Beste Motive - Angelika Stucke - E-Book

Beste Motive E-Book

Angelika Stucke

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Beschreibung

Es gibt diesen Zeitpunkt im Leben einer Frau, da muss sie sich entscheiden: lasse ich mir weiterhin auf der Nase herumtanzen oder mache ich einen harten Schnitt? Alles Weitere ist dann lediglich eine Frage der passenden Mordwaffe und des persönlichen Stils. Minna besinnt sich auf ihre exzellenten Kochkünste, Edeltraut greift zum Golfschläger und Hertha beschließt eine spontane Ehrenrettung mittels Schrotflinte. Dieser Krimigeschichten-Band vereint das Beste aus Angelika Stuckes Kurzgeschichten-Sammlungen "Gute Motive", "Gute Gründe" und "Gute Argumente" sowie drei brandneue Stories für alle Fans der Autorin. Pointenreich und mit bitterbösem Humor führt Angelika Stucke ihre Leser in den ganz normalen Alltagswahn, der sich irgendwann in Gewalt entlädt - Beste Motive eben für ein Rendezvous mit dem Tod!

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Seitenzahl: 338

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Angelika Stucke

Beste Motive

33 Mordgeschichten

BOOKSPOT

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen, oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Copyright © 2009 by Bookspot Verlag GmbH

Satz/Layout: Peter Hänssler

Lektorat: Eva Weigl

Titelentwurf: Magical Media

Titelgrafik: Catherine Cole, www.ccole.com

E-Book: Mirjam Hecht

ISBN 978-3-937357-58-4 (EPUB)

ISBN 978-3-95669-025-9 (MOBI)

www.bookspot.de

Inhalt

Erstes Buch

Der Freundschaftsdienst

Das Kompott

Das Motiv

Der Spanner

Der Verdacht

Die Mordabsicht

Die Rache des Herrn

Hansi

Herbst

Männersache

Das Krippenspiel

Zweites Buch

Die Schwestern

Der Stoff gilt nichts

Der Fehler

Der Golfkurs

Marschmusik

Der Kreuzweg

Der Nachbar

Der Transport

Die Ausnahme

Marlene

Schüsse im Nebel

Drittes Buch

Der Sammler

Neumond

Ganz nebenbei

Gewitterstimmung

Die Aufgabe

Am Abgrund

Fehler machen alle mal

Im Gleichgewicht

Blind Date

Das Weichei

Die schöne Cousine

Die Autorin

Widmung

für meine Patenkinder:

Hendrik Richert

Franziska Müller

y para Chema siempre

Erstes Buch

Ist der Mann zu ihr nicht gut

muss sie pflücken Fingerhut

auch hilft des Efeus schwarze Beere

dass er sich zum Teufel schere

Der Freundschaftsdienst

Ich finde, schon beim Essen lässt sich ganz deutlich der Charakter einer Person erkennen! Nehmen Sie zum Beispiel meine Freundin Rosemarie. Die kriegt den Mund kaum auf. Beißt mit gespitzten Lippen in ihr Butterbrot, nagt vorsichtig an der Schale eines Apfels, knabbert winzigste Bruchstücke von Keksen und Kuchen. Mich macht das fuchsteufelswild, diese vornehme Zurückhaltung. Diese freiwillige Unterdrückung eines Grundbedürfnisses! Rosemarie glaubt, sie verhalte sich äußerst damenhaft elegant, ihrem Geschlecht und Stand entsprechend eben. Aber ich bin der Meinung, man muss auch mal richtig zubeißen können! Haben Sie schon einmal Ihre Schneidezähne in einen frischen Apfel geschlagen, sodass der Saft hervorschießt und Ihnen über Kinn und Wangen perlt? Ein Genuss! Natürlich nur dann, wenn Ihre dritten Beißerchen gut gesichert am Gaumen kleben.

Rosemarie und ich haben mittlerweile diesen goldenen Lebensabschnitt erreicht, in welchem der Körper mehr und mehr Ersatzteile benötigt. Aber glauben Sie nur ja nicht, dass Rosemarie in jungen Jahren anders gewesen sei! Sie war schon immer die Zimperlichkeit in Person. Manchmal frage ich mich, warum unsere Freundschaft eigentlich so lange gehalten hat. Vermutlich liegt es gerade daran, dass wir so unterschiedlich sind. Da kann sich die eine von der anderen besser abheben. Rosie zum Beispiel sonnt sich gern in dem Bewusstsein, im Vergleich zu meiner Bodenständigkeit über so viel gesellschaftlichen Schliff zu verfügen. Ganz anders als ich kann sie unbesorgt auf höchste Empfänge mitgenommen werden. Fettnäpfchen sind für Rosemarie ein Fremdwort. Sie beschränkt sich in Unterhaltungen über Themen, von denen sie nichts versteht, auf huldvolles Lächeln und gelegentliches Kopfnicken. Ich dagegen posaune meine Meinung gerne frei heraus, so wie damals, als uns Rosies Verlobter zu einem Essen in der Schweizer Botschaft eingeladen hatte. Ich durfte nur mit, weil Ulrichs Kumpel Erich für den Abend eine weibliche Begleitung brauchte.

»Vielleicht sollten Sie es doch einmal mit einem Deodorant versuchen?«, hatte ich dem schwitzenden Erich sogleich an seinen hochroten Kopf geworfen, kaum dass er mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Hand gehaucht hatte. Er war sofort in der herausgeputzten Menge untergetaucht und hatte es danach auch nicht mehr gewagt, mich zum Tanz aufzufordern.

Nur weil ich nach diesem Zwischenfall völlig auf mich allein gestellt nach Gesprächspartnern hatte Ausschau halten müssen, hatte es überhaupt zu meinem eigentlichen Fauxpas jenes Abends kommen können. Neugierig hatte ich mich zu einem Grüppchen gesellt, welchem der Gastgeber des Abends soeben die Vorzüge seiner Alpenheimat anpries. Selbstverständlich hielt er sich dabei recht diplomatisch an landschaftliche und gastronomische Reize.

»Schweizer Schokolade hin oder her, für mich jedenfalls sind Produkte aus einem Land, in dem Frauen nicht immer mitwählen dürfen, total tabu!« Mit diesen Worten hatte ich Beifall heischend in die Runde der höflich lauschenden Gäste geguckt. Überflüssig zu erwähnen, dass mir als einzige Reaktion eine Woge eisigen Schweigens entgegenschwappte. »Belgische Schokolade ist doch auch sehr lecker«, schob ich, schon etwas kleinlauter geworden, noch flugs hinterher.

Für den Rest des Abends behandelte man mich, wie man, sagen wir einmal, eine Leprakranke in einer Sauna behandeln würde: wo immer ich auftauchte, rückte man von mir ab.

Rosemarie wirft mir heute noch vor, schuld an ihrer Entlobung gewesen zu sein. Dabei widerrief Ulrich sein Eheversprechen erst ein Vierteljahr nach jenem Botschaftsempfang. Insgeheim bin ich davon überzeugt, dass ihm Rosies Damenhaftigkeit dann einfach zu viel wurde. Was ein richtiges Mannsbild ist, das will doch auch einmal etwas Handfestes in den Armen halten, zupacken dürfen und beim Küssen etwas mehr als Lippen spüren. Rosies gespitzter Mund dürfte auf Dauer jeden Mann an die Abschiedsbusserl seiner Großtante erinnern. Dass Martin es schon so lange mit ihr aushält ist mir noch immer ein Rätsel!

Obwohl seit ihrer verpatzten Karriere als Diplomatengattin Jahrzehnte ins Land gegangen sind, mault meine Freundin, wann immer sich eine Gelegenheit dafür auftut, in Erinnerung der gesellschaftlichen Stellung, die ihr mit Ulrich unwiderruflich entgangen ist. Dass Martin als Landarzt auch keine so schlechte Partie darstellt, lässt sie als Einwand nicht gelten.

»Schon allein deshalb nicht, weil ich als Angetraute eines niedergelassenen Allgemeinmediziners, noch dazu eines in den Ruhestand gegangenen, kaum je in den Genuss kommen werde, einmal vor einem echten gekrönten Haupt einen Hofknicks machen zu können«, sagt sie. »Du weißt genau, dass ich den bis zur Vollendung beherrschte!«

Manchmal geht meine Freundin bei der Suche nach einem Sündenbock für ihre Probleme mit Martin sogar so weit, mich für ihre Ehekrisen verantwortlich machen zu wollen. Erst gestern jammerte sie wieder, weil es über den letzten Auszügen ihrer Kreditkartenabrechnung zu einer lautstarken Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen gekommen war.

»Martin meint, du verführst mich zu unüberlegten Ausgaben«, schniefte sie, während wir in meiner Küche bei einem Tee saßen. Dabei nippte sie mit zaghaft vorgeschobenem Mund schlückchenweise an dem kräftigen Earl Grey, den ich zubereitet hatte. Rosemarie versteht es immer wieder, mich glauben zu machen, dass ihr Mann mich für einen schlechten Einfluss hält und mir deshalb aus dem Weg geht. Das ist schade, denn ich finde Martin immer noch sehr attraktiv!

Eigentlich hatte ich ihn als Erste kennengelernt. Als junger Assistenzarzt hatte er mir einen verstauchten Knöchel behandelt. Obwohl nur ein einziger Arztbesuch nötig gewesen war, hatten wir doch Zeit für ein paar Plänkeleien und ein Versprechen auf eine spätere Verabredung gefunden. Martin war mir auf Anhieb sympathisch gewesen. Er wirkte so offen und ehrlich, gar nicht eingebildet oder gekünstelt. Ich dachte: Endlich mal ein Mann, bei dem ich mich nicht verstellen muss! Leider machte ich den Fehler, zu unserem ersten Treffen auch Rosemarie einzuladen. Das war früher so, da musste immer eine Anstandsdame dabei sein, wenn sich ein junges Paar verabredete. Tja, und während ich genussvoll meine Sachertorte schlemmte, auf welche ich einen extra großen Schlag Sahne bestellt hatte, verfiel Martin dem zierlichen Gehabe meiner Freundin. Die knabberte nur vorsichtig an ihrem Stückchen Sandkuchen und ließ mehr als die Hälfte auf dem Teller liegen. Welche Verschwendung! Warum Männer so etwas anziehend finden, habe ich nie begriffen. Vielleicht suggeriert ihnen ein solches Verhalten, dass die betreffende Frau allein von Luft und Liebe lebt?

Das wahre Geheimnis hinter solch damenhafter Zurückhaltung beim öffentlichen Speisen hat Rosemarie mir erst kürzlich verraten: eine Notfallreserve in Form eines Tütchens Studentenfutter in der Handtasche. Ich war schockiert, machte diese späte Enthüllung doch sämtliche Einschätzungen meinerseits über Rosies Charakter zunichte. Mein Leben lang habe ich geglaubt zu wissen, wer meine beste Freundin ist. Und nun muss ich mein Bild von ihr vollständig neu gestalten. Irgendwie passt die Vorstellung von einer Frau, die klammheimlich Unmengen getrockneter Weintrauben und Nüsse in sich hineinstopft, nicht zu Rosemaries gespitzten Lippen! Obwohl, gewundert habe ich mich schon immer, wie sie das macht: so wenig essen und seit geraumer Zeit trotzdem solch rundlich üppige Formen aufweisen …

Jedenfalls schnappte sie mir Martin damals direkt vor der Nase weg. Wenn ich nicht gerade damit beschäftigt war, die Kuchengabel samt Sachertorte und Sahnehäubchen sicher in meinen Mund zu befördern – was eine gewisse Konzentration erforderte –, konnte ich zusehen, wie sein Interesse sich verlagerte. Eben noch war mein herzhaftes Lachen Grund seiner Anbetung und Einladung zum Kaffee gewesen, schon ließ er sich von Rosies eleganter Art umgarnen. Dass sie außerdem ziemlich hübsch war und selbst heute noch viel besser aussieht als ich es für mich je zu träumen wagen würde, mag auch eine Rolle gespielt haben.

Männer sind ja so oberflächlich!

Seit jenem Nachmittag im Café geht Martin mir aus dem Weg. Ich denke wohl eher, weil ihn zu Anfang ein schlechtes Gewissen plagte. Und später wurde es einfach zur Gewohnheit. Er schaut mir noch nicht einmal in die Augen, selbst dann nicht, wenn wir uns, was äußerst selten vorkommt, nur zu zweit in einem Raum befinden. Stets sucht sein Blick Ablenkung und sei es im Tapetenmuster. Das ist auf Dauer recht deprimierend, wenn Rhomben oder Röschenmuster für beachtenswerter gehalten werden als man selbst!

»Ach was, Elsa, das siehst du falsch«, versucht Rosie mich manchmal zu überzeugen. »Er denkt eben einfach, du verführst mich mit deiner direkten Art zu unüberlegten Schritten.«

Manchmal glaube ich ihr das sogar. Insgeheim bin ich aber schon lange davon überzeugt, dass Martin und ich das bessere Paar abgegeben hätten! Was will ein Landarzt, selbst wenn er sich bereits aus dem Berufsleben zurückgezogen hat, denn mit einer Frau wie Rosie? Ich hätte ihm selbst bei Hausgeburten zur Seite stehen können; meine Freundin kippt doch schon um, wenn sie sich mit einer Nadel in den Zeigefinger sticht und dabei ein Tröpfchen Blut hervorquillt.

Glücklich sind die beiden sicher nicht miteinander. Jedenfalls Rosemarie nicht mit Martin. Er spricht ja nicht über seine Gefühle, jedenfalls nicht, dass ich wüsste, wahrscheinlich offenbart er seine innersten Regungen den Rhomben und Röschen. Als ihre beste Freundin weiß ich genau Bescheid: Rosie wäre ohne Martin glücklicher und deshalb habe ich jetzt beschlossen, ihr einen Freundschaftsdienst zu erweisen!

Es war nicht leicht, Martin zu einem Treffen zu überreden. Selbst am Telefon spürte ich, wie er zusammenzuckte, als ich ihn ganz direkt bat, allein zu mir zu kommen. Erst als ich andeutete, dass es etwas mit Rosies Siebzigstem zu tun habe, ging er auf meinen Vorschlag ein.

»Also gut, ich komme morgen Abend bei dir vorbei! Senkbachgasse 17, das stimmt doch noch?«

Ich war platt, dass er das nicht vergessen hatte! Es war die Adresse meiner Eltern, ich hatte die Wohnung ja kürzlich geerbt. Genau die Anschrift, die ich ihm damals diktiert hatte, als wir uns das erste Mal begegnet waren.

Die Situation war merkwürdig verkrampft. Wir saßen uns gegenüber und Martin studierte einmal mehr die Wand gleich hinter meinem Kopf. Ich bemühte mich redlich, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber es fiel mir schwer. Ich mag es nicht, mit jemandem zu sprechen, dessen Augen wie suchend die Tapete abwandern. Das wirkt so, als hätten meine Worte keinerlei Bedeutung für mein Gegenüber. Es bremst mich aus.

»Himmelherrgott! Willst du mir jetzt endlich einmal in die Augen schauen!« Da war sie wieder, meine direkte Art, der verlässliche Stolperstein auf meinem Weg zum Glück.

Nur dass der Stolperstein dieses eine Mal der Stein war, der alles ins Rollen brachte, denn plötzlich, ich habe keinerlei Erinnerung daran, wie es dazu hatte kommen können, lag Martins Kopf an meinem Busen.

»Elsa«, flüsterte er, »verzeih mir, ich habe durch meine dumme Wahl vor Jahren gleich drei Menschen unglücklich gemacht.« Es brach aus ihm hervor wie ein Sturm, der über Jahrzehnte ruhig gehalten worden war. Ein wahres Unwetter der Gefühle, das mich in meiner Entscheidung immer unsicherer werden ließ. Ich hielt nämlich – und es fällt mir schwer, das zuzugeben – ein kleines Portiönchen Gift bereit. Das hatte ich an diesem Abend, sozusagen als Freundschaftsdienst an Rosemarie, ursprünglich Martin unter seinen Drink mischen wollen. Schließlich jammerte sie ständig, wie sehr sie sich von ihm kontrolliert fühle, und dass sie erst wieder ruhig atmen werde können, wenn er einmal nicht mehr sei.

Sicher hielt ich die kleine Ampulle mit dem Sud, den ich selbst aus einigen Waldkräutern gebraut hatte, in meiner Rocktasche versteckt. Ein paar Tropfen schon sollten ausreichend sein.

Aber Martins Ausbruch, sein spätes Geständnis, einen Fehler gemacht zu haben, brachte mich ins Schwanken. Plötzlich wusste ich nicht mehr, welchen Weg ich einschlagen sollte. Vielleicht wären die Tropfen in Rosies Glas besser angebracht? Ein spätes Glück für mich und Martin. Gewissermaßen ein Zurechtrücken des Schicksals. Endlich, nach so vielen Jahren!

Die ganze Nacht vor Rosies Geburtstagsfeier lag ich wach. Immer wieder malte ich mir aus, wie es wohl wäre, meinen Lebensabend mit Martin an meiner Seite zu durchwandern. Dann wieder griff ich auf meinen ursprünglichen Plan zurück, welcher mich mit Rosie in ewiger Freundschaft verbunden zeigte. Glücklich vereint ohne Martins Nörgeleien. Und schließlich, als die Dämmerung schon einsetzte, erinnerte ich mich merkwürdigerweise an einen Besuch in Barcelona und an die Trickbetrüger, die dort direkt vor der Kathedrale ahnungslosen Touristen mit dem sogenannten Hütchenspiel das Geld aus der Tasche ziehen.

Ich nahm diese Erinnerung, die so gar nichts mit meinen Überlegungen bezüglich des Einsatzes meiner Ampulle zu tun hatte, als Zeichen. So, als hätten die Götter selbst mir den richtigen Weg aufgezeigt …

Die Feier zu Rosemaries Siebzigstem war ein voller Erfolg! Sämtliche Bekannte und Verwandte hatten Martin und ich heimlich in den Garten geladen, während Rosie noch glaubte, sie könne sich in diesem Jahr kein ausschweifendes Fest leisten. Die Überraschung auf ihrem Gesicht, als wir sie auf die festlich geschmückte Terrasse führten! Es war herrlich! Sogar ein kleines Orchester hatten wir engagiert. Erst als alle Gäste gegangen waren und nur noch Rosemarie, Martin und ich uns in den frühen Morgenstunden ans Aufräumen machten, holte ich drei Sektkelche herbei, in eines der gefüllten Gläser entleerte ich meine Ampulle.

»Kommt, lasst uns noch einmal anstoßen!«, rief ich meiner Freundin und ihrem Mann aufgeregt zu und verschob dabei die drei Kelche immer wieder, bis ich selbst zum Schluss nicht mehr sagen konnte, in welchem sich denn nun das Gift befand.

Dann stießen wir an.

Das Kompott

»Na, Minna, wieder ein paar Kilos zugelegt?«

Ellen mustert mich von oben herab, grinst dabei gehässig. Wie ich sie verachte, diese spindeldürre Zicke! Was die sich einbildet! Nur weil sie meine beste Kundin ist, glaubt sie, sie könne mich vor allen anderen bloßstellen und ich müsse mir das stillschweigend gefallen lassen. Immer hackt sie auf mir herum.

Jetzt schauen mich auch die restlichen Mitglieder unserer Gymnastikgruppe hämisch an. Wie oft habe ich Ellen schon gebeten, mich Wilhelmine zu nennen! Das ist so ein schöner und seltener Vorname. Aber nein, sie beharrt darauf, ihn zu Minna zu verkürzen. Minna, das klingt so vulgär. Und ständig zieht sie über meine Pfunde her!

Ich gebe ja gern zu, dass ich viel zu übergewichtig bin. Beim Treppensteigen merke ich es ganz deutlich, da wird mir die Luft knapp und mein Herz pumpt wie bei Spitzensportlern während eines Dauerlaufs. Ich schäme mich, wenn ich bei der Kleidersuche nur noch in der Abteilung »Große Größen« fündig werde. Stets bemühe ich mich, meine Röllchen zu kaschieren. Selbst beim Sport trage ich Hängerchen, damit niemand sieht, dass ich schon wieder zugenommen habe. Heute fand ich mein Outfit sehr gelungen. Keine hätte an dem weiten, dunklen Männer-T-Shirt gemerkt, dass ich darunter noch dicker geworden bin. Aber Ellen muss ihren Finger ja in die Wunde legen, immer dahin, wo es am meisten wehtut.

»Eigentlich hatten wir uns ja einmal vorgenommen, Pfunde zu verlieren, oder täusche ich mich da?« Christa säuselt mit ihrer Lispelstimme so laut, dass es jede hören kann. Die ersten Frauen fangen schon an, blöd zu kichern, halten sich gleich darauf die Hand vor den Mund und prusten.

Ich stehe mitten in ihrem Kreis und fühle, wie mir die Schamesröte zu Kopf steigt. Erst bekomme ich hektische Flecken an Hals und Ausschnitt, und dann überzieht sich mein Kopf bis hin zu den Ohren mit einem so tiefen Rot, dass man meinen könnte, ich sei urplötzlich an Scharlach erkrankt. Ich glühe förmlich.

»Tja, nicht jede ist von Natur aus mit einem beeindruckenden Body ausgestattet, aber das sollte doch kein Freischein sein, sich bei der Nahrungsaufnahme ungehemmt gehen zu lassen«, Ellen streicht sich bei diesen Worten über ihre spitz hervorstehenden Beckenknochen. Meine habe ich seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Nicht einmal, wenn ich auf dem Rücken liege, treten sie hervor.

Manchmal weiß ich wirklich nicht mehr, was ich noch tun soll. Ich versuche immer, mich zusammenzureißen, weniger zu essen. Kontrolliere ständig, wie viele Kalorien mein Essen und Trinken hat. Ich glaube, außer mir gibt es niemanden, der auf Anhieb die Kalorien einer durchschnittlichen Kakifrucht nennen könnte. Seit ich denken kann, habe ich die Brennwerte von Nahrungsmitteln zusammengezählt. Wahrscheinlich war ich deshalb schon in der Grundschule im Kopfrechnen so gut.

Dieser Diätwahn fing ja schon an, als ich noch klein war. Meine Mutter behauptet immer, meine Kleider hätten wie Quadrate an der Wäscheleine gehangen. Und das war noch vor dem Triumphzug des Minis.

Ich achte sehr darauf, nicht zu viel Fett oder Zucker zu mir zu nehmen. Aber in meinem Beruf ist das nicht leicht. Ich habe ein winziges Cateringunternehmen. Meistens koche und serviere ich alles selbst, nur bei wirklich großen Anlässen hole ich mir Hilfskräfte dazu. Tja, und da komme ich ums Abschmecken nicht herum.

Das allein ist es natürlich nicht, sonst müssten ja alle Köche Gewichtsprobleme haben. Nur bei mir ist es wie ein Fluch, oft habe ich solchen Heißhunger, da stopfe ich dann Unmengen in mich hinein. Völlig unkontrolliert. Das ist meine schwache Seite. Ich kann nichts dagegen tun. Mein Magen fühlt sich dann wie ein brennender Schlund an, der mit nichts befriedigt werden kann. Britta meint, mir fehle irgendetwas, das Essen sei eine Ersatzbefriedigung, aber ich habe noch nicht herausgefunden, was das sein könnte. Sex ist es jedenfalls nicht! Denn mein Egon findet mich trotz allem attraktiv.

Nach solchen Fressattacken mag ich nicht alles wieder ausbrechen, da würde ich mir ja mit der Magensäure meine schönen Zähne ruinieren. Und so kommt es, dass ich mit jedem Jahr ein paar Rollen mehr mit mir rumschleppe. Sie wachsen an meinem Körper wie Jahresringe an einem Baumstamm.

Egon meint immer, ihm gefallen ein bisschen rundlichere Frauen sowieso besser. Aber mit »ein bisschen rundlich« haben meine Figurprobleme schon lange nichts mehr zu tun.

»Mach dir nichts draus«, raunt mir Britta zu, während sie ihren Arm um meine Schultern legt, »du weißt doch, wie sie ist.« Ihr Mitleid macht alles nur noch schlimmer. Plötzlich spüre ich einen dicken Kloß im Hals, wie früher, wenn die anderen mich fette Kuh nannten und mich nie mitspielen lassen wollten.

Krampfhaft bemühe ich mich, die Tränen zu unterdrücken. Es ist ganz still geworden in unserer Gymnastikhalle.

Selbst Ellen scheint zu merken, dass sie zu weit gegangen ist. »Also, Minna, dein Beerenkompott war wieder einmal eine Wucht! Hubert hat es wie immer verschlungen. Und selbst ich habe ihm nicht widerstehen können. Das kannst du bei meiner nächsten Dinnerparty gern noch einmal auftischen. Habe ich dir schon den Auftrag für kommenden Samstag gegeben?« Ihre Stimme klingt falsch und schrill. Mit dem plötzlichen Lob will sie alles vergessen machen.

So ist das immer. Sie kriegt gar nicht mit, wie sehr sie die Menschen tatsächlich verletzt. Denkt immer, mit einem Auftrag, einem kleinen Geschenk sei alles schnell wieder im Lot. Ich bin sogar überzeugt davon, dass sie uns als Freundinnen bezeichnen würde.

Ich schlucke den Tränenkloß samt meinem Stolz hinunter und versuche ein Lächeln. Schließlich bin ich auf Ellens Aufträge angewiesen. Gerade jetzt, wo in Egons Betrieb die Insolvenz droht und wir noch immer so viele Raten für den schicken Opel abzuzahlen haben.

Nach dem Sport gehen Britta und ich noch etwas trinken. Normalerweise bestelle ich dann immer Wasser. Ein kaltes Glas Wasser führt dem Körper keine Kalorien zu, im Gegenteil: um das Wasser auf Körpertemperatur zu bringen, werden zwanzig Kalorien verbraucht! Aber heute habe ich mich so über Ellen geärgert, dass ich ohne zu überlegen ein Bier bestelle. Noch dazu Weizenbier. Das mag ich zwar am liebsten, aber natürlich macht es auch am dicksten.

»Manchmal könnte ich sie umbringen, diese dürre Zimtziege!«, regt Britta sich auf. Oft genug musste auch sie schon als Zielscheibe für Ellens beißenden Spott herhalten. Britta ist zwar nur etwas füllig, lange nicht so fett wie ich, trotzdem mäkelt Ellen auch an ihrer Figur herum. »Sibirischer Säbelbusen« hat sie Brittas Brüste neulich genannt, nur weil die schon etwas hängen.

Zustimmend nicke ich zu dem wütenden Gezeter meiner Freundin, das gar nicht mehr aufhören will. Sprechen kann ich gerade nicht, ich habe den Mund voller Erdnüsse, von denen uns ein ganzer Teller voll gratis auf den Tisch gestellt wurde.

»Von wegen ihr beeindruckender Body sei naturgegeben, wegschneiden lässt die sich das Fett!«

Ich verschlucke mich fast an meinen Erdnüssen. Das habe ich nicht gewusst! Vor mir tut Ellen immer so, als sei ihr gertenschlanker Körper die Frucht mühsamer Gymnastikqualen. Erst neulich wollte sie mir so einen Hometrainer andrehen, mit dem sie sich angeblich fit hält. Gut, dass ich den nicht genommen habe. Erst hatte sie mich schon so weit, dass ich den Bestellzettel beinahe unterschrieben hätte, aber dann waren mir noch rechtzeitig die hohen Raten für den Opel wieder eingefallen.

»Woher hast du das denn?«, will ich wissen, als ich mich von meinem Hustenanfall erholt habe.

»Na, mein Kurt nimmt doch morgens den gleichen Nahverkehrszug wie Ellens Hubert. Und der beklagt sich dann immer über die hohen Ausgaben, die er durch Ellens übertriebenen Schlankheitswahn hat. Einmal pro Jahr fährt die in die Schönheitsklinik.«

»Und mir hat sie immer erzählt, sie mache Sprachurlaub!«

»Nicht nur dir!«

»Dieses arrogante Miststück! Wir könnten so viel mehr Spaß in der Gruppe haben, wenn Ellen nicht dabei wäre!«

»Manchmal mag ich gar nicht zum Turnen gehen, weil ich Angst vor ihrer spitzen Zunge habe.«

»Wie oft habe ich mir schon gewünscht, ihr möge etwas zustoßen.«

»Nicht nur du!«

Je mehr Bier wir trinken, umso größer wird unsere Wut. Schon halb betrunken malen wir uns die verschiedensten Methoden aus, Ellen ein für allemal den Mund zu stopfen.

Irgendwann sagt Britta einen Satz, den ich nicht mehr vergessen kann: »Es gibt nur deshalb so viele Mörder und so wenig Mörderinnen, weil die Frauen es so gut verstehen, den Verdacht auf die Männer zu lenken.«

An diesen Ausspruch muss ich auch denken, als ich ein paar Tage später für Ellens Dinnerparty in der Küche stehe. Natürlich musste ich den Auftrag annehmen. Ich kann es mir nicht leisten, meine beste Kundin zu verlieren. Leider!

Während ich das Beerenkompott rühre, lasse ich meine Fantasie spielen. Und wenn ich eine Mischung aus Tollkirschen, Vogelbeeren und den perlig schwarzen Früchten des Efeus zu Kompott verarbeitete? Nur so, um ein Ventil für meine Wut zu haben, ich würde das tödliche Kompott ja nie wirklich auftischen …

Ellen sieht merkwürdig blass aus, als sie mir die Tür öffnet. Sie nennt mich bei der Begrüßung sogar Wilhelmine. Ganz komisch klingt das, wenn sie meinen vollen Namen ausspricht.

In ihrer hochglanzpolierten Küche, die genau so eine schöne Abzugshaube aus Stahl hat, wie ich sie mir schon lange wünsche, mache ich mich an die Arbeit. Einige der Speisen habe ich zu Hause nur vorgekocht, auf ihren genauen Garpunkt werde ich sie erst kurz vor dem Servieren bringen.

Ich arbeite allein. Außer ein paar wenigen Tellergerichten wie Suppen und Nachtisch stelle ich das Fingerfood auf ein Büfett. Das ist für eine große Party angebrachter. Die Gäste sollen sich untereinander mischen und nicht den ganzen Abend an ihre jeweiligen Tischnachbarn gebunden sein.

Das riesige Wohnzimmer ist nur mit Kerzen erleuchtet. Überall stehen Windlichter auf dem Boden und Kerzenständer auf Tischen und niedrigen Regalen. Aus der Anlage klingt Nina Simones brüchig-raue Stimme, die ich so liebe. Aber ich habe keine Zeit, ihren Klagen über eine verflossene Liebe zu lauschen, ich muss ja noch das Kompott servieren.

Mitten durch eng aneinandergeschmiegte Pärchen bahne ich mir meinen Weg. Das ist immer so auf Ellens Partys, gegen Ende geht das Geschmuse los. Einmal habe ich sogar zwei Männer auf der Gästetoilette am Eingang erwischt, die muss ich nämlich auch benutzen, obwohl es von der Küche aus viel näher zum unteren Bad wäre.

Beinahe fällt mir die große Schüssel mit dem Beerenkompott aus den Händen! Ich blinzele mehrmals, kann nicht glauben, was ich da hinter dem hochgewachsenen Gummibaum sehe! Hubert, Ellens Hubert, steht ganz dicht hinter einer fülligen Blondine und greift ihr von oben ins üppige Dekolleté! Und wenn diese Blondine nicht eine ganz neue, außerordentliche Brustgymnastik kennt, dann sind das Huberts Finger, die sich da unter dem arg gespannten Kleiderstoff auf und ab bewegen …

Schnell stelle ich das Kompott ab und gehe langsam zurück in Richtung Küche. Ich bin ganz aufgeregt. Soll ich Ellen etwas sagen? Jetzt könnte endlich einmal ich über sie spotten. Da fummelt ihr Hubert tatsächlich an einer Frau herum, für deren üppige Formen die spindeldürre Ellen nur Spott übrig hätte.

Was ist das denn? Ein komisches Geräusch dringt durch die halb geöffnete Badezimmertür an meine Ohren. Es klingt fast wie unterdrücktes Schluchzen. Vorsichtig stoße ich die Tür einen Spalt weiter auf.

Auf dem breiten Rand der Badewanne, ein Sondermodell für zwei Personen mit Massagedüsen, sitzt Ellen und presst ihr Gesicht in ein flauschiges Frotteehandtuch. Ihre Schultern zucken, so als weine sie.

»Ellen?« Ich nähere mich ganz vorsichtig, berühre leicht ihren bebenden Rücken. Bei ihr weiß man ja nie, wie sie reagieren wird. Sie könnte mir jetzt in die Arme fallen, genauso gut könnte sie mich zum Teufel jagen.

»Oh, Wilhelmine!«, schluchzt sie laut auf und zu meinem großen Erstaunen wählt sie die erstere Reaktionsmöglichkeit.

Etwas widerwillig halte ich sie, eigentlich ist sie ja nach wie vor die Frau in meinem Bekanntenkreis, die ich, gelinde gesagt, am wenigsten mag. Jede Rippe drückt sich durch ihr eng anliegendes Kleid durch. Wie bei einem zu schnell gewachsenen Teenager fühlt sich das an. Ich kann nicht anders, eine Welle von Mitleid durchflutet mich. Ich bin eben der echte Übermamatyp. Mein Herz tropft sofort voller Mitgefühl, wenn ich einem Lebewesen in Not begegne, selbst wenn es sich bei diesem Lebewesen um meine bis dato einzige Erzfeindin Ellen handelt.

»Er will sich von mir trennen!«

Für einen Moment glaube ich, falsch gehört zu haben. Dass Hubert kein Kostverächter ist, wusste ich ja schon von anderen Partys, selbst wenn ich ihn bislang noch nie so in flagranti erwischt hatte wie heute. Zu dicht getanzt hat er schon des Öfteren mit anderen Frauen. Aber Ellen und Hubert? Das ist doch eine Institution! Eine dieser Ehen, die wir anderen uns immer als Vorbild nehmen, wenn es daheim mal wieder lautstark zugeht. Nicht einmal einen Krach hat es bei denen gegeben. Und da soll Hubert sich trennen wollen?

»Heute kamen die Papiere mit der Post. Stell dir vor: er hat alles hinter meinem Rücken organisiert. Ich habe gar nichts gemerkt, und plötzlich flattern die Scheidungspapiere ins Haus.«

Dass Ellen nichts gespürt haben will, wundert mich wenig. Sie bemerkt die Gefühle anderer ja höchst selten, weil sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Wahrscheinlich hat sie Hubert wieder einmal einen neuen Nagellack vorgeführt, als der versuchte, ihr klarzumachen, wie schlecht es um ihre Ehe bestellt ist.

Oberflächlich und egoistisch ist sie. Trotzdem komme ich nicht umhin, ihr sanft über die blond gefärbten Locken zu streichen.

»Lass das doch!«, schnauzt sie mich an. »Du ruinierst ja meine Frisur!«

Ich werde sofort stocksteif und will mich abwenden.

»Oh, Wilhelmine, es tut mir leid, bitte entschuldige, ich habe es nicht so gemeint! Bleib bitte da! Bitte!« Ellens flehender Blick hält mich zurück. »Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll«, ihre Stimme ist wieder zu einem Flüstern geworden. »Er will, dass ich ausziehe! Weißt du, dass wir Gütertrennung haben?«

Natürlich wusste ich das bislang nicht. Vor uns anderen hat Ellen ja immer die reiche Dame gemimt. Frau Perfekt, ohne Figurprobleme und mit einem Haufen Geld zum Verprassen. Während uns über Ratenzahlungen graue Haare wuchsen, war Ellens einzige Sorge ein abgebrochener Fingernagel gewesen. Dass sie aus einfachen Verhältnissen stammt, das wusste, glaube ich, jede, aber bislang meinte sicher nicht nur ich, dass Ellen mit ihrer Heirat ein für allemal ausgesorgt hatte. Wie man sich doch vom Augenschein täuschen lässt!

Ihr zerbrechlicher Körper bebt noch immer in meiner Umarmung. »Wenn er damit durchkommt, dann stehe ich nach fast zwanzig Jahren wieder auf der Straße, mit nichts als meinem Kleiderkoffer in der Hand …«

Ellens Kleider sind sicher mehr wert als mein gesamter Hausstand, trotzdem finde ich es ungerecht. Sie war Hubert in all den Jahren eine treue Frau, sorgte dafür, dass sich seine Geschäftsfreunde immer wohl bei ihnen fühlten. Selbst ihr übertriebener Schlankheitswahn hängt sicher damit zusammen, dass sie für ihren Mann attraktiv bleiben wollte.

Sie tut mir leid. Das hätte ich nicht geglaubt, dass es einmal eine Situation geben würde, in der ich mich Ellen überlegen fühle.

»Reiß dich zusammen, Ellen, noch ist nicht alles verloren!«

Ich muss sie förmlich aus dem kleinen Bad in die Küche zerren. Da braue ich uns einen ganz starken Kaffee. Während ich an der heißen Flüssigkeit nippe, schiebe ich sämtliche Zweifel, die ich noch habe, beiseite.

»Ellen«, sage ich, während ich mir ein paar Gummihandschuhe überstreife und dann in meinem Korb nach der kleinen Tupperdose mit dem besonderen Beerenkompott suche. »Das habe ich eigentlich für dich gekocht«, gestehe ich, dabei drücke ich ihr die Dose in die Hand. »Aber du musst mir glauben, dass ich es dir nie wirklich gegeben hätte. Deshalb stand es ja auch noch in meinem Korb.«

Ellen versteht gar nicht, was ich ihr sagen will. Sie schaut mich nur aus weit aufgerissenen Augen an.

»Das ist jetzt deine letzte Chance«, sage ich, nehme ihr das Kompott wieder ab und stelle die kleine Tupperdose in den Kühlschrank. »Du packst jetzt einen Koffer, heute Nacht schläfst du bei uns!«, bestimme ich.

Es ist, als hätten wir die Rollen vertauscht. Ellen tut brav, was ich ihr befohlen habe. Unterdessen räume ich in der Küche auf. Die übrig gebliebenen Speisen, die sich problemlos ein paar Tage halten, stelle ich zu dem Beerenkompott in den Eisschrank. Aber ich ordne die Reste so, dass die kleine Tupperdose ganz vorn zu stehen kommt. Hubert wird sie dort sicher in den nächsten Tagen finden.

Mein Kompott war ausgezeichnet, das bestätigte später jeder der Gäste. An der Tupperdose mit den tödlichen Beerenfrüchten ließen sich neben meinen auch Ellens Fingerabdrücke finden, obwohl die gar keinen Grund gehabt hätte, diese Dose anzufassen. Es sei denn, sie wollte etwas beifügen, ein Gift. Sie ist in den Augen der Polizei übrigens auch die Einzige mit einem Motiv.

»Ich muss schon sagen, etwas merkwürdig kam es mir ja vor, als sie so unbedingt darauf bestand, dass ich Beerenkompott serviere. Meinen Sie, sie wollte den Verdacht auf mich lenken?« Fragend schaue ich zu dem Kommissar auf, direkt in seine Augen. »Mögen Sie noch ein paar Kekse?« Ich schiebe ihm die Dose mit meinen Schokoladenherzen näher hin. Dankbar nimmt er gleich mehrere. Sicher lebt er allein und kommt nicht oft in den Genuss von Selbstgebackenem. »Und dass sie an jenem Abend unbedingt mit zu uns kommen wollte, war auch sonderbar«, vertraue ich ihm an, während ich uns beiden Kaffee nachschenke. »Wir sind ja nicht gerade die besten Freundinnen, ganz im Gegenteil!«

Das Motiv

Das rote Auto war irgendwie merkwürdig geparkt. So nah am Bach als ob es ins Rutschen gekommen wäre und nur wie durch ein Wunder kurz vor der steilen Böschung zum Halt gekommen war. Seine Schnauze hing gefährlich weit über die felsigen Ufer des Nonnenbachs. Beide Türen standen offen. So ließ doch kein Spaziergänger seinen Wagen stehen. Ich hatte eigentlich noch eine halbe Stunde in meinem endlich gefundenen Rhythmus weiterjoggen wollen, aber das komisch abgestellte Fahrzeug weckte meine Neugier. Vielleicht war ja doch jemand ins Wasser gerutscht und brauchte nun Hilfe.

Der Bach war für gewöhnlich kein gefährliches Gewässer, aber nach dem beständigen Dauerregen der letzten Tage drängten sich nie gesehene Fluten zwischen seinen Ufern. Das konnte unvorsichtigen Wanderern schnell zum Verhängnis werden. Schon von Weitem war ungewohnt heftiges Gurgeln zu hören. Es hatte mich zunächst irritiert, weil ich es nicht gleich erkannte. Das Rauschen der wild ins Tal stürzenden Wassermassen mischte sich unter die quaddernden Laute, die meine Turnschuhe auf dem feuchten Waldboden verursachten. Ich hinterließ eine schnell wieder verschwindende Spur winziger Tümpel. Überall tropfte es von Ästen und Zweigen. Schon seit Tagen roch der ganze Wald modrig.

Ich kam oft hier vorbei, aber so hatte ich den Nonnenbach noch nie gesehen. Neugierig blickte ich in das offene Auto. Merkwürdig, sogar der Schlüssel steckte noch. Plötzlich beschlich mich ein ganz komisches Gefühl. Ich bin eigentlich kein Angsthase, aber so allein im Wald, bei einem offensichtlich in Eile verlassenen Wagen, wurde mir mulmig.

»Hallo!«, rief ich zögernd in Richtung der Kiefernschonung, die am anderen Ufer des Baches begann. Ich selbst stand unter hoch gewachsenen Buchen, da konnte sich niemand gut verstecken, aber unter den dunklen Nadelbäumen war das etwas anderes. Vielleicht saß da ja jemand und beobachtete mich? Furcht schlug ihre Krallen wie ein Raubtier in meine Seele.

Ich räusperte mich. »Hallo, ist da wer?«, rief ich nun etwas lauter. Wenigstens meiner Stimme sollte man die Angst nicht anmerken können. Ich lauschte angestrengt, aber alles, was ich hören konnte, waren die ständigen Tropfen, die um mich herum fielen. Plötzlich meinte ich ein Knacken von dicht hinter mir zu vernehmen. Schnell drehte ich mich um. Ein Eichelhäher schrie und flog dann über die Wipfel der Buchen hinweg. ›Die Polizei des Waldes‹ hatte mein Vater diese Vögel genannt. Sie warnen angeblich alle Tiere vor Eindringlingen. Aber in diesem Fall war ich wohl selbst der Eindringling, vor dem der Häher warnen wollte. Dann war wieder alles ganz still.

Was sollte ich nur tun? Die ganze Sache kam mir sehr sonderbar vor. Vielleicht lief ich doch besser zurück nach Escherding und benachrichtigte zumindest den Förster. Den musste das doch interessieren, wenn da ein verlassenes Fahrzeug in seinem Revier stand. Es war ja sowieso verboten, mit Privatwagen in den Wald zu fahren. Nur Forstfahrzeuge dürfen die Schotterwege benutzen, das steht doch dick und fett unter den runden, roten Verbotsschildern.

Gerade wollte ich loslaufen, da hörte ich es. Ganz dünn, von weit weg und wie mit vorgehaltener Hand gerufen: »Hilfe!« Ich konnte nicht genau ausmachen, von wo die Stimme kam. Es war ein Kind oder eine Frau, die da rief. »Ja, hallo! Wo sind Sie denn?« Ich rief jetzt so laut ich konnte. Wahrscheinlich versuchte ich, gegen meine innere Unruhe anzuschreien. Erst war wieder alles still. Die Minuten vergingen. Ich dachte schon, ich hätte mir den ersten Ruf nur eingebildet, dann hörte ich es wieder: »Hilfe!«, so schwach, als wäre die betreffende Person schwer verletzt.

Diesmal hatte ich zumindest die Richtung geortet, es kam tatsächlich aus der Schonung vom anderen Ufer. Wie sollte ich denn nur den Nonnenbach überqueren? Um Hilfe zu holen war es vielleicht schon zu spät, ich konnte doch jetzt nicht bis zum Forsthaus zurückjoggen, wenn unter den Kiefern vielleicht jemand im Sterben lag.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Vorsichtig näherte ich mich dem Rand der Böschung. Überall wuchsen Brombeerranken. Dazwischen blitzte der nackte, rissige Fels auf. Ich lehnte mich so weit es ging über die Ranken. Der Bach sah gefährlich aus. Schäumend schoss er gegen hervorstehende Steine, unterspülte Wurzeln, er war zu einem richtigen Wildwasser geworden. Da würde ich nie mit heiler Haut rüberkommen.

Ich schaute mich um. Nicht weit bergauf war eine Buche vom Sturm umgerissen, die bildete fast so etwas wie eine natürliche Brücke. Da müsste ich mühelos über das Wasser kommen.

Der Stamm des großen Baumes war so unglücklich gefallen, dass seine Nordseite nach oben zu liegen gekommen war. Sie war über und über mit glitschigem Moos bewachsen. Vorsichtig balancierte ich dem anderen Ufer entgegen, setzte Schritt um Schritt nur zögernd, wie eine Seiltänzerin, und erst, nachdem ich die Borke auf ihre Glitschigkeit hin geprüft hatte.

Es kam mir vor als bräuchte ich Stunden, um allein bis zur Mitte des Nonnenbaches vorzudringen. Seit dem letzten, halb erstickten Ruf hatte ich nichts mehr gehört. Ob die Frau wohl noch lebte?

Ich war zu dem Schluss gekommen, dass es eine Frau sein musste, ein Kind konnte schließlich nicht mit dem Auto gekommen sein. Die Person war offensichtlich allein, denn sonst wäre sicher schon Hilfe da. Aber warum standen beide Türen des Wagens offen?

Vor der Schonung blieb ich stehen. »Hallo! Wo sind Sie?«

»Hier! Hilfe!«, kam es zittrig aus dem Dickicht tief hängender Kiefernzweige. Ich musste da rein, mitten in den dunklen Wald, der etwas Bedrohliches ausströmte. Die Zweige kratzten mir über Hände und Wangen, verfingen sich in meinen langen Haaren. Die hatte ich zwar zu einem Pferdeschwanz am Nacken gebunden, aber geflochtene Zöpfe wären hier besser gewesen.

Es war dunkel unter den Kiefern. Ich musste mich bücken, um überhaupt vorwärtszukommen. Hin und wieder rief ich nach der Frau. Sie antwortete jetzt immer noch wie erstickt, aber doch mit so etwas wie Hoffnung in der Stimme. Und plötzlich sah ich sie: ein Bündel Mensch, völlig zusammengeschnürt. Über Kopf und Rumpf hatte ihr jemand einen Sack gestülpt, so einen wie er früher auf dem Feld bei der Kartoffelernte zum Einsatz gekommen war: braun und locker genug gewebt, dass man hindurchschauen konnte. Ihre Hände waren auf dem Rücken mit einem dicken Strick zusammengebunden. Ihre Beine lagen in einer Senke unter trockenen Kiefernnadeln begraben.

Sie zuckte zusammen, als ich ihre Schultern berührte. »Keine Angst, haben Sie keine Angst«, flüsterte ich behutsam, während ich versuchte, die Knoten, die den Sack mit ihren Fesseln verbanden, zu lösen.

»Ist er noch hier? Er muss noch irgendwo hier sein!«

Panik klang aus ihren Worten, übertrug sich auf mich. Um Gottes Willen, wenn der, der die Frau so verschnürt hatte, nur auf mich gewartet hatte? Nervös fummelte ich an dem dicken Strick herum. Meine Finger waren von der Nässe und Kälte völlig klamm. So würde ich die Frau nie befreien können.

»Ist er noch hier?« flüsterte sie wieder.

»Keine Angst, seien Sie ganz ruhig. Niemand ist hier außer mir.« Ich sprach entgegen meiner Furcht laut und mit fester Stimme. Sollte sich der Verrückte noch in der Nähe herumtreiben, sollte er wenigstens nicht die Genugtuung haben, meine Angst zu spüren. Keine Furcht zeigen ist in der Wildnis das oberste Gebot, das hatte mir mein Vater von klein auf beigebracht.

Der Gedanke an meinen Vater beruhigte mich. Das war schon früher so gewesen. Wenn ich abends allein im Bett lag und mich vor Hexen oder Drachen fürchtete, hatte ich nur an meinen Vater denken müssen und alles war gut. Ich bin ohne Mutter aufgewachsen, eine unaufhörliche Flut unertragbarer Kindermädchen hatte mich betreut, während mein Vater auf Reisen war. Wenn er daheim war, verbrachte er jede freie Minute mit mir. Übertrug seine Liebe zur Natur auf mich. Bläute mir Grundregeln ein, wie die, nie ohne Taschenmesser in den Wald zu gehen.

Das war’s, das Taschenmesser! Warum war ich nur nicht früher darauf gekommen? Jetzt war der dicke Strick überhaupt kein Problem mehr!

Ich schnitt die Fesseln durch, zerrte den Sack weg und blickte der Frau zum ersten Mal ins Gesicht.

Sie sah jung aus. Jung und unglaublich zerbrechlich. Ihr linkes Auge war hinter blau und rot gefärbten, völlig verquollenen Lidern verschwunden, unter der Nase klebte angetrocknetes Blut. Mit dem rechten Auge betrachtete sie mich furchtsam. Sie wirkte wie ein in die Falle gegangenes Rehkitz.

»Können Sie sich bewegen? Sind Ihre Arme und Beine in Ordnung?« Ich tastete sie ab. Es schien alles ganz zu sein, keine Brüche jedenfalls. Wahrscheinlich litt sie nur unter Durchblutungsstörungen. So verschnürt wie ich sie gefunden hatte, musste ihr ja jegliches Gefühl in den Gliedmaßen abgestorben sein.

»Sind Sie in Ordnung?«, fragte ich sie noch einmal.

Sie blickte mich immer noch starr aus ihrem rechten Auge an, so als verstehe sie nicht, was ich sagte. Ganz ohne Vorwarnung begann sie plötzlich zu schluchzen. Ihr ganzer Körper schüttelte sich unter einem wilden Heulkrampf. »Er wollte mich umbringen! Er hätte mich hier einfach liegen lassen!«

Es ist immer wieder unglaublich, wozu Menschen in der Lage sind. Da reicht es schon, einfach nur die Nachrichten zu gucken. Aber wenn einem selbst die Bestie im Menschen begegnet, von Angesicht zu Angesicht, das ist mit nichts zu vergleichen. Es ist furchtbar. Es raubt jede Basis. Alles, woran man je geglaubt hat, verschwindet. Oft sogar für immer.