Blochers Schweiz - Thomas Zaugg - E-Book

Blochers Schweiz E-Book

Thomas Zaugg

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Beschreibung

Christoph Blocher zählt zu den einflussreichsten Politikern der Schweiz der vergangenen Jahrzehnte. Doch welche Ideen und Denker prägen ihn selbst? 'Blochers Schweiz' erklärt den Aufstieg der nationalkonservativen Bewegung aus der Mitte der alten Landeskultur. Zu Blochers Inspiratoren gehören die geistigen Landesverteidiger, deren Namen heute nahezu vergessen sind: politische Poeten der Aktivdienstgeneration wie Emil Egli, Peter Dürrenmatt, Georg Thürer oder Karl Schmid. Sie gestalteten das Bild einer Schweiz, die sie als Kleinod im Zeitalter der Extreme verstanden. Neu beleuchtet der Autor Facetten, die durch den EWR-Abstimmungskampf 1992 in den Hintergrund traten. In den 1980er-Jahren wendete sich Christoph Blocher mit bibelfester Rhetorik gegen eine als wirklichkeitsfremd empfundene Politik. Er stellte sich gegen Friedensmärsche, das neue Eherecht und forderte 'Selbstverleugnung' statt 'Selbstverwirklichung'. Christoph Blocher: ein konservativer Provokateur, dessen Wurzeln im elterlichen Pfarrhaus und in der Lektüre des Theologen Karl Barth liegen.

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Thomas Zaugg

BLOCHERS SCHWEIZ

GESINNUNGEN, IDEEN, MYTHEN

Verlag Neue Zürcher Zeitung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2014 (ISBN 978-3-03823-885-0).

Titelgestaltung: TGG Hafen Senn Stieger, St.Gallen

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-03823-937-6

www.nzz-libro.ch

Meinen Eltern Sylvia und Dieter Zaugg-Zambelli

EIN KONSERVATIVER PROVOKATEUR IN SEINER EPOCHE – EINLEITUNG

1

Ich gehe nicht von einer These,

sondern von einer Geschichte aus.

2

Geht man von einer Geschichte aus,

muss sie zu Ende gedacht werden.

Friedrich Dürrenmatt,

21 Punkte zu den «Physikern»1

Das vorliegende Buch ist weder eine Biografie noch soll es als politische Streitschrift gelesen werden. Es erzählt die Geschichte einer alten konservativen Mitte der Schweiz. Von ihr zehrt Blochers Schweiz noch heute. Es gibt – davon handeln die ersten drei Kapitel – mentalitätsgeschichtliche Voraussetzungen für den Aufstieg der Nationalkonservativen in den 1990er-Jahren: eine Gesinnungslage, die über die Krise der 1930er-Jahre und den Zweiten Weltkrieg hinaus bis in die 1960er-Jahre dominierte. Zu den entfernten geistigen Inspiratoren des 1940 geborenen Christoph Blocher gehören Persönlichkeiten, deren Namen und Werke kaum mehr bekannt sind: politische Poeten der Aktivdienstgeneration wie Emil Egli, Peter Dürrenmatt, Georg Thürer oder Karl Schmid. Sie prägten das Bild des Landes, ein Kleinod im Zeitalter der Extreme. Es ist kaum übertrieben, nach dem 1. August 1891 von einer zweiten Erfindung der Schweiz zu reden: Schriftsteller, Historiker, Journalisten, Politiker und Militärs brachten in der «geistigen Landesverteidigung» die alten Geschichten von Tell, dem Rütli und den alteidgenössischen Schlachten zu neuer Blüte. Bereits im 19. Jahrhundert zur Einheitsstiftung benutzt, dienten diese Erzählungen im Zweiten Weltkrieg wieder als gesellschaftliches Band. Selbst der mythenkritische junge Germanist Karl Schmid begann auf einmal vom Tell zu schwärmen, der den zahm gewordenen Liberalismus wie eine gewaltige Lawine von den totalitären Feinden befreien würde. Georg Thürer, ein Historiker und Lehrer in St.Gallen, verglich die Schweiz mit einem Igel, den niemand schlucken wolle. Disziplin und Dichtung, Geist und Vaterlandsliebe schossen zusammen. In Graubünden kam ein gewisser Werner Oswald auf die Idee, für die Treibstoffunabhängigkeit des Landes aus den umliegenden Wäldern Benzin zu gewinnen. Auch Wirtschaft und Landschaft standen nun in patriotischen Diensten.

Ein oftmals einsilbig vaterländisches Reden, wie es auch im Kalten Krieg Hochkonjunktur haben würde, verband diese Männer. Deren lautstarkes Echo ist Christoph Blochers Stimme. Bei Professor Schmid besucht der Student Blocher in den 1960er-Jahren Vorlesungen, mit Thürer verbindet ihn 1965 die Herausgabe eines Prachtbandes zum Gedenken an die Schlacht bei Marignano. Nach dem Tod Oswalds, zu dem er bereits während des Studiums beinah eine Vater-Sohn-Beziehung pflegt, führt Blocher die Emser Werke weiter. Dass ihn mit der alten Schweiz einiges verbindet, weiss man spätestens seit der Nazigold-Affäre 1997. Damals beharrte Blocher nicht ganz zu Unrecht auf Bundesrat Delamuraz’ Äusserung, Auschwitz habe nicht in der Schweiz gelegen.

Das EWR-Nein, die Bewahrung kleinstaatlicher Freiheit und Eigenart, Überfremdungsängste, die Asyldebatte, das Bankgeheimnis sind weitere Rezepte der Vergangenheit, welche die Blocher-Bewegung in die Zukunft retten will. Diese Themen galten in den 1990er-Jahren als unschweizerisch, und Blocher sah sich mit europäischen Rechtspopulisten wie Berlusconi, Haider oder Le Pen gleichgesetzt. Gerade dieser Umgang vielleicht zeigt, wie sehr das Land damals die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit scheute: Aus Selbstüberdruss sah in Blocher niemand die Übersteigerung der eigenen neutralen Kleinstaaterei. Niemand wollte im «Volkstribun» das Naheliegende sehen: die alte Schweiz zwischen Kleinmut, Hybris und herbem Realitätssinn, wie sie dem kulturellen Bruch von 1968 widerstanden hatte.

Es wäre allerdings ein vermessener geisteswissenschaftlicher Sprung, Blocher nur als letzten geistigen Landesverteidiger zu porträtieren. Indem er gegen das Korsett der Konsensdemokratie die Auseinandersetzung sucht, darf sich Christoph Blocher durchaus einen 68er «von der anderen Seite» nennen. Als einer der Ersten erschloss er zudem mit der Ems-Chemie die Märkte in China, verband Jodeln mit Hightech. Zusammen mit dem Bankier Martin Ebner schrieb er ein Kapitel Schweizer Finanzgeschichte, das noch auf seine Aufarbeitung wartet und hier nicht besprochen wird.

Doch ist die moderne Verbindung von Heimattum und Kapitalismus, von Stall und Stahl nicht der innere Kern der konservativen Weltanschauung Blochers. Aus den historischen Quellen spricht ein überraschend bibelfester Jungpolitiker, der den Theologen Karl Barth zu zitieren pflegt und im liberalen Zürich der 1970er- und 1980er-Jahre ein Aussenseiter ist. Gegen «Gleichberechtigung» und für «Selbstverleugnung» war Blocher damals, gegen Friedensmärsche, gegen das neue Eherecht, für Führung und Disziplin. Als konservativer Provokateur hat der Pfarrerssohn seine Laufbahn begonnen, als Neinsager zum Zeitgeist, der Sinn und Zweck von Prügelstrafe, Gehorsam, Unterordnung durchaus nicht so sehr anzweifelte wie andere. In der Bibel, schrieb Blocher damals, habe die Liebe die Struktur der Autorität.

Selbst den geistigen Landesverteidigern erschien dieser junge Mann konservativ und ungestüm. Erst in den 1990er-Jahren, mit dem fast alleinigen Wahlkampf gegen die EWR-Vorlage, treichelt Christoph Blocher die politische Rechte um sich zusammen. Bevor er als nationalistische Unperson ins Zentrum rückte, war er nur ein Patriot unter vielen. Sein heutiger Bezug auf Förderer und Vorbilder ist teils konstruiert. Nicht mit allen Patrioten der Vergangenheit – sei es Egli, Schmid oder Thürer – hat Blocher so viel gemein, wie er möchte. Blochers Schweiz ist nie ein Panoramabild, sondern ein Ausschnitt.

Dieses Buch ist die überarbeitete und ergänzte Fassung meiner Lizentiatsarbeit im Fach der Politischen Philosophie, die Ende 2013 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommen wurde. Bereits in jener Fassung griff ich einiges nur wahlweise auf, breitete kaum Zahlenmaterial aus, bemühte selten die politologische Statistik. Es war von Beginn an eine Arbeit, die mit Einzelpersonen und deren Ideenwelt Motivforschung betrieb und Mentalitäten beschrieb, ohne sich gegen oder für sie auszusprechen. Indem ich die Quellen ausführlich zitierte und auf durchgängige, zwingende Textauslegung verzichtete, versuchte ich das kontroverse Thema zu beschreiben, statt zu bewerten. Vor Abgabe der Lizentiatsarbeit interessierte mich das Urteil eines historischen Akteurs meiner Darstellung. So hat Christoph Blocher im April 2013 zu der Rohfassung der Lizentiatsarbeit eine persönliche Stellungnahme verfasst. Diese kann nach Absprache mit mir in der Zentralbibliothek Zürich eingesehen werden.

Mein Dank geht im Besonderen an Prof.em. Dr.Georg Kohler. Nicht nur betreute er mit Rat und viel Vertrauen diese Arbeit, sondern prägte ihre Perspektive mit dem Hinweis, die «Blocher-Schweiz» sei aus ihren «kollektivhistorischen Beständen» zu deuten.2 Kritische Anmerkungen und Mut gaben Martin Beglinger, Heinz Bösch und Michael Pfenninger. Balthasar Zimmermann verdanke ich viele Gespräche, kleine Geschichten und Beobachtungen, die nicht nur in einer These enden.

1.  GEISTIGE LANDESVERTEIDIGUNG IN DEN 1930ER-JAHREN – AUF DER SUCHE NACH EINER MITTE

Am 9. Dezember 1938 ist es so weit. Der Bundesrat veröffentlicht eine «Botschaft über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung». Sie handelt vom Berg St.Gotthard, von drei Strömen, die ihm entspringen, von der Idee, die sein Massiv verkörpert. Die «Kulturbotschaft» ist ein zeittypisches Dokument, auf das viele gewartet haben. Im Jahr vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wappnet sich die Schweiz mit Metaphern gegen die Bedrohung von aussen. Bis auf die Kommunisten stehen alle Parteien hinter den Formulierungen. Schliesslich war es der Basler Sozialdemokrat Fritz Hauser, der den Bundesrat bereits 1935 entsprechende Massnahmen zu prüfen bat. So will es bis heute der Entstehungsmythos rund um die Kulturbotschaft.3

Mythos deshalb, weil derselbe Fritz Hauser im Endprodukt nur «ein Stück geistiger Verteidigung» auf einem «verhältnismässig bescheidenen Gebiet» gesehen hat.4 Ende März 1939 debattiert die Bundesversammlung über den Inhalt der Kulturbotschaft, und «den poetischen Ergüssen, die wir nun gehört haben», möchte der Sozialdemokrat Hauser «ein klein bisschen nüchterne Prosa» hinzufügen.5 Er spricht dem Vater der Kulturbotschaft ein zwiespältiges Lob aus:

«Wie gesagt, ich bin Herrn Bundespräsident Etter sehr dankbar für seine Botschaft, sie weicht ein wenig ab von der üblichen Form der Ratschläge, von der Nüchternheit dieser Botschaften, sie ist mir persönlich ein bisschen zu poetisch, aber sie liest sich wenigstens so wie ein kleiner, hübscher Roman, und insofern bringt sie für die, die sich die Mühe geben, sie zu lesen, auch eine kleine Unterhaltung.»6

1 Bundesrat Philipp Etter in seinem Büro, um 1955.

Innerschweizer, Stiftschüler in Einsiedeln und Sohn eines Küfermeisters, war Philipp Etter (1891–1977) ein prägender Kopf der katholisch-konservativen Politik. Er gilt als Vater der Kulturbotschaft von 1938, mit der die geistige Landesverteidigung zur offiziellen Staatsräson erklärt wurde. Jahrelang war Etter für die Zuger Nachrichten journalistisch tätig. Mein Kampf las er 1927 und sah darin das Buch eines Psychotikers. 1933, nach der Machtergreifung Hitlers, rief Etter als Zuger Ständerat in einem Essay nach dem starken Staat, einer katholisch-korporatistischen Wende. Seine antiliberalen und judenfeindlichen Wortmeldungen aus den frühen 1930er-Jahren belasten bis heute das Bild von «Etternel», der von 1934 bis 1959 so lange Bundesrat war wie keiner nach ihm. In der Kriegszeit übte sich Etter in Rücksicht gegenüber dem faschistischen Italien und in Vorsicht gegenüber dem NS-Regime. Nach 1945 setzte er sich für die Einführung der Invalidenrente sowie eine Stärkung der AHV ein, den Ausbau der ETH sowie den Bau der Alpen- und Nationalstrassen.

Die heutige Geschichtsschreibung hat dieses sozialdemokratische Urteil grösstenteils übernommen. Die gewaltigen Mythen der damals einsetzenden geistigen Landesverteidigung erscheinen heute zuweilen unheimlich, wenn sie einen nicht eher peinlich berühren oder realitätsfern wirken, wie eben ein kleiner, hübscher Roman. Als der propagandistische Teil eines Abwehrdispositivs sollte die «geistige» die wirtschaftliche und die militärische Landesverteidigung stützen. Entsprechend blickt die Forschung auf das Phänomen zurück: Viele Historiker schreiben die «Geistige Landesverteidigung» gross,7 so als habe es sich um eine institutionelle, eine bürokratisch-militärische Angelegenheit gehandelt. Dazu passt, wie jene «Geistige Landesverteidigung» auf eine bestimmte Person zurückgeführt wird: auf den bereits angesprochenen Bundesrat Philipp Etter, einen führenden katholisch-konservativen Kopf mit antiliberalen Ideen, dessen 1933 erschienene Schrift Vaterländische Erneuerung und wir sich heute auf der Liste antisemitischer und faschistischer Schriften des Simon Wiesenthal Center wiederfindet.8

Etter stand aber bereits zu Lebzeiten in der Kritik. So erwähnt Fritz Hauser 1939 in seiner Würdigung der Kulturbotschaft eine «Broschüre» Etters,9 «wo er immerhin mit dem Fascismus ein klein wenig liebäugelt, wenn er sagt, er habe sehr gesunde Elemente, die Tendenz zur Autorität und Ordnung, man müsse sehen, wie er sich weiter entwickelt». Hauser sagt: «Da werden wir uns nie finden.»10

Das Urteil der Historiker gereicht Etter kaum zur Ehrenrettung. Dieser Bundesrat habe «unter dem direkten Einfluss des in der Schweiz der Zwischenkriegszeit führenden katholischen Rechtsintellektuellen und erklärten Antidemokraten Gonzague de Reynold die so genannte ‹Kulturbotschaft› zur Geistigen Landesverteidigung verfasst», schreibt Philipp Sarasin.11 Gleichlautend Hans Ulrich Jost: «Etter lässt sich […] häufig von Gonzague de Reynold beraten. Dieser liefert die Grundlagen für eine neue Kulturpolitik, die in die Geistige Landesverteidigung mündet.»12 Für Georg Kreis ist Etter «vielleicht der mächtigste ‹Intellektuelle› und zugleich der intellektuellste unter den politisch Mächtigen der Schweiz»13 – und mit de Reynold verband ihn «so etwas wie eine Intellektuellenfreundschaft».14

Liess sich die Schweiz in der Bedrohungslage unter Kulturminister Etter von einem antisemitischen Schattenberater leiten? Von de Reynold, einem Freiburger Patrizier, der dem Volk seinerzeit einen «Landammann» zum Führer anempfahl?15 Stand hinter aller geistigen Landesverteidigung – dieses Duo?

2 Gonzague de Reynold (1880–1970), 1955.

Der Freiburger Patrizier Gonzague de Reynold (1880–1970) wirkte als Schriftsteller und Professor, er gilt als Vordenker aller autoritären Rechtsbewegungen in der Schweiz bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Die liberale Demokratie erscheint in seinem Werk als Auslaufmodell. 1929, nach der Publikation seines damals bereits umstrittenen Werks La démocratie en Suisse, verlor de Reynold seinen Lehrstuhl in Bern und wechselte nach Freiburg. In Selbstbesinnung der Schweiz träumt de Reynold 1938 von einer Schweiz unter Führung eines Landammanns. Zwar wahrte er aristokratische Distanz gegenüber dem Faschismus. Doch zwischen 1927 und 1935 ein Bewunderer des italienischen Diktaturregimes, erblickte er darin die einzige Weltanschauung, die das Proletariat zu seinem Recht bringe. Mit Bundesrat Etter pflegte de Reynold, 1955 Träger des Grossen Schillerpreises, einen regen Gedankenaustausch.

Es handelt sich schlicht um eine Überinterpretation – eine unter vielen in der vorliegenden Geschichte. Martin Pfister, der Einblick erhielt in Etters Privatnachlass, versteht den Zuger Bundesrat als eigenständigen Intellektuellen, der de Reynolds Demokratieverachtung das Idealbild der Landsgemeinde entgegenhielt.16 Aram Mattioli, auf dessen Dissertation sich alle genannten Autoren beziehen, erwähnt zwar die Gespräche, den Briefverkehr, die Freundschaft de Reynolds mit Etter. Hinweise auf eine ferngesteuerte geistige Landesverteidigung sucht man jedoch vergeblich. Mattioli zählt im Gegenteil zu jenen Historikerstimmen, die neben betont rechtsstehenden Intellektuellen viele «mutige Verteidiger der liberalen Ordnung» und in der Vielzahl vaterländischer Voten «auch eine freisinnige und sozialdemokratische Spielart» entdecken.17 Bundesrat Etter betreffend könne man von «überraschend großen Forschungslücken» sprechen, schreibt Philipp Sarasin, ohne sie zu schliessen.18 Klarheit scheint nicht einmal darüber zu bestehen, inwieweit die Kulturbotschaft als persönliches Werk Etters zu betrachten ist – so der Grandseigneur Edgar Bonjour19 – oder aus Kreisen der Neuen Helvetischen Gesellschaft mitinspiriert wurde.20

«Etters» Kulturbotschaft steht da wie ein Symptom. In der Diskussion über die politische Kultur der Zwischenkriegszeit gibt es nicht nur Forschungslücken, es mangelt vielmehr an Verständnis damaliger politischer Prosa und Poesie. Eine «Sonderphantasie»21 habe die Schweiz seit je, schreibt der Germanist Peter von Matt. Geistige Landesverteidigung war so gesehen ein generationen- und klassenübergreifender Männertraum. Hinter ihm stand: die Suche nach einer politischen und kulturellen Landesmitte, die eigentliche Erfindung der Schweiz des Ausgleichs, der Konkordanz, des Konsenses.

Daher zurück zur Kulturbotschaft vom 9. Dezember 1938. Denn wie nie zuvor schlägt sich die helvetische Sonderphantasie in dieser «Magna Charta»22 der geistigen Landesverteidigung nieder. Ausgangsproblem der Schrift ist die «Propaganda», die in moderner Zeit «ungeahnte Ausmasse angenommen» habe.23 Nachdem der Erste Weltkrieg «nicht allein durch die Überlegenheit der Waffen und der wirtschaftlichen Kriegsbereitschaft, als letzten Endes ebensosehr durch die Überlegenheit der Propaganda entschieden worden ist»,24 zieht der Bundesrat nach mit der Schaffung einer Stiftung zur Kulturwahrung und Kulturwerbung – der Pro Helvetia.25 Doch sollte die Werbung für die Schweiz vor allem eines nicht sein: staatlich verordnet. An oberster Stelle wolle man «stets der Wahrheit bewusst bleiben, dass der Staat wohl in der Lage ist, das geistige Leben des Landes durch den Einsatz staatlicher Mittel zu heben und zu fördern, dass aber letzten Endes immer die freie menschliche Persönlichkeit in ihrer schöpferischen Kraft die eigentliche Trägerin des geistigen Lebens sein wird».26 Die «Freiheit der Kultur» und die «Kulturhoheit der Kantone» hält die Propaganda nach Schweizerart hoch.27 Und: «Verteidigung des schweizerischen Geistes nicht durch Defensive und Negation, sondern durch schöpferische Tat und schöpferische Aktion!»28 Die neutrale Schweiz soll mit ihrer Propaganda nicht angreifen, nicht provozieren. Sie wendet sich nach innen. Die Kulturbotschaft benennt die «Konstanten, die bleibenden Linien»29 des Landes in knapper Aufzählung: Mehrsprachigkeit, Föderalismus, direkte Demokratie sowie Ehrfurcht vor Würde und Freiheit des Menschen.30

Dann erst, nach diesen Voraussetzungen, vollzieht das Dokument eine Wendung ins Mythische. Die Sonderphantasie bricht sich Bahn, sobald der «Berg der Mitte» auftritt.31 Der St.Gotthard ist zugleich «Berg der Scheidung» und «Pass der Verbindung».32 Denn hier finden sich drei Ströme dreier geistiger Lebensräume – Rhein, Rhone und Tessin –, und es wäre ein «naturwidriges Unterfangen»,33 diese topografisch vereinten Geistesströme zu trennen. Daher bezeichnet die Kulturbotschaft die Sammlung der alten Eidgenossen rund um den einen Berg als «providentiell»34 – ein Werk der Vorsehung.

Darüber hinaus wird aus einem christlichen Standpunkt heraus angekämpft gegen die nationalsozialistische Auffassung, eine Nation definiere sich durch Rasse und Sprache. Das ist der Hintersinn der berühmten Formel:

«Der schweizerische Staatsgedanke ist nicht aus der Rasse, nicht aus dem Fleisch, er ist aus dem Geist geboren. Es ist doch etwas Grossartiges, etwas Monumentales, dass um den Gotthard, den Berg der Scheidung und den Pass der Verbindung, eine gewaltig grosse Idee ihre Menschwerdung, ihre Staatwerdung feiern durfte, eine europäische, eine universelle Idee: die Idee einer geistigen Gemeinschaft der Völker und der abendländischen Kulturen! Diese Idee, die Sinn und Sendung unseres eidgenössischen Staatsgedankens zum Ausdruck bringt, bedeutet im Grunde genommen nichts anderes als den Sieg des Gedanklichen über das Materielle, den Sieg des Geistes über das Fleisch auf dem harten Boden des Staatlichen.»35

Stärker als das schwache «Fleisch» ist die gewachsene Kultur, der gemeinsame «Geist». Ein Streit zwischen den Sprachkulturen wird schliesslich verunmöglicht durch den Föderalismus, er sei der «stärkste Wall gegen geistige Gleichschaltung, der stärkste Schutz für die Erhaltung geistiger Schweizer-Eigenart».36

Auch wenn es einen Austausch mit de Reynold, ein verschollenes Konzeptpapier de Reynolds gegeben hat,37 ist Philipp Etter hauptsächlicher Autor dieser wenig verfänglichen Zeilen aus der Kulturbotschaft. Schon früher hat der Innerschweizer mit der Symbolik der Flüsse am «Gotthardblock» gespielt.38 Und Anfang der 1960er-Jahre, in einem Brief an de Reynold, der es in seinen Memoiren anders darstellen will, unterstreicht Etter sogar: «Die ganze Botschaft über Kulturwahrung und Kulturwerbung mit der Errichtung der Stiftung ‹pro Helvetia› [sic] habe ich persönlich ohne fremde Hilfe und Mitarbeit konzipiert und eigenhändig niedergeschrieben.»39

Doch mischte Etter seinen Schriften wenige Jahre vor der Kulturbotschaft auch andere Töne bei – zumindest einige Zwischentöne. Deren Nachhall mag zu einer negativen Beurteilung der Kulturbotschaft geführt haben: 1933, nach Hitlers Machtergreifung, entwickelt Etter das Bild einer Gesellschaft, die sich nach mittelalterlichem Vorbild korporatistisch-autoritär in Ständen zusammensetzt. Etter ist damals noch journalistisch tätig und Zuger Ständerat. Im Frontenfrühling regen sich auch in der Schweiz reaktionäre, vor allem junge Kräfte – sie schiessen verschiedenartig «wie Pilze aus dem Boden», schreibt Etter in Vaterländische Erneuerung und wir.40 Konfrontiert mit dieser Jugend, die dem Traum der totalitären «Erneuerung» verfällt, wolle er, Etter, nicht nur darüber spötteln wie die sozialdemokratische Presse.41 Einzelne Programmpunkte seien «vom schweizerischen Standpunkt aus rundheraus abzulehnen»,42 manchen Frontisten aber will Etter doch «gesunde Gedankengänge»43 zugestehen – etwa die scharfe «Kampfansage an den Sozialismus und an den Kulturbolschewismus», die «scharfe Abkehr von den Grundlagen des geistigen, politischen und wirtschaftlichen Liberalismus», die «Um- und Abwertung des vom Liberalismus geprägten und bis zum zersetzenden Individualismus übersteigerten Freiheitsbegriffes».

Etter befürwortet mit den Fronten eine «Wiederherstellung der geistigen und sittlichen Grundlagen des öffentlichen Lebens» sowie eine «Neugestaltung der Demokratie durch stärkere Betonung der Autorität und stärkere politische Bindungen des wirtschaftlichen Lebens».44 Zur Front dieser Neugestaltung erklärt er schliesslich seine, die katholische Jugend: «Unsere Jungmannschaft braucht nicht nach neuen Fronten und neuen Programmen sich umzusehen. Wir haben sie schon, die Front: die katholische Front!»45

Das sind antiliberale Grundstimmungen, da und dort verbunden mit einer Judenfeindlichkeit, die Etter, der sie als Führer und Stellvertreter vieler aussprach, geschadet haben. Als Aram Mattioli in den 1990er-Jahren um Einsicht in den Privatnachlass bittet, stellen sich Etters Nachkommen quer. Die Familie lässt Mattioli wissen, dass sie der neueren Geschichtsschreibung nicht ganz traue: Aus einzelnen Briefen und Veröffentlichungen lasse sich leicht ein Bild erstellen, das Etter gesamthaft nicht gerecht werde.46

Unbestritten dient Philipp Etter bis heute manchen Historikern als «Zielscheibe».47 Stellvertretend für diese Praxis ist Hans Ulrich Josts Besprechung des Prachtbandes Schweizer Wehrgeist in der Kunst von 1938. Etter verherrlicht im Vorwort die «Vermählung zwischen Kunst- und Kriegshandwerk». Beide seien «Früchte des gleichen Geistes», die Kunst sei «Tochter eines wehrhaften Volkes», werde nun «Mutter des neuen wehrbereiten Geistes»: «Wir Schweizer sind ein kriegerisches Volk.»48 Jost sieht in derselben Publikation in einem Beitrag von Gonzague de Reynold eine «befremdliche Verknüpfung von Ästhetik und Militär».49 Und tatsächlich meint de Reynold in der französischen Ausgabe, Art et armée, recht martialisch: «Kunst und Armee stehen sich wie zwei Spiegel gegenüber. Zwischen diesen beiden erscheint das Angesicht der Schweiz. Der Spiegel der Armee gibt ihr wirkliches, jener der Kunst ihr ideales Profil wieder.»50 Doch in der deutschen Ausgabe fehlt de Reynolds Beitrag. An seiner Stelle schreibt der Basler Schriftsteller Emanuel Stickelberger.51 Zur Publikation tragen etliche Autoren bei, die Bundesräte Celio52 und Minger und andere, die in den allgemeinen Bellizismus teils einstimmen, ihn teils bremsen. Auch wenn dieser Prachtband nicht mit modernster Kunstbetrachtung glänzt, ist er zeittypisch in der Art, wie er verschiedene Stimmen versammelt: Das Personal der geistigen Landesverteidigung ist konservativ, liberal oder sozialdemokratisch, martialisch bis kriegerisch, ängstlich, uneins, auswechselbar.

Geistige Landesverteidigung ist eine so diffuse Propaganda, dass ihr «Vater» Philipp Etter sie drei Jahre vor der Kulturbotschaft aus dem Ruder laufen sieht. «Wir sprechen heute viel von geistiger Landesverteidigung», sagt der Bundesrat 1936 in einer Ansprache über den Sinn der Landesverteidigung.53

«Ich sage in aller Offenheit, daß ich fürchte, es werde diese Losung von der geistigen Landesverteidigung auch wieder eines jener Schlagworte, die sich rasch abgreifen und dann mehr einschläfern als aufrütteln. Ich habe sogar den Eindruck, daß heute schon mitunter versucht wird, hinter der Flagge der geistigen Landesverteidigung im Grunde genommen recht materielle, einseitige, egoistische und selbst bedenkliche Ziele zu verstecken.»54

Auf wen Etter hier auch anspielt, er ist weder der Einzige noch der Erste, der von «geistiger Landesverteidigung» spricht. Insofern darf man der späteren Darstellung in der Kulturbotschaft durchaus folgen: Die Forderung nach geistiger Landesverteidigung habe von selbst «in wachsender Kraft weiteste Kreise» erfasst, in der «Presse, in Vereinigungen und Versammlungen», ja von «allen Seiten erhob sich immer dringender der Ruf» nach Mobilisierung der geistigen Kräfte.55

Wie kommt es, dass die Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte zu anderen Schlüssen gelangt? Allenthalben diagnostiziert sie den Totalitarismus. Mit einer neuen Sensibilität interpretiert sie die bekannten Ereignisse – den Zusammenschluss der Parteien, das Vollmachtenregime, die Abweisung von Verfolgten und Todgeweihten an der Landesgrenze, die Militarisierung der Öffentlichkeit, die umstrittene Vollstreckung der Todesstrafe an Landesverrätern. Doch wenn sie dies alles auf den Begriff bringt, wirkt die neuere Geschichtsschreibung mitunter selbst wie von einer Sonderphantasie gebannt.

Der «helvetische Totalitarismus» dient heute in Schulen und Universitäten als Sammelbegriff, um die Mentalität in der bedrohten Schweiz zu umschreiben. Weshalb diese Wortschöpfung? Wie konnte der vom Faschismus umzingelte demokratische, föderalistische, neutrale Kleinstaat so «totalitär» werden? Es beginnt Anfang der 1980er-Jahre, als das Studienwerk Geschichte der Schweiz und der Schweizer erscheint. Hans Ulrich Jost schreibt darin über die 1930er-Jahre und die Kriegszeit: «Es entstand ein helvetischer Totalitarismus, der in der vermeintlichen Verteidigung von Unabhängigkeit und Demokratie nicht selten die politische Kultur des faschistischen Gegners aufnahm.»56 In der französischen Ausgabe allerdings zügelt der Übersetzer57 das Original: Die öffentliche Meinung habe «la forme d’une sorte de totalitarisme helvétique»58 angenommen.Die beiden Ausgaben unterscheiden sich ferner in der Titelsetzung: Während für die deutsche Leserschaft fraglos «Helvetischer Totalitarismus»59 herrscht, beschränkt sich die französische Ausgabe auf einen «TOTALITARISME HELVÉTIQUE?»60 mit Fragezeichen. Letztere scheinen nach und nach vergessen gegangen zu sein.

Denn zuallererst schrieb nicht Jost vom «helvetischen Totalitarismus», sondern Georg Kreis 1979 in einem Artikel im Magazin der Basler Zeitung. Kreis erwähnte den Zusammenschluss der Parteien, das Vollmachtenregime und den gesellschaftlichen Militarismus als Reaktionen auf die aussenpolitische Situation. Sein Schluss aber lautete: «Die Ausnahmesituation hat letztlich nur eine Intensivierung des Normalfalles gebracht.»61 Statt der geforderten «neuen Persönlichkeiten» habe das Parlament «eher farblose Durchschnittspolitiker» gewählt. Und es gab zwar den Ruf «nach einer starken Führung», doch alles über das «Normalmass» Hinausgehende wurde abgelehnt.62 Das «totale und totalitäre Schweizertum»63 trat an der Landesausstellung 1939 mancherorts hervor, in der Übernahme nationalsozialistischen Vokabulars oder in der Diskriminierung von Randgruppen. Doch betont Kreis die Verschwörung der einzelnen Bürger, die sich dem Staat entzog: Schliesslich glaubte «jeder an einer anderen Ecke des geliebten Schweizer Hauses den Brandherd» entdeckt zu haben, es «meinte jeder zu wissen, und das heisst besser zu wissen, wie das drohende Unheil abzuwenden sei».64 Held zu sein, war jedermanns Leidenschaft: «Wenn etwas totalitär war, dann nicht der Staat, sondern der Bürger.»65 So schliesst die einzige Stelle, an der Kreis in seinem Artikel von 1979 die Wendung «helvetischer Totalitarismus» verwendet, mit folgender Relativierung:

«Wenn wir aber in unserer Beurteilung der Haltung des engagierten Bürgers zumal zum Staat und seinen Repräsentanten Rechnung tragen, müssen wir erkennen, dass dieser helvetische Totalitarismus zugleich die entscheidende Kraft war, welche die Schweiz in doppelter Hinsicht resistent machte: gegen fremde Lockungen und Einschüchterungen, aber auch gegen die interne Versuchung, den Staat im Einsatz gegen die äussere Bedrohung eine alles beherrschende Maschine werden zu lassen.»66

Georg Kreis sieht seine Position – nach eigener Aussage67 – übersteigert durch den Linkshistoriker Jost. Verfremdet allerdings war bereits Kreis’ Artikel: Mittels Bildmontage suggerierte die Basler Zeitung fälschlicherweise, in einem Buch der Landesausstellung 1939 sei ein Nazi-Aufmarsch zusammen mit einer schweizerischen «Soldatengestalt»68 abgedruckt worden.

Montage, Popularisierung und Übersteigerung prägen den Deutungsstreit bis heute. 1997 nennt Hans Ulrich Jost in einem Streitgespräch mit Kurt Imhof weitere Beispiele für den helvetischen Totalitarismus.69 Einen Blut-und-Boden-Kult sieht er in der geistigen Landesverteidigung am Werk, die Rückkehr zu bäuerlichen Werten, die Kritik an den demokratischen Errungenschaften der Französischen Revolution, die Betonung von Führerprinzipien. Weil statistisch jeder achte Schweizer eine ausländische Frau heiratete, war an der Landesausstellung 1939 ein «achter Schweizer» symbolisch unter eine Glocke gestellt worden. «Ich könnte jetzt noch fortfahren», sagt Jost, «noch lange fortfahren», «Hunderte von Beispielen» habe er noch.70

3 «Jeder 8. Schweizer heiratet eine Ausländerin», warnt die «Landi» mit dem Paar unter der Glocke.

Zweifellos hätte Jost fortfahren müssen. Er hätte an sein letztes Beispiel anknüpfen können mit Der 8. Schwyzer, einem Film von Oskar Wälterlin, der 1940 das fremdenfeindliche Motto der Landesausstellung problematisierte. Bezeichnenderweise verbot das militärische Zensurkomitee die Aufführung. Viel bezeichnender aber erscheint ein Detail, das die Interpretation in eine andere Richtung weist. Betrachtet man die Figuren auf der Auslage, fällt auf: Die ausländische Frau des achten Schweizers trug 1939 an der «Landi» – so der Volksmund – eine Hakenkreuzflagge. Die Abwehr der Fremdherrschaft verlief über ein völkisches Denkmuster. Es scheint beides gewesen zu sein: in der Ablehnung solcher Stereotypen zugleich Anlehnung an sie.

Mit dem Blick für solche Doppeldeutigkeiten liesse sich ein Forschungskonsens formulieren, statt mit Hunderten von Beispielen fortzufahren. Vertreter der neueren Geschichtswissenschaft haben die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der offiziellen Schweiz, Schweizer Industriellen und Hitler-Deutschland aufgearbeitet. Doch will diese Forschungsrichtung ihre Resultate oft zu einer umfassenden Kollaborationsthese ausweiten. Sie geht darin so weit, dass sie sich in zahlreichen Studien mit semantischen Ähnlichkeiten zwischen der nationalsozialistischen und der «schweizerischen» Sprache befasst. In Wort und Bild spürt sie dem helvetischen Totalitarismus nach. Innerhalb von 20 Seiten findet so eine jüngere Studie für die Kultur der geistigen Landesverteidigung Schlagworte wie «geografischer Rassendeterminismus», «biologistisch-rassistische Rhetorik des Nationalsozialismus», «konservativ-xenophobe Grundstimmung», «modernitätskritische Diskurse der Schund-und-Schmutz-Debatte» und «antisemitische und totalitäre Ideen».71

Dieser Ton begann ab den 1990er-Jahren Überhand zu nehmen. Der Historiker Jakob Tanner stiess 1997 einige seiner akademischen Lehrer vor den Kopf, indem er die These von der «Demutsgeste»72 offen aussprach. Nach der Einkreisung durch das faschistische Italien und NS-Deutschland sei es General Guisans geniale Idee gewesen, den Rückzug der Armee in die Alpen, ins Reduit, zu beschliessen. Tanner setzte hinzu: Der General habe mit der Reduit-Idee die Rückzugspläne deutschfreundlicher Offiziere in einen Verteidigungsplan umgewandelt, die Armee demobilisieren und zusätzliche Arbeitskräfte in die mit Hitler kollaborierende Schweizer Wirtschaft abkommandieren können. Guisan habe aus der «Demutsgeste» der Deutschfreundlichen einen scheinbaren Verteidigungsplan gemacht.

Tanners These schlug ein. Sie überwarf sich mit einer alten Geschichtswissenschaft, die höchstens «Anpassung» im Kleinstaat Schweiz eingestanden, daneben aber viel «Widerstand» anerkannt hatte. Wohl gerade weil die Rede von der «Demutsgeste» den historischen Realitäten widerspricht, hält sie sich als unwiderlegbare Absurdität. Die Alpenfestung war eine Drohkulisse gegenüber dem übermächtigen Hitler, doch nicht einmal mehr an die Ernsthaftigkeit hinter jener Kulisse glaubten die jungen Historiker. Das Ideengut vieler geistiger Landesverteidiger sei «eben grundsätzlich mit der nationalsozialistischen Ideologie kompatibel» gewesen, schreibt Tanner. Es hätte «– falls sich das Blatt der Weltgeschichte auf die andere Seite gewendet hätte – […] auf die im Entstehen begriffenen neuen Realitäten umgedeutet werden können».73 Nach dieser Lesart hätten sich bald selbst die Widerständigsten NS-Deutschland angepasst.

Tanners Einschätzung liegt schlicht die «Verabsolutierung»74 der wirtschaftshistorisch gut belegten Kollaborationsthese zugrunde. Zwar hätte die Kulturbotschaft auf nationalsozialistische Verhältnisse umgeschrieben werden können. Doch viele geistige Landesverteidiger, die sie mitinspirierten, wären in Konzentrationslagern gelandet. Die damalige Zeit war, wie Tanner schreibt, «ambivalent».75 Um Ambivalenzen, eine «Anpassungs-Widerstands-Symbiose»76 zu beschreiben, gilt es aber die Arena dieser Schlagworte zu verlassen – und damit den «helvetischen Totalitarismus»77, den «Widerstand» ebenso wie die «Anpassung»78, die «Kollaboration»79, die «Resistenzschwäche»80 und die «Demutsgeste».

Schlicht «Helvetismus» nannte es 1950 der Journalist und Zeitzeuge Pierre Béguin in Le balcon sur l’Europe.81 In der Schweiz, dem Balkon über Europa, machte sich eine «Belagertenmentalität»82 breit, schreibt der Historiker André Lasserre, auch er ein Zeitzeuge. Bald hyperventiliert der Helvetismus im Belagerungszustand, mehr und mehr kulturelle Verbindungen zu den Nachbarländern sind abgebrochen – und Sehnsucht nach etwas Ureigenem kommt auf.83

Um in dieser Höhenluft nicht die Orientierung zu verlieren, eignet sich die Zeitstimme eines gemässigten, damals einflussreichen Historikers.84 Wie ging einer vor, wenn er über die Geschichte, das Ureigene sprach? Gab es wiederkehrende Muster? Eine Tendenz ins Totalitäre?

Ende 1936 hält Leonhard von Muralt in Zürich einen Vortrag Über den Sinn der Schweizergeschichte, nachdem Bundesrat Etter im Mai desselben Jahres an der ETH über den Sinn der Landesverteidigung referiert hatte. Sinnfragen überall: Unabhängig vom katholisch-konservativen Bundesrat sucht der Protestant von Muralt in seinem Referat vor der Allgemeinen Geschichtsforschenden Gesellschaft nach historischen «Keimen» der Schweiz. So entsteht zwei Jahre vor der Kulturbotschaft ein geschichtstheoretischer Überbau der geistigen Landesverteidigung, wenn von Muralt fragt:

«Was heißt Sinn?

Sinn heißt Richtung.

Das geschichtliche Geschehen ist in ständiger Gefahr, zurückzufallen in vor uns liegende Zustände. Die moderne Geldwirtschaft ist in Gefahr, zurückzufallen in die Naturalwirtschaft, unsere Rechtsordnung ist in Gefahr, zurückzufallen in einen Zustand des Faustrechts, des Kampfes aller gegen alle, die mit vielen Opfern erkämpfte Freiheit droht unterzugehen in erneute Gebundenheit. Unser Bundesstaat ist in Gefahr, auseinanderzufallen und schließlich wieder aufzugehen in den Machtbereich unserer starken Nachbarn.»85

Angesichts dieser Gefahr verschmelzen Sinnfragen, Mythen, kritisches Denken selbst in den Reihen der Historikerzunft. Leonhard von Muralt amtet als Sinnstifter, seine Geschichten sollen die theoretischen Existenzgrundlagen des Kleinstaates in Alarmbereitschaft sichern.

4 Leonhard von Muralt (1900–1970) entstammte einer aus Locarno geflohenen protestantischen Familie.

Er war seit 1930 Privatdozent und wirkte von 1940 bis 1970 als Ordinarius für neuere allgemeine und schweizerische Geschichte an der Universität Zürich. Ein Geschichtsdeuter aus evangelisch-reformierter Sicht, arbeitete von Muralt als Redaktor der Zwingliana und betreute die kritische Zwingli-Ausgabe mit. Bismarck, Machiavelli und Zwingli hiess die Trias seines Forschungsinteresses. In der Tradition der historistischen Geschichtsschreibung Rankes beugte sich von Muralt über diese bedeutenden Persönlichkeiten, deren Tun er mit viel Verständnis für die historische Situation aus der Zeit heraus erklären wollte.

Damit kommt ein heute verbotener Stil zur Anwendung. Otto von Bismarck sei nicht allein nach den modernen Grundsätzen der Rechtsgleichheit, der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts zu beurteilen, schreibt von Muralt über eine der Hauptfiguren seiner Geschichtsbetrachtungen.86 Auch er, von Muralt, ist ein Kind seiner Zeit. Während sein akademischer Lehrer Karl Meyer die Existenz von Wilhelm Tell wider alle Vernunft beweisen will,87 betätigt sich auch von Muralt, etwas nüchterner, als Mutbringer und Mythologe. Noch 1952 schreibt er, dass ohne Mythos die vaterländische Geschichte nicht nur sinnlos, sondern schlicht nicht zu begreifen sei: «Also dürfen wir uns nicht fürchten vor dem Mythos der Schweizergeschichte, vielmehr ist es unsere Aufgabe, den lebendigen, den echten, den wahren Mythos vom falschen, vom verzerrten Mythos, vom bloss willkürlichen Phantasieprodukt zu unterscheiden.»88

Er könne «dem Mythologischen gar nicht entrinnen», schreibt von Muralt, denn jede Geschichte brauche einen «Sinnzusammenhang».89 1936, als er Über den Sinn der Schweizergeschichte redet, wehrt sich der Historiker zwar gegen den blossen Heroenkult. Doch auch er will sinnsüchtig einen Beitrag leisten – und schafft mehr als nur einen «Sinnzusammenhang». Er weiss, es gibt ihn dort nicht, und dennoch sucht er den Sinn am historischen Entstehungsgrund der Eidgenossenschaft:

«Wie ist aber die Richtung des geschichtlichen Geschehens bestimmt? Durch den Anfang? Was wissen wir darüber? Nichts! Wo liegt der Anfang geschichtlichen Geschehens auf dem Boden der Schweiz? Im Waldkirchli? Ist das noch Natur oder ist es schon Geschichte? Wir wissen über den Anfang des geschichtlichen Geschehens in der Schweiz und über den Anfang des geschichtlichen Geschehens überhaupt viel zu wenig, als daß wir daraus einen Hinweis auf die Richtung der Geschichte gewinnen könnten.»90

Nicht am Anfang der Landesgeschichte findet sich der erhoffte Sinn – und in einem zweiten Versuch auch nicht an ihrem Ende. Denn das Ziel der Geschichte sei zwar als Bild vorhanden, bleibe aber doch im Ungefähren.91 Von Muralt ist zu sehr Wissenschaftler, als dass er aus dem Nichts ein letztes Ziel der Geschichte zaubern könnte. Schliesslich löst von Muralt sein Problem mit der «Mitte der Geschichte».92 Sie sei die Richtung der Geschichte und der Sinn des Vaterlandes.

Eine ganze Generation wurde mit diesem Wort auf den Lippen erwachsen. Die «Mitte» findet sich in zahlreichen Schriften aus den 1930er-Jahren wieder. In der Kulturbotschaft ist der St.Gotthard ein «Berg der Mitte». Die Schweiz selbst ist diese Mitte: «Die dreisprachige europäische Mitte hat sowohl Mittlerin als Vermittlerin zu sein.» Auch Alice Meyer schreibt 1965 in Anpassung oder Widerstand, dem grossen Buch der Aktivdienstgeneration: «Dadurch, daß gewissermaßen die Sozialdemokratie einen Schritt nach rechts und die Freisinnigen, indem sie die dargebotene Hand zur Zusammenarbeit ergriffen, einen Schritt nach links taten, kam es zu einer Sammlung auf die Mitte, die wohl als das wichtigste Ereignis der Vorkriegszeit auf innenpolitischem Gebiet bezeichnet werden kann.»93

Für von Muralt verweist die «Mitte» zurück auf das zentrale Datum 1291, den Rütlischwur der drei Talschaften. Zu dieser Mitte gesellen sich weitere «Mitten»: die Schlachten am Morgarten und bei Sempach, die Vermittlungskünste Niklaus von Flües, die Schlacht bei Marignano, der Reformator Zwingli, die Eroberung der Waadt 1536 sowie die Symboljahre 1798 und 1848.94 Wegweisend, sinnstiftend aber bleibt der Bundesbrief von 1291 – oder doch nicht?