Blauwasserleben - Heike Dorsch - E-Book

Blauwasserleben E-Book

Heike Dorsch

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Beschreibung

Es begann als großer Traum vom Leben auf den Weltmeeren: Mit zwanzig lernt Heike Dorsch den lebensfrohen Studenten Stefan Ramin kennen. Beide sehnen sich danach, die Welt zu entdecken. Vierzehn Jahre später machen sie ihren Plan wahr. Sie werfen ihr Erspartes zusammen und brechen auf, die Welt zu umsegeln. Das Blauwassersegeln auf dem offenen Meer fasziniert sie ebenso wie das relaxte Feiern in den Marinas von Guatemala oder das Eintauchen in die Unterwasserwelt vor Belize. Und auf den marquesischen Südseeinseln haben sie das erste Mal das Gefühl, angekommen zu sein. Doch ausgerechnet hier findet ihr Glück ein grausames Ende.

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www.piper.de

Mit 58 Fotos, einer Karte und einer Illustration

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95816-5

© 2012 Piper Verlag GmbH, München Text: Heike Dorsch mit Regina Carstensen Innenteilfotos: Heike Dorsch (soweit bei den Bildern nicht anders angegeben) Litho: Lorenz & Zeller, Inning a.

A. Karte und Illustration: Eckehard Radehose, Schliersee Hintergrundrecherchen: Joseph Jaffé Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling Umschlagabbildung: Jocylen McLean Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

für Stefan

für mich

Warum ich dieses Buch schreibe?

Im Jahr 2004 ließ ich zum ersten Mal alles hinter mir. Ich folgte Stefan, meiner großen Liebe, nach Singapur, mit dem Plan, so bald wie möglich gemeinsam in See zu stechen. Unser Ziel? Ganz einfach: ein Leben auf dem Meer und an den schönsten Küsten der Welt; das Blauwasserleben, von dem wir schon so lange geträumt hatten.

Zehn Jahre zuvor hatte ich Stefan während eines Auslandssemesters in Schweden kennengelernt. Schnell wurden wir ein Paar. Er, der leidenschaftliche Segler aus Norddeutschland, der sechs Jahre zuvor, mit sechzehn, vom Vater sein erstes Boot geschenkt bekommen hatte, und ich, die zwanzigjährige Estenfelderin, die zwar mit ihren Eltern den einen oder anderen Urlaub am Meer verbracht hatte, als befahrbares Gewässer aber eher den Main als die Ozeane der Welt im Blick hatte. Doch Stefan steckte mich auf Anhieb mit seiner Begeisterung für den Wassersport an – wie er jeden mit seiner Begeisterung anstecken konnte. Bald schon waren wir unzertrennlich, trotz der Entfernungen, die unsere unterschiedlichen Karrierewege mit sich brachten. Als »Business-Nomaden« würde man uns heute wohl bezeichnen, das »Hundert-Prozent-aus-dem-Koffer-Konzept« nannte Stefan es.

Als wir 2004 endlich gemeinsam an einem Ort lebten, unternahmen Stefan und ich fast jedes Wochenende Reisen durch Südostasien. Kambodscha, Laos, Thailand, Myanmar. Das hieß für Stefan oft, freitags nach der Arbeit direkt zum Flughafen, das Jackett wurde im Büro gelassen, die Anzughose in der Flughafentoilette gegen Shorts getauscht, und das nächste Abenteuer konnte beginnen. Meine Kamera glühte, alles hielten wir fest, um es mit Freunden und Familie in der Ferne zu teilen. Sonntagnacht kamen wir dann sehr spät zurück, manchmal erst Montagmorgen, und Stefan musste direkt ins Büro düsen, gerade noch rechtzeitig zum ersten Meeting.

Im Jahr 2008 war es dann so weit: der zweite große Aufbruch, mit dem unser Traum vom Leben auf den Ozeanen wahr wurde. Weil wir auf unserer Weltumsegelung den Kontakt zu Freunden und Familie um keinen Preis verlieren wollten, beschlossen wir, in einem Internetlogbuch von unseren Erlebnissen zu berichten. Was uns am meisten überraschte: Von Tag zu Tag wuchs die Zahl der Leser, die durch Zufall auf unser Abenteuer aufmerksam wurden. Bald schon bekamen wir E-Mails von Menschen, die wir gar nicht kannten, die sich dafür bedankten, dass sie an unserem Traum so lebhaft teilhaben konnten.

Die Idee, ein Buch über unsere Reisen zu schreiben, reicht fast genauso lang zurück wie unsere Idee, ein Boot zu unserem Zuhause zu machen. Je öfter wir darüber nachdachten, was wir später einmal tun wollten, desto klarer wurde uns, dass wir Diavorträge über unsere Abenteuern halten würden – waren wir doch beide begeisterte Fotografen, und Stefan liebte nichts mehr, als Geschichten zu erzählen. Und natürlich verschlangen wir auf unserer Reise die Berichte anderer Segler. Auf langen Segelpassagen unter sternenklarem Himmel diskutierten wir, wie unser »Projekt Buch« Gestalt annehmen könnte. Auf jeden Fall wollten wir uns Zeit damit lassen und so viele schöne Fotos und Geschichten sammeln wie möglich. Aber die Idee war geboren und wuchs langsam in unseren Köpfen heran, wie zuvor der Traum von unserem Blauwasserleben.

Mit Stefans Ermordung auf der Südseeinsel Nuku Hiva am 9. Oktober 2011 hat dieser Traum ein jähes Ende gefunden. Die genauen Umstände seines Todes sind heute, da ich diese Zeilen schreibe, noch immer nicht geklärt. Ich selbst konnte mich aus den Fängen jenes Mannes befreien, mit dem Stefan kurz vor seinem Tod zur gemeinsamen Jagd im Dschungel verschwand und der jetzt des Mordes an ihm, des versuchten Mordes an mir und der sexuellen Belästigung angeklagt ist. Im April 2012 fanden auf Nuku Hiva eine Gegenüberstellung mit Henri Arihano Haiti, dem mutmaßlichen Mörder, und eine Rekonstruktion des Geschehens statt, die ihn dazu bringen sollten, die ganze Wahrheit zu sagen. Auch davon werde ich in diesem Buch berichten, von meinen Gefühlen bei der Rückkehr nach Nuku Hiva und der Wiederbegegnung mit Henri Arihano Haiti.

Heute verspüre ich den Wunsch und die Kraft, unsere ganze Geschichte zu erzählen. Für Stefan, für mich und zur Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit. Um etwas in den Händen zu halten, aber auch, um loslassen zu können. Je mehr Menschen ich diese furchtbare, unfassbare Geschichte erzähle, desto realer wird sie für mich. Ich schreibe unser Buch jetzt allein, denn wir haben unsere Träume eigentlich immer verwirklicht, und ich weiß, dass Stefan dies hundertprozentig unterstützt hätte.

Nun breche ich erneut auf in einen neuen Lebensabschnitt. Zum ersten Mal ohne Stefan, in eine Zukunft, von der ich noch nicht weiß, was ich von ihr erwarten kann und was sie bringen wird. Zum ersten Mal habe ich keine Pläne. Dieses Buch gibt mir Halt, und ich hoffe, dass es allen, die Stefan kannten, Familie, Freunden, Bekannten, Geschäftkollegen, Logbuchlesern, und auch denjenigen, die ihn nicht kannten, ermöglicht, an unseren Reisen teilzuhaben und Stefan für immer als den besonderen Menschen in Erinnerung zu behalten, der er war.

Estenfeld bei Würzburg,

im Juli 2012

Todesangst

Ich habe ihn nicht kommen hören. Lautlos ist er in unserem Beiboot vom Strand zu unserem Katamaran Baju gepaddelt.

»Heike«, ruft er.

Ich blicke mich um und sehe Arihano, den Mann, mit dem Stefan wenige Stunden zuvor auf Ziegenjagd gegangen ist. Ich hätte mitgehen sollen, aber ich war zu müde, wollte lieber auf der Baju bleiben. Yoga machen. In Ruhe auf das Wasser schauen und baden gehen.

»Was ist los? Wieso bist du hier?«, frage ich erstaunt in einer Mischung aus Französisch und Englisch. Etwas ist nicht in Ordnung, das spüre ich.

»Stefan«, sagt Arihano.

»Was ist mit Stefan?«

»Verletzt … Unfall … Wald.«

Der Marquesaner stößt jedes Wort einzeln auf Französisch heraus.

In meinem Kopf entsteht sofort ein schreckliches Bild. Stefan liegt irgendwo hilflos da draußen im Wald. Er blutet, er muss ins Krankenhaus – und wir befinden uns am Ende der Welt.

»Stefan muss in ein Hospital – willst du mir das sagen?« Verwirrt schaue ich Arihano an.

Er nickt: »Ich habe Stefan den Berg heruntergetragen, aber jetzt müssen wir ihn gemeinsam ins Boot hieven.«

Alles erscheint mir einleuchtend. Stefan muss in der Nähe des Strands liegen, bis dahin hat Arihano es allein geschafft. Jetzt braucht er meine Unterstützung. Ich denke nach: In Taiohae, der Hauptstadt von Nuku Hiva, gibt es eine Klinik, gemeinsam werden wir es mit dem Boot dorthin schaffen.

Ich muss Stefan helfen. Ich bin völlig auf den Mann konzentriert, mit dem ich seit siebzehn Jahren zusammen bin. Seit dreieinhalb Jahren segeln wir um die Welt. Seit einigen Wochen sind wir in Französisch-Polynesien, auf der Marquesas-Insel Nuku Hiva. In der Südsee. Im Paradies. Eigentlich.

Ich will wissen, wie es Stefan geht, und frage: »Ist er schwer verletzt? Blutet er? Ist er gestürzt? Was ist überhaupt passiert?«

Antworten auf meine Fragen erhalte ich nicht, was ich auf die Sprachbarriere schiebe. In meinem Kopf läuft ein Notfallprogramm ab. Etwas weiter von unserem Schiffentfernt liegt die Aquamante. Die Yacht gehört Daphne und Vries, einem holländischen Paar, das Stefan und ich drei Monate zuvor auf den Galapagosinseln kennengelernt hatten. Kurz überlege ich, ob ich sie um Unterstützung bitten soll. Nein, ich verwerfe den Gedanken. Stefan befindet sich am Strand, Arihano und ich schaffen das ohne die anderen. Ihnen alles zu erklären hätte nur kostbare Minuten gekostet.

»Ich hole eine Taschenlampe«, sage ich. Eigentlich sollte ich auch Verbandszeug mitnehmen, aber es geht alles so schnell, dass ich den Gedanken, kaum dass ich ihn gedacht habe, auch schon wieder vergesse.

»Und zieh Schuhe an!« Schuhe? Wie kommt Arihano denn darauf? Sicher: Bestimmt kann man besser am Strand einen Menschen tragen, wenn man Schuhe anhat. Also streife ich mir rasch meine Crocs über.

Ich steige zu Arihano ins Dinghi, lasse den Außenbordmotor herunter, den Stefan hochgeklappt haben musste, als er das kleine Boot auf den Strand zog. Dreimal ziehe ich am Starter, der Motor springt jedoch nicht an. Innerlich verfluche ich Stefan, hoch und heilig hatte er mir versprochen, sich um den Vergaser zu kümmern.

»Du musst wieder paddeln«, sage ich zu Arihano. Eigentümlicherweise beruhigt mich die Feststellung, dass der Motor nicht funktioniert. Arihano hatte sich also nicht an unser Boot herangeschlichen.

Der Mann sitzt ausdruckslos im Boot und rudert in einem gleichmäßigen Rhythmus. Der Strand liegt im Dunkeln, doch im Mondschein zeichnen sich die Umrisse der Bäume ab. Es ist still, außer den Geräuschen, die das Paddel macht, wenn es ins Wasser gleitet.

Hat Stefan große Schmerzen? Ist er bewusstlos? Ist das der Grund, warum ich kein Stöhnen höre?

Ich kann nicht wirklich klar denken.

Am Strand angelangt, will Arihano das Beiboot hoch an Land ziehen.

»Lass doch!«, fahre ich ihn an. »Das Dinghi ist schwer, und wir bekommen es mit Stefan nicht mehr gut ins Wasser. Wir brauchen ja nicht lange, bis dahin ist das Boot sicher.«

Der Mann ignoriert meine Worte – wohl weil er nur jedes zweite davon verstanden hat – und zieht am Dinghi, bis es kaum noch von Wasser umgeben ist. Hektisch leuchte ich mit meiner Taschenlampe den Strand ab, das Licht reicht bis zum Ende der Bucht, hundert Meter weit. Der Dschungel reicht bis an den Strand heran. Fragend blicke ich Arihano an.

»Da lang«, sagt er und zeigt mit der Hand in den Wald. Bevor er mit mir die Richtung einschlägt, in die er gewiesen hat, holt er seinen Rucksack aus dem Beiboot. Wieso schleppt er den mit sich herum? Wir wollen einen schwer verletzten Menschen tragen, da stören die Sachen doch nur. Und wieso waren die überhaupt im Boot, hätte er sie nicht bei Stefan lassen sollen? Die Überlegungen, die ich anstelle, denke ich nicht zu Ende. Hätte ich es nur getan.

Zwischen dichtem Gebüsch schlängelt sich ein schmaler Pfad. Der Weg ist mir fremd. Stefan und ich haben ihn nie benutzt, wenn wir vom Strand aus die Insel erkundeten. Wir laufen. Immer tiefer in den Dschungel hinein. Hatte Arihano nicht gesagt, er hätte Stefan fast zum Strand getragen? Nur gut, dass er das Dinghi so weit hochgezogen hat. Wenn wir noch länger laufen müssen und dieselbe Strecke mit Stefan zurück, wird mit Sicherheit in der Zwischenzeit die Flut kommen. Im nächsten Moment ärgere ich mich, dass wir das Beiboot vorhin nicht an einen Baum festgebunden haben …

»L’eau, l’eau – Wasser, Wasser«, sage ich immer wieder zu Arihano und versuche, ihm mit Gesten begreiflich zu machen, dass wir das Dinghi verlieren, wenn das Wasser steigt.

Wieder reagiert er nicht auf meine Bemerkung, streckt nur erneut seine Hand aus: »Weiter.«

Vermutlich sind wir gleich da, versuche ich mich zu beruhigen. Sonst wäre mein Begleiter umgekehrt und hätte das Boot richtig vertäut. Bestimmt.

Nach ungefähr einer Viertelstunde landen wir in einer Art Sackgasse, der ebenerdige Pfad endet abrupt.

Arihano nimmt mir die Taschenlampe aus der Hand und sucht hektisch die Umgebung ab, ohne einen Plan, wie mir scheint. Komisch.

»Gib mir die Lampe zurück«, sage ich fast ein wenig wütend und greife nach der Taschenlampe.

Widerstandslos überreicht mir Arihano die Lampe, danach stellt er seinen Rucksack auf dem Boden ab. Das Gewehr trägt er noch in seiner Hand.

»Wo ist Stefan?« Ich bin bis aufs Äußerste angespannt, meine Stimme, ich merke es selbst, wird immer schriller.

»Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn abgelegt habe.«

Ich glaube, mich verhört zu haben.

»Wo ist Stefan?«, wiederhole ich und schaue meinen Begleiter zornig an.

Auch er wiederholt, was er zuvor sagte: »Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn abgelegt habe.«

Also habe ich mich nicht verhört. Wie in Trance schaue ich mich um. Es ist dunkel, ich bin mitten im Urwald. Stefan ist nirgendwo zu sehen oder zu hören. Plötzlich bricht es aus mir heraus, meine ganze aufgestaute Wut, und ich schreie ihn auf Englisch an: »Du Idiot! Wie blöd bist du eigentlich, dass du nicht mehr weißt, wo du Stefan abgelegt hast? Das kann doch nicht wahr sein!«

Der Marquesaner schaut mich befremdet an. Ich weiß nicht, wie viel er verstanden hat, aber es ist ihm anzusehen, dass er mit einem solchen emotionalen Ausbruch meinerseits nicht gerechnet hat. Er verteidigt sich: »Aber ich habe ihm die Flasche Rum dagelassen – gegen die Schmerzen.«

Bei dem Wort »Schmerzen« zucke ich zusammen. Wie wild leuchte ich mit der Taschenlampe in der Gegend herum, brülle Stefans Namen, wieder und wieder. Ich habe Angst, dass er verblutet, dass er die Qualen nicht mehr aushalten kann, nur weil der Mann vor mir nicht weiß, wo er ihn zurückgelassen hat. Wie kann das sein? Er muss doch jeden Pfad auf dieser kleinen Insel kennen.

Der Mann, der mir immer unheimlicher wird, zeigt keine Reaktion. Er steht einfach nur da, hält auch nicht nach einem anderen Weg Ausschau. Schließlich wühlt er in seinem Rucksack herum, blickt auf sein Mobiltelefon und schüttelt den Kopf.

Aufgebracht sage ich: »Ich werde jetzt Freunde holen, einen Suchtrupp organisieren und danach der Polizei Bescheid geben.« Während ich rede, drehe ich mich um und will den Pfad, den wir gekommen waren, wieder zurückrennen. Im Laufen schreie ich: »Stefan!« Ich weiß nicht mehr, wie viele Male.

Auf einer kleinen Lichtung bleibe ich atemlos stehen. Halt, denke ich, bist du überhaupt auf dem richtigen Weg? In meiner Verzweiflung entschließe ich mich, hier auf Arihano zu warten. Ich will keine Zeit verlieren, nur weil ich mich nicht in der Gegend auskenne und mich im Dschungel verirre.

Kurz danach taucht Arihano hinter mir aus der Dunkelheit auf. Er blickt mich kaum an, streift mich mit seinen Augen nur, bevor er ein weiteres Mal seinen Rucksack abstellt und darin herumkramt. Erneut holt er sein Handy heraus.

»Gibt es auf dieser Lichtung vielleicht Empfang?«, frage ich hoffnungsvoll. »Wenn ja, lass uns bitte die Gendarmerie anrufen.«

Arihano steckt das Mobiltelefon wieder ein. Ich fasse es nicht. Was geht in diesem Mann vor?

In meiner Erregung entscheide ich, allein weiterzugehen. Im nächsten Moment drehe ich mich, wie aus einer Vorahnung heraus, noch einmal zu ihm um, obwohl ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will – und blicke in einen Gewehrlauf. Er ist ganz nah.

Den nächsten Satz, den Arihano sagt, verstehe ich sehr deutlich: »Du stirbst jetzt.«

Leben auf der Überholspur

Stefan und ich begegneten uns das erste Mal 1994 in der schwedischen Universitätsstadt Skövde. Als BWL-Studentin an der Hochschule Coburg hatte ich ein Erasmus-Auslandsstipendium bekommen. Eigentlich wäre ich gern nach England gegangen, aber es gab nur noch einen freien Platz in Schweden. Schweden, warum nicht?, dachte ich und packte meine Sachen. Hauptsache weg. Aus Coburg. Heute liegt die Stadt mitten in Deutschland, damals, knapp fünf Jahre nach dem Mauerfall, merkte man ihr immer noch an, dass sie einst an der Grenze zur DDR lag, also am Rande der Welt.

Ich war zwanzig und wollte mehr sehen als die alte bayerische Garnisonsstadt. Andere Menschen, andere Kulturen. Zwei Wochen nach meiner Ankunft in Skörde trafen die letzten Auslandsstipendiaten ein, eine Truppe von der Fachhochschule Wedel. Zuerst hatte ich nur sein Auto gesehen – einen klapprigen, quietschgelben VW-Bus, der mir gefiel. Dann das Kennzeichen »PI« für Pinneberg, ein kleine Stadt im Süden Schleswig-Holsteins, nahe bei Hamburg. Der Fahrer des Busses war seiner Kleidung nach alles andere als ein Hingucker. Enge Jeans, rot-schwarz kariertes Holzfällerhemd. Doch die Augen, wunderschön, lebhaft, lustig, jedenfalls soweit ich das von meinem Beobachtungsposten beurteilen konnte: Ich stand im ersten Stock im Studentenhaus. Neben dem Fahrer machte ich noch eine Frau und zwei andere Jungs aus.

Die vier blödelten vor dem Eingang des Studentenhauses herum. Janine, Udo, Chris und Stefan. Erstaunlich: Durch die Fensterscheibe hindurch war zu spüren, dass der Fahrer des hippen Busses besonders war. Ein Charakter. Er war da – präsent. Und das Schicksal wollte es, dass er sein Zimmer auf meinem Stockwerk bezog, nur zwei Türen weiter.

Was das studentische Leben betraf, konnte von Integration in diesen Tagen keine Rede sein. Wir Deutschen hockten unentwegt zusammen, nach den Vorlesungen versammelten wir uns im Aufenthaltsraum des Studentenhauses, um uns Schwarzwaldklinik mit schwedischen Untertiteln anzuschauen. Das war unsere Methode, die Sprache unseres Gastlands zu lernen. Stefan, das war nicht zu übersehen, blühte in der Gemeinschaft auf. Er war das erste Mal sein eigener Herr – an der FH Wedel wollte er einen Abschluss als Wirtschaftsingenieur machen, wohnte aber weiterhin bei seinen Eltern in einem kleinen Dorf im Kreis Pinneberg.

In unserem schwedischen Domizil herrschte Chaos pur. In den verrauchten Zimmern türmten sich schmutzige Klamotten, in der Küche stapelten sich die dreckigen Töpfe. Umso überraschter war ich, als mich Stefan eines Nachmittags zum Abendessen auf sein Zimmer einlud: »Heute Abend werde ich für dich kochen. Ich hoffe, du kommst.« Natürlich nahm ich die Einladung an.

Es war der 3. Oktober. Der Tisch war hübsch gedeckt – er stand allerdings in meinem Zimmer, seines hätte einer Generalüberholung bedurft –, Kerzen waren aufgestellt, und es gab einen Tortelliniauflauf nach dem Rezept seines Freundes Udo. Nach dem Essen landeten wir auf dem Bett, angekleidet, eine Couch gab es in unseren Zimmern nicht, und die ganze Nacht erzählte Stefan davon, wie er eines Tages um die Welt segeln würde. Schon als kleiner Junge habe er von nichts anderem geträumt.

 »Bist du nicht in Heidelberg zur Welt gekommen?«, fragte ich nach. »Das liegt ja nicht gerade am Meer.«

»Stimmt, aber alle Ferien verbrachte ich als Kind auf einem Boot. Katamarane zu bauen und zu segeln ist die große Leidenschaft meines Vaters. Als meine Eltern dann in den Norden zogen, konnten wir endlich auch am Wochenende ans Meer. «

»Und dein Vater hat dir beigebracht, wie man ein solches Schiff steuert?« Ich stützte meinen Kopf auf meine Hand, um Stefans Gesicht besser beobachten zu können.

»Ja, und wie man Wind und Wetter richtig einschätzt. Obwohl die Ostsee natürlich nicht zu vergleichen ist mit dem Atlantik oder dem Pazifik. Sie ist dagegen nur eine große Badewanne. Aber hey, könntest du dir eigentlich auch vorstellen, die Welt zu umsegeln?«

»Mmmh«, sagte ich nach einer Weile. »Ich hab immer mal wieder daran gedacht, eines Tages auszuwandern, zum Beispiel nach Neuseeland, um als Schafzüchterin zu arbeiten. Aber eine Weltumsegelung, warum eigentlich nicht?«

Mit diesen Worten begann unser Traum von einer gemeinsamen Weltumsegelung, den wir immer farbiger ausmalten, noch bevor wir uns das erste Mal geküsst hatten.

Eines Abends saßen wir mal wieder zusammen in meinem Studentenzimmer. Ich hatte Glühwein zubereitet und Schokoladenkekse auf einem Teller ausgebreitet. Vor uns lag »der Kotler«, das Marketing-Grundlagenbuch eines amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers. Eigentlich wollten wir gemeinsam büffeln, aber Stefan schweifte ab und begann vom Meer zu erzählen, von der Gischt auf der Haut beim Segeln, wie es sei, den Wind zu fühlen und unter vollen Segeln über die Wellen zu gleiten. Sein Gesicht hatte einen ganz anderen Ausdruck angenommen. Er sah aus, als sei er völlig im Einklang mit sich selbst.

Stefan redete vom Fischefangen und davon, wie wunderbar es sei, ganz einfach zu leben, sich von den Früchten der Ozeane zu ernähren. Plötzlich hielt er inne: »Du kommst doch mit, oder?«

»Sicher«, antwortete ich. »Hauptsache, es ist nicht kalt, wo wir hinsegeln.«

»Nein, im Gegenteil, wir werden auf der Barfußroute unterwegs sein!«

»Barfußroute?«

»Es wird immer so warm sein, dass man keine Schuhe braucht.«

»Du machst Witze?«

»Nein. Schau in Seglerbüchern nach, wenn du mir nicht glaubst. Die Barfußroute führt zu einem großen Teil durch tropische Gebiete. Du kannst dort auch die ganze Zeit im Bikini herumlaufen.«

»Schöne Vorstellung.«

»Finde ich auch!«

Nun war Stefan in seinem Element. Er nahm ein Blatt Papier, auf dem wir eigentlich unsere Marketinglektionen aufzeichnen wollten, und fing an, die ITC, die Innertropische Konvergenzzone, aufzumalen. Ich bekam an diesem Abend meine erste private Vorlesung zum Thema Passatwinde – und alle Marketingstrategien waren für die nächsten Stunden vergessen.

Kurz vor Weihnachten war für mich das Studium in Schweden vorbei. Das Semester endete zwar erst im Januar, aber ich musste in Coburg zwei wichtige Prüfungen absolvieren. Bei unserem Abschied waren Stefan und ich traurig. Wir wussten nicht, ob und wie genau es mit uns weitergehen würde. Stefan wollte in Wedel studieren, ich plante, im März 1995 für ein halbes Jahr nach Amerika zu gehen, um in Washington bei einem großen deutschen Mischkonzern ein Praktikum zu machen. Es war schon alles organisiert, sogar eine Bleibe hatte ich für die sechs Monate gefunden. Ich war mir nicht sicher, ob unsere junge Liebe die Entfernung überstehen würde. Bis ich an einem Januarmorgen in Estenfeld einen DIN-A4-Umschlag in meinem Briefkasten entdeckte. An der Handschrift erkannte ich, er war von Stefan. Ich rannte in mein Zimmer, um alleine mit dem Kuvert zu sein. Es war der erste Brief von Stefan. Mein Herz klopfte wie wild, als ich ihn öffnete. Langsam und vorsichtig zog ich ein großes Foto hervor. Es zeigte Stefan, der, Oberkörper frei und die Hände über den Kopf gestreckt, lächelnd im Sand lag. Das Bild musste im vergangenen Sommer in Dänemark aufgenommen worden sein – Stefan hatte mir von der Reise an die Nordsee erzählt. Außer Sand, diesem extrem gut aussehenden Mann und einem kornblumenblauen Himmel war nichts weiter auf dem Foto zu sehen. Wäre ich nicht bereits in ihn verliebt gewesen, ich hätte mich spätestens beim Anblick dieses Fotos in ihn verknallt. Jetzt erst entdeckte ich die vielen kleinen aufgeklebten Fotoherzen, die den Himmel zierten. War darin nicht mein Gesicht zu sehen? Ich lächelte auf diesen Herzbildern ebenfalls! Wie hatte er das hinbekommen? So verblüfft, wie ich war, so warm war das Gefühl, das sich in mir ausbreitete. Zärtlich strich ich mit meinen Fingern über das Bild. Dem Foto lag noch etwas bei; ein Gedicht, das er selbst verfasst hatte. Es endete mit den Worten: Ich bin glücklich, Dich zu lieben!

Von da an waren wir unzertrennlich, auch wenn wir weiterhin unsere eigenen Pläne verfolgten. Für Februar und März hatte Stefan einen sechswöchigen Windsurftrip mit einem Freund verabredet, zusammen wollten sie an die andalusische Küste, nach Tarifa. Für mich begann ab März das sechsmonatige Praktikum in den USA. Kurz bevor Stefan nach Spanien aufbrach, kam er mit seinem qietschgelben VW-Bus, den er »Joshuaeii« getauft hatte, nach Würzburg. Es war mein 20. Geburtstag, und er überreichte mir mit seinem umwerfenden Lachen einen riesigen Strauß rosafarbener Tulpen, einen Geburtstagskuchen und ein Kopfkissen mit aufgedruckten Fotos von ihm in Herzform. Drei Wochen hatten wir uns nicht gesehen, und wir wussten, dass wir nun eine sehr lange Zeit überbrücken mussten, bis wir uns das nächste Mal wiedersehen würden. Wir genossen jede Minute zusammen.

Trotz der räumlichen Trennung fühlten wir uns innerlich stets nahe, und jung, wie wir waren, genossen wir sogar die die Möglichkeit, uns unabhängig vom anderen selbst zu finden. Bei der großen Entfernung blieben natürlich auch Eifersuchtsattacken nicht aus. In dem Heimatdorf von Stefan war es die Exfreundin, die mich beunruhigte, und als ich ihm von tollen Poolpartys erzählte, war er auch nicht gerade begeistert. Einmal sagte er bei einem unserer transatlantischen Telefonate: »Du triffst so viele interessante Leute, das gefällt mir gar nicht …« Daraufhin führten wir ein langes Gespräch, in dem wir uns gegenseitig unserer Treue versicherten. Es wäre ein teures Gespräch geworden, aber als hätte jemand bei der Telefongesellschaft ein weiches Herz gehabt, wurde es nie von meinem Konto abgebucht.

Nach meiner Rückkehr aus den USA war Stefan drauf und dran, seine Diplomarbeit in der Dependance eines großen Ölkonzerns in Hamburg zu schreiben. Aber ich hielt dagegen: »Du kannst dir doch aussuchen, in welcher Firma du deine Arbeit schreibst. Warum kommst du nicht nach Coburg? Hier gibt es auch interessante Unternehmen.«

Schließlich schrieb er seine Diplomarbeit bei einem Coburger Zuliefererbetrieb für die Autoindustrie – und er zog bei mir in mein achtzehn Quadratmeter großes Studentenwohnheimzimmer ein. Höchst inoffiziell natürlich. Meine Zimmernachbarn wussten über unsere »wilde Ehe« Bescheid, doch der Hausmeister durfte davon nichts erfahren. Auf diesen achtzehn Quadratmetern lebten wir äußerst spartanisch: ein Schrank, ein Stuhl, ein Schreibtisch, ein Einzelbett, in dem wir jede Nacht zu zweit lagen und das uns tagsüber als Couch diente.

Da wir beide einen starken Charakter hatten, kam es öfter zum Streit. Beide wollten wir immer recht haben, selten Kompromisse eingehen und nur unseren Standpunkt akzeptieren. Doch so leidenschaftlich wir stritten, so emotional waren unsere Versöhnungen. Vielleicht fanden wir diese so schön, dass wir uns extra stritten? Wie auch immer: Es ging in unserer Beziehung häufig auf und ab, sodass eine Freundin einmal zu mir sagte: »Heike, dieses ständige Hin und Her, ist das nicht anstrengend?« Aber Stefan und ich empfanden es gar nicht so. Die offenen Auseinandersetzungen waren Teil unserer Beziehung, von Anfang an. Nur so war es möglich, auf engstem Raum auszukommen und auch eigenen Gedanken nachgehen zu können.

Trotz einer eher durchschnittlichen Note für seine Diplomarbeit erhielt Stefan einen Job bei einer angesehenen Unternehmensberatung in Hamburg. Und da ich nun meinerseits eine Diplomarbeit zu schreiben hatte und flexibel war, entschied ich mich ebenfalls für die Hansestadt.

»Wie wollen wir wohnen, wenn ich nach Hamburg ziehe?«, fragte ich Stefan.

Da er jetzt ein Gehalt bezog, entschied er: »Wir nehmen uns eine Wohnung.«

Zum ersten Mal hatten wir Platz, aber unsere neue Bleibe lag in Norderstedt, am Rande der Stadt. Ein völliger Fehlgriff. Es war der falsche Ort, die falsche Wohnung, die falschen Nachbarn, Typ Cluburlauber. Hinzu kam: Stefan war als Unternehmensberater ständig unterwegs, fünf Tage die Woche, meistens in Frankreich, und ich saß in Norderstedt herum, weit weg von Hamburgs Innenstadt. Ich war 22, kannte niemanden in meiner Umgebung, war einsam. Aber auch diese Zeit überstanden wir in dem Wissen, dass dies nur eine Durchgangsstation zu einem ganz anderen Leben war.

Kaum hielt ich mein Diplom in der Hand, kam auch schon ein Traineeangebot von einem namhaften Einzelhandelsunternehmen in London. London! Nicht mehr das spießige Norderstedt. Sofort sagte ich zu.

»Aber wir haben doch gerade diese Wohnung hier eingerichtet«, sagte Stefan leicht pikiert, als ich ihm klarmachte, dass wir bald wieder in verschiedenen Ländern leben würden. Erst später schrieb er mir: »Du bist eine Frau, die mir zeigt, dass nicht alles nach meiner Nase läuft, und ich bin vielleicht das erste Mal in meinem Leben bereit, Kompromisse einzugehen.«

»Du bist doch eh die meiste Zeit in Paris«, konterte ich. »Denk daran, was wir gewinnen: Wir können zwischen diesen beiden Superstädten ständig hin- und herpendeln.«

Und genau das taten wir dann auch. Vorher löste Stefan die Norderstedter Wohnung auf. Er war der Ansicht, dass er keine feste Bleibe bräuchte, während der Arbeitstage würde er sowieso in Hotels übernachten, und am Wochenende käme er zu mir nach London.

An unseren gemeinsamen Wochenenden fuhren wir jetzt mit »Joshuaeii« nach Südengland, und in den Ferien nach Schottland. Zwei Wochen hatten wir dort nonstop Regen, aber das war uns egal.

Während in den Nächten der Regen auf »Joshuaeii« prasselte, kuschelten wir uns in die Schlafsäcke. Stefan hatte zwei organisiert, die man mit einem Reißverschluss verknüpfen konnte, sodass man in einem einzigen großen Schlafsack lag und er meine eiskalten Füße wärmen konnte.

Am nächsten Morgen schien dann meist die Sonne. Trotzdem war es kalt und das Wasser in den zahlreichen Seen noch viel kälter. Eines Morgens zog Stefan sich aus uns lief ins Wasser. Ich streckte vorsichtig meinen Zeh hinein und rief: »Ieeehh, viel zu kalt!«

»Ich sage nur Patagonien«, bemerkte Stefan ironisch. »Wenn du da entlangsegeln willst, musst du das aushalten können. Also rein mit dir.«

Stefan schaffte es immer wieder, mich anzutreiben, mich an meine Grenzen zu bringen. Dafür liebte ich ihn. Ich zog mich aus und nahm mich zusammen. Ich wusch sogar meine Haare in diesem eiskalten See. Mein Kopf war hinterher so kalt, dass es fast schon wehtat. Stefan schwamm zu mir und gab mir einen Kuss.

 »Ich wusste doch, auf dich ist Verlass. Patagonien oder Tropen. Zusammen schaffen wir alles.«

»Willst du wirklich noch immer um die Welt segeln?«, fragte ich Stefan an einem regnerischen Abend, eng lagen wir beieinander, durch die Moore peitschte der Wind.

»Klar«, sagte er. »Aber nur, wenn du mitkommst. Bist du noch dabei?«

»Na klar!« Ich kuschelte mich näher an Stefan heran.

 »Wichtig ist der finanzielle Grundstock. Wir brauchen gute Jobs, und natürlich müssen wir sparen. Einige Weltumsegler leben von der Hand in den Mund, aber das ist nicht mein Ding. Brauchen wir ein neues Segel oder einen neuen Motor, müssen wir uns das leisten können. Und selbstverständlich muss das Boot unverwechselbar sein. Mit so einem weißen Joghurtbecher zieh ich nicht los.«

Stefans Augen leuchteten, er schien schon alles genau vor sich zu sehen. »Joghurtbecher« waren für ihn jene Boote, die vor weißem Plastik nur so strotzten.

»Aber das heißt nicht, dass wir bis dahin überhaupt nicht mehr verreisen können, oder?«

»Ach was. Nur halt Low Budget. Wir können wie immer in günstigen Hostels absteigen, es sei denn, du bist durch deinen neuen Job auf den Geschmack gekommen, nur in Edelhotels abzusteigen und in Nobelrestaurants zu essen …«

Stefan musste jedes Mal lachen, wenn er sah, wie ich morgens elegante Nylonstrümpfe über meine Beine streifte, ein gut geschnittenes Kostüm anzog und in meine Businessschuhe stieg. Die perfekt gestylte Marketingfrau eben.

Dabei war es bei ihm im Job nicht anders. Im Anzug nahm man ihm sofort ab, dass er ein Powertyp war, ganz der erfolgreiche Geschäftsmann. Keiner hätte erraten können, dass er schon damals vom Ausstieg träumte, wo er doch die Karriereleiter gerade erst richtig hinaufzusteigen begann.

Seinen Arbeitskollegen gegenüber hatte er jedoch nie einen Hehl daraus gemacht, dass er einmal um die Welt segeln wollte. Doch diese winkten dann ab: »Ach, wenn du erst auf den Geschmack kommst, viel Geld zu verdienen, und ein tolles Haus und ein noch tolleres Auto hast, vergisst du schnell, dass du einmal etwas anderes wolltest.« Doch da irrten sie.

»Du weißt genau, dass ich am liebsten nur mit einem Rucksack unterwegs bin. Das wird sich nicht ändern«, antwortete ich.

»Sicher?«

»Sicher.«

»Dann sollten wir anfangen, ein paar Sachen in Angriff zu nehmen.«

»Zum Beispiel?«

»Wir können Deutsch, damit kommen wir bei einer Weltumsegelung aber nicht weit. Wir beide sprechen Englisch, ich dazu Französisch. Aber unsere Route wird lange Zeit durch Mittel- und Südamerika führen. Einer von uns müsste Spanisch sprechen können.«

»Du meinst, ich soll mich darum kümmern?«

»Na ja, das wäre nicht die schlechteste Idee.«

Mein Traineeprogramm in London war vorbei, und mein Arbeitgeber schickte mich als Nächstes für kurze Zeit nach Essen. In internationalen Projektteams bereiteten wir dort die Eröffnung von drei Filialen vor. Das Unternehmen wollte in Deutschland eine Filialkette aufbauen, und ich sollte eine Verkaufsfläche betreuen, »Store-Management« nannte man das und meinte damit die Personalführung von zwanzig Leuten und das operative Management des Ladens. Das war eine Menge Verantwortung für eine Vierundzwanzigjährige, zumal viel Geld in die Eröffnungen der Deutschlandgeschäfte gepumpt wurde.

In den ersten drei Monaten wohnte ich in einem Hotel, denn es war klar, dass Essen nur eine vorübergehende Station war. Stefan und ich führten in dieser Zeit nicht nur eine Wochenendbeziehung, sondern auch eine Hotelliaison – wie ein Paar, das sich nur heimlich treffen konnte.

»Was ist denn das für eine Beziehung, die wir führen?«, fragte ich Stefan eines Tages.

»Eine Beziehung wie unser Leben. Immer auf der Überholspur!«, entgegnete er.

Stefan arbeitete inzwischen als selbstständiger Berater für einen Elektrokonzern im niederländischen Eindhoven. Er mietete sich in der Nähe des Unternehmens ein Haus, gemeinsam mit zwei anderen Mitarbeitern und nannte es sein »Big-Brother-House«. Damals, 1998, wurde im Fernsehen zum ersten Mal die Realityshow Big Brother ausgestrahlt, in der Menschen für mehrere Monate in einem Gebäude zusammenlebten, Wettbewerbe und Spiele veranstalteten, bis einer nach dem anderen aus der WG ausschied – in der Sendung wurden die Regeln von der Produktionsfirma vorgegeben, bei Stefan war es ein globaler Konzern, der seine Leute immer wieder in die Welt hinausschickte, um bestimmte Aufgaben zu lösen.

Aus meinem einjährigen Traineeprogramm wurde schließlich eine drei Jahre währende Tätigkeit, am Ende arbeitete ich als Einkäuferin in Köln. Stefan hatte unterdessen gemeinsam mit einem befreundeten Kollegen ein Projekt konzipiert, das von seinem Arbeitgeber genehmigt wurde und ihn nach Barcelona verschlagen sollte, wo er – anders als gewöhnlich – vor Ort arbeiten würde.

Ich war auf Anhieb begeistert von der Idee, ihm nach Barcelona zu folgen. Auf diesem Wege würde ich endlich auch richtig Spanisch lernen können, wie wir es als Vorbereitung für unsere Weltumsegelung geplant hatten.

Bevor wir nach Barcelona aufbrachen, mieteten wir einen Katamaran für unsere erste gemeinsame Segeltour in Südfrankreich, zusammen mit sechs Freunden. Es war das erste Mal, dass ich hinter dem Steuer eines Schiffs stand.

Schnell zeigte sich, dass eine Woche Segeln für mich war wie drei Wochen Urlaub. Unglaublich, was das Meer für einen Erholungsfaktor hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass man den ganzen Tag draußen war, den ganzen Tag nichts tun musste, aber alles möglich war.

Einmal segelten wir ziemlich hoch am Wind. Stefan meinte nur, mit einem eigenen Schiff würde man das nicht tun, weil es das Material zu sehr beanspruchen würde. Aber wir genossen dieses abenteuerhafte Unternehmen voll und ganz. Mit einer Sicherheitsleine gewappnet standen wir beide ganz vorne auf dem Netz, eingehakt am Vorstag, dem Draht, der sich zwischen Bug und Mast spannte. Ein Freund steuerte den Katamaran, und wir rockten die Wellen. Das Schiff hob sich, dann sprang man in die Luft, und wenn der Katamaran wieder auf das Meer aufknallte, landete man selber auf dem Netz; die Gischt spritzte nur so. Es war für Sekunden ein freier Fall, total gigantisch. Stefan schrie vor Begeisterung und sprang in die Luft, so hoch, dass ich dachte, er stürzt vornüber ins Meer.

Doch es passierten uns auch Missgeschicke. Eine Leine verhedderte sich im Motor, und wir konnten nur einseitig den Motor starten. Schon trieben wir auf Klippen zu. Stefan sprang sofort ins Wasser und versuchte, das Boot mit beiden Händen abzuhalten, was ihm tatsächlich auch gelang. Einmal, bei hohem Seegang, stand er hinter dem Steuer, von oben bis unten in Segelsachen gekleidet. Ich dachte nur: Stefan und der Himmel, Stefan und das Meer. Sie gehören zusammen. Nicht im Geringsten zweifelte ich daran, dass wir eines Tages ein eigenes Boot haben und auf dem Globus ein Land nach dem anderen kennenlernen würden.

Kurz darauf kündigte ich meinen Job und meine Wohnung in Köln gleich mit.

Erneut brach ich meine Zelte ab. Als ich in Barcelona ankam, konnte ich mit meinen rudimentären Spanischkenntnissen nicht viel anfangen, zu groß war der Unterschied zwischen meinem Lehrbuchspanisch und dem Katalan der Einheimischen. Eine Arbeit fand ich nicht, wie ich es insgeheim gehofft hatte. Wir holten erneut »Joshuaeii« aus Deutschland, um die Region rund um Barcelona erkunden zu können, doch eines Tages blieb unser alter VW-Bus mitten auf einer riesigen Straßenkreuzung stehen. Inzwischen war er über und über mit Blumen bemalt, ein echter Hippie-Bus eben. Ein reicher Katalane kaufte ihn uns ab, für jede Blüte gab es hundert Peso. Er wollte mit dem Bus seinen Garten schmücken, in einer der besten Wohngegenden Barcelonas. Ein schöneres Ende konnten wir uns für unser knallgelbes Gefährt nicht vorstellen.

Nachdem Stefans Projekt in Barcelona beendet war, kehrte er nach Eindhoven zurück. Ich fand ebenfalls schnell wieder einen Job als Produktmanagerin bei einem englischen Healthcare-Konzern in Hamburg, der unter anderem ein berühmt-berüchtigtes Antipickelmittel vertrieb.

Stefan und ich waren jetzt wieder das typische Double-income-no-kids-Paar. Stefan reiste fast jedes Wochenende aus Eindhoven an und lebte mit mir in meiner kleinen Hamburger Wohnung. Wir fuhren dann meist zum Windsurfen und Kiten an die Nordsee. Nichts machte uns glücklicher, als immer wieder ans Meer zu kommen. Und das ging von Hamburg aus wunderbar. Unsere Windsurfbretter und Kites verstauten wir in und auf »Joshuaeii II«. Nachdem »Joshuaeii I« in den Ruhestand gegangen war, hatten wir uns einen neuen VW-Bus, einen T4, zugelegt, weil wir auf ein fahrbares Zuhause mit eingebautem Bett und Kochnische nicht verzichten wollten. Statt knallgelb trug »Joshuaeii II« weiß mit orangefarbenen Rallysteifen.

Inzwischen hielten wir auch konsquenter nach einem Boot Ausschau. Wir hatten ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie unser Schiff aussehen sollte. Ein Katamaran, nicht unter vierzehn Meter lang. Er sollte nicht aus Plastik sein, kein stinknormaler Joghurtbecher, wie sie in jeder Lagune herumliegen. Zuletzt hatten wir eine Segeltour in Griechenland sowie eine um Mallorca herum gemacht. Aluminium war Stefans bevorzugtes Material, weil es robust war und problemlos fünfzehn, zwanzig Jahre auf dem Meer überstehen konnte.

Von Schülern und Idolen

Ich lag im Bett und schaute Stefan zu, wie er sich geschickt eine Krawatte umband.

»Wie sehen deine Pläne für heute aus?«, fragte er, während er sein Werk im Spiegel begutachtete.

»Vormittags Yoga, und danach will ich mich bei einer indischen Organisation vorstellen, die soziale Projekte an Ausländer vergibt.«

Stefan und ich lebten seit einem Monat in der Orchard Road, mitten im Zentrum der Millionenmetropole Singapur. 2004, genau an meinem 30. Geburtstag, war ich in dem kleinsten Staat Südostasiens aufgewacht, nicht mit einem Koffer, aber mehr als zwei waren es auch nicht. Meinen Job hatte ich längst gekündigt.

 Unser Serviceapartment war möbliert, klein, mit einer hübschen Küchenzeile, auf dem Dach des Gebäudes befand sich ein Swimmingpool. Tag und Nacht lief die Klimaanlage, da die Luftfeuchtigkeit so hoch war und alles schnell zu schimmeln anfing. Fenster konnten wir nicht aufmachen.

»Vergiss nicht, heute Abend ist im Indochine das Essen mit meinem neuen Boss und seiner Frau. Sind echt nett, die beiden, wird bestimmt lustig.«

»Ja, ich freue mich drauf!«

»Was sagtest du, welche Organisation du aufsuchen willst?«

»Sie heißt SINDA, ich habe sie im Internet gefunden. Sie unterstützt indische Familien.«

»Du musst immer was machen, freue dich doch mal, einfach nichts tun zu müssen. Na, egal, ich muss los.« Stefan drückte mir einen Kuss auf den Mund. Beim Hinausgehen drehte er sich noch einmal um und rief mir zu: »20 Uhr. Indochine. Kennwort: ›Frachter‹.«

Im nächsten Moment war ich alleine. Ich musste grinsen, er und sein Kennwort. Alle kannten das Kennwort. Ein geheimes war es schon lange nicht mehr. Er sagte es immer, wenn wir mit anderen Leuten verabredet waren.

Es fiel mir tatsächlich schwer, nicht zu arbeiten. Ich hatte klasse Kollegen gehabt, und mein Job hatte mir Spaß gemacht. Nicht zu vergessen die positiven Feedbacks meiner Chefs. Einen Alltag ohne Beschäftigung konnte ich mir nicht vorstellen. Aber da ich mich kannte, wusste ich, dass ich mich schnell an die veränderte Situation anpassen würde.

Mein Vorstellungsgespräch bei SINDA verlief erfolgreich. Ich konnte ein paar Stunden im Büro mithelfen, dazu sollte ich indische Kinder zu Hause besuchen und in Englisch unterrichten – in Singapur ist Englisch Amtssprache. Ich war begeistert über diese Aussicht. Das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich sozial engagieren konnte.

Nach dem Termin bei SINDA schlenderte ich durch den Stadtteil Little India, in dem die Organisation ihr Büro hatte. Ich hatte das Gefühl, in Indien zu sein und nicht in Singapur, dazu trugen die Düfte bei, die bunten Farben und die Menschen.

Ein paar Tage später schickte man mich zu einem Sozialbau neben einem der größten Shopping-Center in Singapur, »Great World City« genannt. Überall hing Wäsche, alle Fenster standen offen, was wohl bedeutete, dass die Wohnungen keine Klimaanlagen hatten.

Eine Mitarbeiterin hatte mir einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem der Name der Familie stand, die ich aufsuchen sollte, sowie die genaue Wohnungsnummer.

Nachdem ich den Komplex betreten hatte, blickte ich zuerst auf unglaublich viele Postfächer. Daneben hingen Plakate mit allen möglichen Verhaltensregeln, so zum Beispiel, dass man keinen Abfall aus dem Fenster werfen oder sich die Hände vor dem Essen waschen soll. Alles war sehr sauber und doch ganz anders als in unserem Serviceapartment, wo mich der Concierge jedes Mal mit Namen begrüßte, mir die Einkaufstaschen abnahm und den Fahrstuhl rief.

Ich war gespannt auf meine erste Schülerin Nyhati, der ich gleich begegnen würde. Wie sah die Zehnjährige aus? Wie würde sie auf mich reagieren? Wie sollte ich mit ihrer Mutter, die angeblich gar kein Englisch konnte, kommunizieren?

Im zehnten Stock stieg ich aus und lief den langen Flur entlang, auf der Suche nach der Wohnung Nummer 2 A, dort sollte Nyhati zu Hause sein. Tatsächlich standen auch alle Türen wegen der Hitze offen, in jedes Wohnzimmer konnte ich reinblicken, einzig versperrt durch Gitterstäbe, sodass man nicht eintreten konnte.

Nach einer Weile fand ich die Wohnung und klingelte. Eine kleine, etwas rundliche Frau mit dickem schwarzem Haar, das zu einem Knoten zusammengebunden war, näherte sich und lächelte mich durch die Gitterstäbe schüchtern an. »Heike?«, fragte sie.

Ich nickte, begrüßte sie und sagte, dass ich von SINDA käme. Die Frau öffnete das Gitter und ließ mich ein. Auch hier stand ich sofort im Wohnzimmer, direkt vor einer Couch. Viel Platz gab es hier nicht. Die Frau rief ihre Tochter, und Nyhati, die wie eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter aussah, kam aus einem Nebenraum, dem Schlafzimmer, wie ich später erfuhr, das sich Mutter und Tocher teilten.

Nyhatis Mutter bat mich, auf der Couch Platz zu nehmen, und stellte mir ein Glas Wasser auf einen Beitisch. Ihre Tochter traute sich nicht, sich neben mir niederzulassen. Erst als ich Kinderbücher aus meiner Tasche holte, wurde sie neugierig. Ich konnte ihr Verhalten nachvollziehen, denn auch ich war nervös. Doch nachdem ich angefangen hatte, die englischen Bücher vorzulesen, wurde Nyhati immer zutraulicher. Als ich sie mit einbezog und Fragen stellte, merkte ich, dass ihr Englisch schon ganz gut war. Nach einer Weile verschwand die Mutter in der Küche und ließ uns alleine. Sie hatte wohl gemerkt, dass sie mir vertrauen konnte.

Ende der Leseprobe