Blut ist dicker als Wein - Jochen Hamatschek - E-Book

Blut ist dicker als Wein E-Book

Jochen Hamatschek

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Beschreibung

Von den unterschiedlichen Rebsorten, der Weinlese, korrekter Tankbefüllung, und schließlich der Vermarktung von Wein – von all dem haben Daniel, Doktorand der Chemie und seine Freundin Kristina, eine Sprachstudentin, so gut wie keine Ahnung. Als sich in Kristinas Familie ein tragischer Unfall ereignet, beschließen die beiden, das kleine Weingut in Weinsberg zu retten, aus dem Kristina stammt und mit dem sie eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte. Unerklärliche Dinge passieren in dem Weingut, und dann gibt es da auch noch ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Ein spannender Winzer-Roman, in dem man viel über die Kunst des Weinmachens erfährt.

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Seitenzahl: 523

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Jochen Hamatschek

Blut ist dicker als Wein

Haupttitel

Haupttitel

Teil 1

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Teil 2

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil 3

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Impressum

Teil 1

Prolog

In der Nacht von Freitag auf Samstag, Anfang August

Weinsberg

Der grelle Lichtkegel eines wuchtigen Geländewagens schiebt sich mit hoher Geschwindigkeit in die Dunkelheit. Rechts und links herrscht die Schwärze einer Nacht, in der eine schmale Mondsichel lediglich konturlose Schatten ineinanderfließender Grautöne erkennen lässt. Nur in Fahrtrichtung ist die schmale, schlecht asphaltierte Straße hell ausgeleuchtet, bis sich das Licht nach höchstens fünfzig Metern rasch im Diffusen verliert.

Der Fahrer treibt die Tachonadel ununterbrochen über hundert Stundenkilometer, der Lärm des Motors und die Abrollgeräusche der Reifen durchschneiden die Stille. Kurz nach Mitternacht ist die Gegend menschenleer, Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer braucht er nicht zu nehmen, die Straße gehört ihm. In der Manier eines Rennfahrers schneidet er die Kurven und fährt auf der Ideallinie. Er kennt die Strecke von unzähligen Fahrten zu jeder Tages- und Nachtzeit, sie im Grenzbereich zu fahren ist eine sportliche Herausforderung. Immer wieder hört er kleine Steine gegen den Fahrzeugboden spritzen. Vor jeder Kurve lässt er die Geschwindigkeit geringfügig abfallen, um hinterher gleich wieder stark zu beschleunigen. Dann heult der Motor kurz auf, die Reifen quietschen, wenn sich der Wagen durch die Kurve schiebt. Vor Rechtskurven lassen die Scheinwerfer einen kurzen Augenblick eng stehende, niedrige Bäume einer Obstplantage erkennen. Rechts der Fahrbahn ist bei Linkskurven ein steil aufragender Hang zu erkennen, der einen drohenden Eindruck vermittelt. Dass er mit Rebstöcken in vollem Blattwerk bestückt ist, lässt sich nur erahnen.

Der Fahrer ist noch jung, gerade Anfang dreißig. Er hat das Seitenfenster geöffnet, und lässt die Nachtkühle auf sein Gesicht wirken. Der Tag ist wieder sommerlich heiß gewesen, er hatte im Weinberg stark schwitzen müssen und noch keine Zeit für eine Dusche gehabt. Der Fahrtwind schüttelt die blonden Haare durcheinander, die Frisur ist strähnig und gehört längst in Form geschnitten. Kräftige Hände umfassen das Lenkrad, richtige Pranken, die es gewohnt sind zu arbeiten. Ein kantiges, großes Gesicht, eine niedrige Stirn und ausgeprägt buschige Augenbrauen verleihen ihm einen finsteren, herrischen Ausdruck. Es ist das Gesicht eines Mannes, der hart und viel im Freien arbeiten muss, der es gewohnt ist, Entscheidungen zu treffen und sie auch durchzusetzen. Geduld scheint nicht seine Stärke zu sein, Humor auch nicht. Er fährt die Straße im Tunnelblick, der rechts und links alles ausblendet. Er muss sich mit aller Kraft konzentrieren. Immer öfter gähnt er mit weit geöffnetem Mund – ein normales Zeichen von Müdigkeit nach einem 16-Stunden-Arbeitstag mit hohem körperlichem Einsatz. Mehrfach hat er auf dem Weg bereits seine Bereitschaft verflucht, Taxifahrer zu spielen zu einer Zeit, zu der er sonst schon lange schläft. Morgen um sieben steht schon wieder der erste Termin an, die Nacht würde wie so oft kurz werden.

Dann verlässt das Auto die Straße und biegt schwungvoll nach rechts auf einen schmalen Wirtschaftsweg ab. Mächtige Betonplatten mit großen Dehnfugen bieten ausreichend Stabilität für die täglich dort fahrenden Weinbergschlepper und in Kürze auch für die riesigen Traubenvollernter und die Anhänger, mit denen die Trauben ins Kelterhaus geschafft werden. Der Fahrer passt seine Geschwindigkeit dem Untergrund an, er ist jetzt langsamer als zuvor, aber weiter im roten Bereich. Jede Bodenwelle, jedes Schlagloch, jede Dehnfuge staucht die Stoßdämpfer zusammen, die Schläge erzeugen ein rhythmisches Knattern und sind auf dem Fahrersitz zu spüren. Die Fahrt geht steil nach oben, die Scheinwerfer lassen ganz oben schemenhaft eine Baumreihe erkennen. Etwa auf halber Strecke biegt das Auto links ab und bewegt sich danach parallel zur bisherigen Straße am Fuße des Weinbergs. Bei der Rebflurbereinigung vor Jahrzehnten wurden derartige Querwege regelmäßig angelegt, um zu den einzelnen Parzellen gelangen zu können. Auf Luftbildern ist zu erkennen, wie die Quer- und Längswege den gesamten Hang schachbrettartig in zahllose unterschiedlich große, rechtwinklige Flächen zerteilen. Mehrere Teilstücke dieser riesigen Weinberganlage gehören zu seinem Betrieb, unzählige Arbeitsstunden hat er dort in den letzten Jahren zugebracht. Heute Vormittag war er mit Laubarbeiten beschäftigt, eine der letzten Maßnahmen vor der Traubenlese.

Nach kurzer Fahrt taucht im Lichtkegel des Scheinwerfers sein Ziel auf. Ein einstöckiges, größeres Haus, verkleidet mit hellen Klinkern und mit ausladendem Giebeldach. Auf der Vorderseite blickt eine durchgehende Glasfront über die steil nach unten zur Straße abfallende Rebfläche, die Rückseite ist weitgehend im Weinberg verborgen. Zwischen einigen Fahrzeugen findet er einen Parkplatz direkt vor dem Eingang. Offensichtlich haben sich schon einige Teilnehmer der Veranstaltung auf den Heimweg gemacht.

Intensiver Weingeruch liegt wie eine Glocke über dem Raum, den der Mann betritt. Er weiß, dass er dieses Begleitaroma aller Weinproben schon in wenigen Minuten nicht mehr wahrnehmen wird, genauso wenig wie es die Teilnehmer noch bemerken. Nase und Mund sind nur für Neues empfänglich, nie für einen Dauerzustand, die Sinne werden schnell stumpf. Er weiß, wie die Geruchsglocke zustande kommt. Es sind die vielen flüchtigen Weinaromen, freigekommen aus den Gläsern und durch den Atem der Zecher, dem untrüglichen Alkohol-Indikator der Polizei.

Der Neuankömmling trifft auf eine lautstark durcheinanderredende und heftig gestikulierende Gesellschaft. Etwa zehn Männer und einige Frauen sitzen an einem massiven, ovalen Holztisch, zusammengezimmert aus alten Fassdauben. Vor jedem stehen drei Weingläser unterschiedlicher Größe. Der Tisch ist vollgepackt mit mehr oder weniger leeren Weinflaschen, den Zeugnissen und Überresten der intensiven Weinprobe. Nur in wenigen Gläsern befindet sich noch Wein, die Arbeit scheint getan zu sein. Lautstärke und Stimmung verraten, dass die offizielle Probe beendet ist. Und im inoffiziellen Teil darf die Disziplin der Stimmung geopfert werden. Er kennt solche Weinproben, die zu den Ritualen der lokalen Winzerschaft gehören.

Die Atmosphäre im Raum war von einer Mischung aus allgemeiner Müdigkeit und der Wirkung des Alkohols bestimmt. Der Neuankömmling wird erst zur Kenntnis genommen, als er einem älteren Herrn von hinten die Hand auf die Schulter legt. Ein kurzes Nicken, man kennt sich. In Statur und Gesichtsform wirkt der Ältere wie eine gereifte Kopie des Jungen, weniger, dafür graue Haare, noch mehr Stirnfalten und ebenfalls ein humorloser Gesichtsausdruck mit dünnen, zusammengekniffenen Lippen. Sensibel veranlagte Menschen müssten in seiner Nähe frösteln. Er und die neben ihm sitzende korpulente Dame erheben sich unmittelbar, sie blinzelt vor Müdigkeit. Gezeichnet vom langen Tag und dem Probieren der vielen Weine hat sie vor zehn Minuten angerufen und ihren Sohn darum gebeten, sie abzuholen. Es kommt selten vor, dass der junge Mann Taxifahrer spielt. Gewöhnlich ist er es, der nach derartigen Veranstaltungen einen Chauffeur benötigt. Und meistens ist es dann ihre Aufgabe, ihn zu abzuholen. Mütterlos, sie hat sich damit abgefunden. Die beiden älteren Herrschaften winken kurz zum Abschied in die Runde. Dann folgen sie ihrem Sohn zum Auto.

Der wendet und fährt den Weg, auf dem er hergekommen ist, zurück. Der Vater auf dem Beifahrersitz schließt die Augen und versucht zu schlafen. Er schnallt sich nicht an, wie immer, der Gurt enge ihn nur ein und könne zur Not bei einer Polizeikontrolle schnell übergestreift werden. Den aggressiven Fahrstil seines Sohnes ist er gewohnt. Er selbst gilt auch nicht als defensiver Fahrer. Halb im Dösen hängt er einigen Gedanken nach. Nach langen Jahren der Missverständnisse und Grabenkämpfe ist er inzwischen stolz auf den Juniorchef, der in absehbarer Zeit den Betrieb vollständig übernehmen wird. Er selbst wird noch einige Jahre mithelfen, bevor er sich auf das Altenteil zurückzieht. In vielen Betrieben, die er etwas genauer kennt, klappt diese Betriebsübergabe nicht. Wenn überhaupt Kinder da sind, verfolgen sie völlig andere Interessen und studieren Kunstgeschichte, Archäologie oder sonst etwas Brotloses. Aber das sind deren Probleme, er hat das Problem erfolgreich gelöst. Vielleicht ergibt sich sogar eine günstige Möglichkeit, Weinberge von diesen Betrieben dazuzukaufen. Als Mitgesellschafter ist sein Sohn bereits eingetragen. Dessen engagierter Einsatz im Betrieb, vor allem aber sein unbändiger Wille zur Macht, ließen ihm keine andere Wahl. Nach einer kurzen Phase des Widerstands schließlich hatte er dem Drängen seines Sohnes nachgegeben. Aus dem Hallodri der Abiturzeit war nach dem Önologiestudium ein hart arbeitender Winzer geworden, mit dessen Fachwissen das Weingut sich hervorragend entwickeln konnte. Die Weine waren besser geworden, die Kunden schätzten die präzisen und kompetenten Aussagen seines Sohnes, bei den Kollegen hatte er sich Respekt erarbeitet. Die vielen Missverständnisse der Sturm-und-Drang-Zeit zwischen den beiden Männern sind ausgeräumt. Gemeinsam haben sie im Wochenrhythmus Wein zu Kunden ausgefahren, sind sich langsam nähergekommen und sogar so etwas wie ein Team geworden.

Der Mutter ist es nie gelungen, sich an die Fahrweise ihres Sohnes zu gewöhnen, sie bereitet ihr nach wie vor Angst. Ihr Platz ist, wann immer sie doch bei ihm mitfahren muss, auf dem Rücksitz, festgeklammert an Sitz und Türgriff. Zu reklamieren getraut sie sich schon lange nicht mehr, sie hat gelernt, schweigend zu leiden. In der Vergangenheit geäußerte Vorbehalte wurden je nach Laune mit spöttischer Arroganz oder unmittelbar mit bitterer Aggression erwidert. Dass sie zu dieser großen Weinprobe mitgegangen ist, war gesellschaftlichen Verpflichtungen geschuldet. Es gibt Situationen, bei denen Familienharmonie demonstriert werden muss, auch wenn sonst keine Gemeinsamkeiten mehr existieren. Die Beziehung zu ihrem Mann ist nach verschiedenen Vorkommnissen auf dem Nullpunkt angekommen. Der Betrieb erfordert ihr Opfer, denn auch sie ist daran interessiert, ihn in die Hände ihres Sohnes zu legen. Sie beneidet ihren Mann um dessen gutes Verhältnis zum Sohn, der inoffiziell längst in die Chefposition gewachsen ist. Dass ihr Mann bereits mit Anfang sechzig derart zurückstecken würde, hatte sie nie erwartet. Der befürchtete, zermürbende Generationenkonflikt war zum Glück und zur Verwunderung aller Nachbarn und Kollegen weitgehend ausgeblieben. Der Tochter steht sie emotional näher, leider kommt sie kaum noch heim. Die angespannte Situation im Elternhaus, ihr doch sehr anspruchsvolles Studium und ein inzwischen offensichtlich fester Freund drängten die Mutter zunehmend in die zweite Reihe. Das unangenehme Gefühl, stimmrechtloses Arbeitstier unter der Knute von zwei Alphatieren zu sein, verstärkte sich seit der Nestflucht ihrer Tochter mit jedem Jahr. Reden konnte sie über ihre Gefühle mit niemandem, sie hatte zu funktionieren und bisher auch immer ihre Pflicht erfüllt.

Der Polizei gelang es mithilfe von Sachverständigen und zwei Zeugen, die kurz nach der Winzerfamilie die Weinprobe verlassen hatten und nicht weit hinter ihnen hergefahren waren, den Hergang des Unfalls zu rekonstruieren. Demnach war der Wagen fast mit Tempo hundert unterwegs gewesen, als er auf der Höhe des letzten Querweges vor der Talstraße abrupt nach rechts zog und ungebremst in die Rebstöcke krachte. Er wurde durch die Reben und ihre Befestigungen aus Metall und Draht schlagartig abgebremst und kippte dann nach links. Die mehr als zwei Tonnen Blech überschlugen sich und donnerten immer schneller werdend den steilen Hang hinunter. Die Lichtkegel der Scheinwerfer projizierten bei den Überschlägen absurde Figuren in den Nachthimmel, bis die Lampen verloschen. Das Blech des Geländewagens wurde mit lautem Krachen verformt, Rebstützen knickten wie Streichhölzer um, im vollen Saft stehende Stöcke wurden am Boden platt gedrückt. Die Seitenscheiben des Wagens zersplitterten in Tausende Bruchstücke, die sich im Innenraum und über die gesamte Unfallstrecke verteilt fanden. Zuletzt fiel der Wagen zwei Meter tief über die Begrenzungsmauer des Weinbergs auf die Straße und blieb mit einem letzten Krachen als Wrack auf dem Dach liegen. Die Frontscheibe war als Ganzes in der Fassung geblieben, das Verbundglas aber in unendlich viele kleine, noch zusammenhängende Mosaikteilchen zerrissen. Auf der Beifahrerseite klaffte allerdings ein Loch von der Größe eines Medizinballs.

Der Förster fand zwei Tage später im Wald oberhalb des Weinberges einen verendeten Eber. Verletzungen am linken Hinterlauf konnten von einer Berührung mit einem Auto stammen, ein nicht direkt tödliches, aber schließlich zum Tode führendes Zusammentreffen. Ob der Fahrer mit einer abrupten Lenkbewegung dem Wildschwein noch ausweichen wollte oder ein Sekundenschlaf die Ursache für das Herumreißen des Lenkrads war, ließ sich nicht mehr ermitteln. Die Polizei verzichtete darauf, am Wrack nach Hautfetzen des Wildschweins zu suchen. Der junge Winzer wies eine tödliche Verletzung am Hals auf, die offensichtlich von einer Rebstütze herrührte. Die musste ihn bei einem der Überschläge durch das beschädigte Seitenfenster etwas oberhalb der Schulter regelrecht aufgespießt haben. Die Halsschlagader wurde aufgerissen, er war verblutet. Die Mutter schien äußerlich unverletzt, hing aber tot im Gurt. Der Pathologe diagnostizierte einen Genickbruch. Ein Nackenwirbel hatte den extremen Kräften der Überschläge nicht standgehalten. Der Tod musste blitzschnell eingetreten sein, ihr Gesichtsausdruck zeigte keine Spur von Entsetzen. Vielleicht hatte sie auch bereits geschlafen.

Der Vater wurde nahe der Stelle gefunden, an der der Wagen ins Kippen kam. Die Wucht des ersten Aufpralls hatte ihn durch die Windschutzscheibe aus dem Fahrzeug geschleudert. Er war lebensgefährlich verletzt, die Ärzte mussten stundenlang im Operationssaal um sein Leben kämpfen. Zwei gebrochene Rippen hatten die Lunge perforiert, die Milz war gerissen, Glassplitter hatten sein linkes Auge völlig zerstört, auf dem rechten blieb gerade noch eine minimale Sehkraft zurück. Die inneren Verletzungen, die tiefen Schnittwunden im Gesicht, eine schwere Gehirnerschütterung und mehrere eingeschlagene Zähne schienen weniger gravierend. Nicht mehr gerettet werden konnte dagegen das linke Bein, es musste oberhalb des Knies amputiert werden. Das rechte konnte erhalten werden, würde aber steif bleiben. Er hatte Glück im Unglück gehabt. Der weiche Weinbergboden konnte den Aufprall etwas mildern. Dass er am Leben blieb, auch wenn er zunächst im Koma lag, verdankte er aber seiner unverwüstliche Konstitution und einer extremen Härte sich selbst gegenüber.

Das Weingut Rebhof war durch den Unfall mit einem Schlag entmannt, der Supergau eines jeden Unternehmens.

Freiburg

Zielstrebig zieht der junge Mann seine Begleiterin hinter sich her und bahnt sich einen Weg durch die riesige Menschenmenge. Immer wieder muss er seine Ellbogen einsetzen, um sich einen Durchgang zu schaffen. Er führt seine Freundin weg von der Musikband, die an der Stirnseite des Platzes auf einem großen Anhänger lautstark aufspielt. Die wenigsten Zuhörer können die Band in dem Gedränge gut sehen, der Abstand ist zu groß. Dafür lassen sie sich von der lauten Musik aufputschen, die dank riesiger Lautsprecher wie eine gewaltige Lärmglocke über dem ausgedehnten Gelände liegt. Eine Unterhaltung ist praktisch nicht möglich, Gesten müssen zur Verständigung reichen, vielleicht ein Satz direkt ins Ohr gerufen. Das Pärchen hat es sichtlich eilig und windet sich mühsam zwischen den Musikfans hindurch, eckt immer wieder an, deutet mit den Händen Entschuldigungen an. Lampenketten hoch über den Köpfen erzeugen ein diffuses Licht. Weiter hinten, wo sich in der Menschenmenge Lücken zeigen, sehen sie zuckende Schattenbilder von Leibern auf dem Rasen, die sich im Rhythmus der Musik hektisch bewegen. Die Helligkeit ist gerade ausreichend, dass sie sich orientieren können. Schließlich haben sie es zu einem einfachen Holzhäuschen geschafft, das am entgegengesetzten Ende des Parks wie eine kleine Insel aus der Menge ragt. Auf der riesigen Rasenfläche finden sich mehrere davon, alle sind sie von Menschen belagert. Dort hat sich der Lärm der Musik verflüchtigt, das Wummern der Bässe ist auf ein erträgliches Maß abgesunken, die Ohren klingeln nicht mehr. Viele Besucher des Festes sind nicht zuletzt deswegen dorthin geflüchtet. Die beiden müssen sich anstellen und wissen, dass sie mindestens zehn Minuten warten müssen, bis sie bedient werden. Die Qualität der Cocktails, die an diesem Stand gemixt werden, ist anerkanntermaßen gut, das Anstehen ärgerlich, aber lohnend. Aperol Spritz, Caipirinha mit Cachaça oder Wodka, Bloody Mary, Margarita, alle diese In-Getränke sind professionell gemixt und werden zu studentengerechten Preisen verkauft. Das Häuschen ist im Laufe der Jahre zum eigentlichen Star der Party geworden, zumindest für diejenigen, die nicht allein der Musik wegen herkommen. Die Stimmung um die Bar herum ist locker und vergnügt, Gespräche ergeben sich wie von allein. Die Wirkung des Alkohols macht die Sprache der vielen Wiederholungstäter mit zunehmender Dauer der Party flüssiger und eine Kontaktaufnahme ohne einschränkende Etikette sehr einfach.

Der junge Mann und seine Begleiterin blocken alle Versuche von flüchtigen Bekannten, mit ihnen zu reden, im Ansatz ab, jede Konversation würde sie nur unnötig aufhalten. Schließlich halten sie ihre Aperol-Gläser wie eine Trophäe in den Händen und versuchen, sich zur Rückseite des Cocktail-Häuschens durchzuschlagen. Das ist noch schwieriger als das Herkommen. Sie müssen ihre zwei gut gefüllten Gläser permanent vor Zusammenstößen mit den wilden Tänzern schützen und versuchen, sie wie ein Oberkellner über dem Kopf verlustfrei durch die Menge zu balancieren.

Dann sind sie am Ziel, abseits der Massen, das Licht noch ausreichend und die Musik in erträglicher Lautstärke, um sich endlich unterhalten und mit sich beschäftigen zu können.

Der junge Mann ist etwas älter als die Frau, einige Zentimeter größer, leicht übergewichtig und studentisch nachlässig gekleidet. Mit glatten mittelblonden Haaren, die fast bis auf die Schulter reichen, einem langen, schmalen Hals unter spitzem Kinn, einem dunklen Dreitagebart und einer langen, leicht gekrümmten Nase ist er sicher keine Schönheit. Aber das Gesicht wirkt interessant, und er hat eine intensive Ausstrahlung, wie sie oft bei Schauspielern zu finden ist. Der wache Gesichtsausdruck deutet auf hohe Intelligenz hin, seine Augen sind ständig in Bewegung, er scheint alles um sich herum zu analysieren.

Immer wieder, nach jedem Abschweifen, fällt sein Blick auf das Gesicht seiner Begleiterin, die direkt neben ihm steht. Sie ist mittelgroß, schlank, sportlich-elegant gekleidet und hat glatte, schwarzbraune Haare, die ihr bis auf die Schulter reichen. Ein sanfter Schlafzimmerblick deutet darauf hin, dass sie nicht ihren ersten Cocktail des Abends in der Hand hält. Ihr weich wirkendes, symmetrisch geschnittenes Gesicht vermittelt einen etwas spöttischen Ausdruck, ein großer Mund, in kräftigem Rot geschminkt, dominiert es. Dieser Mund ist meistens weit offen und gibt einen Blick auf riesige Schneidezähne frei, die so gar nicht zu ihrem zierlichen Gesicht passen. Sie redet viel, um danach gleich über ihre eigenen Worte oder die Antworten des Gegenübers herzlich zu lachen. Es ist ein Lachen, das sich auf ihren ganzen Körper zu übertragen scheint und ihre Umgebung mitreißt, nicht das plumpe Gelächter nach einem Witz, sondern ein Lachen, das aus der Tiefe ihrer Seele zu kommen scheint. Aus auffällig geschminkten Augen strahlt sie andere Menschen offen an.

Die junge Frau ist die lebhaftere von den beiden. Wo er ruhig, mit sparsamer Gestik und Mimik fast emotionslos wirkt, rational und sachorientiert, sprüht sie vor Temperament. Ihre Arme sind ständig in Bewegung, ihr Cocktail schwappt bedenklich im Glas. Jeden Satz verstärkt sie mit einem Nicken des Kopfes, einer Hand, die zur Faust wird, einer Armbewegung, die das Thema zu erschlagen scheint. Die beiden stehen mit einem zweiten Pärchen zusammen. Beide Paare wirken verliebt und sich selbst genug. Sie halten sich immer wieder an der Hand, suchen die körperliche Nähe des Partners, geizen nicht mit Küssen, balancieren dabei das Glas mit der freien Hand. Die vier sind in der Phase ihrer Beziehung, in der Dritte stören. Niemand schaut gerne zu, wenn andere sich küssen, nur gleichfalls Verliebte ertragen solches Glück und wählen ihre Begleiter entsprechend.

Studentische Partys enden im Morgengrauen, wenn alles gesagt ist, der Bewegungsdrang nachgelassen und Alkohol Müdigkeit in die Knochen getrieben hat. Für Verliebte ist die Party nur ein Vorspiel, sie wissen, wie ihre Nacht endet, bevor sie sich schließlich auf die Seite rollen werden, um einzuschlafen. Ihrer beider Schatten wird auf dem Heimweg wie einer aussehen. Wie bei Lily Marleen.

Kapitel 1

Kristinas Handy meldete sich kurz nach sechs, direkt neben meinem Kopf. Sie hatte schon wieder vergessen, es stumm zu schalten. „Allons enfants de la Patrie“ schmetterte es laut und hartnäckig. Seit sie direkt nach dem Abitur ein Praktikum in Paris gemacht hatte, nervte die Marseillaise als Klingelton, heute noch mehr als sonst. Für jeden aufrechten Studenten ist ein Anruf quasi mitten in der Nacht und dann noch am Samstag eine nicht tolerierbare Frechheit. Gesellschaftlich tolerierbare Gründe – für uns wären das die Information über einen Lottogewinn, die Zusage für ein Stipendium oder eine Einladung zum Essen – erwarteten wir derzeit nicht. Vor gerade drei Stunden waren wir nach einer elitären Party der Jura-Fachschaft leidlich angeheitert ins Bett gefallen und irgendwann eng umschlungen tatsächlich eingeschlafen. Wir liebten diese jährliche Stallwachen-Party, die, angelehnt an die im politischen Berlin, das Highlight der vorlesungsfreien Zeit war. Wo sonst lässt sich Händchen haltend und kopfschüttelnd das geckenhafte Getue unserer zukünftigen Rechtsvertreter besser beobachten. Und deren günstige Cocktails sind unübertroffen gut. Dekadenz kann herrlich sein.

Das Ignorieren des Handys war irgendwann lästiger, als das Gespräch anzunehmen. Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung konnte ich niemandem zuordnen, ihren Namen hatte ich selbstverständlich auch nicht verstanden. „Geben Sie mir bitte Kristina, es ist dringend. Ich bin ihre Tante.“ Ich drückte Kristina das Handy ans Ohr und rollte mich wieder in die Decke ein. Irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein, die Stimme der Tante hatte komisch geklungen – gepresst, zickenhaft schrill, im Oberton, gestresst, ernst und ungeduldig. Dazu unhöflich mir gegenüber und vor allem ohne Entschuldigung für die frühe Störung.

Etwas beunruhigt beobachtete ich Kristina aus den Augenwinkeln und versuchte das Gespräch zu verstehen. Sie hatte sich inzwischen im Bett aufgerichtet, erst schläfrig und schlaff, doch nach wenigen Worten hatte sich ihr Körper verkrampft. Kristina hörte schweigend einem Wasserfall von Worten zu. Die hektische Stimme ihrer Tante konnte ich zwar hören, aber nur mühsam verstehen, was sie sagte. Ich musste mir ihre Information zusammenreimen.

„Danke. Ich komme. Ich fahre sofort los“, war das Einzige, was Kristina schließlich von sich gab. Dann blieb sie regungslos sitzen und starrte ihr Handy mit einem entsetzten und verwirrten Gesichtsausdruck an, als ob sie es als Überbringer der Nachricht auch für dessen Inhalt verantwortlich machte. Ihre Augen wurden erst feucht, dann rollten mehrere Tränen über die Wangen. Das immer gebräunte Gesicht war auf einmal fahl. So hatte ich Kristina bisher nicht gesehen. Ich erlebte sie sonst als coole Studentin, die selbst bei Prüfungskatastrophen obenauf blieb und mit einer lässigen Wurstigkeit Stresssituationen weglächelte. Sie war getroffen. Das Telefonat hatte ihren Panzer durchschlagen, so musste sich ein Schock anfühlen.

Eine Tante Gisela, die Schwester ihres Vaters, die bisher keiner Erwähnung wert gewesen war, hatte ihr von dem nächtlichen Unfall im Weinberg berichtet. Bruder und Mutter tot, Vater im Koma auf der Intensivstation im Klinikum in Heilbronn, sein Überleben fraglich. Ich dachte bisher, Hiobsbotschaften werden von einem einfühlsamen Polizeibeamten in Begleitung eines Seelsorgers überbracht, der die erste Panik abzufedern weiß. Die hatten Kristina vielleicht in ihrer Studentenbude gesucht, in der sie offiziell gemeldet ist. Die dient aber seit einem halben Jahr einem Edelkommilitonen als heimliches Liebesnest, wenn er sich nicht gerade auf Sylt vergnügt. Dass wir seit fast zwei Jahren ein Paar sind und seit Längerem zusammenleben, hatte sie bisher daheim nicht verraten, warum auch. Ihre beiden letzten festen Beziehungen waren nur amüsiert zur Kenntnis, auf jeden Fall nicht ernst genommen worden, so wenig wie der Liebeskummer des jungen Vögelchens nach der Trennung. Über das Handy war sie für ihre Mutter ja jederzeit erreichbar. Deren subtile Nachfragen bei den Telefonaten hatten uns allerdings den Eindruck vermittelt, dass sie die dauerhafte Existenz eines männlichen Wesens ahnte. Das schien sie bei einer 24-Jährigen gegen Ende des Studiums inzwischen sogar als adäquat zu erachten. Vater und Bruder dagegen waren immer zu sehr beschäftigt, in Kristinas Augen vor allem mit sich selber, um sich für ihr Studentenleben in Freiburg zu interessieren. Besucht hatten sie sie in den vier Jahren hier nie. Der monatliche Scheck musste Aufmerksamkeit genug sein.

Meine Gedanken schossen wirr durchs Gehirn, angesichts einer solchen Katastrophe erschreckten sie mich. Und noch mehr die egoistische Frage: Welche Konsequenzen hat dieser Unfall für unsere Beziehung? Ich hatte überhaupt kein Recht, an mich zu denken. Meine Freundin war in Not und brauchte meine Hilfe.

Ich fühlte mich ratlos und wusste nur, dass ich irgendetwas tun müsste. Im Chemiestudium hatte ich alles gelernt über die Reaktionen, die nach einem Schock im Körper ablaufen. Sogar die Formeln von Adrenalin und all der anderen Stresshormone hätte ich aufmalen können. Aber wie man einen Menschen nach einer solchen Nachricht auffängt, hat mir die Hohe Schule nie beigebracht. Ich nahm Kristina eher hilflos in den Arm, sie ließ es ohne Reaktion zu. Dann begann sie zu zittern, ihre Finger krampften sich in meine Oberarme, meine Schulter wurde von ihren Tränen nass. Ich versuchte, ruhig und sachlich zu bleiben.

„Ich muss nach Weinsberg. Kannst Du mich fahren, Daniel? Ich schaffe es allein nicht.“ Was sie sagte, war mehr zu erahnen als zu verstehen. Und sie sagte ganz förmlich „Daniel“ statt wie sonst „Danny“. Dann verlor sie plötzlich die Körperspannung. Sie sackte in sich zusammen und war wohl für einige Sekunden bewusstlos..

Zum Glück war unser Nachbar Philip bereits von seiner Nachtschicht im Krankenhaus zurück. Er war ein Schulfreund vergangener Zeiten, den ich erst wiedertraf, als er vor einem Jahr zur Facharztausbildung nach Freiburg an die Sportmedizin wechselte. Der frisch approbierte Arzt untersuchte sie emotionslos. „Schock und Kreislaufzusammenbruch. Ich spritze ihr ein Stabilisierungsmittel und gebe ihr eine Beruhigungstablette. Sorg dafür, dass sie liegen bleibt, die Beine hoch gelagert. Lass mich selber drei Stunden schlafen, dann komme ich noch mal vorbei. Wenn sie stabil ist, könnt ihr nach Weinsberg fahren. Dann bist hoffentlich auch Du wieder fahrtüchtig, Deine Fahne flattert Dir noch ganz schön voran. Was tut ihr bloß bei den Juristen?“

Die Fahrt nach Weinsberg vier Stunden später verlief schweigend. Kristina hatte den Sitz weit nach hinten geklappt und die Augen geschlossen. Sie versuchte zu schlafen, die Beruhigungstablette schien zu wirken. Philip hatte mir noch einige mitgegeben, sie würde sie sicher brauchen. Ihre Hände ruhten flach auf den Oberschenkeln. In dieser Stellung hatte ich sie oft schon erlebt, immer, wenn sie irgendwann genug von einer Unterhaltung im Auto hatte. Wobei unsere Unterhaltungen meist emotional geführte, intellektuelle Diskussionen zu allen möglichen Themen waren, die mich vor allem bei Nachtfahrten wach hielten. Wir hatten beide Spaß an gelungenen Formulierungen, sie waren uns oft wichtiger als ihr Inhalt. Meist war es eine Art Spiel, in dem sie oft bewusst die Gegenposition einnahm, wohl ein emanzipatorischer Akt in Zeiten der Sexual Correctness. Und es war ein rhetorisch-geistiges Kräftemessen zwischen einem Chemiker, der kurz vorm Ende der Promotion stand, und einer Lehramtsstudentin für Deutsch, Englisch und Französisch. Bisher hatten wir die Kurve immer gekriegt, nie war eine Diskussion aus dem Ruder gelaufen. Außenstehende sahen unser Spiel oft als Streitgespräch. Unsere große Lust an jeder Art von Provokation musste auch nicht jeder verstehen. Wir verstanden uns blind, nicht nur bei Diskussionen. Gemeinsame Hobbys, vor allem Wein trinken und nobel Essen gehen, sogar etwas Sport, waren eine solide Basis. Gegensätze schienen sich bei uns anzuziehen, Naturwissenschaftler und Sprachwissenschaftler müssen ja nicht naturgegeben zusammenpassen. Und dann die unwahrscheinlich starke körperliche Anziehung vom ersten Moment unseres Kennenlernens an, ein Blick, eine Berührung, und schon hatten die Funken gesprüht, bis alles lichterloh brannte. Eine gemeinsame Wohnung schon nach wenigen Monaten war die logische Konsequenz gewesen. Unsere Beziehung sah ich als stabile Atombindung, die nur mit gewaltiger Energie von außen wieder zu trennen sein würde. Kristina verspottete solche naturwissenschaftlichen Betrachtungen emotionaler zwischenmenschlicher Beziehungen. Ich sei ein einfältiger Chemieromantiker, der die Biochemie der Liebe bis zum letzten Hormontropfen analysieren und die Schaltkreise von Lust und Erfüllung möglichst dreidimensional kartieren wolle, und der mangels Romantik quasi genussunfähig sei. Die letzten beiden Jahre waren die schönsten meines Lebens, zusammen mit einem irdischen Geschöpf in regelrecht außerirdischer Liebe. Der goldene Pfeil des Eros hatte uns beide getroffen und zu liebenden Affen gemacht.

Die Fahrt zog sich immer mehr in die Länge. Der kürzere Weg über Stuttgart war völlig dicht. Auch die Alternativstrecke quälte uns mit Staus zwischen Offenburg und Karlsruhe, vor dem Walldorfer Kreuz und auf der A6 zwischen Sinsheim und Heilbronn. Ganz Deutschland schien an diesem Ferienwochenende im Auto unterwegs zu sein. Kristina döste die ganze Zeit, ihr Atem ging meist regelmäßig. Ab und zu zuckten ihre Hände. Ich konnte nur ahnen, welche Gedanken durch ihren Kopf schossen. Mein eigenes Denken kreiste ungefiltert nur um sie und um unsere Zukunft. Die üble Mischung aus Restalkohol und nervigem Stop-and-go schickte mich auf eine geistige Abwärtsspirale. Der kleine Teufel Alkohol bestrafte meine gestrige Party-Hochstimmung gnadenlos. Der Vorrat an Glückshormonen war aufgebraucht, mein Hirn dröhnte dumpf und verengte meinen Blickwinkel. Die elende Hirnchemie! Nichtchemiker reden von Kater mit Tunnelblick. Meine Gedanken drifteten ins Negative, Kristina fehlte mir als Stimmungsaufheller. Das war ihre Paraderolle. Könnte ein solcher Schicksalsschlag unsere ach so feste Atombindung auseinanderreißen? Mein Blick auf die gemeinsame Zukunft färbte sich ohne großen Übergang von Grün auf Rot. Wie würde es mit Kristina weitergehen? Müsste sie sich um ihren Vater kümmern, das Weingut übernehmen, alles verkaufen? Müsste sie nach Weinsberg ziehen? Würde die sorglos aufgewachsene, optimistisch in die Zukunft blickende und temperamentvolle Studentin ein anderer Mensch werden, an der Situation sogar zerbrechen? Wie sah es überhaupt aus auf dem Weingut? Was wusste ich überhaupt von dem Betrieb, was von ihrer Verwandtschaft? Was könnte meine Rolle sein?

Bei diesen Gedanken wurde mir bewusst, dass ich vom familiären Umfeld meiner Freundin nicht die geringste Ahnung hatte. Dieses Thema war weiträumig ausgespart worden, Kristina hatte kein Redebedürfnis gehabt, ich keine Lust zu fragen. Wir hatten genügend andere, viel anregendere Gesprächsthemen. Kristina hatte sich offensichtlich von Weingut und Familie emanzipiert, sie wollte ihren eigenen Weg gehen. „Familie ist ein notwendiges Übel, Freunde wählt man sich aus“, hatte sie mehr als einmal gesagt. Einige Andeutungen zur Familie hier und da waren auf beiden Seiten alles, Kristina lebte auch meiner Familie gegenüber im Tal der Ahnungslosen. Wenn sie von diversen Familienfesten wie Weihnachten, Ostern oder runden Geburtstagen, zu denen man einfach erscheinen musste, zurückkam, hatte sie den Kofferraum voll mit Wein. Diese Spende haben wir freudig, aber unreflektiert niedergemacht. Keine Flasche hatte je eine Geschichte bekommen, keine schaffte es, zu uns zu sprechen. Ihr Inhalt war für mich nur ein Substrat aus tausend chemisch hochinteressanten Aromastoffen mit Alkohol als Leitsubstanz. Immerhin hatte ich verstanden, dass Kristinas acht Jahre älterer Bruder Kronprinzenstatus besaß, seitdem sie denken konnte, und sich alles um ihn als Hoferben drehte. „In einer solchen Situation steigst du in den Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der Eltern ein oder machst etwas radikal anderes“, hatte sie einmal gesagt. Und sie hatte ihre Wochenenden nicht am Weinstand oder im Verkaufsraum zugebracht, sondern auf Sprachreisen, beim Joggen oder in ihrer Muckibude. So begabt sie sprachlich ist, so talent- und ehrgeizfrei allerdings habe ich sie beim Sport erlebt. Beim Laufen war der Weg das Ziel, eine kürzere Zeit anzustreben, wäre ihr nie im Leben eingefallen. Die Auseinandersetzung mit Menschen war ihr wichtiger als das Erreichen eines Podestplatzes oder als die Begeisterung über das jedes Jahr gleiche Wachsen der Rebstöcke zwischen Austrieb und Ernte. Ihr Berufsziel Lehrerin war richtig gewählt.

Endlich waren wir am Weinsberger Kreuz, ab auf die A81 Richtung Stuttgart. An der nächsten Ausfahrt würden wir die Autobahn verlassen. Auf der Strecke von Mannheim nach Stuttgart hatte ich Weinsberg in der Vergangenheit schon unzählige Male umfahren, ohne jemals dem eigentlich nicht zu übersehenden Burgberg einen ernsthaften Blick gewürdigt zu haben. Auf dem Hausberg von Weinsberg liegt die Burgruine Weibertreu mit ihrer emanzipatorischen Geschichte, als vor knapp 900 Jahren nach der Kapitulation der belagerten Burg die Frauen ihre Männer vor der Hinrichtung retteten. Diese Frauen wurden später „Treue Weiber von Weinsberg“ genannt und waren offensichtlich die Basis für das gesunde Selbstbewusstsein meiner Kristina. Sie sah sich immer in der Tradition dieser Heroinnen und redete bei jeder passenden Gelegenheit darüber. Das war überhaupt der Grund, warum ich etwas über Weinsberg, die Burg und deren Geschichte wusste. Der Sieger hatte den Weibern auf der Burg in seiner unendlichen Güte erlaubt, die Burg mit dem zu verlassen, was sie tragen konnten. Die Männer würden nach mittelalterlichem Brauch umgebracht. Also nahmen die Frauen ihre Männer auf den Rücken und trugen sie in Sicherheit. Das geschah zu einer Zeit, als es noch zum Ehrenkodex gehörte, gegebene Versprechen zu halten.

Der Berg selbst, unser Ziel, ist fast vollständig mit Reben bestückt und in dieser Jahreszeit eine homogene grüne Einheit. Nur ganz oben lockern Bäume die Monotonie auf. Am Fuße des Berges, dort, wo der Burgweg hinauf zur Ruine zu einer großen Schleife ansetzt, liegt Kristinas Elternhaus. Das Weingut der Familie Silbernagel, bekannt unter dem Namen „Rebhof“.

Es war unsere erste gemeinsame Autofahrt, die völlig schweigend ablief. Wie bei einem alten Ehepaar, aber angesichts der Situation fehlte auch mir das Bedürfnis zu reden. In der letzten halben Stunde hatte Kristina einige Telefonate geführt, deren Inhalt ich nicht verstehen konnte. Wieder hatte sie kaum geredet, wenn, dann mit dünner, fast weinerlicher Stimme. Es schien ihr aber doch ein Stück besser zu gehen als bei der Abfahrt, ihre Augen zeigten wieder etwas Glanz. Schließlich hatte sie begonnen, sich zu schminken. Etwas Rouge gegen die Blässe, ein dezenter Lidschatten und etwas Farbe auf die vollen Lippen, eigentlich wie immer kurz vor einer Ankunft. War sie sonst bemüht, „herauszuholen, was herauszuholen ist“, ging es dieses Mal um das Kaschieren der Spuren, die Tante Giselas Nachricht auf ihrem Gesicht hinterlassen hatten.

Langsam lenkte ich meinen Golf von der Straße in die Hofeinfahrt, vorbei zwischen einem schrillen Werbeschild für den Rebhof und einem wuchtigen, Schindel überdachten Holzfass, dessen Vorderfront aus einer Glasscheibe bestand, hinter der eine Kollektion Weinflaschen zu sehen war. Ich parkte direkt vor einem großen Wohnhaus auf einem Besucherparkplatz, atmete noch einmal kräftig durch und stieg aus.

Vor der Stirnseite des Gebäudes sah ich links vier große Audi stehen, die offensichtlich auf dem privaten Abstellplatz parkten. Auf der breiten Treppe, die zur Terrasse hinaufführte, erwartete uns ein älterer Herr in Küferbluse und beiger Cordhose. Er war der Typ rüstiger Großvater mit schütterem dunklem Haar, mittlere Größe, kräftig, aber nicht dick. Er hatte breite Schultern und einen scharf konturierten grauen Schnurrbart, dazu ein spitzes Kinn über einem schlanken Hals. Seine Lebensgeschichte war in seinem Gesicht tief eingegraben – Runzeln, Falten, Furchen, vor allem auf der Stirn und um die Mundwinkel herum. Er wirkte fast aristokratisch, ihn konnte ich mir durchaus als Schlossherrn vorstellen, vielleicht aus verarmtem Landadel und hart um seine Existenz ringend. Der Mann wirkte auf den ersten Blick nicht unsympathisch, vor allem strahlte er eine ungeheure Ruhe aus, die in nächster Zeit sicher dringend benötigt wurde. „Das ist Frank Sattler, er hat bis zur Rente hier viele Jahre als Mädchen für alles gearbeitet und war für mich immer eine Art väterlicher Freund“, flüsterte mir Kristina noch rasch zu. „Tante Gisela hat ihn gebeten, auszuhelfen. Er ist der Einzige, der sich in dem Betrieb hier in allem auskennt.“

Hätte ich geahnt, dass sich mein bisher geradlinig verlaufendes Leben so dramatisch in eine Achterbahn verwandeln und welche Rolle dieser Frank dabei spielen würde, hätte ich Kristina besser abgesetzt und wäre sofort abgehauen.

Kapitel 2

Der Begrüßung zwischen Kristina und Frank schaute ich überrascht und auch irgendwie irritiert zu. Sie sprang ihm stürmisch in die Arme und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust wie ein kleines Kind, das Zärtlichkeit und Schutz bei einem Erwachsenen sucht. Er tätschelte sie so auf den Rücken und streichelte ihre Wangen, wie ich als kleiner Junge von meinem Opa liebkost worden war, wenn er uns nach langer Zeit mal wieder daheim besuchte. „Komm her, meine kleine Krissi“, war das Einzige, was er zu ihr sagte. Körperlicher Trost war wichtiger als jedes Kondolenzwort, die beiden verstanden sich ohne zu reden. Schließlich griff sie seinen Arm und wandte sich mir zu: „Frank, das ist mein Freund Danny. Wir wohnen seit mehr als einem Jahr zusammen. Zum Glück hat er mich hergebracht und bleibt als moralische Hilfe da.“

Raue Hände, die hartes Arbeiten offensichtlich gewohnt waren, drückten meine Finger so fest zusammen, dass es fast wehtat. Der Griff stand in überraschendem Kontrast zu seiner weichen, dunklen Stimme: „Wer Kristina mag, den mag auch ich. Sie muss leider sofort zur Verwandtschaft. Die trauernde Truppe wartet seit zwei Stunden im Wohnzimmer auf sie, leert eine Flasche nach der anderen und wird immer ungeduldiger. Geh bitte gleich rein, Kristina. Lass deinen Freund solange bei mir, das ist taktisch besser. Ich zeige ihm inzwischen den Rebhof.“

Frank besaß ebenso intensiv nachtblaue Augen, wie sie mich bei Kristina vom ersten Augenblick so fasziniert hatten. Sein durchdringender Blick irritierte mich. Ich hatte das Gefühl, geröntgt zu werden, als ob mein Innerstes auf seiner Festplatte im Gehirn abgebildet würde. Trotzdem empfand ich es nicht als plumpes Anstarren, eher so, dass er die Menschen um ihn herum durchschauen wollte, ganz besonders natürlich die Person, die „Krissi“ so nahe an sich herangelassen hatte, sicher sogar näher als ihn. Den Kosenamen Krissi hörte ich hier zum ersten Mal. Die allgemein übliche Abkürzung ihres Namens war Tina, nichtssagend und stinklangweilig. Ich brachte ihn nicht über die Lippen, warum müssen so schöne Namen wie ihrer immer verunstaltet werden?

„Ich war ein alter Freund des Hauses und zudem viele Jahre Arbeiter im Weinberg des Herrn Papa. Deshalb kenne ich Kristina seit ihrer Geburt, wir haben uns seit Beginn ihres Studiums aber nicht mehr gesehen. Vor fünf Jahren bin ich hier ausgeschieden und offiziell in Rente gegangen. Kristina war von Anfang an mein Augapfel in einer Familie, die nie Zeit für ihre Kinder hatte. Und schon gar nicht für ein Mädchen, das später eh nur Aussteuer kosten und die Betriebsübergabe durch Erbansprüche verkomplizieren würde. Wein ist männlich, Mädchen sind hauptsächlich als Schmuckstück interessant. Am liebsten als Weinkönigin, das erhöht das Prestige des Betriebs. Ihre Mutter hat immerhin versucht, für sie da zu sein, war aber permanent überlastet.“ Franks Röntgenuntersuchung hatte offensichtlich meine Fragezeichen auf der Stirn ausgelesen und gleich die Antworten geliefert. „Entschuldige das Du, aber hier im Betrieb gibt es die feierliche Anrede mit ,Sie‘ nicht, höchstens für Kunden oder Banker, wenn man ihr Geld braucht. Wein sozialisiert und walzt Standesunterschiede rasend schnell platt. Verstehst du etwas von Wein?“

Die Frage war beiläufig gestellt, als ob er eine negative Antwort erwartete und mich das Gesicht wahren lassen wollte. Vielleicht hätte ich die beiden Jahre mit Kristina doch etwas zur Fortbildung nutzen sollen. Ich würde mich hier sicher noch kräftig blamieren.

„Nein, keine Ahnung. Ich komme aus einer ehrwürdigen Düsseldorfer Altbiertrinkerfamilie. Wein gab es hauptsächlich an Festtagen. Mein Kompetenzlevel beim Wein bewegt sich auf dem Niveau ,schmeckt oder schmeckt nicht‘. Die Weine vom Rebhof haben mir aber bisher alle geschmeckt, wenn Kristina von einem Besuch hier welche nach Freiburg mitgebracht hat.“

„Dann bist du ja schon ganz gut. Wenn du irgendwann mit schönen Worten begründen kannst, warum dir ein Wein schmeckt, bist du kurz vor dem Meistergrad. Noch mehr in die Tiefe zu gehen, schaffe auch ich nicht. Vielleicht kann ich dir einige Tipps mitgeben. Einverstanden, wenn ich dich zuerst durch den Betrieb führe? Oder möchtest du zur Begrüßung lieber ein Glas Kerner probieren?“

Bevor ich antworten konnte, klingelte sein Handy. Ein Kunde kündigte sich an. Frank musste in den Verkaufsraum und ließ mich einfach stehen. Er war aushilfsweise hergekommen, um den Weinverkauf trotz Trauerfall aufrechtzuerhalten – the show must go on.

Ich nutzte die Zeit, mir das Gelände anzuschauen. Als Kind der Großstadt empfand ich es als riesig, ein Quadrat mit sicher hundert Meter Kantenlänge, fast vollständig mit hellgrauen Verbundsteinen gepflastert. Eine weiß angestrichene, umlaufende Ziegelmauer war Abgrenzung und Sichtschutz zugleich, das ideale Gelände für unvergessliche Studentenfeten. Vor meinem geistigen Auge verlegte ich die Party von gestern Abend hierher, 500 Studenten tanzend zwischen diversen Cocktailbars und Weinständen. Und als Höhepunkt tragen die Männer ihre Frauen auf die Burg. Das wär was. Gab es in der Gegend überhaupt Studenten?

Zahlreiche kleine, in halber Höhe durchgeschnittene Holzfässer, bepflanzt mit blühenden Stauden, lockerten die Innenfläche optisch auf und ließen Parkbuchten frei für die Autos von Kunden. Eine davon hatte ich belegt, daneben parkte jetzt ein weißer Porsche Panamera. Immerhin ein Sportwagen, der auch zum Weineinkauf taugt. Bisher hatte ich den Rebhof nicht als einen so elitären Laden verstanden, bei dem die Kunden mit protzigen Karren vorfuhren. Richtung Weinberg, hinter den Parkplätzen, lag das große, zweistöckige Wohnhaus. Die ausladende Hausterrasse war durch ein Satteldach geschützt und sicher optimal für Stehempfänge kleinerer Gruppen geeignet. Zwei große Flügeltüren versperrten den Weg ins Innere, in das Kristina und Frank verschwunden waren. Hinter dem Haus ragte der Burgberg steil in die Höhe. Oben waren, zwischen Bäumen versteckt, einige Mauerreste der Ruine zu erkennen. Links vom Wohnhaus bildete ein großer Geräteschuppen, der bis zur Zufahrtstraße reichte, die seitliche Abgrenzung. Durch ein offenes Schiebetor konnte ich sehen, dass dort eine Menge technischer Geräte untergebracht war. Zwei unterschiedlich große Trecker fielen mir besonders auf. Der große war ein Ungetüm mit geschlossener Fahrerkabine, wie sie einen besonders am Kaiserstuhl immer im falschen Moment auf der Straße ausbremsen, der andere eine Bonsaiversion davon ohne Verdeck. Daneben standen zwei Anhänger, dazwischen in durchsichtige Folie eingehüllt einige Maschinen, von denen ich nicht erkennen konnte, was mit ihnen gemacht wurde. Drei Rolltore zur Seitenstraße deuteten darauf hin, dass die Zufahrt der Arbeitsmaschinen von dort erfolgte und der Innenhof frei gehalten wurde. Drei schräg angebaute Garagen schlossen sich dem Schuppen an und verbanden ihn mit dem Wohnhaus.

Die rechte Seite des Anwesens beherrschte ein kubischer Zweckbau aus Betonfertigteilen, der einige Meter vor dem Wohnhaus endete. Beide Gebäude waren durch einen überdachten Weg miteinander verbunden. Ob das das Kellergebäude war, wo die Trauben verarbeitet und die Weine gelagert werden? Dann wäre der Begriff Keller wohl Etikettenschwindel.

Von außen machte der Betrieb einen gutbürgerlich gediegenen Eindruck. Offensichtlich auf Zweckmäßigkeit angelegt, ohne besonderen Design-Anspruch oder edle Materialien, aber sehr gepflegt. Das Ambiente könnte den Ansprüchen hochnäsiger Porschefahrer genügen, aber auch Kegelbrüder auf Weintour müssten sich wohlfühlen. Konservativ war sicher die richtige Beschreibung für den Betrieb, vielleicht sogar etwas altmodisch. Insgesamt empfand ich ihn als ansprechend, hier konnte ich mir durchaus vorstellen, zu leben.

Frank kam aus dem kubischen Gebäude und schob eine Sackkarre, bis oben bestückt mit Weinkartons, zu dem Porsche. Der Fahrer entsprach nicht dem typischen Klischee: Er war nicht bonzenhaft klein und dick mit einer Blondine als Begleitung, sondern allein unterwegs, eher Typ erfolgreicher Vorstand, sportlich, groß und dynamisch, und wirkte nicht einmal unsympathisch.

Frank hatte ihn mit einem kräftigen Händedruck verabschiedet und wandte sich wieder mir zu. „Im Wohnzimmer geht es hoch her. Man könnte meinen, die verteilen bereits das Erbe. Sie wollen gleich gemeinsam zum Bestatter nach Heilbronn, Kristina und ihre Tante Gisela fahren danach ins Krankenhaus zu Fritz. Er scheint langsam stabil zu werden, liegt aber noch immer im Koma. Das wird auch noch einige Zeit so bleiben, wie die Ärzte sagen. Gegen 19 Uhr treffen sich alle wieder hier, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Wir schauen uns derweil den Betrieb innen an, von außen umgeschaut hast du dich ja sicher bereits.“

„Wie geht es mit dem Weingut jetzt weiter? Alle drei Arbeitskräfte sind auf einen Schlag ausgefallen. Das ist doch der Supergau, oder? Auch wenn ich vom ganzen Thema nur wenig verstehe, dass Trauben nicht auf Befehl das Reifen einstellen, kann ich mir denken. Wie soll es im Betrieb weitergehen? Welche Rolle kann denn Kristina dabei spielen? Sie hat doch von Wein genauso wenig Ahnung wie ich.“

Seine Antwort lautete wieder so, als schaue er tief in mich hinein. „Fritz wird, wenn er denn überlebt, nie mehr körperlich mitarbeiten können. Kommt er aber zurück, rechne ich mit dem Schlimmsten. Ein Despot wird völlig unerträglich, wenn er ein verkrüppelter Despot ist. Auf unsere Prinzessin kommen gewaltige Aufgaben zu.“

„Auf so etwas ist sie doch überhaupt nicht vorbereitet. Sie geht doch unter wie ein Flusskiesel. Hilfst du ihr? Du kennst den Betrieb, die Kunden und beherrschst doch sicher auch den Weg vom Weinberg in die Flasche. Es müsste doch zumindest die nächste Zeit überbrückt und im schlimmsten Fall eine geordnete Abwicklung durchgeführt werden.“ Und wieso sprach er von Despot? Die beiden müssten doch Kumpel, vielleicht Freunde gewesen sein, dachte ich.

Jetzt schaute Frank nachdenklich zu Boden, die Frage schien er sich auch schon gestellt zu haben. Als er antwortete, betonte er jedes Wort einzeln. „Ich gehe inzwischen stramm auf die siebzig zu, bin seit vielen Jahren Witwer und muss leider feststellen, dass meine Kraft gewaltig nachgelassen hat. Bäume auszureißen gelingt nicht mehr so wie früher, die, die ich noch schaffe, werden immer kleiner. Solange Fritz nicht mitmischt, will ich Kristina so gut ich kann unterstützen. Sofort nötig wären zusätzliche Aushilfen für die Weinbergarbeiten. Sie richtig einsetzen und in vier bis sechs Wochen im Herbst die Lesemannschaft steuern kann ich wohl. Sicher gibt es auch den einen oder anderen Berufskollegen, der im Notfall einspringt. Leider waren Silbernagel senior und junior wenig beliebt in der Branche. Ihr Image ist zu großkotzig, zu erfolgreich, zu geizig, humorlos und empathiefrei. Ich fürchte, die Hilfsbereitschaft wird sich in Grenzen halten.“

„Was sind denn die wichtigsten Aufgaben, die sofort angepackt werden müssen? Was kann Kristina überhaupt tun? Sie hat von der Führung eines Wirtschaftsunternehmens so viel Ahnung wie ich vom Kühemelken.“

„Kristina müsste lernen, Wein zu verkaufen. Das kann sie, sicher sogar sehr gut. Ob Kunden oder Kinder, die Mechanismen für den Umgang mit ihnen sind die gleichen. Daneben muss sich jemand um die steuerlichen, versicherungsrechtlichen und banktechnischen Dinge kümmern. Dafür war Kristinas Mutter Käthe zuständig. Sie konnte alle um die Finger wickeln und mit ihrem Charme und ihrer gespielten Naivität Vorteile für den Betrieb herausschlagen. Deine Prinzessin hat viele Eigenschaften von ihr geerbt, aber noch nie einsetzen müssen. Die nächsten Tage bis zur Beerdigung kann ich allein die Stellung halten, so schnell brennt im Weinberg und im Keller nichts an. Dann muss Kristina die nötigen Gespräche führen und Entscheidungen treffen. Was sie überhaupt machen darf angesichts ihres noch lebenden Vaters, weiß ich nicht. Er liegt im Koma und kann nichts tun, sie ist keine offizielle Erbin und meines Wissens ohne formale Vollmacht. Da kenn ich mich überhaupt nicht aus. Trauer hin oder her, wir müssen die Frage der Vollmacht am Montag als Erstes klären. Mir tut sie unendlich leid. Bleibst du hier und hilfst ihr, als Student hast du doch genügend Zeit, oder? Unser verwöhntes Vögelchen braucht viel moralische Hilfe, das wird deine Hauptaufgabe. Ihr bisheriges Leben hat sie im goldenen Käfig verbracht, echte Schwierigkeiten sind ihr erspart geblieben, jeden möglichen Stolperstein haben ihr vor allem Käthe und teilweise auch ich aus dem Weg geräumt. Jetzt ist sie zum ersten Mal in ihrem Leben gefordert. Und das völlig unvorbereitet gleich mit einer Situation, die auch gestandene Männer umhauen kann.“

Zufällig von einem der Blumenfässer verdeckt, konnten wir unbemerkt beobachten, wie die Verwandtschaft mit Kristina im Schlepptau in die Autos stieg und abfuhr. Zehn Personen in Trauerkleidung und mit gesenktem Blick. Meine Freundin sah verheult aus und wurde von zwei Frauen mittleren Alters gestützt. Frank hielt mich am Arm zurück, als ich zu ihr wollte. So beantwortete ich ihm seine Frage. „Student bin ich seit zwei Jahren nicht mehr. Ich promoviere über Naturstoffe, die möglicherweise als Medikament gegen Krebs eingesetzt werden können. Nächste Woche waren Versuche geplant, die die Diplomanden aber zur Not allein durchführen können. Ob ich kurzfristig für einige Zeit aussteigen kann, muss ich mit meinem Doktorvater besprechen. Reizen würde es mich schon, einmal etwas völlig anderes zu machen. Zieht er mit, kann ich mich im schlimmsten Fall bis Semesterbeginn Mitte Oktober freimachen, dann bin ich wieder für Vorlesungen und Praktika fest eingeplant. Doktorandenleben eben, halbes Gehalt, volle Institutsmitarbeit und ,nebenher‘ promovieren. Lass mich erst mit Kristina reden, dann mit meinem Professor.“ Dass wir in zwei Wochen eine dreißigtägige USA-Rundreise antreten wollten, spielte jetzt keine Rolle mehr. Dabei hatten wir uns so wahnsinnig darauf gefreut.

Frank führte mich durch die Räumlichkeiten. Es war angenehm, ihm zuzuhören, auch wenn er mich mit der Fülle an Informationen erschlug. Die wichtigsten Eckdaten versuchte ich mir einzuprägen: Betriebsgröße 17 Hektar, Zukauf von Trauben bei Bedarf, Produktion von mindestens 150 000 Flaschen im Jahr, alle Rebflächen in den berühmten Lagen Burgberg und Schemelsberg, die Hälfte bepflanzt mit roten Sorten, vor allem Württembergs Deckungsbeitragsbringer Trollinger, aber auch Schwarzriesling, Lemberger und etwas Samtrot. Weiße Sorten seien Riesling, Kerner, dazu kleine Mengen Müller-Thurgau, Muskateller und Silvaner. Ein typischer Württemberger Selbstvermarkter eben, der alle eigenen Trauben zu Wein ausbaut und über Fachhandel, Gastronomie und Privatleute verkauft. Die ganze Arbeit wurde von den drei Silbernagels erledigt, unterstützt bedarfsweise von einigen Aushilfen. Arbeit bis zum Anschlag, sechzig bis siebzig Stunden in der Woche, Selbstausbeutung auf hohem Niveau.

Das kubische Gebäude war tatsächlich das Kelterhaus, darunter lag der Weinkeller. Dort fanden sich recycelte Sandsteinquader in einem ausladenden Gewölbekeller, bestückt mit zahlreichen Holzfässern in mehreren Lagen übereinander. Frank nannte ihn Schaukeller, zum Beeindrucken des geneigten Publikums und für stilechte Weinproben. Man dürfe die Erwartungen der Menschen nach Kellerromantik auf keinen Fall enttäuschen. Die eigentliche Kellerarbeit fand aber im nicht einsehbaren Nachbarraum statt – nackte Betonwände, glänzende Edelstahltanks in allen Größen und fest installierte Rohrleitungen. Zwei Pumpen konnte sogar ich als solche erkennen, nach den anderen Geräten fragte ich vorsichtshalber nicht. Einige hatte er mir jeweils in wenigen Worten zu erklären versucht. Verstanden hatte ich keine dreißig Prozent, behalten zehn. Ein schlechter Wirkungsgrad, aber Chemiker denken in gänzlich anderen Einheiten oder Techniken. Frank sprach von zwei bis drei Tonnen Stundenleistung oder Tanks mit 10 000 Litern Inhalt. Meine Messgeräte analysierten im Mikrogrammbereich und niedriger. Kilogramm oder Tonnen als Einheit überfordern einen Normalchemiker. Unsere Schlauchpumpen im Labor schafften gerade zehn Liter in der Stunde. Ob ich schnell genug in der Lage sein würde, mich auf die neue Situation einzustellen? Es sei ein Keller nach dem Stand der Technik, arbeitswirtschaftlich optimiert genau wie die Traubenannahme und die Presseinrichtung, erklärte Frank. Bei seiner Führung ging es mir wie den Journalisten, Geldgebern, Industrievertretern, dem nervigen Laienvolk eben, die ich im Auftrag meines Chefs regelmäßig durch die Labors an der Uni führen darf. Kaum einer ist in der Lage, die Gaschromatographen, Spektralphotometer oder Ionenaustauscher zu identifizieren, geschweige denn zu wissen, wozu sie gut sind. Die Blechkisten verraten ihre Fähigkeiten genauso wenig wie diese Maschinen hier, der Insider weiß aber sofort, was er vor sich hat. Besuchern ihr Unwissen zu zeigen, machte mir immer Spaß. Ob Frank noch so viel Taktgefühl wie im Moment haben würde, wenn er irgendwann merkte, dass ich im Grunde kaum etwas verstanden hatte?

Das erste Glas Trollinger tranken wir stehend an einem Tisch im Schaukeller. Über zwei ausgemusterten kleinen Holzfässern war eine grob behauene, glänzend lackierte Holzplatte befestigt. Frank hatte unsere Gläser nur zu einem Viertel gefüllt. „Wir probieren und trinken nicht. Immerhin weißt du schon, wie man ein Stielglas korrekt hält.“ Er hatte mir interessiert zugeschaut, wie ich mein Glas mit spitzen Fingern am Stiel nahm. „In den gruseligen amerikanischen Filmschinken greifen die Helden ihr Glas immer am Korpus, bevor sie die Welt retten. Was für Barbaren. Weißwein wird schnell körperwarm und die Handcreme verschmiert das Glas mit widerlichen Fettflecken. Und dann trinken die auch noch aus übel riechenden Plastikgläsern.“

Sein USA-Bashing aus Weinsicht fand ich interessant, die gewaltigen kulturellen Unterschiede zwischen US-amerikanischen Forschern und uns Europäern erlebte ich ja fast täglich. Aber das Land selber war so fantastisch und jederzeit eine Reise wert. „Kristina meinte immer, die Amerikaner hätten als einzige Nation in der Welt den Weg von der Barbarei zur Dekadenz geschafft, ohne den Umweg über die Kultur zu nehmen. Und wie trinke ich jetzt so, dass es mit der schwäbischen Kultur kompatibel ist?“

Er verzog die Stirn, seine Falten wurden tiefer. „Schwabengerecht schwenkst du das Glas am Stiel etwas, setzt damit flüchtige Aromen frei und hängst dein Riechorgan über die Mitte des Riechraumes. Aber so, dass es elegant aussieht, klar? Und dann sagst du mir in schönen Worten, was in deiner Nase ankommt.“

Damit war die Lektion beendet, ich roch nichts, was ich in Worte fassen konnte. Er holte den nächsten Wein und wechselte das Thema. Diesmal waren die Gläser voller, es durfte offensichtlich getrunken werden. „Du solltest einige Informationen über den Rebhof bekommen, sonst verstehst du nicht, was in den nächsten Tagen hier abgehen wird. Wie ich Kristina kenne, hat sie kaum über ihr Elternhaus geredet. Einverstanden, wenn ich das nachhole?“

„Mach. Von Kristina habe ich rein gar nichts erfahren, du bearbeitest ein jungfräuliches Feld.“ Wir stießen an, er nahm einen großen Schluck.

„Der Betrieb war nach dem Krieg ein typischer Gemischtwarenladen. Trauben, Milch, Getreide, ein paar Hühner, die volle Landwirtschaftspalette und das seit mindestens hundert Jahren. Die Trauben wurden alle an die örtliche Weingärtnergenossenschaft abgeliefert, ein Teil wurde privat verkauft, die anderen Produkte gingen an den Raiffeisenhandel. Davon konnte man zu der Zeit leben. Als Kristinas Großvater schon in jungen Jahren an den Folgen seiner Gefangenschaft in Russland starb, musste Fritz mit gerade zwanzig den Betrieb übernehmen. Seine Mutter bekam kurz nach dem Tod ihres Mannes eine Blutvergiftung, die sie nicht überlebte. Schwesterherz Gisela wurde irgendwie abgefunden, das Verhältnis zu ihrem Bruder ist meiner Meinung nach seitdem massiv gestört. Was genau vorgefallen ist, wissen nur die beiden. Mit Käthe hat er dann zum Glück eine Frau gefunden, die als gelernte Hauswirtschafterin Struktur in den Laden brachte. Nach fünf Jahren war er in einen reinen Weinbaubetrieb umgewandelt, der nach und nach durch Flächenzukauf erst auf zehn, inzwischen auf 17 Hektar Rebfläche vergrößert wurde.“

„Das hört sich nach erfolgreichem Strukturwandel an. Fokussierung auf nur ein Produkt, nennt man das wohl im Geschäftsleben.“ Einiges von den Vorträgen meines Vaters war wohl doch bei mir hängen geblieben.

„Der Strukturwandel ging noch weiter. Ihr nächster Schritt war dann ein echtes Wagnis. Sie wurden mit den Traubenpreisen der Genossenschaft immer unzufriedener, das Traubengeld sank jedes Jahr weiter ab. Also entschlossen sie sich vor rund fünfzehn Jahren zum Sprung in die Selbstvermarktung. Das heißt, alle Trauben selber zu Wein ausbauen und den Wein hinterher auch mit eigenem Risiko zu verkaufen. Dass Kristinas Bruder Thorsten damals bereit war, trotz anstehendem Abitur in den Betrieb einzusteigen, und er sogar noch vor dem Studium eine Winzerlehre absolvierte, hat die Entscheidung für einen solch riskanten Sprung in eine ungewisse Zukunft gerechtfertigt. Ein geeigneter Betriebsnachfolger in der Familie ist wie ein Sechser im Lotto. Vielen Betrieben gelingt der Generationenwechsel nicht. Die Alten schuften bis zum körperlichen Verfall, müssen irgendwann verkaufen und bekommen oft nicht genug, um sich die letzten Jahre ihres Lebens vernünftig über Wasser halten zu können. Meist haben sie zuvor über eine lange Zeit nicht mehr in den Betrieb investiert und hinterlassen nur noch Ruinen. In Württemberg findest du einige solcher einst stolzen Höfe, in die sich im Glücksfall Biofreaks oder Stadtflüchter einkaufen und den völligen Verfall verhindern – wenn sie nicht bald frustriert wieder aussteigen aus dem Ausstieg, weil sie in der rauen Welt des Weinverkaufs nicht klarkommen.“

Ich hatte konzentriert zugehört, dabei immer wieder am Glas genippt. Ein Weinglas hilft, die Hände unter Kontrolle zu halten und hektische Bewegungen zu vermeiden. Ein Trick für gesellschaftliche Anlässe. Nach seinem langen Monolog leerte Frank das halb volle Glas mit einem großen Zug. Er trank schnell, auch zu viel?

„Gerade zur Zeit des Austritts aus der Genossenschaft müsstest du doch in den Rebhof gekommen sein, oder?“ Ich wollte mehr von ihm erfahren. Die Version von Kristina würde ich mir heute Abend holen. Als Wissenschaftler hatte ich gelernt, alle Themen von mehreren Seiten zu beleuchten. Die Wahrheit ergibt sich am ehesten, wenn man verschiedene Wahrnehmungen übereinanderlegt und die Schnittmengen sucht.

„Ja, stimmt. Die zehn Jahre zuvor habe ich immer wieder als Aushilfe in den Weinbergen gearbeitet, drei Jahre nach dem Ausscheiden aus der Genossenschaft dann ganztägig. Fritz war ein guter Winzer, der mit jedem Rebstock wie mit einem Menschen sprechen konnte und genau wusste, was der braucht. Vom Weinausbau dagegen hatte er kaum Ahnung. Seine Versuche, Wein zu machen, sind anfangs oft in die Hose gegangen. Ich bin in meinem ersten Leben Kellermeister in einer Genossenschaft gewesen und habe ihn bei seinen notwendigen technischen Investitionen unterstützen können. Bis er meine Hilfe auch beim Weinausbau akzeptierte, dauerte es etwas. Wir waren dann ein gutes Team. Er konzentrierte sich auf die Weinberge, ich war für den Keller zuständig.“

„Dann hast du die Genossenschaft verlassen und als einfacher Mitarbeiter bei diesem Fritz gearbeitet. Das ist doch ein sozialer Abstieg, was ist da passiert?“ Schon wieder so ein Redebeitrag ohne das Hirn vorher einzuschalten. Wie der Begriff „schwabenkompatibel“. Für einen geborenen Rheinländer hier völlig unpassend. Aber der Satz war schon heraus. An der Uni lernt man, offene Punkte, noch besser, Widersprüche, zu thematisieren. Sollte ich mich entschuldigen?

Die Stirnfalten waren wieder tiefer geworden, der Röntgenblick energiereicher. „Das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich dir bei Gelegenheit. Noch ein Glas Wein? Ich hole einen Spätburgunder.“

Wieder füllte Frank die Gläser voll.

„Entschuldige meine Direktheit, an der Uni ist das so üblich. Ich muss mich noch umstellen. Die Story geht aber doch weiter, du hast ja bis vor fünf Jahren hier mitgearbeitet.“

„Im Keller, aber auch als Mädchen für alles. Wenn man eben alles kann. Die Zeit war sehr hart, Wein verkaufen ist nicht einfach. Die Konkurrenz ist riesig und kein Weintrinker der Welt hat auf uns gewartet. Aber die Qualität war irgendwann gut, und Fritz konnte mit seiner sachlichen Art Kunden hervorragend beraten. Ihre Herzen hat er allerdings nie erreicht, dazu war er zu kalt und humorlos. Dieses Manko hat Käthe mit ihrer offenen Art zum Glück ausgeglichen. Vor fünf Jahren war dann Thorsten mit seiner Ausbildung zum Weinbauingenieur in Geisenheim fertig und kam nach einem Praktikum in Australien in den Betrieb. Dann war einer zu viel an Bord, und ich durfte mich mit 63 in die Rente verziehen. Seitdem hat sich der Rebhof gut weiterentwickelt. Das Wohnhaus wurde renoviert und mit Büro und kleinem Verkaufsraum ausgestattet, Kelter und Keller wurden aus dem Boden gestampft, der Maschinenpark zielgerichtet angepasst. Alles Dinge, die man im Blick auf eine erfolgreiche Zukunft so tut. Familie Silbernagel hat meiner Meinung nach alles richtig gemacht.“ Wieder nahm er einen großen Schluck Wein und animierte mich, mitzutrinken.

Der Spätburgunder schmeckte mir, aber er war anders als die, die ich vom Kaiserstuhl kannte. Hatte ich schon ein erstes Erfolgserlebnis? Ich erkannte Unterschiede. Die Trinkgeschwindigkeit wurde mir zu hoch. Ich musste langsamer werden. Im Kopf spürte ich doch noch die gestrige Trinkerei, und mein Bauchgefühl riet mir, für die anstehenden Dinge fit zu bleiben.

„Als Chemiker verstehe ich nicht viel von Betriebswirtschaft. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass der Betrieb durch die Investitionen hoch verschuldet ist, oder?“ Ich schaute Frank fragend an. Dass der rüstige Mann mit 63 in Rente geschickt, wahrscheinlich als überflüssiger und großer Kostenblock eher in die Rente entsorgt wurde, wollte ich nicht thematisieren. Das könnte Stoff für eine weitere, irgendwann zu erzählende Lebenslüge sein. Ich war für heute in genügend Fettnäpfchen getreten.

„Natürlich. Investiert wurden sicher über eine Million Euro. Mehr als fünfzehn bis zwanzig Prozent Eigenkapital kann ich mir nicht vorstellen, eher weniger. Der Betrieb müsste allein durch die Bauten mit weit über einer halben Million Euro bei der Bank in der Kreide stehen. Bei einem Betrieb wie dem Rebhof nichts Kritisches. Sicherheiten gibt es ja genügend. Es weiß auch jeder, dass der größte Weinbergsbesitzer in Deutschland die Volksbanken und Sparkassen sind. Solange Rebflächen teuer bezahlt werden, sind sie als Sicherheit gerne akzeptiert. Auch das Betriebsgelände mit dem großen Haus ist hier in der Gegend sehr wertvoll. Wie viele ältere Schulden zusätzlich noch finanziert werden müssen, weiß ich nicht. Fritz und Sohn haben jedenfalls immer den Eindruck vermittelt, Geld spiele keine Rolle. Kristina muss als Erstes mit der Bank reden und mit dem Steuerberater.“

Kristina. Ihretwegen war ich hier, trank mit einem älteren, mir praktisch unbekannten Kellermeister in einem Holzfass-Schaukeller viel Wein und hörte die Story eines Weinguts, das mir vor noch einigen Stunden so unbekannt gewesen war wie die Weinherstellung. Dann wollte ich das Gespräch mit Frank dazu nutzen, einiges über die Jugend meiner Freundin zu erfahren. Selber hatte sie bisher wenig erzählt. Der Grund für ihr distanziertes Verhältnis zu Vater und Bruder interessierte mich vor allem und warum sie an Wein allgemein und am Weingut so desinteressiert war. Die eine oder andere Pubertätskatastrophe von ihr zu kennen wäre als Argumentationshilfe bei unseren Diskussionen auch nicht schlecht. Doch da wurde ich enttäuscht. So präzise Frank die betriebliche Situation schildern konnte, so nichtssagend oberflächlich beantwortete er meine Fragen. Es kamen Gemeinplätze wie: wildes Kind, ständig mit Freundinnen unterwegs, vielfach talentiert, aber an allem desinteressiert, in der Pubertät die üblichen Verehrer, zwei Mal angetrunken von der Polizei heimgebracht. Das war offensichtlich der Gipfel des Geheimnisverrats.

Frank besorgte den nächsten Wein und schenkte wieder ein. „Verrat mir im Gegenzug, was du mit Kristina angestellt hast. Sie war immer etwas mollig, schon als Kleinkind, das hat mir besser gefallen als der Hungerhaken, der sie heute ist. Ihre Haare trug sie immer lang bis fast zum Hintern. Und gefärbt waren sie jeden Monat mit einer anderen Farbe. Jetzt wiegt sie mindestens fünf Kilo weniger, wirkt auf mich halb verhungert und trägt die Haare ungefärbt und halblang wie ihre Mutter.“