Besorgnisgesellschaft - Günter Ropohl - E-Book

Besorgnisgesellschaft E-Book

Günter Ropohl

4,8

Beschreibung

Viele Ängste treiben die Menschen heute um: Angst um ihre Sicherheit, Angst um die natürliche Umwelt, Angst um ihre Gesundheit. Die wirklichen Gefahren sind so gering wie nie zuvor, aber die Sorge ist über die Maßen gewachsen. Bewachen, behüten und bewahren: Das sind die Losungen der neuen Besorgnisgesellschaft. Sie hat Sicherheit, Gesundheit und Umwelt zu ihren höchsten Gütern erkoren, und sie schreckt nicht davor zurück, die Einzelnen „zu ihrem eigenen Wohl“ nach Kräften zu bevormunden. Günter Ropohl nimmt in seinem neuen Buch die Auswirkungen dieser Besorgnisgesellschaft am Beispiel der Tabakdiskussion aufs Korn: Gesundheitsmissionare, die das Rauchen verbannen wollen, haben den Menschen eine massive Bedrohung durch das „Passivrauchen“ eingeredet. Die Nichtraucher würden durch Tabakrauch auch in geringen Spuren ernsthaft erkranken und müssten unbedingt davor geschützt werden, heißt es, doch keine wissenschaftliche Untersuchung habe das schlüssig beweisen können. Die Tabakbekämpfung erscheint somit Ropohl zufolge als neuer Klassenkampf von oben nach unten, der Millionen von Menschen in der Freiheit ihres persönlichen Lebensstils einschränkt. Neben den Rauchern droht demnächst auch den Fleischliebhabern, den Freunden alkoholischer Getränke und den Vollschlanken eine Gesundheitsdiktatur staatlicher Bevormundung.

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Günter Ropohl

Besorgnisgesellschaft

Hintergründe der Tabakbekämpfung

© Parodos Verlag Berlin 2014

Günter Ropohl, Jahrgang 1939, Ingenieur und Philosoph, war bis 2004 Professor für Allgemeine Technologie an der Universität Frankfurt am Main. Er lebt und arbeitet in der ehemaligen badischen Residenzstadt Durlach, heute ein Ortsteil von Karlsruhe. Mehr unter: www.ropohl.de.

© Parodos Verlag, Berlin 2014 Alle Rechte vorbehalten Umschlag: MetaLexis, Niedernhausen ISBN des Printbuches: 978-3-938880-67-8
www.parodos.de
Als E-Book veröffentlicht im heptagon Verlag, Berlin 2014

1 Neue Zwänge

Die Zeiten ändern sich, hat der alte Dichter gesagt.1 Doch selten haben sie sich schneller geändert als in den letzten zwanzig Jahren. Hätte jemand diese Zeit im Koma verbracht und würde jetzt aufwachen, könnte er sich nur schwer noch zurechtfinden. Nicht nur stände er hilflos vor all den elektronischen Innovationen, auch vielen neuen Zwängen müsste er sich beugen.

Mit seinem alten Auto darf er nicht mehr in die Innenstadt fahren (»Kampf dem Feinstaub«).

In der Straßenbahn wird ihm verboten, ein mitgebrachtes Bier zu trinken (»Kampf dem Alkohol«).Die Ämter verpflichten ihn, in seiner Wohnung Rauchmelder anzubringen (»Kampf der Brandgefahr«).Er darf nicht mehr zwanglos von Negern und Zigeunern sprechen (»Kampf der Diskriminierung«).Radfahrer setzen sich merkwürdige Helme auf den Kopf (»Kampf der Verletzung«).In Gasthäusern darf nicht mehr geraucht werden (»Kampf dem Tabak«).

Man müsste diesem Menschen erklären, dass sich während seines unfreiwilligen Dauerschlafs eine neue Gesellschaft formiert hat: die Besorgnisgesellschaft.

Was sich in diesen zwanzig Jahren vollzog, erweist sich als ein Wertwandel sondergleichen. Der Kampf gegen den Tabak, angezettelt von amerikanischen Weltverbesserern, wäre in Europa ziemlich erfolglos geblieben, wenn er sich nicht mit den neuen Werten hätte verbünden können, die allenthalben aufgekommen sind. So muss ich zunächst diesen Wertwandel beschreiben. Und ich will versuchen zu erklären, wie es zu jenem Umschwung gekommen ist, der von der früher aufkeimenden Freiheitsgesellschaft inzwischen zur Besorgnisgesellschaft geführt hat (Kapitel 2).

Bewachen, behüten und bewahren: Das sind die Losungen der Besorgnisgesellschaft. Sie hat Sicherheit, Gesundheit und Umwelt zu ihren höchsten Gütern erkoren, und sie schreckt nicht davor zurück, die Einzelnen »zu ihrem eigenen Wohl« nach Kräften zu bevormunden. Nicht dass diese Werte früher bedeutungslos gewesen wären. Sie hatten und haben noch immer ihren anerkannten Kern. Aber sie haben sich inzwischen völlig verselbständigt und lassen den anderen Werten eines freien Lebens kaum noch Raum. Wegen ihrer nachgerade ideologischen Übersteigerung gebe ich ihnen z.T. neue Namen:

Sekuritarismus (Sicherheitswahn);Sanitarismus (Gesundheitskult);Ökologismus (Naturvergötterung);Paternalismus (Bevormundungsdrang).

Dagegen haben Persönlichkeitsentfaltung, freudiger Genuss, schöpferische Gestaltung und selbstbewusste Zuversicht ihren früheren Rang verloren und werden bereitwillig auf dem Altar der allgegenwärtigen Besorgnis geopfert.

Ganz besonders sorgen sich die Menschen um ihre Gesundheit – oder das, was sie dafür halten. Auch die Sicherheit und die heile Umwelt genießen wohl nur darum hohe Wertschätzung, weil Gefahren und Naturveränderungen die Gesundheit bedrohen können. So muss ich mich mit dem Verständnis und den Missverständnissen von Gesundheit beschäftigen, mit Einrichtungen, die im Namen der Gesundheitsvorsorge die Menschen ängstigen, bevormunden und ausbeuten, sowie mit den aberwitzigen Verhaltensformen, die viele Menschen längst angenommen haben, um der Schimäre ewiger Körperfrische zu huldigen. Gesundheit wird zum Fetisch jener Ersatzreligion, die ich wie gesagt »Sanitarismus« nenne (Kapitel 3).

Es ist dieser Sanitarismus, der jede Warnung vor möglichen Gesundheitsschäden, so sinnvoll oder abwegig sie auch sein möge, sogleich zum Menetekel für die drohende Katastrophe aufbauscht.2 Das ist der Nährboden, auf dem die »Tabakbekämpfung« ins Kraut schießen konnte. Gleich hier muss ich einflechten, dass »Tabakbekämpfung« die angemessene Übersetzung des englischen »tobacco control« ist, jenes Wortes, das sich die Funktionäre der Tabakprohibition selber auf die Fahnen schreiben. Unter den zahlreichen Bedeutungen, für die das Wort »control« stehen kann, nennt das Wörterbuch ausdrücklich auch die Übersetzung »Bekämpfung«. Tatsächlich haben die Tabakgegner zu einem »Kreuzzug gegen das Rauchen« aufgerufen.3 Ein Kreuzzug aber war immer ein Kampf der Rechtgläubigen gegen die Heiden, getragen von religiösem Eifer und persönlichem Ehrgeiz, der nicht zurückschreckte vor Gewalt im Namen des Glaubens.

Als man noch ein entspannteres Verhältnis zu Gesundheitsfragen hatte, wusste man wohl um die Zwiespältigkeit des Tabakkonsums, der vielen Menschen Genuss und Wohlbefinden bereitet, aber einige Menschen auch ernsthaft schädigen kann (Kapitel 4 und 5). Man überließ es den Einzelnen, wie sie sich zu dieser Ambivalenz stellen. Dann aber traten die Tabakbekämpfer auf den Plan. Im Namen der »Volksgesundheit« beanspruchten sie, die Menschen vor sich selbst schützen und in ihren Lebensgewohnheiten zwangsweise bevormunden zu müssen (Kapitel 6). Und sie warteten mit der Hiobsbotschaft auf, der Tabakrauch wäre auch für Nichtraucher gefährlich, wenn sie ihn in geringen Spuren unfreiwillig einatmen müssen. Es war die gewagte Behauptung vom »Passivrauchen«, mit der die Menschen in aller Welt gegen den Tabakrauch aufgehetzt wurden (Kapitel 7).

So speist sich die Tabakprohibition aus zwei Quellen: zum einen aus der organisierten Tabakbekämpfung eifernder Gesundheitsfunktionäre und zum anderen aus der hysterischen Besorgnis der Menschen um ihr körperliches Wohlergehen. Aggressive Gesundheitspolitik und gesellschaftlicher Wertwandel sind eine zwielichtige Allianz eingegangen. Nur in dieser Verbindung hat sich ereignet, was der fiktive Komapatient kaum für möglich halten könnte: das rapide Absterben einer traditionsreichen Tabakkultur. Eine kleine radikale Minderheit dezidierter Tabakgegner hätte sich nie und nimmer durchsetzen können, wenn sie nicht die breite Zustimmung überbesorgter Gesundheitsfetischisten gewonnen hätte. Diesen Sanitaristen aber hätte ein Gegenstand ihrer Sorge gefehlt, wenn ihnen nicht die Tabakbekämpfer das Stichwort gegeben hätten.

Eine dritte Kraft darf allerdings nicht unerwähnt bleiben. Das sind die Saubermänner und Sparfüchse allüberall, die aus den Rauchverboten ihren schäbigen Gewinn ziehen (Kapitel 8). Raucher hinterlassen Rückstände; auch wenn sie diese ordentlich entsorgen, entstehen Kosten für Aschenbecher, Klimaanlagen und Reinigung. Da freut sich doch jeder Hauswart, wenn diesen Schmutzfinken endlich das Handwerk gelegt wird. Wenn in kaum einem Gebäude oder Verkehrsmittel heute noch geraucht werden darf, so geht es dabei weniger um den Wert der Gesundheit – der »Nichtraucherschutz« wird da häufig nur vorgeschoben –, sondern vielmehr um den »Wert« der ökonomischen Effizienz. Pfennigfuchser machen sich alles zunutze, wenn es sein muss, auch die Obsessionen der Besorgnisgesellschaft.

Wo ich nun schon sozioökonomische Fragen berührt habe, ist eine weitere Diagnose fällig: Die Besorgnisgesellschaft ist eine kleinbürgerliche Gesellschaft. Nicht umsonst haben ihre Werte – Sicherheit, Gesundheit, Umwelt – ihre politische Vertretung besonders in der Partei der »Grünen« gefunden. Die aber sind längst zum Sammelbecken eines betulichen Kleinbürgertums verkommen, und sie haben eine Meinungsmacht erlangt, der die anderen Parteien nachäffen.4 Freiheit und Emanzipation, die traditionellen Werte des Liberalismus und Sozialismus, sind auf dem Altar spießiger Kleingeistigkeit geopfert worden. Menschen, die ihre kleinen Lebensfreuden genießen wollen, finden keine politische Kraft mehr, von der sie sich vertreten fühlen könnten. Unter den gewöhnlichen Menschen aber, die nicht zur Mittel- oder Oberschicht gehören, gibt es die meisten Raucher, und denen wird mit den Rauchverboten ein Teil ihrer Freiheit genommen (Kapitel 9). So entpuppt sich die Tabakbekämpfung als neuer Klassenkampf: Die da oben (und in der Mitte) unterdrücken die da unten, und das auch noch mit vermeintlich gutem Gewissen, denn es geht ja angeblich allein um die »Volksgesundheit«.

So droht der Gesundheitswahn in eine regelrechte Gesundheitsdiktatur umzuschlagen (Kapitel 10). Die Drahtzieher nenne ich in diesem Buch beim Namen, aber ihr Einfluss wäre gering geblieben, wenn ihnen nicht die Besorgnisgesellschaft Tür und Tor öffnen würde und wenn nicht die Trittbrettfahrer ihren eigensüchtigen Nutzen daraus ziehen würden. Längst haben die Gesundheitswächter weitere Frevler auf ihren Steckbrief gesetzt: die Freunde alkoholhaltiger Getränke und die Übergewichtigen. Auch diese Menschengruppen wollen sie mit strenger Regulierung auf den Pfad asketischer Tugend zwingen, ohne sich darum zu scheren, wie viel Lebensfreude und Mitmenschlichkeit sie damit aufs Spiel setzen. Die Tabakbekämpfung ist da nur eines der zahlreichen Symptome, die den Ausverkauf der Freiheit in Namen neuer Besorglichkeiten anzeigen. Aber sie ist ein besonders eindrucksvolles Lehrstück für gesellschaftliche Irrwege, denen man mit einem anderen Wort des alten Dichters begegnen muss: Wehre den Anfängen!5

2 Wertwandel

Werte drücken in allgemeinen Begriffen aus, was den Menschen wichtig ist. Werte äußern sich in Wertungen und sind bestimmend dafür, dass etwas anerkannt, geschätzt, verehrt oder erstrebt wird. Die Menschen orientieren sich an Werten, wenn sie Handlungen und Sachverhalte auswählen oder beurteilen.

Wer es beispielsweise gern hat, mit ein paar anderen Menschen vertrauten Umgang zu pflegen, sie immer wieder zu sehen, Lebensfragen mit ihnen zu besprechen, bei Schwierigkeiten Hilfe zu bieten oder zu erhalten, und alles das wichtiger findet als flüchtige Kontakte mit ständig wechselnden Personen, der steht zum Wert der Freundschaft. »Freundschaft« ist mithin der allgemeine Begriff für all jene konkreten Einstellungen und Verhaltensweisen, die man mit nahestehenden Menschen wechselseitig unterhält, und sie ist ein Wert, wenn man ihr eine besondere Bedeutung beimisst.

Existenz der Werte

So gesehen hat es Werte schon immer gegeben, doch der Ausdruck ist erst in der Philosophie des 19. Jahrhunderts aufgekommen, und inzwischen ist er zum Allerweltswort geworden. Die Philosophen sind der Frage nachgegangen, was Werte eigentlich sind. Die einen meinen, Werte seien objektive Wesenheiten. Andere halten dem entgegen, Werte seien lediglich persönliche Einstellungen, die es bloß in den Köpfen der einzelnen Menschen gebe.

Doch meist werden gleiche Wertvorstellungen von sehr vielen Menschen geteilt, und nicht selten fühlen sich manche veranlasst, bestimmte Werte von anderen zu übernehmen, nicht zuletzt darum, weil die anderen einen mehr oder weniger sanften Druck ausüben. Wer in einer geselligen Runde erlebt hat, wie die anderen über ihn herfallen, wenn er unbedacht von »Negern« spricht, der weiß, was ich meine. Der Wert der Toleranz gegenüber den sprachlichen Empfindlichkeiten andersartiger Menschen ist derart vorherrschend geworden, dass er eine Art gesellschaftlichen Zwang ausübt.

Werte gibt es also nicht allein in den Köpfen der Einzelnen. Sie führen sozusagen ein gesellschaftliches Eigenleben, das wirklich existiert, auch wenn es tatsächlich nur darin besteht, dass sich die Menschen wechselseitig darüber verständigen und sich Mehrheitsmeinungen zu eigen machen. Werte sind keine übermenschlichen Wesenheiten, aber im gesellschaftlichen Austausch der Menschen gewinnen sie einen überindividuellen Rang. Das ist eine soziale Erscheinung, welche die Philosophen nicht immer verstanden haben.

Für die Werte gibt es zahlreiche Klassifikationsvorschläge, die teilweise allgemeinere und konkretere Werte in eine Rangordnung bringen.6 Als grundlegende Werte werden meist Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – die traditionelle Losung der Französischen Revolution – oder, mit heutigen Worten, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität genannt. Aber es werden auch konkretere Werte aufgelistet. Dazu zählen z.B. Familie, Freundschaft, Wohlstand, Eigentum, Erfolg, Lebensfreude usw. usw. Jeder Erfahrungsbereich im menschlichen Leben kann als Wert ausgezeichnet werden, und da es keine verbindliche Regel gibt, wie man die Erfahrungsbereiche einzuteilen hätte, sind die Wertkataloge nicht frei von Unschärfen und Überschneidungen. Gleichwohl sind sie nützliche Hilfsmittel, wenn man sich einen Überblick über die Vielfalt menschlicher Strebungen verschaffen will.

Postmaterialistische Werte

Seit den 1970er Jahren glauben einige Beobachter, besonders in westlichen Ländern einen gesellschaftlichen Wertwandel erkennen zu können. Werte, die früher an erster Stelle standen, träten in der Rangordnung zurück, so sagen sie, und würden durch andersartige Werte ersetzt, die zuvor kaum eine Rolle gespielt haben. Früher vorherrschende »materialistische Werte« träten hinter neue »postmaterialistische Werte« zurück.7 Dieser Wertwandel wird damit erklärt, dass sich die äußeren Lebensbedingungen durch technischen, wirtschaftlichen und politischen Fortschritt beträchtlich verbessert hätten.

Was in Zeiten des Mangels zum Überleben unerlässlich gewesen sei, verliere nun, seit die Grundbedürfnisse durchweg befriedigt werden, die lebensbestimmende Vorrangstellung. Sättigung beispielsweise wird nicht mehr als Wert wahrgenommen, wenn Nahrungsmittel – anders als in den armen Ländern dieser Welt – im Überfluss verfügbar sind. Und Geldeinkommen verliert für viele Menschen die frühere Priorität, seit sie mit durchschnittlicher Arbeitsleistung genug davon erhalten, um damit ein auskömmliches Leben führen zu können. »Erst kommt das Fressen, dann die Moral«, hat Bertolt Brecht gesagt, aber jetzt haben die Menschen genug zu essen, und viele entdecken Erfahrungsbereiche, die über die bloße Lebenssicherung hinausgehen.

Als »materialistische Werte« werden durchweg Lebensstandard, Konsum, Wohlstand und Eigentum genannt, und es sind Fleiß, Leistung, Pünktlichkeit, Disziplin, Pflichterfüllung, Sparsamkeit, Ordnung und Anpassung erforderlich, um jene Werte dauerhaft zu erfüllen. Da persönliche Neigungen in diesem Wertmodell hintangestellt werden, trägt es asketische Züge: Lebensleistung geht vor Lebenslust. Anders die »postmaterialistischen Werte«. Da steht allem voran die persönliche Freiheit und Selbstentfaltung, die sich in Kreativität, Zeitsouveränität, Spontaneität, Lebensgenuss, Sinnlichkeit, Spiel, Freizeit und Glück ausdrücken. Mit einem Wort: »Materialistische Werte« sind Pflicht- und Anpassungswerte, »postmaterialistische Werte« dagegen Selbständigkeits- und Entfaltungswerte.

Nun sind Werte nicht bei allen Menschen in gleicher Weise ausgeprägt, und der Wertwandel tritt nur bei einem Teil von ihnen ein. Besonders ältere Menschen halten an den traditionellen Werten fest, die sie in ihrer Jugend gelernt haben. Jüngere Menschen dagegen sind für neue Werte aufgeschlossener. Das hat sich vor allem in den 1970er Jahren gezeigt, als sich im Gefolge der sogenannten Studentenbewegung Teile der jungen Generation von den Pflicht- und Anpassungswerten abwandten, die sie als übermäßig »autoritär« kritisierten.

Tatsächlich hat dieser »antiautoritäre« Impuls eine regelrechte Befreiung veranlasst: Gehorsamkeitsrituale, Pünktlichkeitsrituale und Kleidungsrituale verloren ihren angestammten Zwangscharakter und mussten sich der kritischen Frage stellen, ob sie das gute Leben, statt es zu fördern, nicht eher behindern. Sonnenhungrige Parkbesucher scherten sich nicht länger darum, dass sie eigentlich den Rasen nicht hätten betreten dürfen, Mütter waren glücklich darüber, dass sie nicht abgewiesen wurden, wenn sie ihr Kind »zu spät« in den Kindergarten brachten, und Konzertbesucher waren erleichtert, als sie die Musik genießen durften, ohne sich eigens eine Krawatte umbinden zu müssen. Nach über 40 Jahren kann man sich kaum noch vorstellen, welchen unbegründeten Zwängen die Menschen zuvor ausgesetzt waren. So begeisterten sich die »Postmaterialisten« für die Parole »Mehr Demokratie wagen!«, mit der 1969 Willy Brandt als deutscher Kanzlerkandidat in den Wahlkampf ging – und damit die Mehrheit gewinnen sollte.

Besorgniswerte

Seit den 1990er Jahren scheint mir nun ein neuerlicher Wertwandel eingetreten zu sein: ein Wandel von den Selbständigkeits- und Entfaltungswerten hin zu den Besorgniswerten. Man kann das deutlich an jener politischen Richtung erkennen, die seinerzeit als die »Grüne« mit antiautoritärem Gestus angetreten war und nicht nur den zunächst wenig populären Umweltschutz zum Programm erhob, sondern auch mit unkonventionellem Verhalten die etablierte Gesellschaft provozierte. Symptomatisch dafür war jener »grüne« Politiker, der zu einer offiziellen Parlamentssitzung in Turnschuhen erschien. Allerdings waren sich schon damals die Beobachter nicht einig, wo die neue Bewegung im politischen Spektrum anzusiedeln wäre. Glaubten einige, sehr progressive »linke« Kräfte erkennen zu können, verwiesen andere darauf, dass der Naturschutz seit je ein konservatives, »rechtes« Anliegen gewesen sei, und Spötter fragten, wie aus »roten« und »schwarz-braunen« Ingredienzien die Mischfarbe Grün entstehen könne.

Nun sind die damals noch jungen Protestierer schließlich an die Macht und in die Jahre gekommen, und sozialpsychologisch ist es zu verstehen, wenn ihnen inzwischen das Bewahren wichtiger geworden ist als das Erneuern. Damit haben sie ein bemerkenswertes Wählerpotenzial mobilisieren können, in dem ein akademisch gebildetes Bürgertum vor allem aus den Lehr- und Sozialberufen seine Besitzstände zu verteidigen sucht. Mit einem Wort: Die »Grünen« sind in weiten Teilen zu einer konservativen Kraft geworden. Und wie es die Konservativen so an sich haben: Zu viel Freiheit ist ihnen suspekt, und sie sympathisieren eher mit Gesetz und Ordnung. Wie gesagt: Die Anhänger neuer Werte machen immer nur einen Teil der Gesellschaft aus, aber es ist schon bemerkenswert, dass nach Umfragedaten der Anteil derer, die Freiheit für »ganz besonders wichtig« halten, in 20 Jahren von mehr als 70% auf unter 60% gesunken ist8, dass also knapp die Hälfte der Menschen die Freiheit nicht mehr so wichtig findet. Kein Wunder, dass die zunehmenden Regulierungs- und Verbotsmaßnahmen des Staates in der Bevölkerung wenig Widerstand auslösen.

Die Besorgniswerte, die inzwischen einen hohen Rang einnehmen, sind wie gesagt die Sicherheit, die Gesundheit und die Natur, und um alles zu schützen, was sonst gefährdet sein könnte, schrecken die selbsternannten Bewahrungshelfer der Nation nicht davor zurück, ihre Mitbürger ständig und überall zu bevormunden und zu gängeln. Jedes Verhalten, das die Überbesorgten für bedrohlich halten, versuchen sie mit allen Mitteln auch den anderen abzugewöhnen, und wenn Überredung nichts nutzt, dann greifen sie zum staatlichen Zwang. Dem Gesundheitskult werde ich das folgende Kapitel widmen und hier zunächst auf die Werte Sicherheit und Natur eingehen.

Angst vor dem Risiko

Damit mich niemand missversteht, betone ich noch einmal, dass diese Werte im Kern selbstverständlich ihren guten Sinn haben. Niemand wird halsbrecherischen Leichtsinn befürworten, und niemand wird es gutheißen, natürliche Bestände hemmungslos zu zerstören. Aber man sollte sich an den griechischen Philosophen Aristoteles erinnern, der schon damals die weise Regel empfohlen hat, man solle sich immer an das rechte Maß halten. Das ist es, was die Besorgnisgesellschaft verfehlt, wenn sie maßlose Sicherheit, maßlose Gesundheit und maßlosen Naturschutz einfordert.

Symptomatisch für die aufkommende Sicherheitshysterie ist, wie das Buch des Soziologen Ulrich Beck aufgenommen wurde, das er 1986 über die »Risikogesellschaft« geschrieben hat. Seine sensible und durchdachte Gesellschaftsanalyse will ich gar nicht zur Diskussion stellen, aber mit dem Buchtitel hat er der Besorgnisgesellschaft ein entscheidendes Stichwort geliefert. Es ist die Angst vor dem Risiko, die seitdem die Menschen beherrscht, und »Risiko« ist der Gegenbegriff zur »Sicherheit«. Wo immer mit einem Risiko zu rechnen ist, gibt es keine völlige Sicherheit. Tatsächlich ist natürlich die Vorstellung von völliger Sicherheit eine Illusion, aber die Menschen bilden sich ein, der Sicherheit immer näher zu kommen, je sorgsamer sie allen Risiken aus dem Wege gehen.

Dabei ist das Risiko streng genommen bloß eine mathematische Konstruktion, welche die Höhe eines möglichen Schadens mit seiner Eintrittswahrscheinlichkeit multipliziert. Risiko bedeutet also nichts anderes als eine mehr oder minder unwahrscheinliche Gefahr. Doch die Wahrscheinlichkeit ist eine gedankliche Vorstellung, die der Alltagsverstand kaum begreift.9 Die Wahrscheinlichkeit ist ein Maß dafür, wie oft ein bestimmtes Ereignis in einer großen Zahl von Ereignissen vorkommen kann. Befinden sich, um das mit dem klassischen Urnenmodell zu erläutern, in einem Behälter 10 schwarze und 90 weiße Kugeln, so beträgt die Wahrscheinlichkeit, bei einem blinden Griff in die gut gemischte Urne eine schwarze Kugel zu ziehen, genau 10%. Aber das heißt natürlich nicht, dass man genau mit jedem zehnten Griff eine schwarze Kugel ziehen würde. Gelegentlich erhält man sie schon beim ersten Griff, und manchmal sind deutlich mehr als zehn Züge erforderlich. Erst nach sehr vielen Zügen wird sich die Zahl der gefundenen schwarzen Kugeln dem Zehntel aller Züge nähern. Mit anderen Worten: Über den Einzelfall, hier den einzelnen Griff in die Urne, sagt die Wahrscheinlichkeit überhaupt nichts aus.

In einem von tausend oder hunderttausend oder Millionen von Fällen kann etwas Ernstes passieren, aber der leider gar nicht so »gesunde Menschenverstand« ängstigt sich allein vor der Gefahr und zieht überhaupt nicht in Betracht, wie selten sie den Einzelnen tatsächlich bedroht. Zugegeben: Gewisse Gefahrenpotenziale sind so gewaltig, dass es zynisch wäre, da noch um Eintrittswahrscheinlichkeiten zu feilschen. Ein atomtechnisches Inferno, wie es in Tschernobyl und Fukushima geschah, ist zu entsetzlich, als dass man Wiederholungen in Kauf nehmen dürfte, weil sie nach Wahrscheinlichkeitsschätzungen rechnerisch nur alle 100.000 Jahre und faktisch bisher zweimal in 25 Jahren eingetreten sind. Aber es ist lächerlich, nun für alle Wohnungen Rauchmelder vorzuschreiben, weil in ganz wenigen Fällen ein paar einzelne Menschen einem Zimmerbrand zum Opfer gefallen sind. Dieses Beispiel zeigt, welche Blüten die maßlose Sicherheitshysterie des Sekuritarismus treibt.10

Allgegenwärtige Risikoscheu

Ein paar Symptome hatte ich schon am Anfang des Buches erwähnt, und jetzt will ich weitere Belege dafür anführen, welch skurrile Folgen die Angst vor dem Risiko hat und wie sie immer neue Verordnungen und Zwänge hervorbringt. Den früheren Wertwandel hatten die Wertforscher damit begründet, dass sich damals viele Menschen in ihrer Selbständigkeit und Persönlichkeitsentfaltung von der Gesellschaft übermäßig eingeengt fühlten, dass sie also etwas wünschten, von dem es zu wenig gab. Die neuen Werte reflektierten seinerzeit einen offenkundigen Mangel.

Ganz anders aber verhält es sich heute mit der Sicherheit. Ein nüchterner Beobachter muss einräumen, dass es in unserem Leben mehr Sicherheit gibt als früher. Das Unfallrisiko, sei es im Verkehr oder am Arbeitsplatz, wird fortgesetzt immer geringer, die Gewaltkriminalität hält sich in engen Grenzen, Bedrohungen durch äußere oder innere Feinde sind verschwindend gering, und Gefährdungen durch Naturkatastrophen spielen, jedenfalls in unseren Breiten, auch keine besondere Rolle. Während also das Leben objektiv vergleichsweise sicher ist, wachsen bei den Menschen subjektiv das Gefühl der Unsicherheit und die Angst vor dem Risiko. Dieses Sicherheitsparadox ist wohl noch nicht hinreichend erklärt worden, wenngleich vieles dafür spricht, dass das Bewusstsein der Menschen vom Sensationsjournalismus der Massenmedien verformt wird, der mit seinem Übermaß von Katastrophenmeldungen ein entstelltes Bild der Welt zeichnet.