BookLess 1. Wörter durchfluten die Zeit. - Marah Woolf - E-Book

BookLess 1. Wörter durchfluten die Zeit. E-Book

Marah Woolf

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Beschreibung

Never without a book: Das magische Flüstern! Sie trägt ein mysteriöses Mal in Form eines Buches am Handgelenk und kann hören, was die Bücher ihr zuflüstern. Als die 17-jährige Lucy ein Praktikum in der Londoner Nationalbibliothek beginnt, entdeckt sie Bücher, deren Texte verschwunden sind und an die sich niemand mehr zu erinnern scheint. Als die Bücher sie immer eindringlicher um Hilfe bitten, versucht Lucy dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Und Nathan, von dem sich Lucy unwiderstehlich angezogen fühlt, scheint darin verwickelt zu sein. Unglaublich spannende Geschichte mit bibliophilem Thema!

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Marah Woolf

 

 

Bookless. Wörter durchfluten die Zeit

 

 

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Über die Autorin:

 

Marah Woolf wurde 1971 in Sachsen-Anhalt geboren, wo sie auch heute noch mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und einer Zwergbartagame lebt. Sie studierte Geschichte und Politik und erfüllte sich mit der Veröffentlichung ihres ersten Romans 2011 einen großen Traum. Mittlerweile sind die MondLichtSaga und die BookLessSaga vollständig erschienen. Die FederLeichtSaga wird eine siebenteilige Serie.

Im Herbst 2017 erscheint mit GötterFunke. Hasse mich nicht, Band 2 der GötterFunkeSaga im Handel.

 

 

 

 

Marah Woolf

 

BooklessSaga

 

Teil I

 

 

Bookless. Wörter durchfluten die Zeit

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Deutsche Erstausgabe August 2013

Copyright © Marah Woolf, Magdeburg

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins

 

Alle Rechte, einschließlich die des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

 

Impressum:

IWD, Hasselbachplatz 3, 39104 Magdeburg

[email protected]

 

Facebook: Marah Woolf

Blog: www.marahwoolf.com

Twitter: MondSilberLicht

Instagram: marah_woolf

Pinterest: Marah Woolf

 

Für Marcus,

für gestern, heute und morgen

 

 

 

 

Prolog

Lucy trat durch die Eingangstür des Archivs, deren alte Scharniere zur Begrüßung knarrten. Fest presste sie die Bücher in ihrem Arm an sich. Hier war sie in Sicherheit. Sie atmete auf und wischte sich die Tränenspuren aus dem Gesicht. So schnell es die steilen Stufen zuließen, eilte sie die Treppe hinunter.

In dem schmalen Gang zwischen den Regalen stieg ihr der vertraute Geruch der alten Bücher in die Nase. Aber heute vermochte er sie nicht zu trösten. Wieder rannen ihr Tränen über die Wangen, und sie betete, dass sie das Medaillon finden würde. Es musste auf dem Schreibtisch liegen. Sie durfte es nicht verloren haben.

Eilig hastete sie durch die verzweigten Gänge. Der allgegenwärtige Staub kribbelte ihr in der Nase. Umständlich kramte sie den Schlüssel aus der Jackentasche, bemüht, die Bücher, die sie auf dem Arm balancierte, nicht fallen zu lassen. Nachdem sie ihn gefunden hatte, schloss sie auf und trat ein.

Sie durchquerte den winzigen Raum, legte ihre Last auf dem Schreibtisch ab und knipste die Arbeitslampe an. Dann wühlte sie hektisch zwischen den Papieren, Büchern und Karteikarten, die auf dem winzigen Tisch verstreut herumlagen.

»Verdammt«, stieß sie hervor. Warum fand sie es nicht? Sie bückte sich und kroch unter den Tisch. Immer hektischer wurden ihre Bewegungen. Die Zeit rannte ihr davon. Sie musste weg von hier, bevor sie sie entdeckten. Aber ohne das Schmuckstück konnte sie nicht fort. Verzweifelt sah Lucy sich um. Sie brauchte es zurück. Es war ihr wertvollster Besitz. Alles, was sie hatte. Ihr Blick glitt suchend durch den Raum, der nur in schummrigem Licht lag. Endlich entdeckte Lucy es. Matt schimmernd hing es an der Ecke eines der Bücher, die neben der Tür aufgestapelt lagen. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Bücher hätten es unter sich begraben. Aufschluchzend stürzte sie darauf zu, umklammerte das Schmuckstück und strich über das warme Metall der Kette. Hastig versicherte sie sich, dass es unversehrt war. Dann legte sie es sich um den Hals und löschte das Licht. Nie wieder würde sie das Medaillon ablegen, schwor sie sich. Ein letztes Mal sah sie sich um, bevor sie auf den Gang trat. Vermutlich würde sie nicht hierher zurückkehren. Das schlechte Gewissen, die Bücher alleinzulassen, quälte sie. Aber sie hatte keine Wahl. Sie musste fort, und zwar so schnell wie möglich. Ihr blieb nur, zu hoffen, dass die Bücher ihr die überstürzte Flucht verziehen. »Ich werde für euch kämpfen«, wisperte sie in die Stille, ohne zu wissen, was sie eigentlich tun konnte, um zu verhindern, dass noch mehr von ihnen verloren gingen. Sie erhielt keine Antwort. Ein letztes Mal atmete sie den vertrauten Duft der Bücher ein. Dann machte sie sich auf den Rückweg.

Lucy spürte die Veränderung, kaum dass sie einen Fuß zurück in das endlose Labyrinth der Regalreihen gesetzt hatte. Ihr Herz schlug schneller. Furcht kroch durch ihren Körper. Sie durfte nicht die Nerven verlieren. Aufmerksam blickte sie sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Die Bücher schwiegen, und trotzdem wurde sich Lucy ihrer Panik gewahr. Sie wünschte, sie würde die Gefühle der Bücher nicht so stark spüren, die Angst lähmte sie, ohne dass sie den Grund dafür erkennen konnte. Sie konnte sich nicht rühren. Ihr Herz wummerte in ihrer Brust. Die Bücher waren in Gefahr.

Dann hörte sie das Knistern, und im selben Augenblick bekam die Furcht der Bücher einen Duft. Der Geruch alter Bücher verschwand, und ein anderer nahm seinen Platz ein. Als Lucy begriff, was sie da roch, bemerkte sie auch schon den weißen Qualm, der wie Nebel zwischen den Regalen aufstieg. Hypnotisiert starrte Lucy auf das Schauspiel, das sich ihr bot. Wie aus dem Nichts züngelten kleine gelbe Flammen aus den Gängen zu ihrer Linken hervor. Mit jedem Wimpernschlag schienen sie größer und größer zu werden. Ihre Farben wechselten zu einer verwirrenden Mischung von Weiß, Blau und Rot.

Das Archiv brannte. Die Bücher – das Feuer würde sie vernichten. Jedes einzelne von ihnen. Lucy war immer noch wie erstarrt. Dann drangen die Schreie der Bücher an ihr Ohr. Lucy schwankte und griff Halt suchend nach der Wand. Was sollte sie tun? Viel zu schnell fraß das Feuer sich durch das trockene Holz und das uralte Papier. Die Flammen leckten über den Boden, wanden sich um jeden einzelnen Karton, bohrten sich in sein Innerstes und verrichteten ihr zerstörerisches Werk. Beinahe sorgfältig gingen sie dabei vor, als wollten sie verhindern, dass ihnen auch nur ein Buch entging. Der Schatz, der hier so viele Jahre verwahrt und geschützt worden war, ging vor ihren Augen verloren.

»Lauf, Lucy. Rette dich!«, forderten die Bücher plötzlich von ihr. Tausende Stimmen vereinigten sich zu einem Schrei. »Rette uns!«

Die Betäubung fiel von ihr ab, und sie erwachte aus ihrer Starre. Voller Panik hastete sie zurück in das Büro. Sie knipste das Licht wieder an und griff nach dem Telefon. Ihre Hände zitterten so stark, dass ihr der Hörer entglitt und auf den Boden knallte.

Für die Bücher hier unten würde jede Hilfe zu spät kommen, aber der Bestand in den oberen Etagen konnte vielleicht gerettet werden. Sie musste sich nur beeilen. Alles hing jetzt von ihr ab. Sie bückte sich, um den Hörer aufzuheben, und versuchte, das Zittern ihrer Finger zu unterdrücken. Dann wählte sie die Nummer des Infoschalters.

Nichts. Kein Tuten erklang.

Das Telefon war tot.

Wütend schüttelte sie den altersschwachen Apparat und versuchte es noch einmal. Das Gerät gab kein Lebenszeichen von sich. Lucy stöhnte auf. Sie blickte zu den Büchern, die sie vor wenigen Minuten auf ihrem Schreibtisch abgelegt hatte. Wenigstens diese würde sie retten. Sie konnte sie nicht dem Feuer überlassen.

Hastig zog sie ihre Strickjacke von der Lehne des Stuhls, griff nach einer Wasserflasche und goss deren Inhalt über die Wolle. Dann drückte sie sich den feuchten Stoff vor Mund und Nase, nahm die Bücher und umklammerte sie wie einen Rettungsanker.

Das Feuer hatte sich weiter vorgearbeitet. Es breitet sich viel zu schnell aus, schoss es Lucy durch den Kopf, bevor sie losrannte. Sie musste den Weg abkürzen und nach oben gelangen. An der nächsten Kreuzung bog sie rechts ab. Die Bücher in ihrem Arm behinderten sie, aber sie war nicht gewillt, sie den Flammen zu überlassen. Der Weg vor ihr dehnte sich ins Unendliche. Der Rauch nahm ihr erst die Sicht und dann den Atem.

Ein Krachen ertönte vor ihr. Die riesigen Regale wankten und begannen einzustürzen. Das Feuer hatte sich durch die dicken Eichenbretter gefressen, und diese hielten ihm nicht länger stand. Sie drehte sich um und rannte zurück. Zwängte sich zwischen zwei Regale, die so eng beieinanderstanden, dass sie kaum hindurchpasste. Funken stoben durch den Raum, und eine Welle aus Flammen, Schutt und Asche flog auf Lucy zu. Sie versuchte, schneller zu laufen, drängte sich voller Furcht durch die Gänge. Eigentlich hätte sie längst bei der Treppe angekommen sein müssen. Aber sosehr sie sich auch bemühte, in dem Rauch etwas zu erkennen, um sie herum türmten sich nur Regale mit unzähligen Büchern. Verzweifelt sah sie nach oben. Der Buchstabe, der diese Regalreihe markieren sollte, war nicht mehr zu erkennen. Lucy begann zu husten und zu würgen. Was, wenn sie nicht hinausfand?

Sie ließ die feuchte Strickjacke fallen und zerrte mit einer Hand einen der verschlossenen Kartons aus dem Regal. Oben auf dem Deckel war deutlich die Signatur zu lesen. Sie begann mit dem Buchstaben L.

»Verfluchter Mist«, krächzte Lucy in den Lärm des Infernos. Sie hatte sich verlaufen. Zurück konnte sie nicht. Das Feuer war zu nah, und die Hitze brannte auf ihrer Haut. Sie nahm das Buch aus dem Karton, den sie achtlos fallen ließ. Sie konnte es nicht zurücklassen und der Vernichtung preisgeben. Dann rannte sie, so schnell ihre schmerzende Lunge es zuließ, weiter.

Nur Minuten später wurde ihr klar, dass sie völlig die Orientierung verloren hatte. Lucy konnte nicht mehr. Ihr fehlte die Luft zum Atmen. Die Kraft zum Weiterlaufen. Das Feuer schien sie ihres Willens beraubt zu haben. Um sie herum brodelten die Flammen, sie griffen nach allem, was ihnen in die Quere kam, und fraßen es auf. Egal, in welche Richtung sie sich wandte, von allen Seiten stürmte das Feuer auf sie zu. Eine alles vernichtende Armee, die erbarmungslos ihr Werk verrichtete.

Lucy saß in der Falle.

Tränen rannen ihr über die Wangen, und sie versuchte wütend, sie fortzuwischen. Das war sein Werk. Sie hatte ihm vertraut, und er hatte sie verraten. Wütend ballte sie die Fäuste, sie musste die Gedanken an ihn abschütteln. Wenn sie schon starb, sollte ihr letzter Gedanke nicht ihm gelten. Schluchzend verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Langsam rutschte sie, an eines der Regale gelehnt, zu Boden. Mit der linken Hand umfasste sie das Medaillon fester.

»Wir sind bei dir«, flüsterten die Bücher. »Wir lassen dich nicht im Stich. Hab keine Angst.«

Lucy weinte lautlos. An allem war nur sie schuld. Sie wünschte, sie könnte die letzten Wochen ungeschehen machen. Aber eine glühend rote Welle rollte heran und fraß ihre Welt.

 

1.Kapitel

London, einen Monat zuvor

 

Lucy rannte die Treppe zur Bibliothek hinauf und schob sich immer noch keuchend durch die Eingangstüren und den winzigen Vorraum. Unvermittelt sah sie in das missmutige Gesicht von Mr Barnes, dem Direktor der London Library. Er hatte sich im Empfangsbereich aufgebaut und die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Sein Fuß wippte ungeduldig auf und ab.

»Miss Guardian«, begann er seine Litanei. »Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen anstellen soll. Was ist so schwierig daran, pünktlich an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen? Ihnen muss doch klar sein, dass eine Menge anderer Schülerinnen für dieses Praktikum Schlange stehen. Ich weiß nicht, wie lange ich Sie unter diesen Umständen noch beschäftigen kann. Sicher möchten Sie nicht, dass ich mich bei Ihrem Tutor am College beschwere?«

Lucy hätte am liebsten die Augen verdreht. Sie kannte diese Predigt mittlerweile fast auswendig. Ihr Blick schweifte zum Empfangstresen, hinter dem sich ihre Freundin Marie gerade in haargenau der gleichen Pose wie Mr Barnes aufbaute und flüsternd jedes seiner Worte mitsprach. Lucy biss sich in die Wangen, um nicht loszulachen. Es war ihr schleierhaft, wie es Marie gelang, dieses Frettchen so detailgetreu nachzuahmen.

Dummerweise bemerkte Mr Barnes, dass ihre Aufmerksamkeit nicht mehr ihm galt. Aufgebracht fuhr er herum. Dabei verlor er den Halt und wäre sicherlich zu Boden gestürzt, hätte Lucy ihn nicht festgehalten.

Um ihn von Marie abzulenken, plapperte sie einfach drauflos: »Mr Barnes, ich verspreche hoch und heilig, dass es das letzte Mal ist, dass ich zu spät komme. Aber sehen Sie«, Lucy versuchte einen Augenaufschlag, der gründlich misslang und lediglich dazu führte, dass Mr Barnes seine buschigen Augenbrauen zusammenzog, »ich musste letzte Nacht dieses Referat vorbereiten, über Perikles. Ich habe Ihnen doch davon erzählt. Ich habe die halbe Nacht daran gearbeitet, und es ist wirklich gut geworden. Leider bin ich deshalb viel zu spät ins Bett gegangen, und dann habe ich zu allem Überfluss vergessen, meinen Wecker zu stellen. Ich war einfach todmüde.«

»Ja, ja. Um eine Ausrede sind Sie nie verlegen. Das war Ihre letzte Verwarnung. Damit das klar ist«, knurrte Mr Barnes, drehte sich um und lief vor sich hin grummelnd zurück in sein Büro. Lucy atmete tief durch und ging zu Marie, die sich hinter dem Empfangstresen so unsichtbar wie möglich machte.

»Du hast mich gerettet«, stöhnte ihre Freundin, als Lucy neben ihr auftauchte und ihr einen Kuss auf die Wange gab.

»Diesmal war es echt knapp«, bestätigte Lucy. »Du solltest deine schauspielerischen Talente irgendwo anders ausleben.«

Marie sah sie zerknirscht an. »Ich weiß«, sagte sie. »Aber ich kann einfach nicht anders. Es reizt mich immer wieder.« Die Mädchen kicherten.

»Weshalb bist du wirklich zu spät?«, fragte Marie.

»Das Übliche.« Lucy zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, wie andere Leute das schaffen. Ich stehe rechtzeitig auf, und trotzdem scheint meine Zeit schneller zu vergehen. Egal, was ich anstelle – ich komme zu spät.«

Marie verschränkte ihre Arme und sah sie herausfordernd an. »Du hast in der U-Bahn gelesen.«

Lucy schüttelte den Kopf.

»Du hast die richtige Haltestelle verpasst«, setzte Marie hinzu.

Wieder schüttelte Lucy protestierend den Kopf.

»Zeig deine Tasche«, forderte Marie und winkte mit der rechten Hand. Lucy kniff die Augen zusammen.

»Ich habe also recht«, triumphierte ihre Freundin und zog ein Buch aus der Tasche. »Wie oft habe ich dir gesagt: Lass die Dinger zu Hause. Beinahe jeden Morgen verpasst du deine Station. Und dann kommst du wie ein abgehetztes Kaninchen hier an. Wie deine Haare wieder aussehen.« Marie angelte eine Haarbürste aus einem Schubfach ihres Schreibtisches.

»Bring das in Ordnung.«

»Sieht doch sowieso keiner.«

»Nur weil du nur Bücher im Kopf hast, bedeutet das noch lange nicht, dass es anderen Leuten auch so geht. Glaub mir, es gibt durchaus ein paar Typen, die sich nach dir umdrehen würden, wenn du dein Gesicht nicht ständig zwischen bedruckten Seiten verstecken würdest.«

Ein älterer Herr trat an den Tresen und legte seinen Ausweis vor. Sein Haar war fast weiß, und die Haut seiner Wangen fiel faltig über seine Kieferknochen.

Marie nickte ihm zu und betätigte die Schranke, die ins Innere der Bibliothek führte.

»Meinst du so einen Vertreter des anderen Geschlechts?«, fragte Lucy aufmüpfig. »Da laufe ich lieber mit Haaren herum, die aussehen wie ein Vogelnest. Und überhaupt, wenn du nicht immer bei Chris schlafen würdest, dann könnten wir zusammen zur Bibliothek fahren und ich wäre pünktlich«, protestierte Lucy noch, als Marie sie längst in Richtung Toilette schob.

»Das könnte dir so passen«, erwiderte sie. »Chris und ich sind in seiner Wohnung viel besser aufgehoben. Da können wir machen, was wir wollen. Aber davon verstehst du Küken nichts.«

»Du bist heute wieder sehr witzig«, brauste Lucy auf, sprach aber nur noch mit der Toilettentür. Marie war gerade mal ein paar Monate älter als sie. Und nur weil sie einen festen Freund hatte, brauchte sie sich gar nicht einbilden, ihr Vorschriften machen zu können. Sie betrachtete ihre Frisur im Spiegel. Zugegebenermaßen sah sie ziemlich zerzaust aus. Allerdings würde die Bürste da nicht helfen. Diese Haare waren sozusagen ihr Schicksal.

Lucy war gerade dabei, im Lesesaal Bücher einzusortieren, als Marie hereingeschlichen kam. »Du sollst zu Mr Barnes kommen. Sofort«, flüsterte sie.

»Hat er gesagt, was er will?« Er würde sie doch nicht ernsthaft feuern, oder? Wie sollte sie das ihrem Tutor erklären? So schnell würde sie keinen neuen Praktikumsplatz finden, und den brauchte sie, sonst konnte sie eine gute Note vergessen. Sie war so froh gewesen, dass Marie ihr die Stelle in der Bibliothek besorgt hatte, und nun hatte sie es vermasselt. Mist.

»Mir hat er nichts verraten.« Aufmunternd klopfte ihre Freundin ihr auf die Schulter.

Lucy trottete den Flur zum Büro des Direktors entlang. Vielleicht konnte sie ihn noch umstimmen. Sie könnte sich ein paar Tränchen rausdrücken und an sein Mitleid appellieren. Allerdings bezweifelte sie, dass es helfen würde. Vor einer der alten hohen Holztüren, die den Flur säumten, blieb sie stehen und klopfte. Da Lucy nicht hören konnte, ob sie zum Eintreten aufgefordert wurde, drückte sie die Türklinke hinunter. Vorsichtig steckte sie ihren Kopf durch den Spalt.

Mr Barnes thronte hinter seinem riesigen Schreibtisch und hatte den Kopf über ein Dokument gebeugt, sodass das Einzige, was Lucy von ihm sehen konnte, seine Glatze war. Nervös trat sie ein und hauchte ein Hallo. Ein bisschen Unterwürfigkeit konnte ja nicht schaden.

Der Bibliotheksdirektor ignorierte ihre Begrüßung und schrieb eifrig weiter. Erst nach einer ganzen Weile, in der Lucy von einem Fuß auf den anderen getrippelt war, sah er auf und bedeutete ihr, vor ihm Platz zu nehmen.

Er selbst stand auf, trat neben sie und griff nach Lucys Hand. »Ich war vielleicht ein bisschen harsch zu Ihnen vorhin«, setzte er an. »Dabei war ich auch mal jung.« Er zwinkerte ihr zu. »Meine Mitarbeiterinnen aus dem Lesesaal sind sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit. Sie loben Ihren Einsatz sehr.«

Lucy verkniff sich ein Lächeln. Sie machte diese Arbeit wirklich gern. Für sie gab es nichts Schöneres, als Tag für Tag von Büchern umgeben zu sein. Aber er hatte sie sicherlich nicht zu sich gebeten, um sich bei ihr zu entschuldigen. Das passte zu dem Mann genauso wenig wie ein Halloweenkostüm. Bestimmt wollte er irgendwas von ihr. Er ließ ihre Hand los, um sich wieder zu setzen. Verstohlen wischte Lucy die Finger an der Hose ab. Sie fühlten sich feucht an.

»Ich habe Ihnen den Praktikumsplatz gegeben, weil Sie ein hervorragendes Zeugnis haben. Sie belegen deutlich mehr Kurse als Ihre Mitschüler, und natürlich lässt Ihr Schicksal mich nicht kalt.« Er machte eine kunstvolle Pause, aber Lucy wusste bereits, was jetzt kommen würde. »Bestimmt war es nicht leicht, in einem Heim und ohne Eltern aufzuwachsen. Normalerweise gebe ich nur Schülern einen Job, die aus stabilen Verhältnissen kommen. Man weiß ja nie. Wir haben sehr wertvolle Bücher in unserem Bestand.«

Das hatte sie sich alles schon beim Vorstellungsgespräch anhören müssen. Der Mann war ein verbohrter Ignorant.

»Aber ich wollte Ihnen eine Chance geben. Ich dachte, Sie sind deutlich klüger und reifer als Ihre Altersgenossen.«

Sie nickte und hoffte, dass es dankbar aussah. Eigentlich wollte sie lieber brechen. Zu oft schon hatte sie mit solchen Gutmenschen zu tun gehabt.

»Lange Rede, kurzer Sinn. Da die Kolleginnen im Lesesaal Ihnen so gute Referenzen gegeben haben, dürfen Sie ab heute im Archiv arbeiten und Miss Olive unterstützen. Sie ist nicht mehr die Jüngste und braucht Hilfe. Sie möchte ein bisschen kürzertreten. Es ist nicht einfach, stundenlang im Keller zu arbeiten, aber ich bin sicher, Sie schaffen das.«

Wahrscheinlich fand er keine andere Dumme, die er dafür abstellen konnte, vermutete Lucy. Aber ihr sollte es recht sein. »Das wird kein Problem für mich sein«, antwortete sie, als er sie gespannt anstarrte. Hoffentlich erwartete er keine Dankbarkeit.

Mr Barnes grinste zufrieden, nahm wortlos seinen Stift in die Hand und vertiefte sich wieder in seine Unterlagen. Nervös rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her.

»Sie können gehen. Marie soll Sie nach unten begleiten. Richten Sie ihr das aus.« Damit winkte Mr Barnes sie zur Tür hinaus.

»Er hat mich ins Archiv versetzt«, platzte es aus Lucy heraus, als sie am Infoschalter ankam. Ihre Freundin verabschiedete sich von dem Besucher, mit dem sie gerade gesprochen hatte.

»Wie bitte?«

»Er hat mich ins Archiv versetzt«, wiederholte sie. »Ich glaube ja, er hätte mich lieber gefeuert. Ich schwöre, dass ich nie wieder zu spät komme.«

»Ins Archiv?« Marie schüttelte fassungslos den Kopf, und Lucys Herz rutschte ihr in die Hose. Eigentlich fand sie die Aussicht gar nicht so übel, besser, als auf der Straße zu stehen.

»Was ist so schlimm daran? Ist doch nur ein Keller voller Bücher.«

»Da unten spukt es. Hast du noch nichts davon gehört?«, flüsterte Marie zur Erklärung und beugte sich über den Tresen. »Manche von den Angestellten schwören, schon mal ein Gespenst gesehen zu haben. Es würde mich nicht wundern, wenn da das eine oder andere Skelett verstaubt.« Lucy schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte diese Geschichten als Gruselmärchen abgetan, die den Besuchern der Bibliothek erzählt wurden, um die wöchentlichen Montagsführungen etwas unterhaltsamer zu gestalten. Wer glaubte schon an Geister? Allerdings arbeitete Marie schon länger in der London Library als sie.

»Hast du schon mal eins gesehen?«, hakte sie deshalb nach.

Marie schüttelte den Kopf. »Bist du wahnsinnig? Ich gehe da nur runter, wenn ich unbedingt muss. Miss Olive hat sowieso nicht gern Leute da unten. Sie ist ein bisschen eigenbrötlerisch.«

»Ich glaube erst an Gespenster, wenn ich mal einem begegnet bin«, erklärte Lucy. »Lass uns runtergehen. Ich bin neugierig, wie es da ist.« Sie fragte sich, warum sie nicht längst mal dort gewesen war. Sie arbeitete jetzt seit vier Wochen hier, aber in den Keller hatte es sie einfach noch nie verschlagen. Vor Aufregung kribbelte es in ihrem Bauch.

Lucy folgte Marie, bis diese vor einer hohen Tür stehen blieb. Wunderschöne Schnitzereien verzierten das von der Zeit verblichene Holz. Schon mehr als einmal hatte Lucy die Blumenranken bewundert.

»Das Tor zur Unterwelt«, erklärte Marie ihr und lachte nervös. Zögernd drückte sie die Klinke nach unten, und ein misstönendes Knarren durchbrach die Stille. Gespannt hielt Lucy die Luft an.

Ein dunkler Gang tat sich vor den beiden Mädchen auf, der in die Tiefe führte. Unwillkürlich musste Lucy an mittelalterliche Burgen und Folterkeller denken. Glücklicherweise wurde die steinerne Treppe, wenn auch nur schummrig, von elektrischem Licht erhellt. Nackte Glühbirnen hingen von der Decke herab.

»Keine abgenagten Knochen weit und breit«, flüsterte Lucy ihrer Freundin zu und kicherte.

»Du bist blöd! Du wirst schon noch sehen, was ich meine.« Tapfer betrat Marie die erste Stufe, Lucy blieb ihr dicht auf den Fersen.

Die Luft, die den Gang durch die offene Tür hinunterwehte, wirbelte winzige Staubpartikel auf, die kurz funkelten, verharrten und dann auf die abgetretenen Steinstufen niedersanken. Lucy stellte sich vor, dass die Luft sie jeden Tag ein Stück weiter nach unten wehte. Sie würden es nie wieder ans Tageslicht schaffen.

Hinter ihnen fiel die Tür mit lautem Getöse ins Schloss. Marie schrie auf, und auch Lucy zuckte zusammen, fing sich aber gleich wieder und lachte auf. »Das war bloß der Wind«, erklärte sie. »Sei nicht so schreckhaft.«

Der skeptische Ausdruck in Maries Augen war nicht zu übersehen. »Wo soll hier Wind herkommen?«

Lucy sparte sich eine Erwiderung. »Wollen wir? Je schneller ich bei Miss Olive bin, um so schneller bist du wieder oben.«

»Stimmt.«

Die Treppe war steil. Um nicht kopfüber hinunterzupurzeln, umfasste Lucy mit einer Hand das Geländer. Es fühlte sich kalt unter ihren Fingern an. Hunderte Hände hatten es im Laufe der Zeit glatt geschliffen.

Als sie den Fuß der Treppe erreichte, rundeten sich ihre Augen vor Erstaunen. Das Gewölbe, das sich vor ihr ausbreitete, schien kein Ende zu nehmen. Links und rechts des Aufgangs erstreckten sich rohe, in das Erdreich versenkte Steinwände. Der Boden bestand aus vom Alter fleckig gewordenen, abgewetzten Steinquadern. Die hohen Bücherborde, die vor ihr aufragten, bogen sich unter ihrer Last. Neugierig trat Lucy an das vorderste Regal heran. Marie griff ihren Arm und zog sie weiter. Sie nahm kaum den Blick von dem Plan, den sie in der Hand hielt und der ihr helfen sollte, sich zu orientieren. Oft konnte sie noch nicht hier unten gewesen sein. Warum hatte Mr Barnes ihr nicht jemanden mitgegeben, der sich hier auskannte? Vermutlich hoffte er, dass sie beide sich verliefen und nie wieder aus diesem Labyrinth herausfanden. Sie würde ein hervorragendes Gespenst abgeben, war sich Lucy sicher. Sie kicherte, und Marie sah sich fragend um. Lucy verzichtete darauf, ihr ihre Zukunftsaussichten mitzuteilen, falls sie den Plan nicht richtig las. Stattdessen folgte sie Marie durch das Gewirr schmaler Gassen. Ihre Aufmerksamkeit wurde zunehmend von den Schätzen, die hier verborgen lagen, in Beschlag genommen. Sie blieb stehen. Marie war so darauf konzentriert, sich nicht zu verlaufen, dass sie gar nicht bemerkte, wie Lucy immer mehr zurückfiel.

Tief sog sie den Duft ein, der ihr aus den Regalen entgegenströmte. Dieser Duft versinnbildlichte alles, was sie an Büchern am meisten liebte. Es war die Erwartung auf ein neues Abenteuer, das sie gefangen nehmen und forttragen würde. Forttragen in Welten, die sie sonst nie erreichen würde. Sie roch die Bäume, aus deren Holz die unzähligen Blätter der Bücher gefertigt waren. Sie roch das Pergament von jahrhundertealten Exemplaren, das aus Lumpen gewonnen worden war. Der Einfallsreichtum der Menschen war unerschöpflich gewesen, wenn es darum gegangen war, Erkenntnisse, Gedanken und Gefühle niederzuschreiben. Der Duft der Farben der Bilder, mit denen die Bücher verziert waren, vermischte sich mit dem dunklen Aroma der ledernen Einbände. Ganz schwach nahm sie den Geruch des Rußes wahr, aus dem früher Tinte hergestellt worden war. Tausende Schreiber und Drucker hatten ihr Leben damit verbracht, diese wertvollen Texte für die Nachwelt zu erhalten. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, dass sie diesen Schätzen nun Gesellschaft leisten durfte.

Marie hatte das Ende des Ganges erreicht und bog nach rechts ab. Wenn sie ihre Freundin aus den Augen verlor, würde sie sich hoffnungslos verirren. Die meterlangen Regale durchzogen das komplette Gewölbe, immer wieder unterbrochen von Kreuzungen und Abzweigungen, die einen in eine neue Richtung lockten. Ein Menschenleben würde nicht ausreichen, um all diese Kostbarkeiten auch nur anzusehen, geschweige denn zu lesen.

Betrübt strich sie über ein paar Buchrücken und lief Marie hinterher. Am Ende des Ganges blieb sie stehen und lauschte. Maries Schritte hallten laut durch die Stille. Bestimmt veranstaltete sie diesen Lärm absichtlich, um sich Mut zu machen. Es würde ihr nicht schwerfallen, ihr zu folgen. Wieder richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf eins der Regale. Die meisten Bücher standen offen auf ihrem Bord. Nur einige waren, um sie zusätzlich zu schützen, in Kartons verstaut. Ein Buchrücken reihte sich an den nächsten. Sorgfältig mit Signaturen versehen, warteten sie darauf, dass ein Leser sich für sie interessierte. Vorsichtig zog Lucy eines der Bücher aus dem Regal. Sie strich über den Einband und schlug es auf.

Staub wirbelte zwischen verblichenen Seiten hervor. Lucys Nase begann zu kribbeln. Sie stellte das Buch zurück und holte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche. Noch einmal strich sie über die Buchrücken, bevor sie sich endgültig daranmachte, Marie zu folgen. Deren Schritte waren verstummt. Lucy sah nach rechts und nach links. Um sie herum erstreckte sich nur das Gewirr der Gänge.

Ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Wohin war ihre Freundin verschwunden? Allein würde sie hier nie rausfinden. Sie hätte sie nicht aus den Augen lassen dürfen. Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Es war empfindlich kühl hier unten, fiel ihr erst jetzt auf. Sie war viel zu sehr mit den Büchern beschäftigt gewesen. Erleichtert atmete sie auf, als sich ein blonder Lockenkopf zwischen zwei Regalen hervorschob.

»Da bist du ja«, rief Marie mit piepsiger Stimme. »Ich hab schon befürchtet, eins dieser Regale hat dich verschluckt.«

Lucy grinste. »Du hast wirklich Angst hier unten, oder?«

»Findest du es nicht ein bisschen unheimlich?«, fragte Marie zurück, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht sprach Bände.

Lucy schüttelte den Kopf. Sie würde nicht zugeben, dass sie sich gerade selbst für eine winzige Sekunde gefürchtet hatte. Hier gab es schließlich nur Bücher, und diese waren schon immer ihre engsten Vertrauten gewesen. Ihr fiel so einiges ein, was ihr Angst machte. Bücher gehörten definitiv nicht dazu.

»Hhmpf«, machte Marie. »Los, komm. Je eher ich wieder oben bin, umso besser.«

Schweigend eilten sie weiter durch die Gänge, bis Marie vor einem kleinen Büro stehen blieb, das sich an eine der steinernen Außenwände schmiegte. Sie öffnete die Tür. Die Kühle, die im Archiv die Bücher schützte, wich einer angenehmen Wärme. Der Raum hatte die Bezeichnung Büro kaum verdient. Zelle wäre angemessener, befand Lucy. Der Eindruck verstärkte sich noch durch die vielen im Raum verteilten Bücherstapel, die es ihr kaum ermöglichten, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Eine altertümliche Lampe brannte auf dem Schreibtisch, der ebenfalls mit Büchern bedeckt war. Nur mit viel gutem Willen würde es möglich sein, dass sie und Miss Olive sich hier gemeinsam reinquetschten. Immerhin gab es zwei Stühle, auch wenn einer davon unter der Last von Büchern fast zusammenbrach.

»Sie ist nicht da«, stellte Marie missmutig fest. »So ein Mist, jetzt müssen wir auch noch nach ihr suchen.«

Lucy tat ihre Freundin leid. Sie würde sie erlösen müssen. Sie wusste längst, dass nur wenige Menschen ihre Vorliebe für die Abgeschiedenheit und die Dunkelheit teilten. Sie war das einzige Kind im Heim gewesen, das sich bei den nächtlichen Mutproben auf den Speicher getraut und es länger als ein paar Minuten dort ausgehalten hatte. Wirklich gefürchtet hatte sie sich nie. Im Gegenteil. Sie wäre glücklich gewesen, wenn ihr wenigstens einmal ein Gespenst über den Weg gelaufen wäre. Aber Fehlanzeige. Vielleicht hatte sie hier mehr Glück. Marie hingegen war eher ein Lichtmensch, das sah man schon an ihrer blonden Lockenmähne und den blauen Augen. Sie traten vor die Tür des kleinen Büros.

»Miss Olive«, begann Marie zu rufen. »Miss Olive. Wo sind Sie?«

Sie erhielten keine Antwort. Marie seufzte auf.

»Ich kann sie auch allein suchen«, schlug Lucy vor. Sie hatte bereits ein paarmal mit Miss Olive gesprochen, wenn diese Bücher in den Lesesaal gebracht hatte, und mochte die alte Dame.

Erleichterung breitete sich auf Maries Gesicht aus, und sie deutete auf die Regalreihen. »Bist du sicher? Ich lasse dir den Plan hier. Eigentlich ist es nicht schwer, sich zurechtzufinden, wenn man das System einmal verstanden hat. Im vorderen Bereich sind die Regale nach dem Alphabet geordnet.« Sie wies auf den Buchstaben E, der das Regal direkt vor ihnen zierte. »Geh nicht zu weit hinein. Hinten wird es deutlich komplizierter. Da findet sich maximal Miss Olive zurecht. Das Archiv ist nicht mehr einheitlich strukturiert. Früher haben die Archivare mit einem System römischer Ziffern gearbeitet, kombiniert mit Buchstaben. Ich glaube nicht, dass Miss Olive so weit nach hinten gegangen ist. Sie wird vermutlich irgendwo in der Nähe Bücher einsortieren.«

Lucys Neugier nahm mit jedem Wort von Marie zu. Ein uneingeweihter Besucher würde sich hoffnungslos verirren, aber sie würde jeden einzelnen Gang erkunden.

»Das System, nach dem hier mal alles geordnet war, ist im Laufe der Zeit verloren gegangen«, referierte Marie weiter. »Jeder Archivar hat dem Saal seinen Stempel aufgedrückt. Neben dem Hauptraum gibt es viele kleinere und größere Räume, Nischen, manchmal Höhlen, in denen Bücher aufbewahrt werden. Dieses Archiv ist ein Irrgarten, und glaube bloß nicht dieser Legende, dass man immer nach links gehen muss, um einen Ausgang zu finden. Das ist ganz großer Quatsch.« Lucy hörte schon nur noch mit einem Ohr zu. Sie konnte es nicht abwarten, ihre Erkundungen zu beginnen.

Marie stoppte ihren Redefluss und sah auf ihre Uhr. »Um halb eins Mittag?«

»Nudeln?«, stellte Lucy die Gegenfrage.

»Nur, wenn ich dich nicht abholen muss.«

Lucy grinste. »Ich komme nach oben, wenn es dir lieber ist.«

»Dafür würde ich dir sogar ein Eis spendieren!«, rief Marie theatralisch und trat bereits den Rückzug an.

»Ich nehme dich beim Wort«, rief Lucy ihrer Freundin hinterher, von der sie wusste, dass sie chronisch knapp bei Kasse war. Ein Lachen, das in dem Gewölbe nun doch ein bisschen unheimlich klang, schallte zu ihr zurück. Und dann wurde es still. Sehr still.

 

2.Kapitel

Lucy atmete tief ein, band sich ihre rote Lockenmähne zu einem Zopf, warf einen letzten Blick auf den Plan und setzte einen Fuß in Gang F. Im Grunde war es egal, wo sie mit der Suche begann. Erst mal würde sie sich ganz in Ruhe umsehen.

Die Kuppel, die sich über ihr wölbte, war mit verblichenen Ornamenten verziert. Kein Besucher der oberirdischen Stockwerke würde unter seinen Füßen etwas derart Kunstvolles vermuten. Früher mussten die Zeichnungen in allen Farben des Regenbogens geleuchtet haben. Jetzt war nur noch an wenigen Stellen die einstige Pracht zu erahnen. Die Atmosphäre des Saales hüllte Lucy ein und legte sich um sie. Während Marie so schnell wie möglich an die Oberfläche flüchtete, kam es Lucy vor, als sei sie jetzt erst richtig angekommen.

Sie wagte einen weiteren Schritt in den Gang hinein. Ihre Finger glitten über die schmalen Kisten, in denen die älteren Bücher verstaut waren. Manche davon waren mit Seidenstoffen überzogen, die oft bereits durchscheinend wirkten. Andere waren kunstvoll bemalt. Die meisten waren recht zweckmäßig mit Kanten aus Metall und einem kleinen Schild an der Vorderseite versehen, auf dem der Name des Buches stand. Lucys Fingerspitzen kribbelten vor Verlangen, in einen der Kartons zu schauen. Aber sie war sich nicht sicher, ob das erlaubt war. Sie war allerdings immer der Meinung gewesen, dass Bücher Gesellschaft brauchten. Ließ man sie zu lange allein, wurden sie schwermütig. Für sie besaßen Bücher eine eigene Persönlichkeit. Mal waren sie liebenswürdig und friedlich, mal störrisch und eitel. Einem Buch musste man auf behutsame Weise begegnen, damit es seine Geheimnisse preisgab und den Leser in seine Welt ließ.

Das Licht der nackten Glühbirne über ihr flackerte kurz. Lucy lief die paar Schritte zurück und entdeckte in einer Nische neben der Bürotür eine Taschenlampe. Sie griff danach und probierte, ob sie funktionierte. Jetzt konnte es losgehen. Ohne noch einmal zurückzuschauen, drang sie tiefer und tiefer in das Labyrinth ein. Miss Olive entdeckte sie nirgends. Sie war mutterseelenallein mit Tausenden Büchern.

Das Deckenlicht flackerte hier hinten deutlich stärker. Dann erlosch es für eine Sekunde ganz. Lucy umklammerte die Taschenlampe und beglückwünschte sich, dass sie sie mitgenommen hatte. Offenbar war sie an einer Stelle angelangt, an der die Lampen nicht so regelmäßig gewartet wurden wie im vorderen Bereich. Marie hatte sie zwar gewarnt, sich nicht zu tief vorzuwagen. Doch sie konnte nicht umkehren. Die dunklen Gänge übten eine Anziehungskraft auf sie aus, der sie sich nicht entziehen konnte. Sie blieb stehen, unschlüssig, ob sie weitergehen oder sich lieber auf den Rückweg machen sollte.

In diesem Moment drang ein Geräusch an ihr Ohr, und direkt über ihr gab eine Lampe endgültig ihren Geist auf. Jemand in ihrer Nähe flüsterte ein paar Worte. Sie lauschte angestrengt, aber das Flüstern verstummte. Ob Miss Olive Selbstgespräche führte? Verdenken würde sie es ihr nicht. Schließlich war sie hier zwischen all den Büchern ohne jede Gesellschaft, und das seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Lucy hatte sich noch nie Gedanken über das Alter der Archivarin gemacht.

»Miss Olive?«, rief sie. Keine Antwort.

Lucy wartete eine Weile, aber alles blieb still. Bestimmt hatte sie sich das Wispern nur eingebildet. Langsam ging sie weiter, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und lauschte in die Stille. Und da war es wieder. Sie hörte es deutlicher als zuvor. Sie verlangsamte ihre Schritte, blieb aber nicht stehen. Dieses Flüstern erinnerte sie an etwas. Etwas, das vor langer Zeit geschehen war.

Lucy hatte Bücher geliebt, seit sie sie auf ihrem Schoß allein hatte halten können. Stundenlang hatte sie zwischen den anderen Kindern im Spielzimmer des Kinderheims gesessen und sich durch die bunten Welten geblättert. Sie mochte nicht mit Puppen oder Autos spielen, sie wollte, dass man ihr vorlas. So wanderte sie von Schoß zu Schoß, und jeder Erzieher, der eine Minute erübrigen konnte, las Lucy vor.

Dann, an ihrem vierten Geburtstag, war es passiert. Sie saß in ihrem Zimmer auf ihrem Bett, und auf ihren Knien ruhte ein neues Buch. Es war Der selbstsüchtige Riese von Oscar Wilde. Sie hatte es geschenkt bekommen. Als sie es aufschlug, flüsterte ihr das Buch seine ersten Worte direkt in den Kopf. »Jeden Nachmittag, wenn die Kinder aus der Schule kamen, gingen sie in den Garten des Riesen, um darin zu spielen. Es war ein großer, lieblicher Garten mit weichem grünem Gras.«

Lucy kam es beinahe vor, als wäre es erst gestern gewesen. Sie hatte die Worte nur zu wiederholen brauchen. Seit diesem Tag las sie alles, was sie in die Finger bekam. Seit diesem Tag war sie nie mehr allein. Die Bücher waren zu ihren Freunden und engsten Vertrauten geworden. Alle ihre Abenteuer hatte sie mit ihnen gemeinsam erlebt. Das Flüstern hatte sie nur in ihrem Kopf wahrgenommen. Gewundert hatte sie sich nicht darüber. Sie hatte lange gedacht, dass man so lesen lernte. Erst als sie in die Schule kam, begriff sie, dass dies ganz und gar nicht der normale Weg war.

Madame Moulin, die Leiterin des Heimes, in dem Lucy ihre gesamte Kindheit verbracht hatte, hatte sich nicht erklären können, weshalb ihr Schützling plötzlich lesen konnte. Aber sie hatte schnell begriffen, dass die Bücher im Heim nicht ausreichten, um Lucys Hunger nach Worten zu stillen. Darum war sie mit ihr in die Bibliothek des Dorfes gegangen, und auch dort hatten die Bücher sie auf diese Weise begrüßt. Die Leute im Dorf hatten es seltsam gefunden, dass Lucy mit den Büchern sprach. Einem Kind verzieh man jedoch eine Menge. Als sie älter wurde, hatte sie lernen müssen, dass diese Toleranz schnell nachließ. Um nicht als merkwürdig abgestempelt zu werden, hatte sie aufgehört, mit den Büchern zu reden.

Das Wispern hier im Archiv war ähnlich dem Flüstern in ihrem Kopf, und doch war es anders. Lucy lauschte angestrengt. Die Bücher erzählten nicht einfach ihre Geschichte, es klang viel eher, als unterhielten sie sich miteinander. Aber das war unmöglich. Sie war nicht mehr vier oder fünf Jahre alt. Sie musste sich das einbilden. Oder in Maries Geschichten steckte doch ein Körnchen Wahrheit. Ein pochender Schmerz bohrte sich in ihr Handgelenk, und Lucy zuckte zusammen. Beinahe hätte sie die Taschenlampe fallen gelassen. Sie schob den Ärmel des Pullovers zurück und lugte unter den Pulswärmer, den sie niemals ablegte.

Eine Tätowierung wurde sichtbar. Lucy betrachtete das kleine weiße Buch, das jemand in ihre Haut gestochen hatte, bevor sie als Baby in das Heim gekommen war. Seit Langem schon verbarg sie das Zeichen sorgfältig vor neugierigen Augen. Wenn jemand sie fragte, warum sie den gehäkelten Schutz nicht einmal an heißen Sommertagen ablegte, behauptete sie einfach, dass sie sich als Kind verbrannt und nun eine hässliche Narbe an der Stelle hätte. Gewöhnlich hakten die Leute nicht weiter nach, und das war auch gut so.

Denn an dieser Tätowierung war nichts gewöhnlich. Schon bei ihrem ersten Besuch in der Dorfbibliothek hatte das Zeichen sanft gepocht. Mit vier Jahren hatte sie angenommen, die Bücher würden das Zeichen begrüßen und es antwortete ihnen. Die Umrisse hatten sich gerötet und waren angeschwollen. Lucy hatte es Madame Moulin gezeigt, und diese hatte vorsichtig eine Salbe draufgestrichen. Einen Tag später hatte sie Lucy einen hellblauen Pulswärmer geschenkt und seitdem jedes Jahr zu ihrem Geburtstag einen neuen. Mittlerweile besaß Lucy eine ganze Sammlung in allen möglichen Farben. Madame Moulin hatte nicht extra sagen müssen, dass Lucy das Mal verbergen sollte. Das hatte sie von ganz allein gewusst. Ansonsten hatte sie versucht, die Tätowierung zu ignorieren.

Nun allerdings brachte diese sich mit Nachdruck in Erinnerung. Sie pochte stärker als je zuvor, und das Wispern um Lucy herum wurde lauter und lauter. Angestrengt versuchte sie, etwas zu verstehen. Doch vergeblich. Und trotzdem wusste sie, dass die Bücher über sie sprachen oder über etwas, das sie betraf. Das Raunen zog sie weiter, tiefer hinein in die dunklen Gänge. Als die Stelle an ihrem Arm zu brennen begann, zuckte Lucy zusammen. Sie zog den Pulswärmer ab und rieb über das Bild. Es half kein bisschen. Sie blieb stehen und leuchtete mit der Taschenlampe auf ihr Handgelenk. Ihre Augen weiteten sich ungläubig. Die Tätowierung verfärbte sich, und das viel stärker, als beim ersten Mal vor so vielen Jahren. Die feinen Schattierungen ließen es normalerweise aussehen wie ein altes gebundenes Buch. Nur eben schneeweiß und ohne Titel. Es war die Arbeit eines Meisters, das war ihr im Laufe der Jahre klar geworden. Nun wurden die zarten Striche leuchtend rot. Das Wispern verstummte schlagartig. Das Buch auf ihrem Arm hämmerte. »Autsch«, entfuhr es Lucy. Sie presste die linke Hand darauf. Die Stille, die sich um sie herum ausbreitete, war unheimlicher als das Wispern. Sie betrachtete die wunderschön verzierten Kartons. Ihr Blick richtete sich wie von selbst auf eine dunkelblaue Kiste, deren Seiten mit roten Ranken dekoriert waren. Die Kanten waren mit metallenen Ecken verstärkt, und an der Vorderseite war ein Schild angebracht. Emma, Jane Austen, entzifferte sie die verblichene Schrift und schnappte nach Luft. Sie verehrte die Autorin, seit sie mit zwölf das erste Buch von ihr gelesen hatte. Lucys Mal pulsierte auffordernd. Das Flüstern begann erneut. Und endlich verstand sie, was die Bücher von ihr wollten.

»Öffne es«, forderten sie sie auf.

Meinten sie das im Ernst? Sie hatte nicht mal diese unbequemen Stoffhandschuhe dabei, die anzuziehen Pflicht war, wenn man alte Bücher berührte.

»Bitte«, flehten die unterschiedlichen Stimmen. »Sieh es dir an.«

Lucy hielt ihr Ohr an den Karton. Das Buch darin blieb still. Sollte sie wirklich seine Ruhe stören?

»Tu es«, brummte das Buch, das danebenlehnte. »Ich will endlich wieder meine Ruhe. Dieses Geschrei macht einen ganz närrisch.«

Das musste ein Traum sein, beschloss Lucy. Dass Bücher ihre Worte in ihren Kopf pflanzten, hatte sie immer hingenommen. Dass sie nun laut und deutlich mit ihr sprachen, war doch zu skurril. Aber wenn das ein Traum war, dann wollte sie ihn auch auskosten. Genau das hatte sie sich als Kind doch gewünscht. Beherzt griff sie zu und zog die Kiste aus dem Regal. Sie war schwerer, als sie vermutet hatte. Vorsichtig stellte sie sie auf den Boden und ging auf die Knie. Kälte kroch in ihre Beine. Behutsam öffnete sie den Deckel.

Ihre Hände zitterten vor Aufregung. Sie hatte dieses Buch immer besonders gemocht. Obwohl selbst Jane Austen angeblich einmal gesagt hatte, dass sie mit Emma eine Heldin hatte schaffen wollen, die niemand außer ihr mögen würde. Lucy war das egal gewesen, obwohl Emma schon ein kleines bisschen selbstsüchtig, verwöhnt und arrogant war. Lucy hatte sie um ihre Selbstsicherheit beneidet und natürlich um Mr Knightley. Bei der Erinnerung lächelte sie. Ursprünglich war die Geschichte in drei Bänden erschienen. Vor Lucy lag allerdings ein dicker gebundener Wälzer. Sie strich über den Ledereinband. Das hier war vermutlich ein sehr alter Sammelband. Ihr Herz klopfte vor Aufregung bis zum Hals, als sie das Buch aus dem Karton nahm. Erwartungsvolle Stille umgab sie, als sie den Lederdeckel aufschlug. Fast rechnete sie damit, dass Mr Barnes hinter ihr auftauchte und ihr das Buch aus den Händen riss oder dass sie aufwachte.

Nur mit Mühe hielt sie das unhandliche Werk fest. Nicht auszudenken, wenn es auf den Boden fiel. Die erste Seite war leer. Sie blätterte weiter. Immer schneller. Ungläubig starrte sie auf das ausgeblichene Papier. Da hatte sich wohl jemand einen Scherz erlaubt. Dieses Buch hier war komplett leer. Keine der Seiten enthielt auch nur einen einzigen Buchstaben. Vergilbt und von hellbraunen Schlieren durchzogen lagen sie zwischen den beiden Deckeln. Es fehlten die wundervollen Worte, die Jane Austen einst geschrieben und mit denen sie sich unsterblich gemacht hatte. Viele der Seiten wirkten zerfressen. Erst bei näherer Betrachtung erkannte Lucy, dass auch der Einband unter ihren Fingern zerbröselte. Irgendwer hatte einen Fehler gemacht. Oder auch nicht. Vermutlich war das Originalmanuskript da, wo es hingehörte – in einem Safe oder einem Museum. Sie musste das googeln.

Die Krämpfe kamen so plötzlich und heftig, dass Lucy zusammensackte. In heißen Wellen fluteten sie durch ihren Körper. Sie schnappte nach Luft, kauerte zusammengekrümmt auf dem Boden und versuchte zu lokalisieren, woher der Schmerz kam. In ihrem Kopf pulsierte es, die Tätowierung brannte. Sie kippte zur Seite und presste das Buch an sich. Die Schmerzen wurden unerträglich. Lucy wollte schreien, um Hilfe rufen, aber kein Laut kam über ihre Lippen.

»Sie spürt es«, drangen die Worte eines der Bücher in ihr umnebeltes Hirn.

»Du musst es fortlegen«, riet eine andere Stimme.

Aber Lucy konnte sich nicht bewegen.

»Tue es, sonst wird der Schmerz dich auffressen«, verlangte wieder der dunkle, griesgrämige Bariton. »Dummes Kind«, setzte er hinzu. »Weißt du denn gar nichts?«

Nur ganz langsam begriff Lucy: Es war das Buch, das diesen Schmerz verursachte. Es kämpfte um sein Leben. Der Schmerz des Buches vibrierte durch ihren Körper. Tränen stiegen ihr in die Augen.

Mit letzter Kraft legte sie das leere Buch zurück in den Karton und verschloss ihn. Der Schmerz verebbte nur langsam. Ein letztes Mal strich sie zärtlich über den Deckel und schob den Karton an die richtige Stelle zurück. Benommen machte sie sich auf den Rückweg zu dem kleinen Büro. Das war definitiv kein Traum gewesen.

Erschöpft taumelte Lucy aus dem Gang heraus. Hoffentlich war Miss Olive mittlerweile zurückgekommen, wo immer sie auch gewesen sein mochte. Sie musste sie fragen, was es mit dem Buch auf sich hatte. Weshalb ein leeres Buch in dem Karton aufbewahrt wurde. Ein letztes Mal prüfte sie ihre Tätowierung. Sie hatte wieder ihre gewohnte Farbe angenommen und verhielt sich still. Sorgfältig bedeckte sie sie wieder. Miss Olive saß in ihrem Büro. Sie war sehr klein und zart. Es war schwer vorstellbar, dass diese schmächtige Frau täglich mit Bücherstapeln hantierte. Kein Wunder, dass sie Hilfe brauchte. Sie sah auf, als Lucy zaghaft an den Rahmen der offenen Tür klopfte.

»Da bist du ja. Mr Barnes hat mir schon heute Morgen angekündigt, dass er dich zu mir schicken würde«, sagte Miss Olive mit klarer Stimme. »Wo warst du? Hast du etwas Interessantes entdeckt?«

Lucy nickte, räusperte sich und sagte dann leise: »Eher etwas Merkwürdiges.«

Fragend musterte Miss Olive sie. »Von den anderen Mitarbeitern traut sich kaum jemand, hier unten allein herumzustreifen, und schon gar nicht in den Regionen, in denen du offenbar unterwegs warst.«

Lucy folgte ihrem Blick und klopfte sich verlegen die Hose ab, die voller Staubflecken und Reste von Spinnenweben war. Viel brachte es nicht.

»Die meisten gruseln sich, weißt du.« Miss Olive lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist mutiger. Das dachte ich mir. Ich habe Mr Barnes vorgeschlagen, dass du mir hilfst. Ich will ein bisschen kürzertreten.«

Lucy sah sie verwundert an. »Aber wieso ich?«, stammelte sie. Miss Olive stand auf und schlängelte sich zwischen den Bücherstapeln hindurch. Selbst wenn man den altmodischen Dutt, zu dem sie ihre grauen Haare hochgesteckt hatte, dazurechnete, reichte sie Lucy gerade bis zu den Schultern, und Lucy war selbst nicht sonderlich groß.

»Du hast etwas an dir, das die Bücher mögen. Ich habe es gleich gespürt, als du oben angefangen hast«, antwortete Miss Olive rätselhaft und zupfte ihr einen Fussel von der Schulter. »Also, was genau hast du entdeckt?«, fragte sie noch mal und rieb sich die kleinen faltigen Hände. Lucy wollte ihr von dem leeren Buch erzählen. Doch in dem Moment, in dem sie ansetzte, wusste sie nicht mehr, ob ihr ihre Fantasie nicht doch einen Streich gespielt hatte. Die Bücher hatten sie nicht wirklich mit ihrem Wispern zu dem Karton gelockt und mit ihr gesprochen, oder? Ihre Tätowierung konnte sich nicht tatsächlich so stark verfärben und pulsieren. Sie musste sich das alles eingebildet haben, eine andere Erklärung konnte es nicht geben.

»Nun, was ist? Sag schon. Wir haben nicht ewig Zeit.«

»Es ist Emma von Jane Austen«, stotterte Lucy. Der klar war, dass an den Werken von Jane Austen im Grunde nichts merkwürdig war. Jeder einigermaßen gebildete Mensch in England kannte diese Bücher. »Das Buch ist leer«, setzte sie stockend hinzu.

Miss Olive sah sie verständnislos an.

»Vergessen Sie’s«, winkte Lucy eilig ab. »Ich hab zu wenig geschlafen letzte Nacht.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Emma?«, hörte sie Miss Olives Stimme. »Was soll das sein? Jane Austen hat nie ein Buch mit diesem Titel geschrieben. Du musst es mir zeigen.«

Lucys Drehstuhl schwenkte herum, und fassungslos sah sie Miss Olive an.

Am späten Nachmittag ließ Lucy sich auf einen der gepolsterten Sitze der U-Bahn fallen. Sie atmete tief durch, stellte ihren Rucksack neben sich und versuchte zu entspannen.

Sie lebte erst seit ein paar Wochen in London, und erstaunlicherweise gefiel es ihr ganz gut. Heute war allerdings so ein Tag, wo sie sich in das langweilige Dorf zurückwünschte, in dem sie groß geworden war. Zwar ohne Eltern, aber doch sehr behütet. Vielleicht sollte sie Madame Moulin anrufen, überlegte sie, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Die Leiterin des Heimes würde sie bitten, zurückzukommen, und das wollte sie auf keinen Fall. Sie war so glücklich, endlich auf eigenen Füßen zu stehen. Jedenfalls fast. Sie hatte sich ganz allein für das College in London beworben, um dort die restlichen Fächer zu belegen, die sie für den begehrten Studienplatz am King’s College brauchte. Und sie hatte sich selbst ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft gesucht. Erst nachdem alles geklärt war, hatte sie Madame Moulin gebeten, ihr zu erlauben, nach London zu gehen, und das, obwohl sie erst siebzehn Jahre alt war.

Ihre Ersatzmutter zu überzeugen, war nicht leicht gewesen, obwohl schon Kinder das Heim bereits mit sechzehn Jahren verlassen hatten. Nur wenige blieben bis zum letzten Schuljahr der High School. Madame Moulin hatte nie ein großes Aufheben darum gemacht. Sie bereitete ihre Kinder auf ein selbstständiges Leben vor. Das war ihr Leitspruch. Mit ihr hingegen hatte sie wochenlang diskutiert, bis Lucy der Verdacht beschlich, dass es einen Grund gab, warum sie sie nicht nach London gehen lassen wollte. Allerdings hatte sie nicht herausgefunden, was das für ein Grund gewesen sein könnte. Wenn sie sie jetzt anrief, gab sie zu, noch nicht erwachsen genug zu sein, um ihre Probleme allein zu lösen. Zumal kein klar denkender Mensch das Problem ernst nehmen würde. Bücher sprachen nicht.

Trotzdem würde sie gern mit jemandem darüber reden. Denn dass Miss Olive eines der bekanntesten Werke von Jane Austen nicht kannte, war einfach seltsam. Sie hatte versucht, den Karton mit Miss Olives Hilfe wiederzufinden, aber es war hoffnungslos gewesen. Sie hatte sich vor der älteren Frau erbarmungslos blamiert.

»Next Station Covent Garden«, tönte es durch die Bahn.

Zielstrebig ging Lucy die Straße zu ihrem Zuhause entlang, das sie sich in Covent Garden mit Marie und einem anderen Mädchen teilte. Sie gingen alle drei auf dasselbe College, allerdings belegte sie mit Jules, ihrer anderen Mitbewohnerin, keine gemeinsamen Kurse. Sie hatte großes Glück mit dem Zimmer gehabt, und obwohl sie Marie und Jules erst seit ein paar Wochen kannte, waren sie längst Freundinnen geworden.

Alte, hohe Häuser streckten sich in den grauen Himmel. Der Duft von frischem Kuchen stieg Lucy in die Nase, und wie auf Kommando fing ihr Magen an zu knurren. Vor lauter Aufregung hatte sie die Nudeln heute Mittag kaum hinunterbekommen. Nun machte sich das bemerkbar. Ohne lange nachzudenken, betrat sie die Bäckerei an der Ecke und kaufte ein paar der duftenden Gebäckstücke.

Vor ihrer Tür angekommen, drückte sie die Klingel. Kurz darauf summte der Türöffner, und sie trat ein.

Ein schlaksiges Mädchen mit kurzem braunem Haar, das in alle Himmelsrichtungen abstand, steckte den Kopf zur Wohnungstür heraus, als sie die Treppe heraufkam.

»Ich warte schon auf dich. Ich wusste nicht, wann du heute Schluss hast.«

»Ich hab noch Kuchen geholt«, erklärte Lucy und hielt das Paket in die Höhe.

»Du bist meine Rettung. Der Kühlschrank ist gähnend leer. Ich dachte schon, ich muss verhungern. Tee?«, fragte Jules und ging voran in die Küche.

Lucy schüttelte den Kopf. »Keine Cola mehr da?«

»Leider nicht. Wir müssen unbedingt einkaufen.«

»Kaffee?«

»Den haben wir«, antwortete Jules. »Aber nur noch Instant.«

»Ist mir egal.« Lucy streifte ihre Schuhe von den Füßen und warf ihre Jacke über einen Stuhl, der im Flur stand. Im Heim hätte sie dafür Ärger bekommen, hier war es den anderen egal. »Hauptsache, was mit Koffein.«

»Kommt Marie auch?«, fragte Jules.

»Ich glaube nicht«, antwortete Lucy. »Chris lungerte schon vor der Bibliothek herum, als ich ging.« Sie betrat ihr Zimmer. Der Raum hatte grüne Wände, ein Bett und eine Kommode. Ein Schreibtisch aus weißem Holz stand unter dem Fenster. Lucy warf ihren Rucksack auf einen verblichenen Sessel, der ihr unangefochtenes Lieblingsmöbelstück war. An der Wand gegenüber dem Bett hatte Maries Freund Chris lange Bretter aus dunklem Holz angebracht. Das Regal beanspruchte die komplette Seite und war vollgestopft mit Büchern. Trotzdem konnte Lucy es nicht lassen, auf Flohmärkten oder in Antiquariaten weiter nach preiswerten Büchern zu stöbern und sie in ihren Besitz zu bringen. Sie hatte sich sogar gegen Jules durchgesetzt, und ein Bücherbord zierte nun eine Seite des Flures. Auch dort ließen sich neue Eroberungen nur noch mit viel gutem Willen unterbringen. Komisch eigentlich, dass ihre eigenen Bücher nie mit ihr sprachen. Die Bücher in der kleinen Dorfbibliothek damals hatten sie begrüßt. Oscar Wildes Riese hatte ihr das Lesen beigebracht, die Bücher heute im Archiv hatten sie zu dem Karton gelockt und sie gebeten, ihn zu öffnen. Hier in ihrem Zimmer herrschte jedoch Stille. Warteten die Bücher womöglich darauf, dass sie sie ansprach? Das war zu verrückt. Sie würde nicht anfangen, mit schweigenden Büchern zu sprechen. Aus dem Alter war sie raus. Es musste eine andere Erklärung für die Vorfälle geben. Möglichst eine logische.

Lucy ruckelte am Griff ihres Fensters und schob es nach oben. Sofort drang der Lärm der Großstadt ins Zimmer. Dann ging sie zurück in die Küche, gerade als Jules einen Blumenstrauß auf den Tisch stellte.

»Gibt es was zu feiern?«, fragte Lucy.

»Eigentlich nicht«, sagte Jules. »Aber da, wo ich herkomme, scheint um diese Jahreszeit noch die Sonne. Hier muss man sich irgendwie anders aufmuntern.«

Jules kam aus Amerika und hatte ihren Vater überredet, sie ein Jahr in London zum College gehen zu lassen. Ihre Mutter war Engländerin. Sie hatte den Wunsch ihrer Tochter unterstützt, weil sie wollte, dass dem Kind wenigstens ein bisschen Kultur beigebracht wurde. So hatte es Jules jedenfalls erzählt. Ihre Eltern betrieben eine riesige Rinderfarm irgendwo in Iowa. Für Jules hatten sie eine Wohnung mitten in London gekauft und ihrer Tochter erlaubt, sich nette Mitbewohnerinnen zu suchen.

Jules weißer Kater Tiger machte es sich auf dem Fensterbrett hinter Lucy gemütlich. Jules hatte es nicht übers Herz gebracht, ohne den Kater nach London zu gehen. Mittlerweile hatte das Tier sich genauso gut eingelebt wie sein Frauchen.

Lucy stellte sich zu dem Tier und begann Tiger zu streicheln. Sofort setzte ein behagliches Schnurren ein. Jules deckte währenddessen den Tisch, wobei sie sich bemühen musste, nicht ständig irgendwo anzustoßen. Sie war für die kleine Küche definitiv zu groß. Lucy beschloss ihr zu helfen, bevor wieder Geschirr zu Bruch ging, und platzierte den Kuchen auf die Teller. Dann schob sie sich auf die Küchenbank, die unter dem kleinen Fenster stand. Tiger sprang auf ihren Schoß.

Jules stellte noch zwei Tassen auf den Tisch und schaufelte das Instantpulver hinein. Der Kessel auf dem wuchtigen Gasherd begann zu pfeifen. Schwungvoll goss sie das kochende Wasser in die Tassen. Nach dem ersten Stück Kuchen begann Lucy sich zu entspannen.

»Wie war es heute?«, fragte Jules. »Macht es immer noch Spaß?« Ihre Freundin konnte sich nicht vorstellen, dass es Lucy und Marie gefiel, den ganzen Tag zwischen Büchern zu verbringen. Jules war am liebsten an der frischen Luft. Ständig joggte sie an der Themse entlang. Etwas, das Lucy nicht im Traum einfallen würde.

»Ich war mal wieder zu spät«, gestand Lucy zerknirscht. »Und Mr Barnes hat mich ins Archiv verbannt. Also nicht direkt verbannt«, ruderte sie zurück. »Ich helfe jetzt Miss Olive.«

Jules sah sie abwartend an. Offenbar kannte sie Maries Schauergeschichten noch nicht.

»Das ist im Keller«, erklärte sie. »Da wird alles aufbewahrt, was oben nicht reinpasst. Außerdem die Werke, die nicht ausgeliehen werden dürfen oder deren Benutzung nur im Lesesaal erlaubt ist. Weil sie zu wertvoll sind«, setzte sie hinzu.

»Und wie ist es da so?«, fragte Jules.

»Na ja, es ist riesig, unübersichtlich, dunkel, ein bisschen muffig, und Marie meint, dass es spukt.«

»Hat ein bisschen zu viele Bücher gelesen, die Gute, oder?«, fragte Jules verschmitzt.

Lucy zuckte mit den Schultern und rührte noch mehr Zucker in ihren Kaffee.

»Ich habe mich auch erst lustig über sie gemacht, aber nachdem ich mich ein bisschen dort unten umgesehen habe, muss ich zugeben – ein bisschen unheimlich ist es schon.«

»Kein Wunder, wenn du durch einen Keller schleichst«, erwiderte Jules mehr zu ihrem Kuchen als zu Lucy. »Wahrscheinlich Höllenkoller oder so.«

»Ich bin nicht geschlichen«, verteidigte Lucy sich. »Ich habe mich nur umgeschaut.«

Jules seufzte resigniert. »Du bist allein losgezogen. Stimmt’s? Was ist dann passiert? Wird kaum weltbewegend sein, in einem Raum voller Bücher.«

»Ich hab mich nur auf die Suche nach Miss Olive gemacht«, verteidigte sich Lucy.

Jules schüttelte den Kopf. »Warum? Du hast doch gerade selbst gesagt, dass das Archiv riesig und unübersichtlich ist.«

Lucy seufzte. Jules benahm sich manchmal, als wäre sie mindestens zehn Jahre älter als sie und nicht nur eins. Sie war nicht sicher, was sie ihr erzählen sollte. »Es war nicht so schlimm, schließlich brennt überall Licht. Nicht besonders hell, aber immerhin.«

»Oh, Licht. Wie toll«, brummte Jules.

Lucy schwieg einen Moment. Sie hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen, dass sie die Bücher in ihrem Kopf hören konnte. Okay, einmal hatte sie es in der ersten Klasse im Unterricht erwähnt, aber alle hatten sie ausgelacht und monatelang damit aufgezogen. Danach hatte sie sich geschworen, ihr Geheimnis für sich zu behalten. Würde Jules sie für verrückt erklären? Dieses Mal war es schließlich noch viel schlimmer. Die Bücher hatten direkt mit ihr gesprochen. Sie hatten etwas von ihr gewollt.

»Das klingt jetzt vielleicht etwas abgefahren, aber die Bücher haben sich unterhalten«, formulierte sie vorsichtig.

Jules verschluckte sich an dem heißen Kaffee und begann zu husten. Lucy klopfte ihr auf den Rücken.

»Wie bitte?« Jules rang immer noch nach Luft. »Dein erster Tag im Verlies, und du hörst Stimmen?«

»Schräg, oder?« Wenigstens lachte Jules sie nicht aus. Noch nicht. Allerdings guckte sie so komisch, dass Lucy entschied, lieber doch nicht zu erzählen, was noch geschehen war.

»Das kann man so sagen. Du solltest dringend dafür sorgen, dass du wieder über Tage arbeiten kannst.«

Das würde sie nicht tun. Nicht, bis sie wusste, wohin der Text verschwunden war. Irgendwo musste er schließlich sein. Sie würde Miss Olive beweisen, dass Jane Austen sehr wohl ein Buch geschrieben hatte, das den Titel Emma trug.

Glücklicherweise klingelte es im selben Moment an der Haustür.

»Da kehrt wohl die verlorene Tochter zurück«, kicherte Jules und stand auf, um die Tür zu öffnen. Kurz darauf erklang ein lautes Poltern.

»Ihr müsst mich retten.«

Lucy grinste, als sie die Stimme ihres besten Freundes erkannte. Colin und sie waren als Kinder fast unzertrennlich gewesen. Genauer gesagt, seit er sie in der Grundschule vor drei Rüpeln gerettet hatte, die die Kinder aus dem Heim regelmäßig schikanierten. Die zarte Lucy schien den Jungs ein geeignetes Opfer zu sein. Als sie begonnen hatten, sie herumzuschubsen, war plötzlich der zwei Jahre ältere Colin aufgetaucht und hatte die Jungs verprügelt. Lucy hatte dem Dritten kräftig auf den Fuß getreten und ihm dann ihre Bücher über den Kopf gezogen. Seit diesem Tag hielten Colin und sie zusammen wie Pech und Schwefel. Colin studierte im dritten Semester an der Londoner Universität Architektur. Er war ein weiterer Grund gewesen, warum sie das Heim verlassen hatte. Ohne ihn war das letzte Jahr dort schrecklich langweilig gewesen.

Colin trat in die Küche und grinste Lucy an. Seine blauen Augen strahlten mit seinem zerstrubbelten Blondschopf um die Wette.

»Sie haben dich endgültig aus deiner WG geschmissen«, vermutete Lucy. »Oder wurde die wegen Unordnung geschlossen?«

»Weder noch.« Colin schob Lucy auf der schmalen Bank zur Seite und angelte nach ihrem Teller. Mit einem Bissen hatte er ihren restlichen Kuchen verschlungen.

---ENDE DER LESEPROBE---