und andere Migranten, die nach Deutschland kommen, erschweren fehlende oder nicht anerkannte Schulabschlüsse aus dem Ausland den Zuwanderern den Eintritt in den Ausbildungsbetrieb. Auch ein Berufsschulsystem, das Zuwanderer sowohl außerhalb der Schulpflicht als auch außerhalb eines Rechtsanspruches anspricht, fehlt in Deutschland flächendeckend. Integration über Beschäftigung und berufsschulische Bildung kann so nicht stattfinden.

◾Die Differenz wird größer: Durch veränderte Personalrekrutierungsstrategien und die steigende Zahl an Bachelorabsolventen wird die Differenz – in der inhaltlichen Gestaltung eines Jobs wie in der Vergütung – zwischen Angestellten mit dualer Ausbildung und Bachelorabsolventen immer größer. Ein Studienvergleich des Bundesinstituts für Berufsbildung aus dem Jahr 2010 hat zwar ergeben, dass (damals) »kaum Indizien vorliegen, die eine Konkurrenz von Bachelorstudiengängen einerseits und dualen Aus- und Fortbildungsabschlüssen andererseits nahelegen« (Hollmann/ Schmidt/ Werner 2010, S. 21). Jedoch haben die Analysen auch gezeigt, »dass Beschäftigte mit Bachelorabschluss vorrangig als Akademiker eingestuft und oberhalb von beruflich Qualifizierten eingesetzt werden« (Hollmann/ Schmidt/ Werner 2010, S. 21). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass für Angestellte mit Berufsausbildung bestimmte Karrierewege im Unternehmen tabu sind. Absehbar ist, dass diese Entwicklung durch die Ausweitung unmittelbar berufsbezogener Hochschulabschlüsse, wie dem des Bachelors, weiter verstärkt wird. Mittlerweile gibt es zudem viele Studiengänge für ehemalige Ausbildungsberufe wie zum Beispiel in der Gesundheitsbranche, wo aus der Ausbildung zur Krankenschwester der Bachelor of Nursing wird. Für Fachkräfte mit einem geringeren Bildungsabschluss wird es dadurch schwieriger, eine Stelle zu finden.

◾Kaum neue Lehrlinge: Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung ist der Trend zum Studium ungebrochen. Viele Jugendliche gehen lieber länger zur Schule und erwerben einen Abschluss, der die Aufnahme eines Studiums erlaubt, als eine duale Berufsausbildung zu beginnen. Die Anzahl der Studenten liegt seit dem Jahr 2009 über der der Auszubildenden. 2,13 Millionen junge Menschen waren damals an den Unis eingeschrieben, mittlerweile ist die Zahl der Nachwuchsakademiker bereits auf nahezu 2,8 Millionen geklettert. Wenn sich dieser Trend aus den vergangenen zehn Jahren ungebrochen fortsetzt, werden 2030 nur noch etwas mehr als 400.000 junge Menschen eine betriebliche Ausbildung beginnen. Das sind rund 80.000 weniger als heute, was einen Rückgang um 17 Prozent bedeutet (vgl. Bertelsmann Stiftung 2015). Diese Entwicklung bewertet die Stiftung als unumkehrbar. Eine unnötig hohe Zahl an Studienabbrechern, die nicht den Weg in eine duale Ausbildung finden, ist die Folge.

◾Kaum durchlässige Bildungswege: Die strikte Trennung zwischen akademischer und betrieblicher Ausbildung entspricht nicht mehr der Realität. Trotzdem stehen sich Studium und Ausbildung meist konkurrierend gegenüber. Es fehlt eine bessere Verzahnung beider Ausbildungswege durch wechselseitige Anerkennung von Leistungen – es gibt zum Beispiel zu wenige Hochschulangebote für beruflich Qualifizierte. Die praxisorientierten Studiengänge verzeichnen in Zukunft jedoch wohl den stärksten Zulauf aller Studiengänge. So stieg der Anteil der Studienanfänger an Fachhochschulen seit 1995 von 26 auf 39 Prozent. Die Bertelsmann-Studie rechnet mit einem Anstieg auf mehr als 43 Prozent bis zum Jahr 2030. Auch Angebot und Nachfrage nach dualen Studiengängen wachsen. Rund 21.000 junge Menschen nahmen 2013 ein Studium auf, das einen Bachelor-abschluss mit einer Berufsausbildung oder längeren Praxisphasen im Unternehmen verbindet. Bis 2030 wird sich diese Zahl auf 38.000 Studienanfänger pro Jahr erhöhen. Eine Qualifikation durch eine duale Ausbildung ist demnach in vielen Fällen nicht mehr ausreichend.

◾Das duale System leidet vielerorts an einem schlechten Image.