Blaue Schatten - Christian Moser-Sollmann - E-Book

Blaue Schatten E-Book

Christian Moser-Sollmann

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Beschreibung

Die taffe Wirtschaftsjournalistin Marlies verliebt sich bei einer ihrer Recherchen in Lebemann Tom. Als Barchef, Freizeitdealer und Frauenheld ist dieser auch mit Mitte 40 noch blendend im Geschäft. Täglich läutet es an seiner Tür und jeder will etwas von ihm: Lisi, seine Lieferantin, Dealerfreund Johannes, Erna, die Studentin von letzter Nacht und Kunden, Kunden über Kunden. Trotz chronischer Schmerzen und jeder Menge Paranoia windet sich Tom durch allerlei Querelen, Engpässe und Komplikationen, während er die Szene jahrelang mit Gras versorgt. Doch plötzlich gerät sein Partyidyll ins Visier der Drogenfahndung und damit einhergehend rutscht er in eine Abwärtsspirale aus Halbwelt, Drogen und Sucht.

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Christian Moser-Sollmann

BLAUESCHATTEN

ROMAN

Dachbuch Verlag

1. Auflage: Mai 2019

Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien

eISBN 978-3-903263-10-9

Copyright © 2019 Dachbuch Verlag GmbH, WienAlle Rechte vorbehalten

Autor: Christian Moser-Sollmann

Lektorat: Nikolai Uzelac

Satz: Daniel Uzelac

Umschlaggestaltung: tbitdesign/fiverr.com

Umschlagfoto: Johannes Domsich

Druck und Bindearbeiten: Rotografika, SuboticaPrinted in Serbia

Besuchen Sie uns im Internetwww.dachbuch.at

Denn die Seele geht vom Tag zur Nacht, wie die Erde

Antonin Artaud, Mexiko

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

1

Tom wachte auf, als es dämmerte. Im Schlafzimmer war es wegen eines geöffneten Fensters bitterlich kalt. Er ging pissen, trank drei Halblitergläser Wasser ohne abzusetzen und spürte ein Stechen in seiner Schulter. Beim Trinken bemerkte er Abschürfungen auf seiner Hand. Seine Lippen waren taub und geschwollen, auch mit seiner Nase stimmte irgendetwas nicht. Er hatte von blauen Elefanten geträumt. Seine Freundin Barbara lag nicht neben ihm. Sie hatten gestritten, so viel reimte er sich zusammen. Das war nicht ungewöhnlich. Beim Feiern krachten sie regelmäßig aneinander. Sie übernachtete dann bei ihrer Schwester, in ihrer alten Wohnung oder sonst wo und kam wieder. Nichts, worüber Tom weiter nachdachte. Er ging ins Bad und sah in den Spiegel. Aus der Nase quoll verstocktes Blut und er hatte eine Schramme auf der Stirn. Er musste gefallen sein. Was ihn mehr als sein Gesicht irritierte, war die mittelschwer beschädigte Tür zum Wohnzimmer. Warum war die so lädiert? Tom dachte angestrengt nach. Er hatte keine Ahnung, wie er heimgekommen war und versuchte sich an die Einzelheiten der vergangenen Nacht zu erinnern. Er blickte auf die Uhr, es war 19.30 Uhr. Alles hatte gestern ganz harmlos begonnen…

Nach Dienstende begann er zu trinken, als er auf dem Sofatisch das Handy von Barbara liegen sah. Er konnte dem Drang nicht widerstehen, ihre WhatsApp-, Messenger- und SMS-Nachrichten zu durchforsten. Bei einer Nachricht blieb er sofort hängen: »Bless you, Noah.« Was war denn das für ein Schwachsinn? Wer schrieb ihr so einen Quatsch? Was sollte das überhaupt bedeuten? Wer eine SMS mit einer solch heuchlerischen Allerweltsformel beendete, war für Tom nicht ernst zu nehmen. Und besaß einen zweifelhaften Musikgeschmack oder hörte Reggae. Wahrscheinlich sogar beides. Tom überlegte weiter. Noah, welcher Noah? In seinem Umfeld gab es keine Personen mit alttestamentarischen Namen. Er war prinzipiell weder eifersüchtig noch neugierig, aber das merkwürdige Verhalten seiner Freundin machte ihn misstrauisch. Barbara war seit kurzem freundlich und verabredete sich ständig mit ihrer älteren Schwester. Immer häufiger verbrachte sie ihre Abende mit ihr. Diese innige Schwesternbeziehung war neu. Da musste ein Mann dahinterstecken!

Barbara liebte ihr Telefon, niemals ließ sie es unbeaufsichtigt. Da sie es aber vergessen hatte, konnte Tom endlich einmal ungestört in ihrem Privatleben schnüffeln. Zuerst zögerte er, weil er erschöpft und müde war von seiner Arbeit. Er hatte in den letzten zwölf Stunden 720 Kaffees zubereitet, 400 Mineral verkauft, 120 Proseccos und sicher an die 500 kleine Biere. 27 Jahre körperliche Arbeit in der Spitzengastronomie hatten ihn gelehrt, seinen Bewegungsapparat sorgsam einzusetzen. Schlussendlich aber siegte die Müdigkeit über die Neugier – bald schon hatte Tom sämtliche Textnachrichten durchforstet und die Liste der eingegangenen Anrufe studiert. Bis auf die seltsame Bless-you-Abschiedsfloskel hatte er nichts Verdächtiges gefunden: Tratsch mit Freundinnen und der Schwester, Streitereien mit ihrer Mutter, Bettelbriefe an den gut verdienenden Vater mit dem schlechten Gewissen sowie häufige Krankmeldungen wegen Unpässlichkeit bei ihren zwei Arbeitgebern; bei ihrem Lebenswandel unvermeidlich.

Tom ging ins Bad, reinigte sich mit Zahnseide sorgfältig die Zahnzwischenräume und roch dabei abgewürgte Zigaretten und den fahlen Hansl. Kalter Rauch, abgehangene Erinnerungen, wahr im Augenblick und gut. Dämmern und konzentrierte Ruhe wechseln sich ab im Rausch, philosophierte Tom. Die Taschen schmerzten weniger, wenn er regelmäßig einen Faden durch die Zahnzwischenräume zog. Er war geduscht, hatte frische Jeans an und legte sich auf die Couch. Erneut studierte er die beunruhigende SMS: »Hoffe, wir sehen uns beim Lee Scratch Perry Konzert. Bless you, Noah.« Je öfter er die Textnachricht las, umso rätselhafter erschien sie ihm. Den Dub-Reggae-Pionier kannte Tom. Aber wer war Noah? Einer ihrer unzähligen Reggaebekanntschaften? Wenn jemand Reggae hörte oder Dreadlocks trug, am besten beides, hatte er Startvorteile bei Barbara. Selbst Tom war mittlerweile unfreiwilligerweise Reggae-Experte. Ständig schleppte Barbara ihn auf Reggaekonzerte. So gut es ging, vermied er es, mitzugehen. Die dort vorherrschenden Schwingungen – oder »Vibes«, wie sie es mit gekünstelter, leicht affiger Aussprache nannte – machten ihn unterschwellig aggressiv. Neben schwarzen Zuwanderern aus Afrika, die Jamaikaner imitierten, tummelten sich dort weiße Wiener mit Dritte-Welt- und Kolonialismus-Komplex. Die schämten sich alle für ihr Leben. Das einzig Erträgliche an dieser Szene waren die Rastas. Die ruhten in sich selbst. Tom ignorierte bei solchen Besuchen Gäste und Musik, beschränkte sich aufs Feiern. Ihn nervte Barbaras Musikgeschmack, sie hörte ausschließlich Roots-Reggae. Sie fühlte sich der Szene verbunden und empfand Reggaehörer als auserwählte Gruppe, als Erleuchtete, als eingeschworenen Haufen Gleichgesinnter. Dieses vermeintlich Elitäre erheiterte ihn; Barbara gab sich besonders elitär. Selbst Dancehall oder moderne Spielarten dieses Musikstils akzeptierte sie nicht. Immer nur dieser fragwürdige Katalog außer Streit gestellter und kanonisierter Klassiker. Ständig spielte sie die gleichen zehn Tonträger. Barbara kultivierte Hörvorlieben, die sich weder biografisch noch mit aktuellen Trends erklären ließen, zudem war sie launisch, zickig, ungebildet, oberflächlich und illoyal. Ihre körperlichen Vorzüge wogen diese unbedeutenden Nachteile für Tom allerdings mehr als auf. Ein winziger Hintern, den sie gerne in Micro-Minis verpackte, superheldinnencomichaft aufgeblasene Brüste, lange, glatte, dunkelbraune Haare, je nach Tageslaune mit Mittelscheitel oder zum Dutt gebunden. Angorakatzenartige, grün-braune Augen, die abwechselnd strahlten oder spöttisch funkelten, wenn sie Tom verarschte, rechtfertigten seine sporadischen Besuche geschmacklich fragwürdiger Reggae-Hochämter. So lange sie ihn wollte, konnte sie hören, was immer sie mochte.

Zwei, drei Jahre führten sie schon eine Beziehung. Dieses Wort war aber unpassend für ihre Art des Zusammenlebens. Verliebt war er nie gewesen. Barbara scherzte gerne auf seine Kosten und er erahnte das Ablaufdatum ihrer Lebensgemeinschaft. Sie wohnte bei ihm, betrat ihre eigene Wohnung oft Monate nicht. Er kochte, sie bügelte seine Arbeitshemden, gemeinsam tranken sie. Beim Feiern verfügte Barbara über erstaunliches Talent. Acht Bier prügelte sie in ihren dünnen 1,75-Meter-Körper ohne zu wanken, wofür ich sie beneidete. Diese für ihren mädchenhaften Körperbau beachtlichen Mengen schoss sie sich mehrmals wöchentlich rein. Solche Mengen hätte ich als Frau nie vertragen. Sie trank zu viel; zu Hause am Sofa, in Bars, auf Reggae-Festen oder sonstigen Clubnächten, wenn sie ausging. Wie bei ihrem Musikgeschmack, hatte sie auch beim Ausgehen erklärungsbedürftige Vorlieben. Sie nahm alle Arten von Drogen und liebte Alkohol, nur Kiffen verabscheute sie. Und das als Reggaehörerin.

Toms Vorlieben waren musikalisch und feiertechnisch breiter gestreut. Seine Gewohnheiten waren einfach: er trank, rauchte und aß alles. Nur beste Qualität, nie zu viel. Auch mit 45 blieb Feiern sein Lebensinhalt. Mit 14 hatte er zu feiern begonnen und, bis auf eine Trinkpause von acht kärglichen, eintönigen und einsamen Jahren, nie damit aufgehört. Saufen war die Basis und Drogen der Ausgleich für sich endlos ziehende Arbeitswochen. Weichmacher aller Art tapezierten sein Arbeiterleben samtrot.

Tom kontrollierte seine Eskapaden trotz 60-Stunden-Woche. Routiniert pendelte er zwischen hinter der Bar und vor der Bar. Er führte das Leben, welches er sich als Jugendlicher erträumt hatte. Er lebte mehr Rock ’n’ Roll als jeder Popgott mit Ausnahme von George Michael, Jimmy Somerville und Ol’ Dirty Bastard. Tom führte ein Starleben, nur ohne Tonträger aufzunehmen und Autogramme zu schreiben.

Mehr Geld zu verdienen als zu versaufen und niemals zu buckeln waren seine zwei einzigen Prinzipien, die er nie verriet. Wer von ihm was wollte, musste kommen. Er arbeitete hinter der Bar. Diese Grenze war ihm heilig. Wegen seiner ausufernden Lebensweise streikte gelegentlich seine Erinnerung. Tom vergaß Sachen oder erzählte wieder und wieder die gleichen Geschichten. Er nannte seine Erinnerungslöcher scherzhaft Feiervergesslichkeitsringe. Als Gedächtnisstütze half meistens ein Joint, also zog er an. Das THC führte ihn verlässlich auf die verborgenen Pfade seines Lebens. Doch er grübelte vergeblich. Beim Namen Noah fiel ihm nur die Geschichte mit der Arche ein. Mit Bibelsprüchen protzten Reggae-Jünger häufig, überall witterten sie die Hure Babylon. Bestimmt hatte ihm Barbara Noah sogar irgendwann einmal vorgestellt. Bei seinem Lebenswandel konnte er sich unmöglich alle Gesichter und Namen merken, die ihm die Nacht vor die Nase spülte.

Noah, dieser lächerliche Name war sicher ein selbst gewählter Spitzname. Im echten Leben war der Typ sicher ein Großbürgerkind mit Eigentumswohnung und studierte im 15. Semester Wirtschaft, internationale Entwicklung oder ein ähnlich sinnloses Fach. Berufskinder aus den Nobelbezirken Döbling und Währing nahmen sich milieubedingt gerne eine kurze Auszeit aus ihrem Dasein und imitierten dann die Bräuche der Unterschicht. Meistens scheiterten sie dabei, sich zu vergnügen und waren selbst zum Feiern zu feige. Nach ein, zwei Jahren besannen sie sich auf ihre Herkunft, arbeiteten als Rechtsanwälte, Banker oder Lehrer, gründeten Kleinfamilien und zogen in kernsanierte Altbauwohnungen mit Balkon. Nur die Niederträchtigsten zogen nach Niederösterreich in den Speckgürtel. Niederösterreich war Toms Erfahrung nach weit vor Vorarlberg, Oberösterreich und Tirol das verkommenste Bundesland Österreichs. Warum hasste Tom Niederösterreich nur so? Vor allem wegen Barbara. Tom überlegte weiter: Ein Versager, der sich Noah nannte, konnte unmöglich ein Schwarzer sein. Die afrikanische Gemeinschaft in Wien war zwar auf 20.000 Menschen angewachsen und auf den Reggae-Festen, wo ihn Barbara hinschleppte, waren vier von fünf Gästen schwarz. Die Zuwanderer verhielten sich ähnlich beschränkt wie die Wiener Bürgerkinder. Aber sie verschonten Tom mit ihren Lebensweisheiten und politischen Meinungen. Die Zuwanderer suchten in der Diaspora dasselbe wie er: Entspannung, Weiber, Rauch und Tanz. Nur die Bürgerkinder adelten Reggae zu einem politischen Widerstandsakt.

Tom leerte weitere Dosen Puntigamer, um seinen Ärger abzudämpfen, während er auf Barbara wartete. Um Barbara auskunftsfreudig zu stimmen, hatte er eine Flasche burgenländischen Blauburgunder geöffnet, er wollte den Wein atmen lassen, und Spaghetti Puttanesca mit extra Kapern gekocht. Von seiner Küche aus sah Tom direkt zum Riesenrad. Er ist noch nie mit dem Wiener Wahrzeichen gefahren, beobachte nur gelegentlich gerne dessen gemächliche Umdrehungen vom Küchenfenster aus. Vor zwölf Jahren ist er in die Heinestraße gezogen, nur wenige Häuserblöcke entfernt vom Gasthaus »Hansy«. Schon bei der Besichtigung stach ihm das Riesenrad als erstes ins Auge. Die Wohnung im zweiten Stock war abgewohnt, hatte aber drei große Zimmer, einen geräumigen Balkon für seine Pflanzen, einen Lift und war teilmöbliert, was ihn, weil er überstürzt aus Innsbruck abgereist war und einen Schlafplatz brauchte, sofort überzeugt hatte, die Wohnung zu mieten. Diese als Übergangslösung geplante Behausung war seitdem sein Zuhause. Die nach wie vor kärgliche Inneneinrichtung unterstrich ihren provisorischen Charakter. Tom hatte die erste Wohnung gemietet, die er in Wien je betrat und diese Entscheidung nie bereut. Barbara hatte er übrigens an seinem Arbeitsplatz kennengelernt, wo sie als Empfangsdame im schwarzen Minirock arbeitete. Nach intensivem Studium ihrer Beine und einigen kollegialen After-Work-Drinks passierte das Unvermeidliche. Von ihren angeblich fabelhaften Beinen hat er mir oft erzählt.

Während Tom den Knoblauch für die Puttanesca dünstete und frische Minitomaten viertelte, stimmte er sich auf ein gemütliches »falsches Wochenende« ein. Es war Sonntag, darauf folgten also seine zwei dienstfreien Tage. Für die freie Zeit hatte er nichts geplant. Nach dem Essen wollten Barbara und er feiern, eventuell einen Club besuchen, wahrscheinlich aber am Sofa bis in die frühen Morgenstunden weitertrinken. Seine Vorfreude konnte auch diese sonderbare SMS nicht trüben.

Es läutete. Tom ging mit Freizeitschritt Richtung Sprechanlage, drückte ohne zu fragen, öffnete die Tür einen Spalt weit und kochte weiter. Arbeitskollege Dimitri wollte nur schnell seine Monatsration Gras abholen. Mit treuen Stammkunden, wie dem griechischen Wirtschaftsflüchtling, besserte Tom sein Facharbeitergehalt um bis zu 1.000 Euro monatlich auf. Tom mochte die Annehmlichkeiten, die sein Zweitjob in der informellen Dienstleistungsökonomie mit sich brachte. Er stellte den Kochtopf vom Gasherd, holte aus seiner Schatzkammer Waage und Vorratsdose und Dimitri fragte er nach der gewünschten Menge. Um 50. Typisch. Immer diese Minimengen, ärgerte sich Tom. Grasverkaufen war ein Groschengeschäft. Besonders bei paranoiden Kunden wie Dimitri verdiente man praktisch nichts. Kaufte er mehr als fünf Gramm, sah er gedanklich schon die Polizei seine Wohnung stürmen. Oder er fürchtete, seine Freundin könnte seinen Vorrat entdecken und alles ins Klo schmeißen. Tom kannte die Konsumgewohnheiten, Ängste und Wahnvorstellungen seiner Kunden. Er nahm wortkarg eine Handvoll Gras, legte die Buds auf die Waage, gab eine mittelgroße Blüte zurück in die Dose und packte den großen Batzen in ein verschließbares Plastiksäckchen. Geruchsneutrale Verpackungen waren eine Grundvoraussetzung für sein erfolgreiches Geschäftsleben in der Schattenwirtschaft. Frisches Gras hatte nämlich die Unart zu riechen. Der Gestank in Treppenhäusern und U-Bahn-Waggons verriet den Rauchwaren-Liebhaber. Bei ängstlichen Kunden wie Dimitri war eine geruchsneutralisierende Verpackung daher also mehr als nur eine psychologische Vorsichtsmaßnahme. Tom gab seinem Arbeitskollegen das Päckchen und schickte ihn weg; er wollte sein Hirn nicht mit Gesprächen über Lohnarbeit belasten.

Kaum hatte er Dimitri abgewimmelt, klingelte es schon wieder. Tom hörte statt dem vertrauten Klang von High Heels nur ein resigniertes Keuchen. Was war da los? Er wollte den heutigen Tag nicht mit Dealereien verbringen. Das Leben war ungerecht. Während ganz Österreich Freitag und Samstag soff, arbeitete Tom auf Hochtouren bei seinem Nobelitaliener in der Vorstadt und sah in vom Arbeitsleid befreite Gesichter. Wenn er sonntags gegen 17 Uhr endlich heimfuhr, änderte sich jedoch die Perspektive. Dann sah er in mit Ekel vor der kommenden Arbeitswoche gezeichnete Gesichter. Und jetzt sollte er auch noch seine karge Freizeit opfern, um die ganzen Kiffköpfe in seinem Bekanntenkreis zu versorgen? Der Nachteil an »falschen Wochenenden« war offensichtlich: Kaum jemand hatte sonntags und montags Zeit, Lust oder Reserven, um mit Tom zu feiern. Bis auf die üblichen Verdächtigen und einige Kellnerkollegen war die Stadt an diesen Tagen wie ausgestorben. Das Ausgehverhalten der Menschen hatte sich seit der Dauerwirtschaftskrise geändert. Herdentiere und Amateurtrinker feierten nur noch an Wochenenden. Selbst der Donnerstag war wieder zum Herrentag geworden. Sonntag nach zehn war die Hauptstadt Österreichs menschenleer. Die Ausgehgewohnheiten der Wiener kannte Tom seit seinem Quereinstieg in die Gastronomie genau. Die Trinkgewohnheiten seiner Gäste zu studieren, gehörte zu seinen Berufspflichten.

Das Husten und Keuchen gehörten Willi, einem ebenfalls langjährigen Kunden. Willi arbeite als Beamter im Wiener Landesarchiv, war 60 und wartete auf seine Frühpensionierung. Tom hatte ihn beim Arbeiten kennengelernt. Gelegentlich tranken sie gemeinsam Kaffee und unterhielten sich über die richtige Pflege und Wartung von Kaffeemaschinen. Willi quatschte die meiste Zeit, ohne ihm richtig zuzuhören. In den Archiven des Wiener Magistrats verbrachte er zu viel Zeit allein und vernachlässigte als Junggeselle seinen Bekanntenkreis. Der komische, mit seinen strähnigen Haaren leicht verwahrlost aussehende Archivar brauchte hie und da eine Ansprache. Wenn er Tom nicht an seinem Arbeitsplatz besuchte, läutete er spontan und unangemeldet an seiner Wohnungstür. Er kaufte fünf Gramm, erzählte ein paar Nichtigkeiten aus seinem Alltag und verschwand. Willi kaufte nur Gras, um mit Tom zu quatschen. Rauchen sah er ihn nie. Kaum hatte er Willi versorgt und abgewimmelt, läutete es erneut. Der allgemeine Notstand schien ausgebrochen! Sein kleiner Nebenerwerb war nicht planbar. Wann und warum Kunden Lust auf eine Extraportion Gras verspürten, entzog sich selbst Toms ausgeklügelter Warenwirtschaft. Seine Sorge verflog erst beim vertrauten Klang hochhackiger Schuhe. Barbara hatte neben ihrem Handy auch ihren Schlüssel vergessen, das passierte ihr gelegentlich. Bevor sie ihn küsste, öffnete sie den Kühlschrank und schnappte sich eine Dose Bier. Bei ihrer Trinkerei machte sie keine Kompromisse. Sie trank drei große Schlucke, zügig und voller Genuss. Ihr Arbeitstag musste hart gewesen sein. Barbara drehte sich zu Tom und hob den Deckel des Kochtopfs.

»Bist bald fertig? Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen. Du, heute ist eine Goa-Party. Hat mir meine Schwester geschrieben. Reggae-Nacht im Fluc mit Augustus Pablo gäb’s auch noch.«

Ihre Augen lachten erwartungsfroh. Feiertechnisch konnte sich Tom nicht beschweren. Obwohl schon 32, zeigte Barbara noch keine Spuren von Partymüdigkeit. Bei der Freizeitgestaltung stimmten ihre Vorlieben – bis auf vernachlässigbare musikalische Differenzen – völlig überein. Tom klapste ihr auf den Hintern.

»Klar gehe ich mit. Ich hab frischen Speck. Morgen spritzt du die Arbeit. Deine Regelschmerzen quellen dir förmlich aus den Augen.«

Barbara aß einen gehäuften Teller Puttanesca und trank ein zweites Bier. Als Nachspeise servierte Tom zwei Straßen Speed mit zwei abgeschnittenen Strohhalmen. Der blaue für Tom, der rosafarbene für Barbara. Speck, die einzige gute Nazi-Erfindung, das Geschenk findiger germanischer Chemiker an die Menschheit. Von allen Drogen, die er nahm, war ihm arbeitsbedingt nach Gras und Alkohol, Speed die Drittliebste. Für seine Schicht musste er sich manchmal wachdopen. Er fragte sich, warum in Wien Speed alle »Speck« nannten, denn fettig war nichts daran. Weniger stark als Crystal, leistbarer und weniger aufgeblasen als Kokain und festlich-feierlicher als die Alltagsbegleiter Nikotin, Gras und Alkohol. Nach einer Line konnte er klar denken, ruhig und emotionslos über sich und sein Leben reflektieren, trinken, ohne betrunken zu werden, stundenlang ficken, ohne zu kommen und problemlos durchfeiern. Speed überlistete sein biologisches Alter. Tom war Humanist. Er setzte die Droge nur zur Ausdehnung gelungener Feiern und nicht für Endlösungen ein. Er zündete sich eine Gitanes an und Barbara legte ihre Beine auf seinen Schoss. Er streichelte ihre makellosen Oberschenkel, auf die er so abfuhr. Diese Beine waren unbezahlbar, wie er ihr immer wieder versicherte.

»Arg, nur mehr Budweiser und Pilsener Urquell gibt es unter einem Euro in der Dose im Supermarkt, zumindest von den Trinkbaren«, sagte Tom. Er war kein nur der exklusiven Handwerkskunst von Kleinbrauereien verpflichteter Biersnob, Sammler oder Sommelier, er trank nicht nur spontan vergorene belgische Hefen, aber er war Kenner, besaß Berufsstolz und Geschmack. Kaiser, Schwechater und andere Industriebiere verweigerte er.

Auf Goa-Partys hatte Tom nach weiteren sechs Bieren keine Lust mehr. Sie tranken und unterhielten sich ohne Musikuntermalung. Tom besaß eine ansehnliche Plattensammlung, nur streikte sein Verstärker. Bei seinem Arbeitspensum fand er nie Zeit, Sachen reparieren zu lassen. Da Barbara jedoch nur Reggae hörte, störte ihn auch die kaputte Anlage nicht. Tom hatte früher gerne Musik gehört. Durch die Jahre hinter der Bar, ständig einem unerträglichen Geräuschpegel und dem Geschnatter der Gäste ausgesetzt, lernte er Ruhe zu schätzen. Barbara wollte aber Musik hören, um in Partystimmung zu kommen. Sie ging ins Schlafzimmer und holte ihren Laptop, um mit zwei angesteckten Miniboxen dünnen Sound zu erzeugen. Tom seufzte gleichgültig. Dann tranken sie weiter und um zwei kam ihnen die grandiose Idee, auf einen Absacker im Fluc vorbeizuschauen…

Bis zum Aufbruch ins Fluc konnte sich Tom minutiös, aber nicht wörtlich an alle Details jener Nacht erinnern. Aber das war es dann auch schon. Tom hatte keine Ahnung vom Ende der Nacht. Er hatte Bier und Whiskey getrunken, wahrscheinlich mit Barbara gestritten, am Praterstern einen Freak getroffen und mit diesem weitergefeiert. Wo und wie die Nacht zu Ende gegangen war, fiel ihm nicht mehr ein. Die Schramme auf seiner Nase war der einzige optische Hinweis auf die Vorkommnisse.

Drei Tagdienste später saß er noch immer alleine auf seinem Sofa. Barbara war weder aufgetaucht noch hatte sie sich telefonisch gemeldet. Tom beschloss, sie von ihrem Arbeitsplatz abzuholen, um nach dem Rechten zu sehen. Er wollte wissen, was passiert war. Kurz vor Geschäftsschluss stieg er bei der U3-Station Neubaugasse aus und blieb vor dem Eingang des Geschäfts stehen, wo sie arbeitete. Reingehen traute er sich nicht. Barbara verkaufte Biomatratzen und sonstige Waren für Moralkäufer. Die Biodecken kosteten das Dreifache konventionell hergestellter Decken, doch man schlief darin besser. Tom wollte Klarheit und eine Gedächtnishilfe. Sie schrien sich öfters an und es gab gelegentlich ein Handgemenge, wenn er paniert war. Richtig ausgeartet waren diese Streitereien aber nie. Tom war nicht gewalttätig. Nach dem zehnten Auszug folgte der elfte Einzug. Er sah das pragmatisch; Frauen kamen immer zurück, aber diesmal war es umgekehrt. Tom lief ihr nach. Barbara kommentierte sein unangekündigtes Auftauchen abfällig.

»Du, dein Auftritt war jenseitig. Selbst für deine Verhältnisse.«

Er hatte keine Ahnung, worauf Barbara anspielte. »Was für ein Auftritt? Ich kann mich an nichts erinnern.«

»Du hast im Fluc rumgepöbelt, vorm Türsteher eine Flasche auf die Tanzfläche geschmissen, Noah ‚Pissnelke’ genannt und ihn bedroht. Du hast gesagt, wenn er mich kontaktiert oder anbrät, dann sollte er auch wissen, dass ich aus dem vierten Stock gesprungen bin, weil ich nicht arbeiten wollte. Und ich deshalb eine 13 Zentimeter lange Stahlschraube im Rücken habe. Bevor du auf ihn losgegangen bist, haben dich der Aufpasser und die Barfrau gemeinsam beruhigt und heimgeschickt.«

Tom antwortete nicht. Er hatte keine Ahnung, wovon Barbara sprach. Dann verabschiedete sie sich grußlos. War ihre Beziehung jetzt also Geschichte? Und woher hatte er diese verdammten Schrammen? Auch auf die lädierte Tür war sie nicht eingegangen. Wahrscheinlich war er im Suff einfach dagegen gerannt. Die ausufernde Sauferei trübte sein Erinnerungsvermögen, erklärte mir Tom. An den Rausschmiss hingegen erinnerte er sich wieder, als Barbara ihn erwähnte. Er war nachher alleine ziellos umherspaziert. Am Heimweg hatte ihn dann noch ein übrig gebliebener Feierer angesprochen, alles danach war aber ein schneebehangener Wattebausch.

Tom hatte oft solche Aussetzer. Sie kümmerten ihn nicht. Er lebte im Hier und Jetzt. Seine Erinnerungslücken hatten durchaus Vorteile, versicherte er mir. Weil er vergaß, musste er sich für Exzesse und Ausraster nicht schämen. Sein Gedächtnisverlust ersparte ihm Reue und ein schlechtes Gewissen. Mich sorgten seine sporadischen Aussetzer auch nie, weil ich Tom bis auf gelegentliches Einschlafen stets souverän erlebt habe. Blödgesoffen hatte er sich noch nicht. Er arbeitete als ordentlich bezahlte Fachkraft in der Spitzengastronomie. Als Kellner hörte er den ganzen Tag Geschichten und Tratsch. Bei meinen sporadischen Besuchen in seiner Wohnung erzählte er mir seine Best-of-Stories immer wieder, aber das störte mich nicht. Als Wirtschaftsjournalistin mag ich Geschichten. Er war ein begnadeter Erzähler und variierte die Handlungsstränge häufig und je nach Laune und Rauschintensität ein wenig. Mich fesselte weniger der Inhalt als die Art, wie er erzählte. Er lachte laut über seine eigenen Scherze, vor der Pointe fixierte er mich und setzte Pausen. Die Details des abrupten Beziehungsendes sowie der Bless-you-Noah-Nacht erzählte mir Tom, als ich bei ihm einkaufte. Um ihn zu trösten, tranken wir Bier und besuchten sein Stammlokal »Blaue Ente« in seiner Nachbarschaft, eine ruhige Trinkerbar für Erwerbstätige ab 35 Jahren.

Tom war mehr Freund als Dealer. Stammkunde bei ihm zu werden, benötigte Geduld. Denn er war vorsichtig, misstrauisch und akzeptierte keine neuen Kunden. Kennengelernt hatte ich ihn nach einer Preisverleihung für das ökonomisch nachhaltigste Buch des Jahres. Die Reden der Preisträger waren gespickt mit zweitklassigen Anekdoten gewesen und meine Begleitung Xaver, ein alter Bekannter, schlug mir zur Verarbeitung des Gehörten einen Besuch bei Tom vor. Dass ich gelegentlich kiffe ist mein kleines Geheimnis. Das wissen weder meine Arbeitskollegen noch mein Mann. Als Wirtschaftsjournalistin beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk lebe ich diskret. Weil in dieser rauen Branche mein Denken immer mehr vermännlichte und mein Leben als Stricherin des Kapitals eintönig war, kam mir Toms Bekanntschaft gerade recht. Mit ihm hatte ich eine nie versiegende Grasquelle gefunden. Tom war aufgrund seiner Profession bei der Auswahl seiner Kunden vorsichtig wie eine Journalistin bei der Auswahl ihrer Informanten. Ohne Xavers Fürsprache hätte ich nie von seiner Existenz erfahren. Drogendealer hatte ich mir optisch, charakterlich und vom Verhalten her anders vorgestellt. Meine Vorstellungen waren wie so oft durch diverse Medienfilter getrübt. Ich kannte keine Dealer, Drogen interessierten mich nur zu Entspannungszwecken. Sie bestimmten nicht mein Leben. Ich war in einer fixen Partnerschaft, mein Kind war erst zehn und Toms Lebensstil nicht klassisch bürgerlich. Er war ein wilder Hund. Seinen Lebensinhalt bildeten Suchtmittel aller Art. Die Dreiheit aus Alkohol, Nikotin und Kategorie-Eins-Drogen grub tiefe Spuren in sein männlich markantes Gesicht. Versoffen sah er aus, faltig und teigig, was mehr vom Nikotin als vom Trinken kam. Tom trat gerade in die klassische Trinkerphase ein. Als Teenager musste er hübsch mit seinen streng nach hinten gekämmten, dunkelblonden Haaren gewesen sein. Stand er betrunken vor einer Bar, sah er mit seinen Hängeschultern angeschlagen aus, wie eine umgefallene Schildkröte, nicht wie ein Händler.

Nüchtern erlebte ich ihn still, nachdenklich, kinderlieb, fast ein wenig schüchtern. Nach welchen Kriterien und warum er Frauen begehrte, war mir wie vieles andere an seiner charismatischen Erscheinung lange unklar. Er hatte immer Frauen in seiner Nähe, die meisten davon hübsch und anziehend. Ich verstand nicht so recht, warum er sich zu ihnen hingezogen fühlte, mich aber immer nur als asexuelles Wesen betrachtete. Wahrscheinlich war meine offene, journalistische Art zu forsch für ihn. Von selbstbewussten Frauen mit Berufskarrieren ließ er sich als Arbeiter einschüchtern. Ich bekam den Eindruck, Drogen verkaufen war seine Art, Menschen unkompliziert kennenzulernen und sein Ausbruch aus der erzwungenen Dienstleistungsfreundlichkeit der Gastronomie. Mit seinen Feierabendfinanzierern quatschte er gerne. Zum Dealer kamen die Kunden freiwillig, waren freundlich, bisweilen unterwürfig und dankbar, selbst wenn die Ware gewohnte Qualitätsstandards verletzte. Als Zugabe spülte ihm Gras Frauen an.

Tom belieferte nur Personen, die mindestens zwei Stammkunden empfahlen. Ohne persönliche Referenzen durfte man bei ihm nicht kaufen. Für die Aufnahme in den inneren Kreis musste man sich bewähren. Privathändler wie er waren die einzig nervenschonende Kaufmöglichkeit für im Erwerbsleben stehende Recreational-Drug-Userinnen über 40. In die Camera zu gehen, vorm Flex oder in der U6 herumzulungern, im Schwarzen Tiger oder in einer der anderen Grasabholstationen mit ständig wechselnden Namen und Orten zu kaufen, verbot sich für Mütter mit kündigungssicherem Arbeitsplatz. Und genau auf die Nische »Mittelalte Erwerbstätige« setzte Tom. Durchschnittsverdiener mit Familien, die ab und an eine Auszeit aus ihrem Alltag suchten. Ich hatte anfangs keine Ahnung, wie viele Kiffer er belieferte und woher er sein Zeug bezog. Sein Wohnzimmer war meistens gut besucht. Es wurde gelacht, getrunken und von Partys erzählt, von vergangenen und kommenden. Bei Toms Aufnahmeritual spielte gesellschaftliche Stellung keine Rolle. Sympathie, Empfehlungen und der erste Eindruck gaben den Ausschlag. In seiner Bude saßen meist mehr Männer als Frauen, außer mir waren nur die Freundinnen der Gäste anwesend. Tom akzeptierte keine Angeber, weil das dem Verschwiegenheitsgebot seiner Branche widersprach. Diskretion war für ihn Geschäftsgrundlage und Rückversicherung.

Nach dem Auszug von Barbara trank und rauchte Tom mehr denn je. Damit unterschied er sich nicht von 99 Prozent seiner Geschlechtsgenossen. Er zweifelte an den Frauen generell und entwickelte sogar eine leichte Frauenfeindlichkeit. Es fiel ihm schwer, sich neu zu orientieren. Und er hatte immer noch keine Ahnung, warum er eine eingetretene Tür in seiner Wohnung hatte.

2

Wien kultivierte Morgenfrust und die stehenden Autos sangen im Gegensatz zur nur vordergründig fröhlichen Stimme des Radio-Wien-Moderators die Wahrheit: eine neue Arbeitswoche hatte begonnen. Tom schlief einen betäubten Schlaf und ignorierte das Sturmläuten seiner Glocke. Er überhörte auch die zweite Salve; erst bei der dritten schreckte er auf. Sein Wecker sagte dreiviertel acht, also mitten in der Nacht. Das konnten nur Zeugen Jehovas, Rauchfangkehrer, seine religiösen Nachbarn, Handwerker oder Barbara sein. Sicher hatte sie gestern durchgemacht, war noch voll drauf, daher sentimental und wollte sich mit ihm versöhnen oder vögeln. Beim Gedanken an Barbaras Hintern wachte er schlagartig auf. Das Denken fiel ihm schwer. und deprimierte ihn, es erinnerte ihn an sein Leben. An das dumpfe Grollen im Magen hatte er sich gewöhnt.

»Servas! Johannes hier, bitte aufmachen.«

Was wollte dieser Irre von ihm? Er drückte den Knopf, öffnete die Tür einen Spalt weit und ging zurück ins Wohnzimmer. Er setzte sich aufs mit einem blauen Spannleintuch überzogene Sofa und zündete sich eine Zigarette an. Die Gitanes ersetzte den Espresso. Dieser Marke hielt er die Treue. Am Tag, als sein Vater an Lungenkrebs starb, hatte er begonnen zu rauchen. Zigaretten und Alkohol waren neben Kopfweh und Kater seine vertrautesten Begleiter. Nur das Kotzen hatte mit den Jahren aufgehört. Tom mochte Kopfschmerzen und Übelkeit. Ein flauer Magen stand für Lebendigkeit.

Johannes baute sich vor ihm auf und hatte seinen Hund Putin im Arm. Seine kurzen, gewellten Haare waren fettig, er roch streng. Er hatte durchgemacht. Johannes war drauf, so wie er an seinen Lippen knabberte. Und Johannes konsumierte nur das Beste. Schließlich arbeitete er hauptberuflich in der Schattenwirtschaft, seit er seinen Brotberuf Koch ohne Angaben von Gründen gekündigt hatte. Er warf einen prall gefüllten Militärrucksack auf den Boden.

»Kann ich ein paar Tage bei dir wohnen? Ich hatte Streit mit Rebecca. Nein, sie hat mich nicht rausgeworfen. Ich bin gegangen. Es ist einiges schiefgegangen. Nicht so wichtig. Werde ich dir noch erzählen. Ich habe Hunger. Gehen wir frühstücken.«

Tom nickte. Fragen zu stellen war unsinnig, er hatte Zeit und einen freien Tag, der mit Aktivitäten gefüllt werden musste. Er zog sich seine Uniform bestehend aus schwarzen Adidas, dunkelblauen Jeans, blauer Jacke und schwarzem Pullover an und sie spazierten zum Karmelitermarkt. Entgegen der Medienberichte boomte dieser Markt nicht, sie waren die einzigen Gäste im »Marktachterl«. Aber es war auch Montag um halb neun. Johannes bestellte Toast, Melange und einen großen weißen Spritzer, Tom Joghurt mit Früchten, Espresso und ebenfalls einen großen weißen Spritzer. Johannes prostete Tom zu.

»Lässig, dass ich bei dir wohnen kann. Ich wusste nicht wohin. Das ging gestern alles extrem schnell. Ich habe mit Rebecca gestritten und muss wohl ihre Eingangstür eingetreten haben…« Tom seufzte. Noch eine kaputte Tür. »Als die Polizei kam, hatte sich Rebecca schon wieder beruhigt und wollte sie nicht hereinlassen. Einer der beiden Streifenpolizisten sah durch die geöffnete Tür Hanf-Stecklinge. Die wollten dann natürlich wissen, wem das Zeug gehört. Immerhin bin ich bei ihr ja nicht gemeldet.«

Tom nickte. Johannes Freundin verdiente sich mit der Aufzucht von Stecklingen ein Zubrot zu ihrem Job als Systemadministratorin. Sie besaß ein grünes Händchen, züchtete auf bezirksweit anerkanntem Niveau und belieferte drei Wiener Growshops. Tom mochte Rebecca. Sie redete wenig, war harmlos lieb und hatte sich sicher vor Johannes gefürchtet. Trotz seiner Größe war er nicht besonders kräftig. Wenn er auszuckte, verlor er aufgrund seiner Schusseligkeit gelegentlich die Kontrolle über seinen Bewegungsapparat, trat gegen Türen und Wände und warf Tische um. Rebecca hatte bei ihrem Anruf bei der Polizei ganz aukf ihre kleine Plantage vergessen. Johannes verschwand rechtzeitig und steckte überhastet sein gesammeltes Hab und Gut in seinen Rucksack: fünf Kilogramm Gras, vakuumverpackt in fünf Paketen, dazu noch 50 Gramm Kokain und 30 Gramm Speed. Seine Ware, gleichsam sein ganzer Besitz, wollte er bei Tom zwischenparken. Dass seine Wohnung nun ein Drogenbunker werden sollte, beunruhigte Tom nicht. Johannes war weder in Rebeccas Wohnung noch sonst wo gemeldet. Vom ermittlungstechnischen Standpunkt aus lebte er unauffindbar als U-Boot. Johannes hatte nicht vor, sich bei Tom anzumelden und die Polizei fahndete nicht nach ihm. Psychisch labile Kiffer mit Beziehungsschwierigkeiten gab es genug. Johannes hatte Rebecca nicht geschlagen, nur gegen die Wohnungstür getreten. Rebecca hatte auf eine Anzeige verzichtet und Hanf-Stecklinge zu züchten, war gesetzlich erlaubt. Johannes Namen hatte sie verschwiegen. Sie war loyal. Die Polizisten waren ohne taugliche Information und mit einer Ermahnung wieder abgezogen. Tom glaubte nicht an ein Beziehungsende. Wobei, Beziehung war auch hier das falsche Wort. Johannes sah wie Brad Pitt in seiner Fight-Club-Phase aus, nur mit weniger Muskeln, dafür sehniger und mit wässrigerem Oberkörper, und die Frauen liefen ihm nach. Meistens vögelte er mit mehreren Frauen gleichzeitig. Bevorzugt mit Frauen über 50, fett und abgelebt, nur Rebecca war 35, dünn und attraktiv. Tom hatte Johannes optische Vorlieben nie hinterfragt. Wie gesagt, er mochte Rebecca. Eine Blondine, die während der Arbeit rauchte und in ihrer Freizeit einfach weitermachte. Die letzten eineinhalb Jahre hatte Johannes bei Rebecca gewohnt. Nicht immer, manchmal tauchte er tagelang nicht auf. Die beiden führten eine normale On-Off-Beziehung, wie Tom bis vor kurzem selbst.

Nach dem Frühstück war Tom in alle Details von Johannes turbulenter Nacht eingeweiht. Beide waren unerwartet wieder solo. Es war logisch, die ungewohnte Einsamkeit zu teilen und ein wenig spontan zu feiern. Es war Montag und Tom hatte seinen freien Tag. Er hatte eine Idee. Er schlug Johannes vor, für unbestimmte Zeit bei ihm einzuziehen. Johannes könnte die unerträgliche Stille seiner Wohnung beenden. Da Johannes Dealer war, verlangte dieser Umstand aber eine verschärfte Hausordnung: »Keine Geschäfte mit Laufkundschaft, keine laute Musik und keine Spontanpartys mit mehr als zehn Gästen, kein Grasanbau und keine Waffen bis auf deine Machete«, stellte Tom klar.

Johannes akzeptierte. Abgesehen von der Dealerei, seinen Unterweltkontakten und gelegentlichen Ausrastern war Johannes der perfekte Untermieter. Er kochte gut und trank weniger als Tom. Auch Drogenengpässe waren mit Johannes Einzug Vergangenheit. Die Zukunft strahlte hanfgrün. Auch für dienstfreie Tage gab es keinen besseren Partner als Johannes. Um halb eins gingen sie weiter in einen Feinkostladen, wo Johannes auf die Toilette verschwand und zur Stärkung zwei Straßen Koks auflegte. Der Eigentümer gehörte zu Toms Stammkunden. Tom bestellte in der auf triestinische und nordslowenische Lebensmittel und Weine spezialisierten Osteria eine Flasche Riesling und Bohneneintopf. Johannes und er beobachteten beim Trinken die Passanten der Taborstraße und den religiösen Eiferer vor der Karmeliterkirche, der sich alle fünf Minuten vor dem Eingang der Kirche niederwarf und bekreuzigte. An diesem trüben Novembermontag war wenig los. Der Delikatessenhändler klagte wie immer über Umsatzeinbußen und bestellte bei Tom seine nächste Lieferung. Es gab nur mehr wenige Kunden, die für ein Achterl gerne fünf Euro zahlten. Tom und Johannes gehörten zu dieser Kategorie. Je besser der Wein, desto weniger kümmerte sie der Preis. Drei Flaschen Weißwein und einige Biere später erhielt Johannes eine Eilbestellung. Tom begleitete ihn und sie ließen in einem 160-Quadratmeter-Penthouse in der Schottenbastei ihre Wohnungseinstandsfeier ausklingen.

Gleich nach dem Aufstehen begann Tom seinen täglichen Rundgang im 6. Bezirk im »Chipotle«, ging weiter in das Spezialitätengeschäft oder in die Blaue Ente, je nachdem ob er Lust auf Wein oder Bier verspürte. Wollte er abstürzen, schaute er in der »Feile« vorbei. Hier kehrten nur ein Clown, der Drummer von Rainhard Fendrich und die vier restlichen Freunde des Barkeepers »Jacko« ein, der als Zuverdienst zur Eckkneipe mit 70 Prozent reinem Kokain handelte. Seine Kneipenrundgänge absolvierte Tom am liebsten allein. Als Barmann war er schlagfertig und redegewandt. Er hatte viele Barbekanntschaften und lernte ständig neue Leute kennen. Beim ersten Bier schwieg er noch in sein Glas, spätestens ab dem zweiten aber war er ein begehrter Gesprächspartner. Musik, die politische Situation der Welt, neue Lokale, Tratsch – er konnte zu jedem Thema Gehaltvolles beisteuern.

Zu Hause nuckelte Tom an seinem Joint wie an einem Schnuller und wartete auf Lisi, die sich mit ihrer Monatslieferung angekündigt hatte. Streng genommen brauchte er seine bisherige Lieferantin nicht mehr, denn er saß mit Johannes jetzt direkt an der Quelle. Aber Tom dachte immer an Alternativen und wollte auf der sicheren Seite sein. Gras gab es seiner Erfahrung nach immer zu wenig und er handelte damit seit Jugendtagen. Zum Einstieg hatte er in Innsbruck seinen erweiterten Freundeskreis versorgt und sich mit einem 20.000-Euro-Deal seinen Umzug nach Wien finanziert. Das Geschäft folgte einer einfachen Regel: Egal, wie viel Gras er verkaufte, es gab immer Nachfrage. Sein Kundenstock war überschaubar und pendelte zwischen 20 und 40 Personen. Er kaufte monatlich um 6 Euro pro Gramm bei Lisi ein und verkaufte es um 10 Euro weiter. Seine 4-Euro-Gewinnspanne war knapp kalkuliert und seine Verkaufstaktik erprobt. Er verfügte über kein breites Sortiment und verkaufte ausschließlich Grassorten, welche er selber rauchte. Namen und Herkunft der Sorten kümmerten ihn nicht. Das Zeug musste kicken, alles andere war belangloses Marketinggewäsch. Im Winter, wenn die Menschen unter Lichtmangel litten, vertickte er zusätzlich braunen und schwarzen Marokkaner und half seinen Mitmenschen so über die lichtarmen Monate. Seit dem Siegeszug von kalifornischem Gangster-Rap hatte Gras alles überrollt, nur noch ausgesuchte Kenner hielten Haschisch die Stange. Dabei machte es weniger nervös und fahrig als diese künstlich hochgezüchteten neuen Grassorten.