Blick in die Angst - Chevy Stevens - E-Book

Blick in die Angst E-Book

Chevy Stevens

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Du denkst, du kannst allen anderen helfen. Doch du hast vergessen, was mit dir selbst geschehen ist.  Als die Psychotherapeutin Nadine eine junge Patientin behandelt, die aus einer Sekte geflüchtet ist, muss sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen: Sie hat als Kind selbst in der »Fluss des Lebens«-Community gelebt. Was ist damals Furchtbares passiert? Und was hat die Sekte mit ihrer eigenen Tochter vor? Zu spät erkennt Nadine, dass sie noch immer in tödlicher Gefahr schwebt … »Eine erschütternde Geschichte über Seelenmanipulation, die mir vom ersten Kapitel an unter die Haut gegangen ist.« Linwood Barclay »Aufregend und tiefgründig, fesselnd und verstörend.« Lisa Unger »Stevens setzt immer noch eins drauf, wenn man denkt, die Psyche der Romanfigur habe bereits genug durchgemacht.« Krimi-Couch

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 602

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Chevy Stevens

Blick in die Angst

Roman

 

Aus dem Amerikanischen von Maria Poets

 

Über dieses Buch

 

 

Als die Psychiaterin Dr. Nadine Lavoie eine junge Patientin behandelt, die aus einer Sekte geflüchtet ist, muss sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen: Sie hat als Kind selbst in der »Fluss des Lebens«-Kommune gelebt. Was ist damals Furchtbares passiert? Zu spät erkennt Nadine, dass sie noch immer in Gefahr schwebt …

 

»Chevy Stevens zieht uns intelligent und unaufhaltsam in einen Albtraum.« Rosamund Lupton

»Faszinierend, fesselnd, erschütternd.« Once Upon a Crime

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Chevy Stevens ist auf einer Ranch auf Vancouver Island aufgewachsen und lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter auf der Insel vor der kanadischen Westküste. Wenn sie nicht gerade am Schreiben ist, geht sie gern in den umliegenden Bergen campen oder paddeln. Chevy Stevens’ psychologische Thriller sind vielfach ausgezeichnete internationale Top-Bestseller. In deutscher Sprache erschienen im FISCHER Taschenbuch:

 

»Kein Entkommen – Still Missing«

»Endlose Angst – Never Knowing«

»Blick in die Angst – Always watching«

»Schuldig für immer – That Night«

»Was dich nicht tötet – Those Girls«

»Ich beobachte dich«

»Tief in den Wäldern«

 

www.chevystevens.com

Inhalt

[Widmung]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Danksagung

Für meinen Bruder Steve

1. Kapitel

Als ich Heather Simeon zum ersten Mal sah, lag sie zu einer Kugel zusammengerollt im Kriseninterventionsraum des Krankenhauses. Sie hatte eine dünne blaue Decke eng um sich gewickelt, die weißen Verbände hoben sich überdeutlich von den Handgelenken ab. Blondes Haar bedeckte den Großteil ihres Gesichts. Doch selbst jetzt noch strahlte sie eine gewisse Vornehmheit aus, obwohl die hohen Wangenknochen, die wunderschön geschwungenen Brauen, die Patriziernase und die zarten Konturen der blassen Lippen unter dem Schleier aus Haaren kaum zu erkennen waren. Nur ihre Hände wirkten ungepflegt: Die Nagelhaut war eingerissen und blutig, die Nägel waren schartig. Sie sahen jedoch nicht abgebissen, sondern gebrochen aus. Genau wie Heather selbst.

Ich hatte bereits ihre Krankenakte gelesen und mit dem Psychiater aus der Notaufnahme gesprochen, der sie in der vergangenen Nacht aufgenommen hatte. Dann war ich alles noch einmal mit den Krankenschwestern durchgegangen, von denen die meisten seit Jahren auf der Geschlossenen arbeiteten und die meine besten Informationsquellen waren. Während meiner morgendlichen Visite verbrachte ich eine viertel bis ganze Stunde mit einzelnen Krankenhaus-Patienten, doch die übrige Zeit arbeitete ich beim Mental Health Service, der psychologischen Ambulanz. Aus diesem Grund nahm ich gerne eine Krankenschwester mit, wenn ich einen Patienten zum ersten Mal aufsuchte, damit wir beim Behandlungsplan auf dem gleichen Stand waren. Jetzt war Michelle bei mir, eine fröhliche Frau mit blonden Locken und einem breiten Lächeln.

Heathers Mann war am Abend zuvor nach Hause gekommen und hatte sie ausgestreckt auf dem Küchenfußboden entdeckt, das Messer neben der Hand. Als sie im Krankenhaus eingeliefert wurde, war sie unruhig geworden, hatte geschrien und war auf das Pflegepersonal losgegangen. Der Notarzt testete sie auf Drogen, fand jedoch nichts, also gab er ihr Lorazepan und brachte sie im Kriseninterventionsraum unter. Sie wurde engmaschig überwacht, und alle fünfzehn Minuten sah eine Krankenschwester nach ihr.

Sie hatte die ganze Nacht geschlafen.

Ich klopfte leise an den Türrahmen. Heather bewegte sich, schlug die Augen auf und blinzelte ein paarmal. Ich trat näher an ihr Bett heran. Sie blickte zu mir auf, fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen und schluckte. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, doch dann stieß sie nur einen langen Seufzer aus. Ihre Augen waren dunkelblau.

»Guten Morgen, Heather«, sagte ich so einfühlsam wie möglich. »Ich bin Dr. Lavoie, Ihre behandelnde Psychiaterin.« Als ich noch meine Privatpraxis in Nanaimo hatte, hatten meine Patienten mich Nadine genannt. Doch seit ich in Victoria wohnte und im Krankenhaus arbeitete, hatte ich begonnen, meinen Titel zu benutzen. Die emotionale Distanz gefiel mir – sie war einer der Gründe, warum ich überhaupt umgezogen war. »Möchten Sie etwas Wasser?«

Sie starrte auf einen Punkt irgendwo hinter meiner Schulter. Ihre Miene war ausdruckslos, bar jeder Trauer oder Wut. Wenn auch nicht physisch, so hatte sie es zumindest geschafft, gefühlsmäßig zu verschwinden.

»Ich würde mich gerne ein wenig mit Ihnen unterhalten, wenn das in Ordnung ist.«

Ihr Blick irrte an mir vorbei und fiel auf Michelle. Sie zog die blaue Decke noch enger um sich.

»Warum … ist sie hier?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

»Michelle? Sie ist eine unserer Krankenschwestern.«

In der psychiatrischen Abteilung kleideten sich die Ärzte im Allgemeinen eher ungezwungen, und das Pflegepersonal achtete mehr auf Bequemlichkeit. Michelle hatte eine Vorliebe für witzige Klamotten, heute trug sie eine flippige gestreifte Bluse zu einem dunklen Jeansrock. Abgesehen von dem Namensschild, das ihr an einem Band um den Hals hing, wäre man nicht unbedingt darauf gekommen, dass sie eine Krankenschwester war.

Heathers Körpersprache drückte Abwehr aus, sie duckte sich beinahe unter der Decke, ihr Blick sprang zwischen uns hin und her wie bei einem in die Ecke getriebenen Tier. Michelle trat einen Schritt zurück, doch Heather wirkte immer noch überfordert. Manche Patienten hatten das Gefühl, einer Übermacht gegenüberzustehen, wenn wir zusammen mit einer Schwester auftauchten.

Ich sagte: »Wäre es Ihnen lieber, mit mir allein zu sprechen?«

Sie nickte kurz, während sie mit den Zähnen an einem Zipfel ihres Verbandes zupfte. Erneut hatte ich das Gefühl, ein wildes Tier vor mir zu haben, das versucht, seinen Fesseln zu entkommen. Ich sah Michelle an, um ihr zu signalisieren, dass sie unbesorgt gehen konnte.

Michelle lächelte Heather an.

»Ich sehe später noch mal nach Ihnen, Liebes. Falls Sie irgendetwas brauchen.«

Michelles herzliche Art im Umgang mit den Patienten war mir schon öfter positiv aufgefallen. Sie saß oft da und redete mit ihnen, selbst in ihren Pausen. Als sich die Tür hinter ihr schloss, wandte ich mich wieder an meine Patientin.

»Können Sie mir sagen, wie alt Sie sind, Heather?«

»Fünfunddreißig«, sagte sie langsam, wobei sie sich umschaute und allmählich zu begreifen schien, wo sie sich befand. Ich versuchte den Raum mit ihren Augen zu sehen und empfand Mitleid mit ihr: Die schwere Metalltür hatte nur ein kleines Plastikfenster, und die Plexiglasabdeckung vor dem Fenster wies Kratzspuren auf, als hätte jemand versucht, sich seinen Weg hinauszuscharren – was tatsächlich der Fall gewesen war.

»Und wie heißen Sie?«, sagte ich.

»Heather Duncan …« Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie sich bei einem Fehler ertappt, doch die Bewegung wirkte träge und verzögert. »Simeon. Jetzt heiße ich Simeon.«

Ich lächelte. »Haben Sie vor kurzem geheiratet?«

»Ja.« Kein M-hm. Sie war wohlerzogen, und man hatte ihr beigebracht, deutlich zu sprechen. Ihr Blick blieb an der schweren Metalltür hängen. »Daniel … ist er hier?«

»Er ist hier, aber ich würde gerne zuerst mit Ihnen sprechen. Wie lange sind Sie und Daniel schon verheiratet?«

»Sechs Monate.«

»Was machen Sie beruflich, Heather?«

»Im Moment mache ich gar nichts, aber früher habe ich im Laden gearbeitet. Wir kümmern uns um die Erde.«

Mir fiel auf, dass sie zur Gegenwartsform gewechselt war.

»Sind Sie Landschaftsarchitektin?«

»Es ist unsere Aufgabe, das Land zu hegen und zu bewahren.«

Ich verspürte ein unangenehmes Flattern in der Magengegend bei dieser Phrase. Sie klang vertraut, und sie hatte es so gesagt, als würde sie einen Ausdruck wiedergeben, den sie viele Male gehört hatte. Sie wiederholte, sprach jedoch nicht selbst.

»Wie ich hörte, hatten Sie eine schlechte Nacht«, sagte ich. »Möchten Sie mir erzählen, was passiert ist?«

»Ich will nicht hier sein.«

»Sie sind im Krankenhaus, weil es unter die Bestimmungen fällt. Sie haben versucht, sich etwas anzutun, und wir wollen nicht, dass das noch einmal vorkommt. Also werden wir Ihnen helfen, damit Sie wieder gesund werden.«

Sie richtete sich auf, bis sie saß. Als sie sich auf die Matratze stützte, fiel mir auf, wie dünn ihre Arme waren. Die Adern traten deutlich hervor, und sie zitterte, als würde die Anstrengung, ihren Körper in der Aufrechten zu halten, sie erschöpfen.

»Ich wollte nur, dass das alles aufhört.« Tränen stiegen ihr in die Augen, liefen ihr übers Gesicht und tropften von der Nase herab. Eine landete auf ihrem Arm. Heather starrte darauf, als hätte sie keine Ahnung, wie sie dorthin gelangt war.

»Was soll aufhören?«

»Die schlechten Gedanken. Mein Baby …« Ihre Stimme brach, und sie zuckte mit zusammengebissenen Zähnen zusammen, als verspürte sie tief in ihrem Inneren einen Stich.

»Hatten Sie eine Fehlgeburt, Heather?« Laut ihrer Akte hatte sie vor einer Woche ihr Kind verloren, aber ich wollte sehen, ob sie mir von sich aus mehr darüber erzählen würde.

Eine weitere Träne löste sich und tropfte auf ihren Arm.

»Ich war im dritten Monat, als ich anfing zu bluten …« Sie holte tief Luft und stieß sie langsam durch die zusammengepressten Lippen wieder aus.

Ich schwieg einen Moment, aus Respekt vor dem, was sie mir gerade erzählt hatte. Dann sagte ich sehr behutsam: »Das tut mir leid, Heather. Das muss sehr schmerzhaft für Sie gewesen sein. Es ist völlig normal, sich deprimiert zu fühlen, nachdem man ein Kind verloren hat. Aber wir können Ihnen helfen, mit Ihren Gefühlen fertig zu werden, damit sie Sie nicht überwältigen. In Ihrer Krankenakte steht, dass Ihr Arzt Ihnen letztes Jahr ein Antidepressivum verschrieben hat. Nehmen Sie es noch?«

»Nein.«

»Wann haben Sie damit aufgehört?«

»Als ich Daniel kennenlernte.« Ich hörte den leicht abwehrenden Unterton und wusste, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie ihre Tabletten nicht weitergenommen hatte, und sich schämte, dass sie sie überhaupt brauchte. Menschen mit Depressionen hören oft auf, ihre Medikamente zu nehmen, wenn sie sich verlieben, die Endorphine bilden ein eigenes, natürliches Antidepressivum. Doch irgendwann trifft sie dann das reale Leben mit voller Wucht.

»Als Erstes möchte ich, dass Sie Ihre Medikamente wieder nehmen.« Meine Stimme klang unbekümmert: Kein Problem. Sie werden wieder gesund. »Wir fangen mit einer niedrigen Dosierung an und schauen, wie es Ihnen damit geht. In Ihrer Akte steht auch, dass Sie vor ein paar Jahren einiges durchgemacht haben.« Damals hatte sie zweimal versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. Beide Male hatte man sie in letzter Sekunde gefunden, doch jetzt, wo sie zu brutaleren Methoden übergegangen war, würde sie nächstes Mal vielleicht nicht so viel Glück haben.

»Sie wurden damals an einen Psychologen überwiesen. Gehen Sie noch zu ihm?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich mochte ihn nicht. Wie geht es Daniel?«

»Die Schwestern sagten, er sei die ganze Nacht hier gewesen und nur am Morgen kurz nach Hause gefahren, um Ihnen ein paar Sachen zu holen. Jetzt sitzt er wieder im Wartezimmer.«

Heather runzelte besorgt die Stirn. »Er muss so müde sein.«

»Ich bin sicher, dass Daniel vor allem möchte, dass Sie wieder gesund werden. Wir sind hier, um Ihnen dabei zu helfen.«

Frische Tränen ließen ihre Augen noch blauer wirken, wie von Diamanten eingefasste Saphire. Sie war so blass, dass man jede Ader an ihrem Hals erkennen konnte, aber sie war immer noch betörend schön. Die Menschen glauben meist, schöne Menschen hätten keinen Grund, unglücklich zu sein. Doch oft ist genau das Gegenteil der Fall.

»Ich will Daniel sehen«, sagte sie. Allmählich fielen ihr die Augen zu, die Anstrengung des Gesprächs zehrte die wenige Energie auf, die sie noch übrig hatte.

»Ich werde vorher ein paar Worte mit ihm wechseln, dann sehen wir weiter, ob er Sie kurz besuchen darf.« Ich wollte ein Gespür dafür bekommen, in was für einer emotionalen Verfassung er war, damit er die Situation nicht noch schlimmer machte.

»Hier drin können sie mich nicht finden.« Sie sagte die Worte in den Raum, als hätte sie vergessen, dass ich da war, und würde sich nur selbst beruhigen.

»Wer, fürchten Sie, könnte Sie denn finden?«

»Die sollen uns in Ruhe lassen, aber sie rufen einfach immer wieder an.« Sie zupfte an ihren Nagelhäuten herum, während sie sprach, und zog ein winziges Stück Haut ab.

»Bedrückt Sie etwas?« In ihrer Akte stand nichts von Paranoia oder Halluzinationen, aber bei einer schweren Depression, unter der Heather offenkundig litt, kam es manchmal auch zu psychotischen Schüben. Wenn sie allerdings tatsächlich Probleme mit Menschen in ihrem Umfeld hatte, mussten wir das wissen.

Sie begann erneut, mit den Zähnen an dem Verband zu zerren.

»Das hier ist ein sicherer Ort«, sagte ich, »ein Ort, an dem Sie sich erholen können. Wir können jeden abweisen, von dem Sie nicht möchten, dass er Sie besucht, und die Station wird die ganze Zeit vom Sicherheitsdienst überwacht. Niemand kann zu Ihnen gelangen.« Falls es eine reale Bedrohung gab, wollte ich, dass Heather sich sicher genug fühlte, um mir zu erzählen, was los war. Aber auch, wenn es sich lediglich um eine Paranoia handelte, musste sie sich beschützt fühlen, damit wir sie behandeln konnten.

»Ich gehe nicht zurück.« Es klang, als würde sie sich selbst warnen. »Die können mich nicht zwingen.«

»Wer kann Sie nicht zwingen?«

Mühsam öffnete sie die Augen und sah mich seltsam alarmiert an. Ich merkte, dass sie nachgrübelte, was sie mir gerade erzählt hatte. Angst, und noch etwas anderes, etwas, das ich noch nicht benennen konnte, schien regelrecht von ihr abzustrahlen und in mich einzudringen. Ich unterdrückte den Impuls, zurückzuweichen.

»Ich muss Daniel sehen.« Ihr Kopf sackte nach vorn, und das Kinn sank auf ihre Brust. »Ich bin so müde.«

»Warum ruhen Sie sich nicht etwas aus, während ich mit Ihrem Mann rede?«

Sie rollte sich unter der blauen Decke in Embryonalstellung zusammen, das Gesicht zur Wand gekehrt. Trotz der Wärme im Raum zitterte sie.

Mit kaum hörbarer Stimme sagte sie: »Er sieht alles.«

Ich blieb an der Tür stehen. »Wer sieht alles, Heather?«

Sie zog nur die Decke übers Gesicht.

 

Als ich den Besucherbereich betrat, sprang ein hochgewachsener Mann mit dunklen Haaren auf. Selbst unrasiert, mit dunklen Schatten unter den Augen und einem zerknitterten Anzughemd, das ihm aus der ausgewaschenen Jeans hing, war Daniel ein attraktiver Mann. Ich schätzte ihn auf etwa Mitte vierzig, den Lachfältchen an seinen Augen und seinem Mund nach zu urteilen, hatte jedoch das Gefühl, dass er zu jenen Männern gehörte, die mit zunehmendem Alter nur noch besser aussahen. Ihr Kind wäre wunderschön geworden, und ich empfand tiefes Mitleid mit den beiden.

Er kam auf mich zu, die braune lederne Bomberjacke hing über seinem Arm, ein Rucksack über der Schulter.

»Wie geht es ihr? Fragt sie nach mir?« Seine Stimme brach beim letzten Wort.

»Lassen Sie uns irgendwo hingehen, wo wir uns ungestört unterhalten können, Mr Simeon.« Ich führte ihn den Korridor entlang in eines der Behandlungszimmer, wobei wir dem Hausmeister auswichen, der gerade den Boden wischte.

Stirnrunzelnd stellte ich fest, dass die Tür zum Abstellraum hinter ihm weit offen stand, und machte mir im Geiste eine Notiz, es dem Pflegepersonal gegenüber zu erwähnen.

»Nennen Sie mich bitte Daniel. Geht es ihr gut?«

»Ich denke schon, in Anbetracht der Umstände. Sie hat einiges durchgemacht, aber wir tun alles in unserer Macht Stehende, um ihr zu helfen. Im Moment ist hier der beste Ort für sie.«

»Da war so viel Blut …«

Er tat mir leid, und ich wusste, was er wahrscheinlich dachte: Was, wenn ich nur zehn Minuten später gekommen wäre? Warum habe ich die Anzeichen nicht erkannt? Familienangehörige teilen sich in zwei Kategorien auf: diejenigen, die sich selbst die Schuld geben, und diejenigen, die den Patienten verantwortlich machen. Aber irgendjemandem müssen sie immer die Schuld geben.

»Es muss Sie sehr erschreckt haben, sie so aufzufinden«, sagte ich. »Gibt es jemanden, mit dem Sie darüber reden können? Andernfalls kann ich Ihnen gerne jemanden empfehlen.«

Ein rasches Kopfschütteln. »Mir geht’s gut. Ich will nur, dass Heather nichts zustößt.«

Ich dachte an das, was Heather mir gerade erzählt hatte. Wurde sie tatsächlich von jemandem belästigt? Oder bezog sich seine Angst lediglich auf das, was sie getan hatte?

»Das wollen wir ebenfalls.« Ich schloss die schwere Metalltür zum Behandlungszimmer auf und bedeutete Daniel, auf einem Stuhl Platz zu nehmen.

Er setzte sich mir gegenüber. Man könnte vielleicht erwarten, dass die Station in beruhigenden Farben eingerichtet sein müsste, um eine herzliche, angenehme Umgebung zu schaffen, doch diese Stühle hier boten ein Potpourri aus Pink, Blau und Rotbraun und standen schon seit den siebziger Jahren hier. Der beschichtete Tisch war an den Ecken angeschlagen, die Platte bröckelig. An einer Wand stand ein Holzregal mit ein paar einsamen, wahllos zusammengestellten Büchern. Selbst der Wartebereich, in dem Daniel so viele Stunden gesessen hatte, bestand lediglich aus ein paar Stühlen neben den Aufzügen. Es war ein altes Krankenhaus, die Gelder waren knapp, und die Leute kamen schließlich nicht zum Urlaub hierher.

»Hat sie erzählt, warum sie …« Daniel stockte und holte hastig Luft. »Warum sie versucht hat, sich umzubringen?«

»Ohne Heathers Erlaubnis darf ich nichts von dem sagen, was sie mir erzählt hat. Aber ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«

»Klar, fragen Sie.«

»Wussten Sie, wie stark ihre Depressionen waren?«

Niedergeschlagen rieb er sich das Kinn. »Seit wir das Baby verloren haben, hat sie nichts mehr gegessen und ist nicht mehr aufgestanden. An den meisten Tagen hat sie nicht einmal geduscht. Ich dachte, es wäre so eine postpartale Störung, oder wie man das nennt, und dass sie einfach nur etwas Zeit braucht … Ich muss die ganze Zeit daran denken, wie still sie gestern Abend war, als ich gegangen bin. Ich war spät dran – ich habe noch einen Nebenjob angenommen, um etwas hinzuzuverdienen – und hatte es ziemlich eilig.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich bei ihr geblieben wäre …«

Er gehörte also zu denen, die sich selbst die Schuld gaben. Ich beugte mich vor.

»Es ist nicht Ihre Schuld, Daniel. Wenn Sie geblieben wären, hätte sie gewartet, bis Sie fortgehen, und es dann versucht. Menschen, die so verstört sind wie Heather, finden immer einen Weg.«

Er sah mich an – lange genug, wie ich hoffte, damit meine Worte auf ihn wirken konnten –, dann verdüsterte sich seine Miene.

»Ihre Eltern wird es hart treffen.«

»Sie wissen es noch nicht?«

»Sie sind auf einer Wohnmobiltour durch den Norden von British Columbia. Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie müssen irgendwo sein, wo sie keinen Empfang haben. Heather hat schon eine ganze Weile nicht mit ihnen geredet.«

»Was ist mit ihren Freunden?«

»Sie wollte nie irgendetwas mit ihnen unternehmen, also haben sie aufgehört, anzurufen.«

Ich war nicht überrascht, dass Heather alle Menschen außer Daniel abgewiesen hatte. Die Abkapselung von Freunden und Familie gehört zu den klassischen Symptomen bei Depression.

»Was machen Sie beruflich, Daniel?«

»Ich bin Zimmermann.« Das erklärte seine Statur und seine tiefe Bräune. Er lächelte, als er hinunter auf seine rauen Hände blickte. »Heather und ich kommen aus verschiedenen Welten, aber als wir uns begegnet sind, war sofort eine Verbindung da, die unglaublich tief ging. Keiner von uns hat je zuvor so etwas gefühlt.« Er sah mich an, als erwarte er Skepsis.

Ich nickte ihm ermutigend zu.

»Sie hatte gerade eine Trennung hinter sich«, fuhr er fort. »Ihr Ex war ein richtiger Mistkerl. Aber wir haben angefangen, zu wandern und zusammen Yoga zu machen. Es schien sie aufzumuntern.«

Das war eine gute Idee gewesen. Bewegung ist eines der besten natürlichen Mittel gegen Depressionen.

»Sie haben also schon Anzeichen für Depressionen bemerkt, bevor Sie heirateten?«

»Ich dachte … Sie ist ein Mensch, der immer versucht, sich um alle anderen zu kümmern, also war es manchmal schwer einzuschätzen. Sie konnte plötzlich ganz still werden oder anfangen zu weinen, aber sie wollte mich nie beunruhigen, also wusste ich nie, was der Grund war. Als sie schwanger wurde, hat sie sich wahnsinnig auf das Baby gefreut. Sie hat schon Namen ausgesucht, Spielzeug gekauft …« Seine Stimme schwankte. »Ich weiß nicht, was ich mit dem Kinderzimmer machen soll und den ganzen Babysachen, die sie gekauft hat.«

Meine Gedanken wanderten kurz zu Paul, wie er Lisas Zimmer in Erdbeerrot mit apfelgrünen Streifen gestrichen hatte, weil unser Kind anders sein und nach seinem eigenen Rhythmus leben sollte. Was sie auch getan hat, immer – ein Charakterzug, den ich bewunderte, bis sie mir davontanzte.

»Immer eins nach dem anderen«, sagte ich, zu ihm ebenso wie zu mir. »Darüber können Sie sich später noch Gedanken machen.«

»Wann kann Heather wieder nach Hause?«

»Sie wurde ins Krankenhaus zwangseingewiesen, damit wir sie im Auge behalten können. Wir können sie nicht entlassen, solange sie noch eine Gefahr für sich selbst darstellt.«

»Was, wenn sie versucht … Sie wissen schon.« Er schluckte hart. »Wenn sie es noch einmal versucht?«

»So weit werden wir es hier nicht kommen lassen. Und wir werden sie erst nach Hause schicken, wenn sie stabil genug ist und draußen genügend Unterstützung hat.«

»Kann ich sie sehen? Ich habe ihr ein paar Sachen von zu Hause mitgebracht.«

Normalerweise handhabten wir die Besuchszeiten recht streng – in der Geschlossenen, in der jeder einzeln eingelassen werden musste, dauerte sie von vier bis neun Uhr. Vormittags duldeten wir gar keine Besuche, damit die Patienten an den Therapieprogrammen teilnehmen und wir unsere Visiten machen konnten. Doch er sah so verzweifelt aus, und ich dachte, es könnte Heather helfen, sich einzugewöhnen, wenn sie ihn sähe.

»Im Moment ruht sie sich aus, aber Sie können ihr kurz hallo sagen.«

 

Wir sprachen nicht, als wir mit dem Fahrstuhl zur geschlossenen Abteilung einen Stock höher fuhren. Daniel wirkte gedankenverloren, und ich war damit beschäftigt, meine Pulsschläge zu zählen und mich auf meinen Atem zu konzentrieren. Seit Jahren litt ich unter Klaustrophobie, was meine Patienten vermutlich schockieren würde. Verschiedene Techniken halfen mir, die Angst in den Griff zu bekommen, von mentalen Bildern bis Atemübungen, doch jedes Mal, wenn ich hörte, wie sich die Aufzugtür schloss, musste ich mich zusammenreißen, um nicht auf den Panikknopf zu schlagen.

Wir wurden in die Geschlossene eingelassen. Das Stationszimmer lag hinter Glas, und ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes war stets vor Ort. Auf der einen Seite der Station waren hochgradig gefährdete Patienten wie Heather untergebracht, auf der anderen diejenigen, die nicht mehr in dem Maße überwacht werden mussten. Sobald sich ihr Zustand weiter besserte, wurden sie in den nächsten Stock verlegt, wo sie mehr Freiheiten hatten.

Die Krankenschwester durchsuchte die Tasche, die Daniel für Heather mitgebracht hatte, um sicherzugehen, dass sich nichts darin befand, mit dem sie sich selbst verletzen konnte. Sie nahm das Hochzeitsfoto aus dem Rahmen und zog den Gürtel aus dem Morgenmantel. Als die Schwester fertig war, führte ich Daniel in eine Nische im Eingangsbereich, wo sie etwas ungestörter, aber immer noch in Sichtweite wären, dann holte ich Heather.

Als ich die Tür zum Krisenzimmer aufschloss, betrachtete ich sie kurz. Sie lag immer noch zu einer Kugel zusammengerollt da, die blassen Arme um ihren Oberkörper geschlungen, so dass die zierlichen Hände auf den Schultern lagen, als versuchte sie, sich selbst zusammenzuhalten.

»Heather, fühlen Sie sich jetzt einem Besuch von Daniel gewachsen?«

Beim Klang meiner Stimme zuckte sie zusammen und drehte sich langsam um. Bittend und mit feuchten Augen sah sie mich an. »Ich muss ihn sehen.«

»Gut, aber Sie müssen mit mir kommen, da in den Krisenzimmern keine Besucher zugelassen sind. Fühlen Sie sich stark genug, um aufzustehen?«

Sie richtete sich bereits auf.

Als wir den Eingangsbereich betraten, sprang Daniel auf – und erstarrte, als er sah, wie seine Frau langsam an meiner Seite auf ihn zuschlurfte. Sein Blick fiel auf die Verbände an ihren Handgelenken, den blauen Krankenhauspyjama, die Decke, die sie um die Schultern gelegt hatte wie eine alte Frau einen Schal.

»Daniel!«, rief sie.

»Ach, Schatz«, sagte er, als er sie in die Arme schloss. »Du darfst mir nie wieder solche Angst einjagen.«

Sobald die Patienten ein paar Tage hier sind, lassen wir sie mit ihren Besuchern allein, aber ich wollte sehen, wie Daniel und Heather miteinander umgingen – für den Fall, dass Daniel Teil des Problems war. Ich setzte mich ein wenig abseits in einen der Sessel.

Daniel half Heather vorsichtig, sich zu setzen, ehe er selbst Platz nahm. Heather legte den Kopf an seine Schulter, und er schlang den Arm um sie und hielt sie fest.

»Es tut mir leid, Daniel.« Heathers Stimme war rau. »Ich hasse es, was ich dir antue. Dass du dich die ganze Zeit um mich kümmern musst.«

Ein Alarmsignal. Selbstmordpatienten versuchen sich davon zu überzeugen, dass andere Menschen ohne sie besser dran sind.

»Sag doch nicht so etwas«, sagte Daniel. »Ich liebe dich. Ich werde nirgendwo hingehen. Ich werde mich immer um dich kümmern.« Als wollte er seine Worte bekräftigen, zog er ihr die Decke über die Schultern, stopfte sie an ihrem Hals fest, wo der Krankenhauspyjama offen stand und ihr sich spitz abzeichnendes Schlüsselbein zu sehen war.

Offensichtlich fürchtete sie sich nicht vor Daniel, also beschloss ich, sie allein zu lassen und meine Visite zu beenden. Doch dann sagte Heather ganz leise etwas, das meine Aufmerksamkeit weckte.

»Ich habe der Ärztin gesagt, dass sie ständig anrufen.«

»Was hast du ihr erzählt?« Daniel klang nicht erschrocken, nur ein wenig besorgt.

»Nicht viel, glaube ich … ich bin so durcheinander, und mein Kopf fühlt sich ganz komisch an. Bist du mir böse?«

»Ich bin dir nicht böse, Liebes. Aber vielleicht solltest du jetzt gar nicht über das alles nachdenken, sondern nur daran, wieder gesund zu werden. Über alles andere können wir ein anderes Mal reden.« Er sah sie ernst an, als wollte er sichergehen, dass sie ihn verstand.

»Glaubst du, Emily weiß … was ich getan habe?«

»Nein, wahrscheinlich haben sie ihr im Zentrum nichts erzählt.«

Heather nickte, dann schaute sie zur Kamera in der Ecke hoch. Sie hatte bereits einen Blick darauf geworfen, als sie sich hingesetzt hatte, und ich überlegte, ob sie schon einmal in einem Behandlungszentrum gewesen war, in dem die Patienten überwacht wurden.

»Gibt es vielleicht jemanden, den ich für Sie informieren kann?«, fragte ich.

Heather sah zu Daniel. Er schüttelte den Kopf, nur eine winzige Bewegung, doch sie nickte und fügte sich seinem Schweigen, worüber auch immer.

Ich sagte: »Es würde Heathers Behandlung sehr erleichtern, wenn ich wüsste, ob Sie irgendwo eine Therapie machen.«

Heather legte Daniel eine Hand aufs Bein und sah ihn bittend an. Daniel starrte auf ihre Verbände, dann drehte er sich zu mir um.

»Wir haben früher in einem spirituellen Zentrum gelebt, draußen in Jordan River. Als Heather schwanger wurde, sind wir gegangen, weil sie das Baby nicht dort bekommen wollte. Ein paar von den Mitgliedern haben angerufen, um zu hören, ob es uns gutgeht. Es sind nette Leute.«

Ich hatte gehört, dass es da in Jordan River ein Zentrum gab, eine Art spirituelle Lebensgemeinschaft, die einen guten Ruf genoss, aber sehr viel mehr wusste ich nicht darüber.

Heather hatte wieder angefangen zu weinen. Ihre Schultern bebten.

»Sie haben mir das Gefühl gegeben, es sei meine Schuld, dass ich das Baby verloren habe.«

»Sie glauben überhaupt nicht, dass es deine Schuld ist – niemand denkt das«, widersprach Daniel. »Sie versuchen nur, zu helfen, Liebste. Du hast das alles ganz wunderbar gemacht.«

Heather weinte nur noch heftiger. Ihr Gesicht war ganz verzerrt.

»Es hat mir nicht gefallen, dass sie uns immer gesagt haben, was wir machen sollen. Sie …«

»Heather, hör auf – du weißt nicht, was du sagst.« Daniel warf mir einen hastigen Blick zu. Er wirkte besorgt und hilflos. »Sie haben Regeln, Dr. Lavoie, aber nur, damit wir uns auf die Workshops konzentrieren können.«

Heather und Daniel waren sich offenkundig nicht einig über das Zentrum, doch sie wollte Daniel in meinem Beisein nicht widersprechen. Immer wieder huschte ihr Blick zu ihm. Ist es in Ordnung, wenn ich das sage? Liebst du mich noch?

Dann sah sie ihn fest an und zog die Decke enger um sich. »Sie haben mir nicht erlaubt, mich von Emily zu verabschieden.«

Es war bereits das zweite Mal, dass Heather den Namen Emily erwähnte.

»Emily wollte nicht mit uns gehen, schon vergessen? Es gefällt ihr im Zentrum. Ich weiß, dass du sie vermisst, aber du musst dich um dich selbst kümmern, und um das Bab–«

Heather prallte zurück, als hätte er sie geschlagen.

Daniel sagte: »Ach Schatz, tut mir leid. Es war einfach die Gewohnheit.«

Heathers Blick war erneut trüb und leer geworden. Sie ließ die Hände sinken, die Handflächen geöffnet – der Inbegriff einer Besiegten.

»Es ist meine Schuld, dass ich das Baby verloren habe. Du bist mir böse.«

»Es ist nicht deine Schuld, Heather – und ich bin dir nicht böse.« Und in einem Tonfall, der so liebevoll und traurig zugleich war, dass es mir im Herzen weh tat, fügte er hinzu: »Du bist für mich das Wichtigste auf der Welt.«

»Sie haben gesagt, wir sollen bleiben. Sie haben gesagt, es sei besser für unser Baby – und vielleicht hatten sie recht. Ich habe dich überredet, wegzugehen, und jetzt ist das Baby tot.«

»Heather, hör auf.« Daniel rieb ihren Rücken. »Sag doch nicht so etwas.« Er schob sein Gesicht dicht an ihres. »Hey, sieh mich an.« Doch Heather starrte nur mit ausdrucksloser Miene auf die Wand.

Ich wollte nicht zu sehr drängen, vor allem, da Heather begann, sich zurückzuziehen, aber ich machte mir Sorgen, warum sie sich so sehr die Schuld für den Verlust des Kindes gab.

»Warum wollten Sie das Zentrum verlassen, Heather?«

Sie begann, hin- und herzuschaukeln, die Arme um den Körper geschlungen.

»Sie sagten, alle Erwachsenen seien die Eltern des Kindes. Jeder hilft dabei, es aufzuziehen. Und es darf nicht einmal bei dir bleiben.«

Ihre entsetzte Miene verriet deutlich, dass ihr das ganz und gar nicht gefallen hatte.

»Im Zentrum glauben sie, dass es für das spirituelle Wachstum des Kindes besser ist, von vielen Herzen geliebt zu werden«, sagte Daniel. »Sie haben sehr gut ausgebildete Betreuer.«

In diesem Zentrum schien ein strenges Regiment zu herrschen. Ich wandte mich an Heather.

»Aber Sie wollten Ihr Kind mit niemandem teilen?«

Sie nickte und schielte zu Daniel hinüber, der wieder Heathers Verbände anstarrte. Sie sah aus, als wollte sie sich noch mehr erklären, doch dann streckte sie den Arm aus und ergriff Daniels Hand. Er drückte sie kurz.

»Ich glaube trotzdem, dass ich einen Fehler gemacht habe«, sagte sie. »Wir hätten bleiben sollen. Dann hätte ich keine Fehlgeburt gehabt.«

»Woher wollen Sie wissen, dass Sie keine Fehlgeburt gehabt hätten, wenn Sie geblieben wären? Hat man Ihnen tatsächlich erzählt, Sie seien dafür verantwortlich?«

»Sie haben nicht gesagt, es wäre unser Fehler«, sagte Daniel. »Sie haben sich nur Sorgen gemacht, dass Heather sich durch den Auszug überanstrengt hat.«

Mit anderen Worten, sie hatten durchblicken lassen, dass es doch ihre Schuld war.

»Wie nennt sich dieses Zentrum?«, fragte ich.

Daniel richtete sich stolz auf und bog die Schultern zurück. »The River of Life Spiritual Center.«

In einem verborgenen Winkel meines Bewusstseins klingelte es, gefolgt von einem unbehaglichen Gefühl in meinem Bauch.

»Wer leitet es?«

»Aaron Quinn. Er leitet auch alle Therapien im Zentrum.«

Aaron Quinn. Er hat Aaron Quinn gesagt.

Es konnte nicht derselbe Mann sein.

Heathers Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Die meisten Mitglieder nennen es die Kommune.«

Die Kommune. Ich hatte diesen Namen seit Jahren nicht mehr gehört. Am liebsten hätte ich ihn nie wieder gehört. Ich starrte Heather an, versuchte nachzudenken, und mein Herz pochte laut in den Ohren.

»Dr. Lavoie?« Heathers blaue Augen spiegelten ihren Kummer und ihren Schmerz. »Glauben Sie, dass es mein Fehler ist, dass mein Baby gestorben ist?«

Ich brauchte eine Sekunde, um meine Gedanken neu zu sammeln. Du hast eine Patientin, die deine Hilfe braucht.

»Nein, ich denke nicht, dass es Ihre Schuld ist. Sie haben die Entscheidung getroffen, die Sie für die beste für Ihr Kind hielten – Sie beide waren einfach nur gute Eltern.« Ich redete noch ein paar Minuten weiter und hörte zu, wie die ermutigenden Worte aus meinem Mund kamen. Doch die ganze Zeit über war mein Kopf von einem dumpfen Tosen erfüllt – dem Geräusch, das entsteht, wenn das Schicksal und das Leben aufeinanderprallen. Ich konnte ihnen unmöglich erzählen, dass ich Aaron Quinn kannte.

Ich wusste genau, wer er war.

2. Kapitel

Mit fünfundzwanzig machte ich an der Universität von Victoria meinen Abschluss. Ich hatte gelernt, mit engen Korridoren und Treppen klarzukommen, meistens, indem ich ihnen auswich. Während der Abschlussprüfungen jedoch waren alle Parkplätze im Freien besetzt, und dieses eine Mal war ich gezwungen, in der Tiefgarage zu parken. In dem dunklen Gewölbe wurde ich von Panik überwältigt und schaffte es nicht, den Fahrstuhl zu betreten, also lief ich den ganzen langen Weg außen um das Gebäude herum. Ich hyperventilierte beinahe, und mein Haar war völlig nassgeschwitzt, so dass alle Studenten, an denen ich vorbeikam, mich anstarrten. Ich kam zu spät zur Prüfung, die Tür war bereits geschlossen, und ich fiel in diesem Kurs durch. Es war eine demütigende Erfahrung, und kurz darauf begann ich eine Therapie.

Als ich mit dem Therapeuten über meine Kindheit sprach, vertraute ich ihm an, dass meine Mutter mit mir und meinem Bruder in eine Kommune gezogen war, als ich dreizehn war. Die Kommune, die von einem Mann namens Aaron Quinn geleitet wurde, hatte sich am Ufer des Koksilah-Flusses am Rand von Shawnigan Lake eingerichtet, einer kleinen Gemeinde etwa dreißig Minuten nördlich von Victoria an der Südspitze von Vancouver Island. Wir lebten acht Monate dort, bis mein Vater kam, um uns zu holen.

Mein Therapeut war von dieser Periode meines Lebens ganz fasziniert und wollte sie näher untersuchen, vor allem, weil ich nicht genau benennen konnte, wann meine Klaustrophobie entstanden war. Doch ich erinnerte mich deutlich daran, wie kompliziert mein Leben dadurch wurde, als wir wieder zu Hause waren. Ich schlief mit einem Nachtlicht und bei geöffneter Tür – ich konnte nicht einmal den Stall ausmisten, ohne zu hyperventilieren, und Robbie, mein Bruder, musste diese Aufgabe für mich übernehmen.

Mein Therapeut war der Ansicht, meine Klaustrophobie deute auf ein verdrängtes Trauma hin, auf irgendetwas, das in dieser Kommune geschehen war, und schlug vor, wir sollten es mit Hypnose versuchen, um an meine vergrabenen Erinnerungen heranzukommen. In jener Zeit waren solche Therapiemethoden sehr beliebt, in denen es darum ging, verschüttete Erinnerungen freizulegen, und er hatte das Gefühl, dass es für mich der beste Weg sei. Zuerst hatte ich gezögert – schmerzhafte Erinnerungen hatte ich bereits mehr als genug.

In einer Familie wie der meinen heranzuwachsen war nicht leicht gewesen. Mein Vater, ein pingeliger Deutscher, war schwer zufriedenzustellen und leicht zu verärgern. Sein Zorn schlug häufig in Gewalt um, und mein Bruder und ich verbrachten einen Großteil unserer Kindheit damit, uns zu verstecken, während er betrunken Amok lief, seine gewaltigen Fäuste in die Fenster hieb oder unsere Mutter verprügelte. Wenn wir dazwischengingen, schrie sie nur, wir würden es noch schlimmer machen. Er arbeitete auf einem Fischkutter, und meine Mutter, die unausgeglichen war, wenn er da war, geriet völlig außer Kontrolle, wenn er weg war. Entweder war sie in übertriebener Hochstimmung, kaufte uns Geschenke, die wir uns nicht leisten konnten, und machte mit uns Ausflüge auf der ganzen Insel, oder sie schloss sich tagelang in ihrem Zimmer ein, zog die Vorhänge vor und versperrte die Tür. Sie drohte oft damit, sich umzubringen, die Tabletten schon in der Hand, während wir sie anbettelten, es nicht zu tun, bis sie uns schließlich die Pillen gab. Zu anderen Zeiten verschwand sie mit dem Truck, betrunken oder unter Medikamenteneinfluss, und kehrte erst am nächsten Morgen zurück. Heute würde ich sie als manisch-depressiv bezeichnen, aber damals wussten wir nur, dass die Launen meiner Mutter einem rutschigen Abhang glichen und dass wir nie wussten, wo sie landen würde.

Die einzige Person, auf die ich mich verlassen konnte, war Robbie, mein drei Jahre älterer Bruder, dem ich überallhin folgte. Er war mein bester Freund, mein einziger Freund, denn wir wuchsen auf einer Ranch auf, und unsere Schulfreunde wohnten meilenweit entfernt. Obwohl wir sehr verschieden waren, ich mit meiner Liebe für Bücher und die Schule, er mit seiner Leidenschaft für Technik und Holzarbeiten, streiften wir stundenlang zusammen durch die Wälder, bauten Forts und spielten Räuber und Gendarm. Robbie wollte zu den Marines, sobald er achtzehn war, aber ich hoffte insgeheim, dass er es sich bis dahin anders überlegen würde. Ich wusste nicht, wie ich ohne ihn überleben sollte.

Eines Tages im Februar, kurz vor meinen dreizehnten Geburtstag, war mein Vater mit dem Fischkutter unterwegs, und wir fuhren mit meiner Mom zum Einkaufen in den Ort. Robbie wartete im Truck. Mom hatte gerade eine ihrer schlechten Phasen, was bedeutete, dass sie seit Tagen kaum etwas gegessen hatte – und wir auch nicht – und jetzt lustlos ein paar Dinge einpackte: Makkaroni mit Käse, Tomatensuppe, Brot, Erdnussbutter, Würstchen, Hot-Dog-Brötchen, Cornflakes. Ihre glatten, schwarzen Haare, die normalerweise einen seidigen Glanz hatten, hingen matt und strähnig herunter. Mom bekam bereits mit dreißig die ersten grauen Haare, doch sie lebte nicht lange genug, damit sie völlig silbrig wurden. Als ich ebenfalls recht früh zu ergrauen begann, färbte ich mir jahrelang die Haare und fragte mich dabei manchmal, ob ich das vielleicht weniger aus Eitelkeit tat denn aus Furcht, wie meine Mutter zu werden.

An diesem Tag waren ein paar junge Männer im Laden. Sie trugen verschossene Schlaghosen und weite Hemden im Kaftanstil, Ponchos anstelle von Jacken und komische Strickmützen. Ihre Haare waren beinahe so lang wie die meiner Mutter. Damals, Ende der sechziger Jahre, war es nichts Ungewöhnliches, Hippies in der Stadt zu sehen, und ich war jedes Mal fasziniert von ihnen. Ich blätterte in ein paar Zeitschriften am Tresen, während ich beobachtete, wie meine Mom mit den ernsthaften jungen Männern sprach. Ich war es gewöhnt, dass Männer meiner Mutter ihre Aufmerksamkeit schenkten. Mit ihren blassblauen Augen, dem langen, dunklen Haar und dem von der Arbeit auf der Ranch schlanken Körper zog sie stets die Aufmerksamkeit auf sich, doch dieses Mal schien der Ton der Unterhaltung irgendwie anders zu sein als sonst. Obwohl es draußen kalt war, trugen die Männer Sandalen, und ich konnte nicht aufhören, auf ihre Füße zu starren.

Ich weiß nicht, was sie zu meiner Mom gesagt hatten, aber als wir nach Hause fuhren, hatte sich ihre vorher düstere Stimmung in ein Hoch verwandelt, und sie bretterte lachend um die Kurven. Ihre Augen waren einen Tick zu strahlend, als sie uns Kinder aufzog und uns »Angsthasen« nannte, weil wir verängstigt daneben saßen. Robbie versuchte, seine Furcht nicht zu zeigen, aber die Knöchel der Hand, mit der er den Türgriff des Trucks umklammerte, waren weiß. Den anderen Arm hatte er um meine Schultern gelegt und hielt mich fest. Es war nicht das erste Mal, dass sie uns auf eine ihrer wilden Fahrten mitnahm.

Jahre später, als ich Mitte zwanzig war, starb meine Mutter bei einem Unfall. Auf der nassen Straße geriet sie ins Schleudern, verlor die Kontrolle über den Wagen und prallte mit hundert gegen einen Baum. Ich habe den Polizeibericht gelesen, es gab keinerlei Schleuderspuren: Sie hatte gar nicht versucht, zu bremsen. Damals versuchte sie es auch nicht.

Als wir endlich zu Hause angekommen waren, kletterte Robbie aus dem Truck, und ich rutschte auf wackeligen Beinen hinterher. Mom war bereits herausgesprungen und knallte die Tür hinter sich zu. Wir folgten ihr ins Haus, ein kleines Ranchhaus mit einer Verkleidung aus Zedern-Schindeln, schiefen Fußböden und so vielen undichten Stellen, dass wir bei Regen überall im Haus Eimer aufstellen mussten. Mom stürmte in ihr Schlafzimmer und schmiss Kleider in einen Koffer.

Robbie fragte: »Mom, was tust du da?«

»Wir werden von hier verschwinden. Packt eure Sachen.«

»Machen wir einen Ausflug?«

»Packt alles ein – wir kommen nicht zurück.«

Robbie machte ein erschrockenes Gesicht. »Wir können Dad doch nicht einfach …«

Sie hielt inne und drehte sich zu uns um. »Er lässt uns monatelang allein – ich kann so nicht länger leben. Wir ziehen zu ein paar Leuten draußen am Fluss.«

Ein verwirrendes Gedanken-Kaleidoskop setzte bei mir ein. Würde sie sich von unserem Dad scheiden lassen? Was für Leute? Meinte sie die Hippies, die wir getroffen hatten?

»Das ist eine Revolution«, erklärte sie, »und wir werden Teil davon sein. Wir werden die Welt verändern, Kinder.«

Robbie und ich wussten beide, dass sich bei ihr gar nichts ändern würde, außer vermutlich ihre Stimmung am nächsten Tag, aber wir wussten auch, dass es am besten war, einfach mitzuziehen. Irgendwann würde sie sich wieder beruhigen, und dann würden wir wieder nach Hause kommen.

Jetzt zerrte sie ein paar alte Koffer aus dem Schrank und drückte sie uns in die Hand. »Packt eure Sachen und alles, was ihr mitnehmen wollt.«

Robbie und ich sahen uns an, dann nickte er: Tu einfach, was sie sagt, das geht schon in Ordnung. Ich hatte Angst, aber ich vertraute Robbie.

Alles, was ich einpackte, waren ein paar Klamotten und meine Bücher. Als wir fertig waren, fanden wir Mom draußen beim Truck. Ihren Koffer und Taschen voller Essen hatte sie bereits hinten reingeworfen. Unser Hund Jake, ein schwarzer Bordercollie-Mischling mit einem blauen und einem braunen Auge, folgte uns aus dem Haus, wedelte zaghaft mit dem Schwanz und winselte besorgt. Ich fürchtete, sie könnte ihn zurücklassen – wir hatten zwei Katzen, Jake und ein paar Pferde –, und fragte: »Was ist mit den Tieren?«

Sie war gerade dabei, ein paar von Dads Werkzeugen in den Truck zu werfen, und hielt mitten in der Bewegung inne. Sie machte ein verwirrtes Gesicht, als würde sie in diesem Moment zum ersten Mal an unsere Tiere denken. Kurz darauf sagte sie: »Wir nehmen sie mit. Sie sollen auch frei sein.« Sie wandte sich um, ihre Augen leuchteten fiebrig vor Erregung, die Haut war mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt. »Ihr Kinder wisst gar nicht, wie viel Glück ihr habt. Ihr werdet etwas ganz Unglaubliches erleben. Euer Leben wird sich für immer verändern.«

 

Das Camp der Kommune befand sich auf einer Lichtung neben dem Fluss, verborgen hinter einer dichten Mauer aus Wald. Ganz in der Nähe verlief eine Schotterpiste, die zum Glen Eagle Mountain hinaufführte und die vor allem von Holzschwertransportern genutzt wurde. Der Fluss führte an einer Seite der Lichtung vorbei, und durch die Bäume erhaschte ich einen Blick auf jadegrüne, natürliche Schwimmbecken. Von der Mitte des Camps aus öffnete sich der Wald zum Fluss hin, und ich konnte die sandige Böschung erkennen, an der das Winterhochwasser hier und da einen toten Baum angespült hatte. Ein Baum diente als improvisierter Wäscheständer, während eine Frau im Fluss die Wäsche wusch. Seifenblasen tanzten mit der Strömung davon. Auf der anderen Seite des Flusses war die Böschung hoch und steil, Bäume und Farne klammerten sich in den Mutterboden, der unter ihren Wurzeln erodierte.

In dem Camp lebten mindestens zwei Dutzend Menschen. Die Frauen trugen weite Kleider und Röcke und hatten lange Haare. Die Männer steckten in abgeschnittenen Jeans, ihre Oberkörper waren nackt, und sie hatten ebenfalls lange Haare und Bärte. Katzen, Hunde, Hühner und Kinder liefen durcheinander, und die Luft schwirrte vor Energie, dass ich fast glaubte, sie mit den Händen greifen zu können. Es war kalt, und in der Woche zuvor hatte es geschneit, trotzdem lebten ein paar Leute in Zelten. Zwei alte Schulbusse waren in Schlafräume umgewandelt worden, und es gab Anzeichen, dass sie weitere Hütten bauten. Ein paar Pferde grasten auf einer Wiese rechts von der Hauptlichtung. Ich sah einen Traktor und Pferche mit Ziegen und Schweinen.

Ein Grüppchen kam zu uns, um uns zu begrüßen. Sie umarmten uns, berührten und streichelten unser Haar, als sie uns in ihrem Lager willkommen hießen. Eine blonde Frau, die nach Zeder und Rauch roch, wandte sich an meine Mutter.

»Frieden, Schwester. Wie heißt du?«

»Kate. Dies sind meine Kinder, Nadine und Robbie.«

Die Frau lächelte. »Willkommen, Kate. Ich bin Joy.«

Ein großer Junge mit roten Haaren und Sommersprossen, der in Robbies Alter sein musste, trat vor und stellte sich als Levi vor. Er klopfte Robbie auf die Schulter. »Willkommen in unserem Camp, Mann. Willst du ein paar coole Girls kennenlernen?«

Als sie davongingen, rief ich: »Robbie, warte!« Aber er war bereits außer Hörweite und ging auf ein paar Mädchen im Teenageralter zu, die von seinem Anblick höchst erfreut schienen. Seit er sechzehn war, liefen ihm die Mädchen scharenweise nach – er war hochgewachsen, und von der Arbeit auf unserer Ranch hatte er ordentlich Muskeln. Zerzaustes, schwarzes Haar rahmte sein Gesicht ein, und er trug ständig einen finsteren Harter-Junge-Blick zur Schau, so dass er aussah wie ein schlechtgelaunter Rockstar.

Mom folgte Joy zu einer der Hütten und winkte mich hinterher.

»Du hast gesagt, wir müssen erst die Pferde aus dem Anhänger holen«, sagte ich.

Über die Schulter gewandt antwortete sie: »Das machen wir gleich.« Dann wandte sie sich wieder an Joy: »Für Nadine muss immer alles genau nach Plan gehen.«

Das stimmte. Ich suchte Trost in Regeln, in der Naturwissenschaft und der Mathematik. Mit einer Mutter, die so launenhaft war wie meine, war ich ständig auf der Suche nach Gewissheiten. Ich blieb neben dem Truck stehen und wünschte, Mom hätte die Schlüssel hiergelassen. Ich mochte das Camp nicht, mochte nicht, wie es roch, diesen bitteren, metallischen Geruch. Denselben Geruch verströmte meine Mutter in ihren manischen Phasen.

Dann erblickte ich einen attraktiven jungen Mann, vielleicht Anfang zwanzig, der auf einem Holzblock am Rand der Lichtung saß. Die Wintersonne fiel schräg durch die Tannen und verlieh seiner dichten schokoladenbraunen Mähne einen intensiven Schimmer und tauchte seine Gesichtszüge in warmes Licht. Seine dunkelbraunen Augen mit den langen Wimpern hatten einen fast schläfrigen Ausdruck, die Wangenknochen waren hoch und malten Schatten und Mulden auf sein Gesicht. Die Lippen des vollen Mundes wiesen eine perfekte Symmetrie auf, die Mundwinkel waren leicht nach unten gezogen. Er trug ebenfalls einen Vollbart, der etwas dunkler war als seine Haare, außerdem Jeans, eine lohfarbene Cordjacke und ein Lederband um den Hals. Er beobachtete mich, eine alte Gitarre in den Händen, den bestickten Riemen über der Brust. Er lächelte und winkte mich zu sich. Ich wollte beim Truck bleiben und schüttelte den Kopf. Er zuckte die Achseln, zwinkerte mir zu und begann, auf der Gitarre zu klimpern und leise zu singen.

Jake, der zu meinen Füßen Wache hielt, zockelte zu ihm. Der Mann unterbrach sein Lied und kraulte Jakes Nackenfell. Normalerweise mochte Jake keine Fremden, aber jetzt warf er sich auf den Rücken und wälzte sich am Boden. Der Mann lachte und rieb ihm mit dem Fuß den Bauch. Ich war von Natur aus ein vorsichtiges, misstrauisches Kind. Doch als der Mann den Kopf hob und fragte: »Wie heißt er?«, verließ ich die Sicherheit des Trucks.

3. Kapitel

Ich versicherte Heather und Daniel, dass Heather hier auf der Station gut aufgehoben sei, und erinnerte sie daran, dass alles, was sie mir erzählten, mir bei der Behandlung helfen würde. Anschließend beendete ich meine Visite und trug meine Notizen in die Patientenakten ein. Die ganze Zeit über versuchte ich, das immer stärker werdende Gefühl von Beklemmung zu ignorieren, ebenso wie die Frage, die sich vehement in mein Bewusstsein drängte.

Können das tatsächlich dieselben Leute sein?

Schließlich hatte ich auch alle Termine beim Mental Health Service hinter mich gebracht und machte Feierabend. Jeden Abend, wenn ich von der Arbeit kam, machte ich einen Abstecher zur Pandora Street, wo die Obdachlosen kampierten, und suchte nach der hochgewachsenen Gestalt meiner Tochter Lisa. Sie wurde in diesem März fünfundzwanzig, und ich fragte mich dieselben Dinge, die ich mich jedes Jahr fragte, seit sie mit achtzehn ihre Sachen gepackt hatte: Würde ich sie an dem Tag sehen? Würde sie anrufen? Und im Hintergrund schwang wie immer der noch beängstigendere Gedanke mit: Würde sie ihren nächsten Geburtstag noch erleben? Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, hielt ich den Atem an und fürchtete, die Polizei würde mir mitteilen, dass man ihre Leiche gefunden habe.

Ich stellte den Wagen ab und schlenderte die Straße auf und ab. Ich musterte die Pulks der Straßenkinder und überlegte, ob deren Eltern wohl auch bis spät in die Nacht wach lagen und sich sorgten. Es war kalt, und ich war müde und hungrig, aber ich zog noch eine weitere Runde um den Block, beäugte unförmige Menschenbündel, die unter schmutzigen Decken schliefen und von denen nur das strähnige, ungewaschene Haar und die zerkratzten Arme zu sehen waren. Hoffnung wogte in mir auf, als ich eine junge Frau sah, gefolgt von einer brennenden Verzweiflung, als ich begriff, dass es nicht Lisa war. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie unüberschaubar die Straßen von Victoria waren, bis mein Kind darin verlorenging; hatte nicht gewusst, wie viele dunkle Gassen und verlassene Gebäude es gab oder wie hilflos ich mich deswegen fühlen würde.

Als ich Lisa nirgendwo fand, fuhr ich nach Hause. Am ersten Dezember war ich aus Nanaimo, einer Stadt etwa eineinhalb Stunden nördlich von Victoria, hierhergezogen, in der Hoffnung, irgendwie den Kontakt zu ihr herzustellen. Bis zum Juli davor, bevor ich mich endgültig zu diesem Schritt entschlossen hatte, hatte ich meine Praxis weitergeführt, da ich meine Klienten nicht ohne Unterstützung lassen wollte. Sobald ich alle verbliebenen Klienten an einen ausgezeichneten Therapeuten in der Stadt übergeben hatte, hatte ich mir den Rest des Sommers freigenommen und war umhergereist. Im Herbst hatte ich mein Haus zum Verkauf angeboten, immer noch mit dem Plan, eine Privatpraxis in Victoria zu eröffnen, als eine Stelle in der Erwachsenenpsychiatrie des St. Adrian’s Hospital frei wurde. Kurz darauf war mein Haus verkauft.

Jetzt war es Februar, mehr als zwei Monate später, und ich hatte mich immer noch nicht in Fairfield, meinem neuen Viertel in Victoria, eingelebt. Es war eine reizende Gegend mit baumgesäumten Straßen zwischen Oak Bay, James Bay, Rockland und dem Beacon Hill Park und grenzte im Süden direkt an die Küste der Juan-de-Fuca-Meerenge. Normalerweise ließ ich mir Zeit, damit ich all die denkmalgeschützten Häuser bewundern konnte, doch heute war ich zu abgelenkt und seufzte erleichtert, als ich auf der Auffahrt zu meinem neuen Haus anhielt.

In einer Straße mit älteren viktorianischen Häusern gelegen, war es in einem Mix aus traditionellem Westküstenstil und modernen Asia-Elementen erbaut. Überall scharfe Kanten, goldgestrichene Holzverkleidung im unteren Bereich, stahlblaue Plankenverkleidung in der oberen Hälfte, dazu große Glasfronten mit breiten weißen Rahmen. Das Aluminiumdach lag wie ein silberner Schrägstrich darüber, und es gab sogar eine Dachterrasse für den morgendlichen Tee. Bambus in großen schwarzen Keramiktöpfen säumte die Vordertreppe und den Fußweg und setzte sich in einem bernsteinfarbenen Holzzaun und einem Tor mit schwarzen Beschlägen fort. Die Garage auf der Rückseite war zu einem Gartenschuppen umgebaut worden, der sich perfekt für mein neues Hobby eignete – dem Ziehen von Bonsais, einer Kunst, die ich schon immer bewundert hatte und noch längst nicht beherrschte. Ich hatte aus Spaß einmal einen Kurs besucht und am Ende festgestellt, dass mich diese Tätigkeit ungeheuer entspannte. Ich verbrachte so viel Zeit mit Kopfarbeit, dass es guttat, zur Abwechslung etwas Kreatives zu machen. Das sorgfältige Formen und Kultivieren eines Baumes über einen langen Zeitraum gemahnte mich außerdem daran, meinen Patienten gegenüber Geduld aufzubringen.

Ehe ich aus dem Wagen stieg, vergewisserte ich mich mit einem raschen Blick in die Spiegel, dass niemand mir auflauerte. Letzten Sommer war ich in Nanaimo vor meiner Praxis überfallen worden – ein weiterer Grund für mich umzuziehen, obwohl ich zu dem Zeitpunkt bereits darüber nachgedacht hatte. Ich hatte mir damals nichts gebrochen, aber ich war bewusstlos geschlagen worden und hatte den Angreifer nie gesehen. Eine Klientin hatte zu dieser Zeit ziemliche Probleme mit ihrem leiblichen Vater, und zunächst verdächtigte man ihn, hinter dem Überfall zu stecken. Doch im Laufe der Ermittlungen erschien das immer unwahrscheinlicher. Eine weitere Patientin hatte kurz zuvor ihren gewalttätigen Mann verlassen. Als er in die Praxis kam, um mich zur Rede zu stellen, weigerte ich mich, ihm zu erzählen, wo sie war. Eine Woche später wurde ich überfallen. Die Polizei konnte nicht beweisen, dass er es war, aber ich war mir dessen sicher.

Ich schloss die Haustür auf, hielt jedoch inne, als mir eine schwarze, offensichtlich herrenlose Katze auffiel, die nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien und gerade über die Straße in Richtung Ross-Bay-Friedhof bummelte. Hoffentlich hatte sie irgendwo einen warmen Unterschlupf. Meine letzte Katze, Silky, war im Juni gestorben, und ich hatte es nicht übers Herz gebracht, eine neue zu adoptieren. Ich redete mir ein, es läge daran, dass ich reisen wollte, doch ich wusste, dass ich in Wirklichkeit noch nicht bereit dazu war. In der Sicherheit meines Hauses nahm ich ein Bad, um den Geruch der Klinik abzuwaschen, zog mein taubengraues Lieblings-Yoga-Outfit an, bereitete mir eine Tasse Tee, und dann, erst dann, gestattete ich mir, darüber nachzudenken, was ich im Krankenhaus erfahren hatte – und was ich deswegen unternehmen sollte.

 

Meine Mutter hatte uns erzählt, dass die Kommune nach Victoria umgezogen war, kurz nachdem wir sie verlassen hatten, und ich hatte angenommen, dass sie sich irgendwann aufgelöst hätte. Einmal, mit Anfang zwanzig, fuhr ich mit einem Freund auf der Suche nach einer guten Badestelle durch die Berge und erkannte den alten Eingang zum Gelände der Kommune wieder. Er wollte anhalten und sich umschauen, da er Gerüchte von einer Gruppe Hippies gehört hatte, die hier kampiert hätten. Ich verschwieg ihm, dass ich ebenfalls dort gelebt hatte, war aber auch neugierig. Wir liefen auf der Lichtung herum, die mittlerweile ziemlich überwuchert war, und ich kam mir vor wie in einer Geisterstadt. Die Hütten und Schuppen standen leer, die Türen hingen schief in den Angeln, und die Fensterscheiben waren zerschlagen. Unsere Stimmen verloren sich im stillen Wald. Mir wurde immer beklommener zumute, je näher wir dem Fluss kamen, mein Herz raste, und meine Brust wurde eng. Ich überredete meinen Freund, zu verschwinden, und glaubte, allein die Stille und der dunkle Wald hätten mir Angst gemacht.

Erst Jahre später sprach ich mit meinem Therapeuten über die Monate, die ich in der Kommune verbracht hatte. Ich erzählte ihm alles, an das ich mich von dem Ort und den anderen Mitgliedern noch erinnerte, von meinem Bruder und meiner Mutter, wie wir im Fluss schwammen, von den Lagerfeuern bis spät in die Nacht. Doch ich konnte mich an kein einziges besonderes Erlebnis erinnern, das meine Klaustrophobie hätte erklären können, nicht einmal endlose Hypnosesitzungen förderten etwas zutage. Da war lediglich dieses unbestimmte Gefühl, dass mir einige der Dinge, die die Erwachsenen getan hatten, nicht gefallen hatten. Und dass ich mich in Aarons und Josephs Gegenwart unbehaglich gefühlt hatte – jenes jungen Mannes, den ich am ersten Tag kennengelernt hatte, und seines jüngeren Bruders. Manchmal glaubte ich, ich könnte das eine oder andere vergessen haben, wie Leerstellen in meiner Lebenschronik, aber nichts, was ich näher hätte benennen können.

Und jetzt sollten sie immer noch in der Nähe von Victoria sein? Ich konnte es nicht fassen, war aber auch neugierig, wie die Kommune heute war und ob immer noch dieselben Menschen dort lebten.

 

An diesem Abend ging ich ins Internet und erfuhr einiges über das River of Life Spiritual Center. Es dauerte nicht lange, bis ich ihre Website gefunden hatte, mit dem Leitsatz: »Wir begleiten Dich auf Deinem Weg zur Erleuchtung.« Es gab herrliche Bilder von der Kommune, die rund 100 Hektar Land an der Mündung des Flusses besaß. Ich war seit Jahren nicht mehr in dem Ort Jordan River gewesen, doch ich erinnerte mich, dass es eine kleine Gemeinde etwa eine Stunde westlich von Victoria war. Ursprünglich war es einmal ein Holzfällercamp gewesen, und es gab nicht viel von dem, was ein Ort sonst zu bieten hatte, lediglich ein paar Imbissbuden und einen Gemischtwarenladen.

Das Land der Kommune schien vorwiegend aus Wald und Wanderwegen zu bestehen, allerdings gab es auch große Flächen Farmland, dessen Bewirtschaftung zu ihrem Unterhalt beitrug und Teil des Therapieprogramms war. Es schien ein faszinierender Ort zu sein. Auf der Website wurden anschaulich die Heilkräfte der Erde und die angebotenen Workshops beschrieben, die zu einem für Geist und Seele erfüllten Leben führten. Mit Meditation, spiritueller Erweckung, dem Aufbau von Beziehungen, dem bewussten Leben und Sterben, dem Vermischen von östlicher und westlicher Philosophie könne jeder Einzelne sein persönliches Potential vollkommen ausschöpfen. Es gab Schwitzhütten, Mineralbäder und aufwendig gestaltete Gärten. Die gesunden Mahlzeiten wurden aus dem zubereitet, was auf dem eigenen Land wuchs. Immer wieder wurde die Tugend eines einfachen, ausgewogenen Lebensstils hervorgehoben.

Laut der Website würde man neue Freundschaften schließen und ein größeres Verständnis für sich selbst und das Leben entwickeln, je mehr man von der allumfassenden Welt erfuhr. Man würde neues Selbstvertrauen finden und große persönliche Zufriedenheit erlangen. Mit Nachdruck schrieben die Autoren, dass wir nur die Verwalter der Erde seien und dass die Menschen sich ihrer Verantwortung stellen müssten. Ich dachte an Heathers Worte bei unserem ersten Gespräch: Wir kümmern uns um die Erde.

Sie taten auch einiges für die Gemeinde und unterstützten Projekte überall auf der Welt. Es gab Fotos von Menschen, die Gräben aushoben, auf Feldern arbeiteten, Gebäude errichteten. Es gab einen Spendenknopf, und ich überlegte, wie viel Geld wohl tatsächlich aufgewendet wurde, um in notleidenden Ländern zu helfen.

Ich war beeindruckt und überrascht, wie professionell die Kommune seit den sechziger Jahren geworden und zu was sie herangewachsen war. Offensichtlich handelte es sich inzwischen um eine ansehnliche Organisation, mit spirituellen Zentren in drei Ländern, und wahrscheinlich war sie ziemlich wohlhabend. Es gab einen ausgefeilten Online-Katalog, an dessen Anfang ein Brief ihres Leiters, Aaron Quinn, stand.

Ich starrte auf sein Foto. Verschwunden waren die langen Haare und der Bart. Der schneeweiße Schopf war ordentlich gestutzt, genau wie sein Bart, aber er war immer noch ein attraktiver Mann. Er trug einen dunklen Rollkragenpullover und lächelte freundlich in die Kamera, sein Blick strahlte Weisheit aus. Er sah genauso aus, wie er sich darstellte: Wie der Leiter eines Zentrums, das sich der Selbsterkenntnis und Spiritualität verschrieben hatte. Doch als ich seine Gesichtszüge musterte, spürte ich, wie mich etwas auf meinem Stuhl zurückzog, als müsste ich Distanz zwischen uns schaffen.

Ich las sein Grußschreiben. Las, dass er das Zentrum aufgebaut hatte, weil er glaubte, bei der gegenwärtigen Klimakrise sei es wichtiger als je zuvor, die Menschen aufzurütteln und für die Not der Erde empfänglich zu machen. Sie verlangten gewaltige Summen für ihre Workshops und Intensivkurse, die von einem Wochenende bis zu einem Monat dauern konnten – wenn man akzeptiert wurde, denn sie nahmen nur eine bestimmte Anzahl Teilnehmer pro Kurs auf. Wer Mitglied werden wollte, musste sich bewerben und bereit sein, dauerhaft in der Kommune zu leben. Ich fragte mich, nach welchen Kriterien die Mitglieder ausgewählt wurden. Ich fragte mich auch, was wohl aus Joseph geworden war, und versuchte, sein Alter zu berechnen. Wenn er etwa achtzehn gewesen war, als ich ihn kennenlernte, dann wäre er jetzt Ende fünfzig. Aaron war damals zweiundzwanzig und musste jetzt Anfang sechzig sein.

Ich sah mir erneut Aarons Foto an. Als ich an Heather im Krankenhaus dachte, an die Verbände an ihren Handgelenken und an ihre Schuldgefühle wegen ihres toten Kindes, machte sein stilles Lächeln mich plötzlich wütend. Ich schaltete den Computer aus.

4. Kapitel

Am nächsten Morgen erwachte ich spät und unausgeschlafen. Obwohl ich keinen Appetit hatte, zwang ich mich, auf dem Weg zum Krankenhaus einen Muffin zu essen, und spülte ihn mit einem Tee aus einem Eckcafé herunter. Vor der Visite hoffte ich, mit einem meiner Kollegen sprechen zu können. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass es für Heather besser wäre, wenn sie eine Ärztin bekäme, die nie etwas mit der Kommune zu tun gehabt hatte, aber ich wollte vorher mit jemand anders darüber reden. Als ich den Korridor entlang auf die geschlossene Abteilung zueilte, kam mir Michelle entgegen. Lächelnd sagte sie: »Guten Morgen, Dr. Lavoie.«

Ich lächelte ebenfalls. »Guten Morgen.«

Sie blieb stehen und betrachtete meinen Schal. »Der gefällt mir. Was für eine wunderschöne Farbe.«

Ich blickte hinunter auf den lavendelfarbenen Stoff. Ich war heute Morgen abgelenkt gewesen und konnte mich kaum daran erinnern, ihn umgelegt zu haben. »Danke. Ich habe ihn schon ewig.«

»Sie sind immer so schön angezogen. Also, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«

»Ihnen auch.«

Sie ging weiter und ließ mich heiterer zurück, als ich durch die Tür gekommen war. Michelle war einfach wunderbar, so lebensbejahend und anderen Menschen zugewandt. Vor ein paar Tagen hatte ich ihr im Pausenraum erzählt, dass ich diesen Monat fünfundfünfzig würde. Sie hielt inne, den Becher auf halbem Weg zum Mund, und sagte: »Sie wollen mich auf den Arm nehmen. Ich dachte, wir wären etwa gleich alt.«

Michelle war höchstens Mitte vierzig. Ich lachte. »Schön wär’s.«

Sie sagte: »Jedenfalls sehen Sie gut aus.«