Blutschnee - Carlo Fehn - E-Book

Blutschnee E-Book

Carlo Fehn

4,7

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

In seinem fünften Fall wird der Kronacher Hauptkommissar Franz Pytlik durch einen brutalen Mord an einer Buchbacher Kunsthändlerin in den Vorbereitungen auf das bevorstehende Weihnachtsfest gestört. Nicht nur die Tatsache, dass Schnee und Eis den Landkreis fest im Griff haben, sondern auch undurchsichtige Machenschaften der Getöteten und ihres Mannes, dem Inhaber eines Fotostudios, gestalten die Ermittlungen schwierig. Als plötzlich auch noch alles darauf hindeutet, dass sogar die Mafia mit involviert sein könnte, scheint der Fall für Pytlik und seinen Assistenten Cajo Hermann eine Nummer zu groß zu werden.

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Carlo Fehn

Blutschnee

In seinem fünften Fall wird der Kronacher Hauptkommissar Franz Pytlik durch einen brutalen Mord an einer Buchbacher Kunsthändlerin in den Vorbereitungen auf das bevorstehende Weihnachtsfest gestört. Nicht nur die Tatsache, dass Schnee und Eis den Landkreis fest im Griff haben, sondern auch undurchsichtige Machenschaften der Getöteten und ihres Mannes, dem Inhaber eines Fotostudios, gestalten die Ermittlungen schwierig. Als plötzlich auch noch alles darauf hindeutet, dass sogar die Mafia mit involviert sein könnte, scheint der Fall für Pytlik und seinen Assistenten Cajo Hermann eine Nummer zu groß zu werden.

Blutschnee - Hauptkommissar Pytliks fünfter Fall

Carlo Fehn

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2014 Verlag Carlo Fehn

ISBN 978-3-8442-9314-2

Samstag, 29. Oktober 2005

Nachdem der grausame Mord an Emilie Kuhnert aufgeklärt war, hatte Pytlik seinen Assistenten Cajo Hermann und den Kollegen Justus Büttner in guter alter Tradition zu sich nach Hause eingeladen. Bei Pizza, Pasta und Bier wurde der Fall noch einmal abschließend besprochen.

»Hobb scho dess Gerücht ghörd, dess der Kreuzberch jetzt ›Kuhnerts-Berch‹ haaß söll...«

»Ob wir so ein Denkmal brauchen?«

Hermann hatte seine Bedenken kaum geäußert, da klingelte es an Pytliks Haustür.

»Kümmd nuch jemond, Franz?«, wollte Büttner wissen.

»Nicht, dass ich wüsste.«

Pytlik legte sein Stück Pizza zurück in den Karton und stand auf. Als er die Tür geöffnet hatte, war er sprachlos. Mit diesem Gast hatte er beim besten Willen nicht gerechnet. Lisa Strehmel, die Staatsanwältin, stand vor ihm.

»Hallo Franz.«

«Hallo, äh, Frau…, äh Lisa.«

Pytlik stotterte wie ein kleines Kind, die Überraschung war einfach zu groß. Später würde er nicht wissen, warum er diesen Moment als so hoffnungsvoll empfunden hatte.

»Komm doch rein!«, forderte er Lisa Strehmel mit einer einladenden Geste auf.

»Du, ich bin auf dem Sprung und habe es ehrlich gesagt auch ein bisschen eilig. Ich wollte dir das hier nur geben.«

Sie überreichte Pytlik einen Brief, den sie bereits in der Hand gehalten hatte. Der Hauptkommissar schaute zunächst auf das Kuvert und dann hoch in ihr Gesicht. Seine Hoffnung hatte sich schnell verflüchtigt. Als er ihre leicht zitternden Mundwinkel und die glasig schimmernden Augen sah, wurde ihm mulmig. Noch bevor er etwas Sinnvolles sagen konnte, fing sie das Tänzeln an, wusste nicht so recht, was sie tun sollte, gab ihm dann aber schnell einen Kuss auf die Wange und verschwand mit einem kaum wahrnehmbaren »Mach’s gut, Franz!«.

Knapp zwei Monate später,

Freitag, 16. Dezember 2005

Das schrille Klirren, das durch das Schlagen der Messerspitze auf das Glas erzeugt wurde, war im gut gefüllten Gemeinschaftsraum der Polizeiinspektion in Kronach kaum wahrzunehmen. Erst als Robert Behrschmidt, der Dienststellenleiter am Kaulanger, auf einen Tisch gestiegen war, um sich, pausenlos klopfend, endlich Gehör zu verschaffen, senkte sich der Geräuschpegel sehr schnell. Und als auch das letzte Wispern noch verstummt war, wandte sich der Chef mit sicherer Stimme und klarem Blick an seine Mitarbeiter. Das hohe Podest verließ er so schnell wie er es erklommen hatte. Er machte ein bisschen den Anschein, eine billige Kopie von Günther Jauch zu sein, hielt er doch einige von diesen DIN A5 Notizzetteln in seiner rechten Hand und begann sogleich, sich an das Auditorium zu wenden.

»Ja, nun, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich darf für ein paar Minuten um Ihre Aufmerksamkeit bitten, da ich Ihnen jetzt, wo wir hier so kurz vor dem Jahreswechsel zu einer gemütlichen, gemeinsamen Feierstunde zusammengekommen sind, sozusagen als Rückblick, aber auch gleichzeitig als Vorausschau, noch einige Worte mit auf den Weg geben möchte.«

Behrschmidts selbstsicherem und mit einem Dauerlächeln behaftetem Auftreten stand auf der anderen Seite eine Gruppe von Beamten gegenüber, die wusste, dass ein Jahresabschlusswort des Dienststellenleiters zum Protokoll dazu gehörte, aber gleichzeitig hofften alle, dass er sich kurz fassen würde. Schließlich war die alljährliche Weihnachtsfeier, die traditionsgemäß am vorletzten Freitag vor Heiligabend stattfand, für diejenigen, die daran teilnehmen konnten, nicht nur eine Pflichtveranstaltung, sondern auch eine Gelegenheit, das zurückliegende Jahr feuchtfröhlich noch einmal zu resümieren und ausklingen zu lassen.

»Und deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt es dennoch schon jetzt, den Blick auch in die Zukunft zu richten.«

Hauptkommissar Pytlik stand in vorderster Reihe neben seinem Assistenten Cajo Hermann, der ebenso wie sein Vorgesetzter mit versteinerter Miene den nun schon 20 Minuten dauernden Vortrag über sich ergehen ließ. Pytlik und Hermann kannten sich lange genug, so dass Jeder wusste, was der Andere gerade dachte. Beide hatten auch schon das eine oder andere Bier getrunken und obwohl sie mit dem neuen Chef am Kaulanger bisher ganz gut zurechtgekommen waren, hätten sie sich jetzt gewünscht, dass er seinen langweiligen Monolog schnell beenden würde.

»Die Globalisierung der Welt und die damit verbundenen Auswirkungen auch auf unser regionales Zusammenleben, zum Beispiel in unserem Landkreis Kronach, machen unsere Arbeit in Zukunft ja nicht leichter und deshalb…«

Das anfangs gelegentliche Räuspern, Husten und Naseputzen wurde mittlerweile deutlich mehr und es war zu spüren, dass die Ungeduld stieg. Doch erst, als ein Handyklingeln die Klassenzimmeratmosphäre plötzlich und unerwartet störte, Hauptkommissar Pytlik sich daraufhin mit einer entschuldigenden Geste und schnellen Schrittes nach draußen verabschiedete, schien wohl auch Robert Behrschmidt gemerkt zu haben, dass seine Worte in diesen Momenten nicht mehr verarbeitet wurden.

»Lassen Sie mich abschließend Ihnen allen und Ihren Familien noch ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und die Zusammenarbeit im abgelaufenen Jahr.«

Das einigermaßen abrupte Ende seiner Rede löste einen durchaus begeisterten Beifallssturm aus, der wohl weniger der inhaltlichen Komponente des Vortrags galt, dessen war sich auch Behrschmidt bewusst. Er war aber Profi genug, um das zu überspielen und sein anfängliches Lächeln auch am Schluss zu präsentieren.

***

»Ja, ich hatte geplant, am Freitag so gegen Mittag loszufahren, dann wäre ich am späten Nachmittag oder am frühen Abend bei euch. Wenn das in den nächsten Tagen so weiter schneit, wie die das vorausgesagt haben, dann wird es wahrscheinlich besser sein, wenn ich mit dem Zug fahre. – Nein, ich weiß nicht, was Johannes und Klara machen. Ich habe auch ehrlich gesagt keine Lust mehr, mir ständig dieses depressive Zeug anzuhören. Die soll sich endlich mal in Behandlung begeben, das würde auch dem Johannes sicherlich helfen. – Wie? Die haben sich bei euch darüber beschwert, dass ich keinen Kontakt zu ihnen halte, oder was? Dass ich nicht lache!«

Pytlik war in den Flur gegangen, da er von seinem Bruder Georg aus München angerufen worden war. Es ging um die Weihnachtsplanung. Er und seine Frau hatten Pytlik eingeladen, nach München zu kommen, um mit ihnen Weihnachten und den Jahreswechsel zu feiern. Zu Georg hatte Pytlik ein sehr gutes Verhältnis, während sein anderer Bruder Johannes, der mit seiner Frau in Kronach lebte, mit eigenen und vor allen Dingen den Problemen seiner Frau zu kämpfen hatte. Das Verhältnis war erkaltet.

»Ja, ja! Ich will mich auch gar nicht mehr aufregen. Aber der verdreht einfach nur die Tatsachen. – Ich will es aber nicht verstehen, verstehst du? Es gibt eben nicht nur die Probleme von Johannes und seiner Frau! – Na gut, können wir ja dann nächste Woche noch mal drüber sprechen. Sag meiner Lieblingsschwägerin schon mal schöne Grüße! – Okay, mache ich. Bis dann.«

Nachdem Pytlik das Gespräch beendet hatte, überlegte er kurz, aber er wollte sich die bis dahin gute Laune nicht wieder dadurch verderben lassen, dass er sich einen Kopf über die Probleme Anderer machen sollte. Er ging schnell in sein Büro, holte die Jacke vom Haken, setzte sich eine Wollmütze auf, damit sein kahler Schädel nicht fror und verließ für eine schnelle Zigarette das Gebäude.

***

Die Weihnachtsfeier in der Polizeiinspektion Kronach war, wie anderswo wahrscheinlich genau so, auch hier eine Veranstaltung, bei der man abseits von Dienstgrad und Vorschriften ein paar Stunden miteinander verbrachte. Pytlik saß mit seinem Assistenten Hermann, ihrer beider Sekretärin Gundi Reif, Justus Büttner, dem Leiter der Schutzpolizei und dessen Stellvertreter Egon Schneider an einem Tisch. Als ob die Fünf nicht schon das ganze Jahr über genug miteinander zu tun hätten und sich nicht auch das eine oder andere Mal gegenseitig nervten, mussten sie auch jetzt noch ihre Köpfe zusammenstecken. Aber das war wohl ganz normal. Pytlik, der – es war schon nach 22 Uhr – selbst schon ordentlich getankt hatte und zum Rauchen nun schon gar nicht mehr extra nach draußen ging, sondern ungeniert am Tisch qualmte, stieß Hermann mit einem leichten Lächeln auf den Lippen und mit einer Kopfbewegung zum schräg gegenüber sitzenden Schneider in die Seite. Als Schneider, wie auf Kommando, in diesem Moment seinen Kopf mit den nur noch halb geöffneten und Hilfe suchenden Augen in Richtung der beiden Ermittler drehte, mussten diese spontan lachen, ohne dass es ihnen gelang, ihr Amüsement vor den Anderen zu verbergen. Pytlik war die Asche seiner Zigarette ins Bierglas gefallen, ohne dass er es merkte, Hermann, der gerade einen Schluck genommen hatte, hatte Mühe, die Flüssigkeit im Mund zu behalten.

»Woss hobbdn ihr jetzt?«, brummte plötzlich Justus Büttner, der sich mit der am Kopfende sitzenden Adelgunde Reif intensiv über die Rolle von Oma und Opa bei der Erziehung der Enkel in der heutigen Zeit unterhielt. Als Schneider, der nicht mehr ganz Herr seiner Sinne zu sein schien, Pytlik und Hermann dann auch noch für mehrere Sekunden mit seinem Blick fixierte, aber weder fähig war, etwas zu sagen, noch mit Gesten etwas zum Ausdruck zu bringen, dann blitzartig seinen Kopf wieder geradeaus richtete und nur einmal kurz mit der Schulter zuckte, brüllten der Hauptkommissar und sein Assistent erst richtig los. Pytlik klopfte sich auf den Oberschenkel, ergriff sein Glas und nahm einen großen Schluck.

»Pass auf, Franz!«, schrie Hermann, während er sich gleichzeitig mit der flachen Hand die Tränen aus dem Gesicht wischte. Als Pytlik, kaum dass er das Bier geschluckt hatte, das Gesicht angewidert verzog und sein Lachen für den Moment verstummt war, gipfelte die Situation darin, dass Hermann beim leichten Wippen mit dem Stuhl das Gleichgewicht verlor und samt seiner Sitzunterlage hinten überkippte und kurze Zeit danach wie ein erlegter Bär auf dem Boden lag.

»Oh Gott, Cajo, mein Junge, ist dir was passiert?«

Gundi Reif war die Erste, die aufgesprungen war und sich zu Hermann hinunter beugte. Pytliks Assistent schien aber Glück im Unglück gehabt zu haben. Außer, dass er nun – es war laut und deutlich zu hören – Häme und Spott über sich selbst ergehen lassen musste, schien ihm rein äußerlich nichts passiert zu sein. Auch Pytlik hatte seinen Stuhl zur Seite gedreht, um Hermann aus seiner misslichen Situation zu helfen. Im gleichen Augenblick fielen Egon Schneiders Augen endgültig zu und sein Kopf fast gleichzeitig in seine verschränkten Arme auf der Tischplatte. Einzig Justus Büttner schien wie ein Fels in der Brandung von dem ganzen Treiben unbeeindruckt zu bleiben.

»No, Saggramend, fodroochd ihr nix oder woss? Dann sauft hald a nix! Meine Herrn!«

Samstag, 17. Dezember 2005

Pytlik schlug mit einem Mal die Augen auf. Er hörte nichts, er sah nichts und im ersten Moment wusste er nicht einmal, wo er war. Ganz langsam überlegte er. So schwer es ihm auch fiel, sich überhaupt irgendwie zu regen oder über etwas nachzudenken, so erleichtert war er dann doch nach einigen Sekunden, als er die schwach fluoreszierenden Zeiger des Weckers neben seinem Bett sehen konnte. Gott sei Dank, dachte er, ich bin zuhause. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Kopf einem äußerst empfindlichen Plateau glich, auf dem ein Sprengsatz montiert war, der bei der kleinsten Erschütterung in die Luft gehen würde. Pytlik drehte sich langsam von der Seite auf den Rücken, begleitet von einem leisen Stöhnen, was von seinen hämmernden Kopfschmerzen herrührte.

»Oh Gott!«

Er versuchte, sich zu erinnern. Zunächst blickte er noch einmal nach links. Zeigte der Wecker tatsächlich fünf vor zwölf? Pytlik wollte gar nicht erst darüber nachdenken, ob das ein Zeichen wäre. Er wusste nur, dass er es jetzt wieder bereute. Gestern war alles schön und er hätte kein Glas Bier weniger trinken wollen, weil es einfach dazu gehörte und man dann nicht mittendrin sagt: Jetzt trinke ich halt erst ein Wasser. Dass es ihm dann heute wohl besser gegangen wäre, davon konnte er sich jetzt auch nichts kaufen. Aber die letzten drei Gläser Bowle verfluchte er dann doch noch. So mies er sich auch fühlte, andererseits hatte die Situation auch etwas Befriedigendes für ihn. Noch vor einem halben Jahr hätte es wohl keine zehn Minuten gedauert und er hätte sich einen Frühstückswhisky eingeschenkt. Jetzt, das wusste er, war es einfach nur ein Kater, der ihm schon den halben Samstag geraubt hatte und der ihn wohl auch für den restlichen Tag an die Couch fesseln würde. Sein Kopf pochte. Instinktiv nahm er sein Handy vom Nachttisch und schaute nach.

Fünf verpasste Anrufe von Cajo Hermann war das Erste, das Pytlik lesen konnte, als das Display seines Mobiltelefons in hellblauer Hintergrundfarbe erstrahlte.

»Mist!«, fluchte er. Er hoffte, dass es sich nicht um eine dienstliche Angelegenheit handeln würde. Er wusste nicht, wie er an diesem Tag auch nur einen klaren Gedanken würde fassen können. Gleichzeitig sah er, dass Hermann ihm auch eine SMS geschickt hatte. Pytlik vermutete, dass darin der Inhalt der Telefonate erklärt werden würde.

Er hielt das Handy mit der linken Hand hoch über seinem Kopf. Er wühlte sich durch das Menü und öffnete schließlich die Kurznachricht seines Assistenten. Bereits nach den ersten Wörtern schnaufte er erleichtert aus, weil das, was ihm Hermann mitteilte, nicht nur nicht dienstlich war, sondern – ganz im Gegenteil – Pytlik mehr und mehr zum Schmunzeln brachte.

Hallo Franz, ich hoffe, du hast die Taxifahrt gut überstanden und dir nicht mehr all zu viel durch den Kopf gehen lassen. Ich wollte dir nur ganz kurz noch mitteilen, dass der Kollege Schneider dann tatsächlich auch wieder aufgewacht ist, aber dermaßen die Orientierung verloren hatte, dass er das Pöbeln und Randalieren beginnen wollte, weshalb ihn die beiden Jungs vom Wachdienst kurz vor zwei Uhr nachts tatsächlich in Handschellen in die Ausnüchterungszelle gebracht haben. Als Kaution stand dann letztendlich ein Leberkäsfrühstück für die komplette Mannschaft zur Diskussion. Der Haftrichter wurde noch nicht informiert…

Aus Pytliks Schmunzeln war ein Lächeln und dann ein Lachen geworden. Wegen seines trockenen Halses musste er husten und mit dem Husten kam der Schmerz. Sein Kopf tat fürchterlich weh.

***

Die Dusche hatte dem Hauptkommissar gut getan. Er fühlte sich zwar sehr wackelig, aber zumindest konnte er nun wieder einigermaßen klar denken und während er die Zahnbürste monoton in seinem Mund kreisen ließ, versuchte er, einen Plan für den restlichen Tag aufzustellen. Ein kurzer Signalton hatte ihm angekündigt, dass die Mundhygiene bald beendet sein würde, als er das Dachfenster in seinem Badezimmer öffnete und einen Blick nach draußen wagte.

»Ach du Scheiße!«, entfuhr es ihm, als eine Ladung frischen Pulverschnees auf den Vorleger fiel. Pytlik wusste, dass die Gehwege bei den Nachbarn und in der ganzen Siedlung am Flügelbahnhof wahrscheinlich schon blitzblank geräumt waren. Andererseits dachte er sich, dass das bei diesem unaufhörlich starken Schneefall doch eh für die Katz’ wäre. Dennoch würde ihm keine Wahl bleiben. Er wollte es nicht riskieren, dass ausgerechnet vor seiner Haustür jemand auf die Nase fiel. Er konnte sich schon vorstellen, dass die Lehnhardts nebenan schon wieder den ganzen Vormittag über ihn schimpften, weil natürlich sein Gehweg wieder der einzige war, der noch nicht geräumt war. Pytlik überlegte. Für die Tagesplanung war es wohl besser, so dachte er, erst einmal in den sauren Apfel zu beißen und seine bürgerliche Pflicht zu erledigen, um danach seine Ruhe zu haben und die Füße hochlegen zu können.

»Glück im Unglück«, flüsterte Pytlik vor sich hin, als er mehr schlecht als recht die ersten Ladungen Schnee vor seinem Hauseingang auf den bereits hoch aufgetürmten weißen Haufen geschaufelt hatte. Die Flocken fielen unaufhörlich und sehr dicht aus einem grauen und wie eine bedrohliche Macht über der Stadt liegenden Himmel. Pytlik hatte im Augenwinkel bereits seine Nachbarin am Küchenfenster erspäht.

»Wusste ich es doch«, grummelte er in seinen hochgeschlossenen Jackenkragen. Nachdem er einige Male mit der Schaufel voran – ähnlich einem Schneepflug – das Stück Gehweg vor seinem Haus abgegangen war, konnte er es sich nicht nehmen lassen, nun ganz bewusst hinschauend, seine Nachbarin, die sich hinter dem Vorhang anscheinend sichtgeschützt fühlte, mit einem übertriebenen Winken zu begrüßen. Das Verhältnis zu den Lehnhardts war nicht unbedingt schlecht, allerdings war vor allem seine Nachbarin wohl der Meinung, dass Pytliks Lebensstil in der jüngeren Vergangenheit nicht gerade angemessen gewesen war. Pytlik wusste auch, dass sie wohl nicht Unrecht hatte damit, allerdings schätzte er lieber ein klares Wort, anstatt Heimlichtuerei hinter dem Fenster.

Der Hauptkommissar hatte das Nötigste getan, stand vor seiner Haustür und blickte noch einmal kontrollierend auf den Gehweg nach links und rechts. Er fühlte sich in diesem Moment wie Sisyphos, und er wusste, dass er wohl heute nicht das letzte Mal die Schneeschaufel in der Hand gehabt hatte. Er stützte sich auf den Stiel und schnaufte einige Male schwer. Dann versuchte er, so weit wie möglich in alle Richtungen zu blicken. Was war hier nur los, fragte er sich. So viel Schnee hatte er in Kronach noch nicht erlebt. Im oberen Frankenwald, da oben in Steinbach, Teuschnitz, Tettau, da war das eigentlich ganz normal und er mochte sich gar nicht vorstellen, was dort jetzt los war. Aber Kronach? Die armen Kollegen, dachte er, die werden bei diesen Verhältnissen wohl kein ruhiges Wochenende vor sich haben. Auf der anderen Straßenseite konnte er im dichten Schneefall gerade noch eine Silhouette das Haus verlassen sehen. Auch sein Nachbar Ralf Merkel war ein pflichtbewusster Mensch. Für ihn stand bereits die nächste Schicht beim Schneeräumen an.

***

Pytlik genoss es nun. Irgendwie war er dem Wetter auch dankbar. Wenn einem so ein Schneechaos nicht als Alibi für einen Wintersport-Nachmittag vor dem Fernseher diente, was denn dann? Die Aspirin zum nachmittäglichen Frühstück sorgte für einigermaßen Entspannung in seinem Kopf. Nur, wenn er sich allzu sehr über einen Fehlschuss der deutschen Biathleten aufregte, pochte es noch ganz leicht. Zwischendurch ging er in die Küche, um einen Tee aufzusetzen. Die Terrasse war bisher verwaist geblieben, da er gestern einfach zu viel geraucht hatte und ihm heute ganz sicherlich keine Kippe schmecken würde. Er wollte das auch wieder ein bisschen reduzieren. Während der Wasserkocher sich langsam mühte, schaute Pytlik aus dem Fenster. Er tat das aber nicht hinter dem Vorhang und als Ralf Merkel, der mittlerweile schon wieder am Schneeschaufeln war, ihn erblickte und mit gestenreichen Bewegungen auffordern wollte, doch auch rauszukommen, schickte Pytlik seinem Nachbarn nur ein Lächeln, tippte mit dem rechten Zeigefinger auf die Uhr an seinem linken Handgelenk, schürzte die Lippen und zog die Augenbrauen nach innen, womit er sagen wollte: nur keinen Stress, das hat doch noch Zeit! Wäre er heute nicht so angeschlagen gewesen, hätte Pytlik sicherlich die Gelegenheit genutzt, nach draußen zu gehen und ein kurzes Pläuschchen mit Merkel zu halten. Er schätzte die Nachbarschaft mit ihm und seiner Frau sowie auch mit den übrigen Nachbarn – auch die Lehnhardts waren ja eigentlich in Ordnung. Pytlik goss das Wasser in die Glaskanne, gleichzeitig hielt er die drei Teebeutel mit der anderen Hand fest, damit die Etiketten nicht hineinrutschen konnten. Die Uhr an seinem Herd stellte er auf sieben Minuten.

Da sah er wieder den Brief, den er, als sie noch einmal bei ihm war, auf die Ablagefläche oberhalb des Geschirrspülers gelegt und dort auch noch nicht weggenommen hatte. Seine Stimmung schien zu kippen und während der Tee zog, nahm er das Schreiben heraus und las die Zeilen, die sie ihm zum Abschied überreicht hatte.

Lieber Franz,

ich schreibe diese Zeilen, und frage mich gleichzeitig schon jetzt, warum ich dir nicht persönlich sage, was ich denke und fühle. Ich möchte es so kurz wie möglich machen, ohne dass du das Gefühl bekommen sollst, ich würde nur meine Mitteilungspflicht erfüllen. Ich habe mich dazu entschieden, eine neue berufliche Herausforderung anzunehmen, die ab dem 1. Dezember dieses Jahres in Füssen beginnen wird. Ich hatte bereits vor einigen Jahren ein ähnliches Angebot bekommen, das damals für mich allerdings nicht in Frage gekommen war. Nun haben sich allerdings die Zeiten geändert und ich möchte dir zunächst versichern, dass es sich hier nicht um eine Flucht aus emotionalen Gründen handelt, sondern dass ich mir sicher bin, dass das, was zwischen uns war und vielleicht doch immer noch ist, von meinem letztendlichen Wunsch nach dieser beruflichen Chance womöglich belastet worden wäre. Ich gebe ehrlich zu, dass ich mir viele Gedanken gemacht habe, ob das mit uns gut gehen kann oder gut gegangen wäre. Ich habe keine klare Antwort gefunden. Ich werde dich nicht vergessen. Pass auf dich auf! Lisa

Die Uhr am Herd piepste, Pytlik steckte den Brief in das Kuvert zurück und legte es wieder auf den Geschirrspüler. Er nahm die Teebeutel aus der Kanne und ließ sie in das Spülbecken fallen. Dann schenkte er sich eine Tasse ein, nahm ein Feuerzeug aus der Schublade und zündete das Teelicht unter der Kanne an. Gemächlichen Schrittes ging er ins Wohnzimmer. Es war nun endlich Zeit für Wintersport im Fernsehen.

***

Pytlik wachte auf und bekam gerade noch mit, wie der Moderator sich »nach fast neun Stunden unterhaltsamer und spektakulärer Wintersportwettkämpfe« erschöpft aber euphorisch von den Zuschauern verabschiedete. Pytlik überlegte. Wie würde es draußen wohl mittlerweile ausschauen? Es war bereits dunkel und außer dem schwachen Licht, das der Fernseher ins Wohnzimmer warf, war es im Haus des Hauptkommissars komplett finster. Von der Vorfreude, die Pytlik einige Stunden zuvor noch gespürt hatte, war nun nichts mehr übrig geblieben. Ein trister Samstagabend stand ihm bevor und er hatte wenig Hoffnung, dass er nach dem Blättern des TV-Programms besser gelaunt sein würde. Nein, es sah wirklich nicht gut aus. Das Telefon klingelte. Georg vielleicht? Gab es noch etwas zu besprechen wegen nächster Woche? Hermann? Hatte er noch andere Neuigkeiten vom Kollegen Schneider? Wer konnte sonst noch am Samstagabend anrufen? Pytlik nahm das Mobilteil von der Station und drückte den grünen Knopf, während er langsam in die Küche lief um nachzuschauen, wie die Lage draußen mittlerweile war.

»Pytlik, hallo. – Heiner, grüß dich, was gibt’s?«

Pytliks alter Freund, Heiner Baumann, rief an. Die Beiden kannten sich schon sehr lange und trafen sich regelmäßig einmal die Woche auf ein Bierchen in der Stadt. An den Wochenenden hatten sie bisher aber noch nie etwas unternommen.

»Aha! – Hm! – Ja, ja, schon klar, ich überlege nur… – Äh, lass mich mal schauen! Obwohl… – Ja gut, wieso eigentlich nicht? – Okay... – Also dann, um acht im Appel’s Max – Okay, also bis dann. – Ja, ist gut.«

Pytlik musste schmunzeln, als er aufgelegt hatte. Sein Freund Heiner schien – ohne dass er das so gesagt hatte – ziemlich besorgt zu sein. Das hatte nichts mit kriminalistischem Spürsinn zu tun, das war einfach zu offensichtlich. Pytlik war gespannt. Er konnte zwar immer noch nicht behaupten, dass es ihm wieder vollständig gut gehen würde, aber ein, zwei Bierchen und dann noch einen Gute-Nacht-Krimi vor der Kiste, das hörte sich doch ziemlich gut an. Er lugte noch einmal hinaus und musste den Kopf schütteln.

»Das gibt es doch nicht!«, flüsterte er fast schon ehrfürchtig.

Danach zog er sich an und ging hinaus, um Schnee zu schaufeln.