Brooklyn - Unsere Frau im Weltall - Jens Möller - E-Book
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Brooklyn - Unsere Frau im Weltall E-Book

Jens Möller

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Beschreibung

Brooklyn Todan und ihre Begleiter geraten in die Gewalt der Avantarier. Die Mannschaft der SEA setzt alles daran, die Menschheit zu retten. Es kommt unweigerlich zum Kampf. Die Mannschaft versucht das Geheimnis der fremden Rasse zu lüften, und entdecken dabei die künstliche Intelligenz Alpha... Magisch. Frech. Zum Verlieben.

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Inhaltsverzeichnis

Ein neues Kapitel

Neuer Anfang

Umzug

Die Neue

Undefinierbare Flugobjekte

Überfall auf die Erde

Die Entscheidung

Zwischenraum

Der Zwischenraum Planet

Brooklyn Todan

Aufbruch zu den Sternen

Servatorantrieb

Notfall Raumstation

Raumstation Sirius

Alpha

Neue Freunde, alte Feinde

Verstärkung

Kurs Zwischenraum Sendeplanet

Die Milchstraße, Heimat der Menschen, wird seit 15 Jahren von den Aventarier Kriegern aus der Mächtigkeitsballung der angrenzenden Galaxie angegriffen. Zwar hat der Widerstand einige Erfolge erzielen können, doch die Macht des Gegners ist erdrückend.

Nun bedrohen die Invasoren das große Sternenvolk der Menschheit. Auf der Erde steht eine Entscheidung an, die das Schicksal der gesamten Galaxis betrifft …

Ein neues Kapitel

Brooklyn Todan erschrak als sie die kurvenreiche Straße bergauf fuhren. Ein weißer Sportwagen kam ihnen in hohem Tempo entgegen. Ihr Bruder ging vom Gas, als der Sportwagen aus den achtziger Jahren über die Mittellinie schoss. Das junge Paar, das darin saß, hatte die Stereoanlage voll aufgedreht.

»Mensch, fahr doch vorsichtiger!«

»Ich habe alles unter Kontrolle, Schwesterchen.«

Sie fuhren auf die Semellallee, von dort aus bis zur Schiersteiner Brücke , auf die der Porsche Richtung ihres Heimatortes auffuhr. Sie fuhren aufs offene Weideland hinaus, durch Ewigen Klee und Richtung der Brücke, die über den Fluss führte.

»Gib es doch einfach zu. Du bist in Stella verliebt. Siegessicher lehnte Brooklyn sich im Sitz zurück und betrachtete ihren Bruder Andre im Licht der Scheinwerfer. Sie waren gerade auf dem Heimweg und diskutierten schon viel zu lange über das Thema: Eine Freundin für meinen Bruder.

Der Sportwagen röhrte leise, als er über die Straße jagte. Sie fühlte sich genauso wohl, wie in dem Augenblick, da sie den Rennplatz verlassen hatte. Doch insgeheim fand Brooklyn es lustig, wie er immer wieder konzentriert auf die Straße vor ihnen blickte und versuchte, Brooklyn dabei zu ignorieren. Und in einem anderen Moment wiederum beneidete sie ihn, dass er schon seinen Führerschein hatte und sie noch etwas warten musste. Wenn schon. Sie hatte eine gute Freundin, die einen Führerschein besaß. »Stella ist eine gute Freundin von dir, ich denke nicht ,dass es Wert ist diese Freundschaft zu gefährden. «

Seine Stirn legte sich nachdenklich in Falten. »Sollte sie kein Interesse haben, was ist dann?« Er schaute weiterhin auf die Straße vor ihnen. Der Sportwagen fuhr so schnell, dass andere Fahrzeuge Mühe hatten, ihm zu folgen.

Brooklyn wandte ihren Kopf von ihm ab und beobachtete die Autos, die in unregelmäßigen Abständen ihnen entgegenkamen.

»Ich denke, sie hat Interesse an mir.«

Ein Grinsen breitete sich auf Brooklyns Gesicht aus. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt, dass weißt du.«

Ein Blick zu ihrem Bruder verriet ihr, dass er es nicht anders betrachtete. Seine Mundwinkel waren leicht nach oben gerichtet und sein Blick wirkte urplötzlich verträumt.

»Konzentriere dich weiterhin auf die Straße.« Lachend beugte Brooklyn sich etwas nach vorn, um die Musik lauter zu stellen.

»Okay.« Sagte er wenige Sekunden später. Brooklyn zog ihre Augenbrauen in die Höhe und sah ihn auffordernd an.

»Okay, was?«

Abermals zuckten seine Mundwinkel verdächtig nach oben und schon erschien ein kleines Lächeln auf seinen Lippen, welches sie nur zu gerne an ihm sah.

»Morgen werde ich Stella um eine Verabredung bitten.«

Zufrieden nickte seine Schwester mit dem Kopf. »Ja, das ist eine tolle Idee.« Im Wagen herrschte eine ganze Weile Stille zwischen den beiden Geschwistern.

Auf halber Strecke wurden sie dann allerdings von einem weißen Sportwagen überholt. »Der hat es aber eilig«, sagte Brooklyn. »Aber er fährt vorsichtig«, sagte ihr Bruder. »Er hat erst Blinkzeichen gegeben. Das lobe ich mir.« Sie hörten der Musik aus dem Autoradio zu, während der Wagen über die Landstraße preschte. Am Himmel verzogen sich allmählich die Wolken des heißen Sommertages und die ersten Sterne funkelten den beiden entgegen. Es war traumhaft schön mitanzusehen, wie die Lichter in der Dunkelheit im Einklang miteinander zu spielen begannen.

»Ich möchte, dass du nicht vergisst, dass du für mich immer an erster Stelle stehen wirst. Kein Mädchen der Welt wird das jemals ändern können. Du bist und bleibst meine kleine Prinzessin.«

Lächelnd schaute Brooklyn wieder zu ihrem Bruder, welcher mit sanften Gesichtsausdruck weiter auf die Straße blickte. Es waren nur noch wenige Minuten, bis die beiden von der Landstraße abfahren mussten und weitere Minuten, bis sie wieder zu Hause sein würden. Brooklyn spürte bereits die Müdigkeit in ihr aufsteigen, spürte die Müdigkeit in jeden ihrer Knochen.

Es war ein heißer Sommertag«, sagte Andre und seinem Gesichtsausdruck war, ebenso wie seiner Stimme, deutlich anzumerken, dass er sich tief, ganz tief, in der Vergangenheit befand.

»Das weiß ich.« Wie konnte sie es nicht wissen? Schon als Kinder waren sie unzertrennlich. Sie waren vollkommen aufeinander eingespielt, wussten, was sie aneinander hatten, wechselten manchmal einen Blick des Verstehens. Sie konnten nicht ohne einander, sie waren unzertrennlich. Es gab keine Geheimnisse die zwischen ihnen standen, es gab keinen Unsinn, den sie nicht ohne den jeweils anderen fabrizierten. Sie konnte und wollte sich kein Leben, ohne ihren großen Bruder vorstellen. Er war mehr als das. Er war ihr bester Freund und persönlicher Superman. Er hatte sie immer beschützt. Egal wann, egal wo. Er war da, wenn sie ihn brauchte. Seit mehreren Jahren verband sie eine lockere Beziehung zu ihrem Bruder. Er war Zehn Jahre älter als sie, aber zu guter Letzt hatte er noch einen Freund im Schlepptau, der sich stets dort aufhielt, wo Andre sich auch befand. Beide hatten blonde kurze Haare, blaue Augen und volle Lippen. Sie waren stets für neue Ideen offen und ihr gegenüber immer höflich und zuvorkommend. Keiner der Freunde war je verheiratet gewesen, zumindest wusste sie von keiner Ehe. Die beiden waren ebenfalls unzertrennlich, da sie sich von klein auf kannten. Bekam ihr Kopfschmerzen, so hatte sein bester Kumpel garantiert auch welche. Er besaß das Talent, sich ständig zwischen sie und ihrem Bruder zu drängen, was Brooklyn sehr häufig wütend machte. Ungestörte Momente gab es zwischen Andre und ihr praktisch zu keiner Zeit. Die Augenblicke der Zweisamkeit stellten sich nur in Brooklyns Zimmer ein, wenn Andre alleine bei ihr verweilte und sein Kumpel schmollend Zuhause zurückblieb.

Andre und sein bester Freund ähnelten sich bis auf das Haar, aber vom Charakter her waren jedoch beide von Grund auf vollkommen verschieden. Andre war eher der heitere und lockere Typ und ständig zu einem Späßchen aufgelegt. Brooklyn gefiel das nette Lächeln und die schelmischen Blicke, die ihr Bruder ihr bei jeder Gelegenheit zuwarf, wenn sie ungestört waren. Er war galant und äußerst hilfsbereit. Er las ihr für gewöhnlich jeden Wunsch von den Augen ab. Jedoch erinnerte er sie immer wieder an den immensen Altersunterschied von Zehn Jahren, der zwischen ihnen bestand. Brooklyn ignorierte seine diesbezüglichen Bemerkungen. Sie fühlte sich wohl und geborgen bei ihrem Bruder und das war für sie die Hauptsache! Was spielte das Alter für eine Rolle, wenn man sich gut verstand! Höchstwahrscheinlich würde sich das in späteren Jahren zeigen, aber darüber wollte sie noch nicht nachdenken. Sein Kumpel war der Ruhigere von beiden und eher in sich gekehrt, aber auch der Intellektuellere, mit dem man bis spät in die Nacht reden und über brisante Themen diskutieren konnte. Das Grübeln gehörte ebenso zu seinem Alltag, wie einfach nur stundenlang seinen Gedanken nachzuhängen, und Löcher in die Luft zu starren.

Andre jagte seinen Sportwagen wie ein Verrückter auf Touren und schoss in den rollenden Verkehr auf der Seiler Straße. Bremsen kreischten. Mehrere Wagen entkamen nur mit knapper Mühe einem Zusammenstoß. Sie kannte den Fahrstiel ihres Bruders. Sie selbst hatte bei ihm auf der Rennstrecke fahren gelernt. Plötzlich wurden ihre Augen groß und rund.

»Was ist?« Ein kleiner roter Sportwagen raste ihnen entgegen. Der Sportwagen raste rücksichtslos und irrsinnig schnell über die steile, schmale Fahrbahn, direkt auf sie zu.

»Du wirst für immer ...«, erschrocken blickte Brooklyn auf die Straße vor ihnen. Auf das Auto, was direkt auf sie zu raste, ohne die Anstalt zu bremsen. Sie riss ihre Augen weit auf. Sah aus dem Augenwinkel, wie ihr Bruder das Lenkrad herum riss und laut zu fluchen begann. Ihre Atmung wurde hektischer. Unregelmäßiger. Und plötzlich wurden aus Sekunden eine Ewigkeit. Nahm nichts mehr um sich herum wahr. Andres Sportwagen raste den Hügel herunter, bog schwungvoll um die Ecke. Ein Hund bellte. Aus irgendeinem Fenster kam das Dröhnen eines Fernsehapparats. Eine Schwärze legte sich über sie. Es ertränkte ihre Schreie und ihr Kopf schlug immer wieder gegen einen harten Gegenstand. Glas splitterte. Immer wieder verlor sie sich in der unbändigen Leere, alles schien unendlich weit weg. Doch die Schreie hallten weiterhin in ihrem Kopf wieder. Das schreckliche Geräusch von zerfetzendem Metall und zerbrechendem Glas folgte, als sich der Sportwagen überschlug. Sportwagen überschlug sich seitlich. Der Überrollbügel verhinderte, dass Brooklyn im Innern zerquetscht wurde. So wurde sie nur mächtig hin und her geschleudert, als der Sportwagen über die Felder hin wegkullerte und endlich zum Halten kam. Der rote Sportwagen raste mit hohem Tempo davon. Passanten liefen aufgeregt gestikulierend zusammen. Der Unfall blieb nicht unbemerkt.

»Ich, ich, ich rufe die Polizei!« Mit dem Telefon an ihrem Ohr rannte die Passantin weiter. Es gab eine Explosion, gewaltige Flammen stiegen auf. Der Knall war ohrenbetäubend.

»Nein«, war das letzte Wort, was sie benommen krächzte, bevor die Dunkelheit sie endgültig mit sich riss. Es waren Brooklyns eigene Worte, die sie als letztes hörte. Schließlich wachte Brooklyn im Krankenhaus wieder auf. Langsam öffnete sie ihre Augen und schloss sie sofort, als ihr Kopf zu dröhnen begann. Ihr Atem kam stoßweise und sie sah einen dicken, roten Schleier vor ihren Augen. Eine warme weiche Hand legte sich dann sanft und liebevoll über ihren Kopf, streicht ihr langes Haar zur Seite. Sie spürt einen Atem auf ihrer Haut, der ihr sanfte Schauer über den ganzen Körper bereitete. Ihr Herz raste. Das schrille Piepen der Monitore füllte den Raum. Ihre Arme begannen zu schmerzen, sie war an einigen Geräten angeschlossen. Ein Piepen und Schrillen, ohne erkennbares Muster. Brooklyn verspürte einen unbeschreiblichen Schmerz im gesamten Körper. Doch Brooklyn öffnete ein weiteres Mal die Augen und versuchte sich diesmal zu orientieren. Sie musterte den Menschen der neben ihr stand und blickte schließlich in die Ecke, in der ihre Eltern eng beieinandersaßen. Sah verschwommen, aber sie hörte wenigstens das rhythmische Piepen eines EKG-Geräts, dessen oktopodenhafte Saugnäpfe sie auf ihrer nackten Brust spürte.

»Mama?« Sie kämpfte mit ihrer Stimme und spürte bei jedem Atemzug das Brennen ihrer Lunge. Die Kehle schien ausgetrocknet zu sein. Langsam trat ihre Mutter näher. Brooklyn sah so hilflos aus. Tropf, Katheter, Pulsmessung.

»Wasser? Möchtest du Wasser?«, stotterte ihre Mutter erschöpft, weil sie mit einem Mal zu ihr kam, gefolgt von ihrem Vater. Ihr Haar war mit getrocknetem Blut verklebt. Sie so zu sehen, tat ihrer Mama weh. Die Gesichter ihrer Eltern waren tränenüberströmt. Augen blutunterlaufen, sie sahen Müde aus. Doch Brooklyn wusste nicht, wieso sie weinten. Sie hing an einem Tropf, das EKG-Gerät piepte und sie starrte mehr oder weniger an die Decke.

»Hey«, sagte Brooklyn mit heiser Stimme. Wieso sie überhaupt hier waren. Ihre Eltern hätten doch noch auf der Arbeit seinen müssen.

Die Hand ihrer Mutter und ihre fanden sich. Ihre Eltern ließen Brooklyn nicht aus den Augen. »Sie braucht noch Zeit, um vollends zu sich zu kommen«, sagte der Arzt, nachdem er mit einem Stethoskop Brooklyns Brust abgehört hatte.

»Mein Schatz. Hörst du mich?«

Das Piepen der EKG-Maschine wurde eindringlicher. Ihre Mutter kannte das Geräusch. Sie hatte es schon Dutzende Male gehört.

Lag sie im Krankenhaus? Warum? Sie hörte das Krankenhauspersonal weiter hinten im Korridor leise miteinander sprechen, und von irgendwoher vernahm Brooklyn auch noch das Piepen einer anderen medizinischen Apparatur, weiter hinten auf dem Flur. Das gesamte Zimmer roch nach Desinfektionsmittel.

»Alles ist gut, meine Kleine.« Ihr Vater reichte ihr ein Glas Wasser, als sie wieder voll bei Bewusstsein war. Er hielt es langsam an ihre Lipper und kippte es etwas schräg. Gierig trank sie einige Schlücke. »Keine lebenswichtigen Organe wurden verletzt, daher ist sie stabil«, berichtet der Arzt. Ihre Mutter strich ihr immer wieder leicht über das Haar, doch jedes Mal überkam sie ein ungeheurer Schmerz, sodass Brooklyn zusammenzuckte. Langsam realisierte sie, wo sie eigentlich war. Sie lag tatsächlich im Krankenhaus. Auch das Rein und Raus der verschiedenen Personen störte sie nicht.

»Wir kümmern uns jetzt ums sie.«, sagte der Arzt zu ihrem Vater, bevor er sich kurz verabschiedete. Als Nächstes schob eine Krankenschwester ihr die Blutdruckmanschette über den Arm und pumpte sie auf.

»Hundert vierzig zu fünfundneunzig.«

»Das sieht schon einmal gut aus.« Eine weiterer Schwester tauchte in ihrem Gesichtsfeld auf. Ihre Mutter sah sie traurig an. Sie schaute mit Tränen in den Augen auf sie hinab und lächelte erleichtert. Ihr sonst so extrem welliges, glänzendes Haar, war nun zu einem unordentlichen Dutt im Nacken zusammengebunden. Tiefe Augenringe verunstalteten ihr Gesicht. Brooklyn versuchte, sich aufzusetzen, fiel jedoch gleich zurück auf das Kissen und sah erneut in dem Raum. Stöhnend drehte Brooklyn ihren Kopf leicht und sofort rast ein brennender Schmerz durch ihren Körper.

»Aua«, schrie sie, ohne sich dabei bewusst zu sein wieder ins Bett zu sinken.

»Was ist passiert?«

»Mama, wo bin ich? Warum tut mir alles weh?«

Die Erinnerungen waren wie ausgelöscht. Sie wusste nicht weshalb sie in einem Krankenbett lag, noch wieso ihr Körper schmerzte. Eine Panik machte sich in Brooklyn breit, als sie sich weiter umsah und ihren Bruder nicht sah.

»Wo ist Andre?«

Ihre Mutter begann erneut, laut zu schluchzen, und warf sich in die Arme ihres Mannes. Immer mehr Tränen rannen ihr das Gesicht entlang. Sie rannen ihr aus den offenen Augen, am Kinn entlang in den Kragen hinein. Brooklyns Vater reichte ihr ein Taschentuch, aber sie ergriff es nicht, es blieb auf ihren im Schoß gefalteten Händen liegen.

»Du und dein Bruder hattet einen Autounfall auf dem Heimweg.« Sie wurde unruhig und wiederholte ihre Frage. Immer und immer wieder.

»Brooklyn, dein Bruder Andre ist bei diesem Unfall gestorben.« Sie griff nach ihrer Hand. Sie schüttelten beide ihre Köpfe und rangen mit sich, bis ihr Vater zu sprechen begann. Er fing an zu weinen: »Andre, hat es nicht geschafft.«

Es vergingen Sekunden, bis Brooklyn die Worte ihres Vaters verinnerlichte. Ihr Herz hörte auf zu schlagen, um im nächsten Moment komplett zu zerbrechen. »Andre ist tot?« Tränen bahnten sich in ihren Augen den Weg und schließlich fing sie, hemmungslos zu weinen an. Ihre Eltern nickten erschöpft. Und Brooklyn begann, seinen Namen immer und immer zu wiederholen. Sie kämpfte gegen ihre Gefühle. Ihre Mutter nahm ihre Hand und drückte sie sanft.

»Ich will nicht mehr.« Das waren ihre letzten Worte, bevor es um sie herum Dunkel wurde.

An diesem Tag schrie Brooklyn sich die Seele aus dem Leib. Versuchte den Schmerz und all die Wut von sich zu weisen. Ihr Bruder, ihr bester Freund war nicht mehr hier bei ihnen. Er war tot. Und würde nicht zurückkommen. Er würde sie kein einziges Mal mehr in den Arm nehmen. Sie auf ihren Kopf küssen oder ihr das Essen klauen. Sie brach zusammen, schloss ihre Augen, in der Hoffnung ihn noch einmal zu sehen. Doch die Erkenntnis überkam Brooklyn. Es werden nie mehr solche Momente stattfinden. Die Tür zu ihrem Zimmer wurde geöffnet. Eine Dame in Weißer Hose betrat den kleinen Raum, in dem Brooklyn noch alleine lag. Sie strich ihr über den Rücken. Brooklyn fühlte sich unwohl. Mit Tränen in den Augen blickte sie ihre Eltern an und bat sie mit der Lüge aufzuhören. Sie saßen jedoch weiterhin in der Ecke des Raumes und lagen sich weinend in den Armen.

»Es wird alles wieder in Ordnung.« Die Worte der Krankenschwester, die sie beruhigen sollten, prallten an ihr ab. Es würde nie wieder etwas gut werden. Denn von nun an fehlte ein Teil ihres Lebens.

Sie durfte in wenigen Tagen das Krankenhaus verlassen. Der Professor riet ihr wieder eindringlich eine Reha Klinik aufzusuchen, um eine vollständige Gesundung zu garantieren. Brooklyn war von dieser Empfehlung nicht begeistert. Am vierten Tag wurden die Fäden schmerzlos gezogen und sie durfte das Krankenhaus verlassen. Ihre Eltern waren rechtzeitig informiert. Ihre Mutter verließ an dem Tag früher ihren Arbeitsplatz und wartete auf Brooklyn im Foyer des Krankenhauses und fuhr mit ihr nach Hause, wo eine Freundin auf ihre Tochter aufpasste, bis ihr Vater eintraf. Brooklyn durfte sich zu Hause erholen, was die Situation sowohl besser als auch schlimmer macht. Besser, weil kein Mensch in einem Krankenhaus leben will. Schlimmer, weil Brooklyn im Krankenhaus tagtäglich rund um versorgt war. Es war eine Wohltat. Obwohl sie hier nur die stark befahrene Kaiserstraße sah, an der sich Haus an Haus reihte, tat ihr der Anblick gut. Sie trug immer noch den Verband, der ihr halbes Gesicht bedeckte. Es war geschwollen und die Blutergüsse würden noch Wochen brauchen um zu heilen. Sogar ihre Augenlider schienen blutunterlaufen zu sein. Die Haut, die nicht mit Blutergüssen bedeckt war, sah dadurch noch kränker aus. Ein Auge war völlig zugeschwollen, und auf ihrer Wange sah Brooklyn einen seltsam Schnitt. Die Haut runzelte sich um die Stiche , mit denen die Schnittwunden an Wange und Nase verbunden wurden.

Eine tiefe Schramme zierte ihre Stirn. Starke Blutergüsse hatten ihren gesamten Körper in ein Farbenspiel aus Blau, Gelb und Lila verwandelt.

Die Schmerzen verschwanden und mit ihnen auch die schrecklichen Stimmen in ihrem Kopf. Leider wollte Brooklyn von diesem Tag an kein einziges Wort mehr reden. Sie viel in eine schwere Depression. Die Ärzte sagten, es sei nur eine Phase. Sie hätte einen Schock. Hinzu kam, dass Brooklyn keinen wirklich klaren Gedanken fassen konnte. Sie stand immer noch unter Schock und konnte nicht begreifen, dass ihr Bruder tot war. Doch ihre Reaktionen waren heftig und unberechenbar.

Doch keiner wusste, wie es sich in Wahrheit anfühlte. Es war kein Schock. Es war ein wuchtiger Schlag. Ein Schlag ins Gesicht. Und damit verschwand schließlich auch ihr Lächeln. Es gab für Brooklyn keinen Grund mehr, nur ansatzweise zu lächeln. Freude zu verspüren. Die Bilder des Abends kamen wieder. Sekunde für Sekunde. Sie erlebte in ihren Gedanken immer und immer wieder diesen Abend. Immer wieder hörte sie seine Schreie. Seine letzten Worte.

Ihr Körper und Verstand waren betäubt. Und schließlich war der Tag gekommen, an dem sie sich von ihrem Bruder verabschieden musste. Mechanisch begab sie sich an diesem Morgen in das gemeinsame Badezimmer und schloss ihre Augen, als sie vor dem großer Spiegelschrank stand. In jeder kleinen Ecke fand sie Dinge, die sie an Andre erinnerte. Sein T-Shirt, welches über der Duschkabine hing, seine Zahnbürste auf dem Rand des Waschbeckens oder sein Deo, was auf dem Boden lag.

Sie stellte sich in die Dusche und drehte das Wasser auf. Kalt, es war so kalt, bevor sie an der Glaswand hinunterrutschte und zu weinen begann. Sein Shirt fiel in die Duschkabine. Der Stoff durchnässte und wurde dunkler. Sie riss es an sich, als könne sie ihren Bruder zurückbringen. Sein Geruch stieg ihr in die Nase und verschwand wenige Sekunden später.

Brooklyn raffte sich auf, duschte sich, föhnte ihre Haar, zog ein schwarzes Kleid über. Strich über den Stoff, den sie bisher nur einmal an meinem Körper getragen hatte. Erst jetzt wurde ihr die Wahrheit bewusst. Tränen rannen ihr über das Gesicht und verwandelten ihr Make-up in ein Aquarell. Der Tod war eine Trennung von dem Leben und den Liebsten. Damit konnte sie einfach nicht umgehen.

Sie schwelgte in den Erinnerungen, während sie sich durch ihr Haar fuhr und sich im Badezimmer ein letztes Mal umsah. Brooklyn konnte immer noch nicht glauben, dass ihr Bruder ihr genommen wurde.

Am heutigen Tag begann die Beerdigung um drei Uhr morgens . Um vier Uhr herrschte bereits dichtes Gedränge auf dem Friedhof. Schließlich drängten sich die Massen auf die Beerdigung selbst Diese beiden Ströme vereinigten sich schließlich zu einer geschlossenen Menschenmasse.

Es kamen nicht nur die Nachbarn, sondern auch weitere Freunde und Bekannte aus dem Umfeld und überall her, über 30 Personen, obgleich es doch ein Arbeits- und Werktag war. Nach einem kalten Buffet erfolgte die Aussegnung und dann die Beerdigung auf dem Kapellenberg, vor dem eine weitere Ehrenpforte errichtet war, mit unzähligen Leuten. Es wurden am offenen Grabe mehrere Reden gehalten.

»Werte Trauergemeinde, mein Name ist Patrick und wir haben uns heute hier versammelt, um Andre Wedding die letzte Ehre zu erweisen. Die meisten von euch kannte Andre Wedding als einen liebevollen und wertvollen Menschen unserer Gemeinde…«

Eine Stille hatte sich über die gesamten Menschen vor seinem Grab gelegt.

Ihr Vater legte seine Hand auf Brooklyns Rücken und führte sie zwischen allen Leuten, die anwesend waren, in die vorderste Reihe. Sie stolperte leicht zurück, als sie auf den Sarg schaute.

Ein großer Blumenstrauß zierte den Sarg und auf einer Gedenktafel war ein Bild von ihm aufgestellt. Ballte ihre Hände zu Fäusten, lockerte sie und wiederholte diese Geste. Die Atmung beschleunigte sich, blendete die Umgebung aus. Wollte nicht hier sein. Nicht dabei zusehen, wie sein Sarg in die Erde gelassen wurde.

»Möchte jemand etwas beitragen?« Der Bestatter sah sie der Reihe nach an und erst jetzt wurde Brooklyn bewusst, dass sie in Gedanken verloren gewesen war.

Ihr Herz fing, zu weinen an. Sie wollte etwas zur Beerdigung beitragen. Jeder sollte wissen, wer ihr Bruder gewesen war. Es war das Mindeste, was sie noch für ihn tun konnte.

»Ja«, die Stimme versagte, doch sie raffte sich auf und straffte den Körper.

»Ich würde gerne etwas sagen. Auch ich möchte Ihnen danken, denn sie erinnern uns daran, dass in der Kirche Gebet und Arbeit, Arbeit und Gebet eins sind. Mein Bruder war ein sehr gläubiger Mensch.« Die überraschten Blicke aller Anwesenden ignorierend, lief sie zum Sarg. Ihre Finger berührten das kühle Holz und sofort zuckte sie zurück. Räusperte sich: »Er war nicht nur mein Bruder.« Atmete tief durch und versuchte ihre Gedanken zu sortieren.

»Er war mein bester Freund und Beschützer. Er war bei mir, egal wann und wo ich ihn brauchte. Wenn ich ihn brauchte, war er bei mir.« Es gab kaum eine Erinnerung, in der ihr Bruder nicht dabei war.

»Mein lieber Bruder, mit Deinem Tod ist ein Teil von mir gegangen. Ich werde Dich immer in meinem Herzen tragen. Andrewar eine heitere Frohnatur durch und durch – auch in schweren Stunden – und hätte sicherlich nicht gewollt, dass wir heute um ihn trauern und weinen. Stattdessen hätte er sich gewünscht, dass wir sein Leben feiern, so wie er es tat, und fröhlich auf ihn anstoßen. Wir sollten ihn mit freudigen und positiven Gedanken verabschieden und ihm ein Lächeln mit auf den Weg geben, denn er ist nicht von uns gegangen, sondern nur voraus. «

Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken und sie sah zum ersten Mal zu Stella, die schluchzend in der Armen von Andres bestem Freund stand.

Sie hielt sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ihr schluchzen. Erinnerungen schlugen auf Brooklyn ein.

Sie sah schließlich dabei zu, wie sie der Sarg ganz langsam in die Tiefe sank. Die Knie zitterten, hielten sie nicht mehr aufrecht. Behutsam übernahm ihr Vater einen Teil ihres Körpergewichts und entlastete ihre Beine. »Besser?«

»Ja«, murmelte sie und hielt sich an ihm fest. Ihre Knie hörten auf zu zittern und sie stützte sich an ihm. Verzweifelt schnappte sie nach Luft! Plötzlich spürte sie eine warme Hand auf ihrer Schulter. Ihre Mutter war ebenfalls hinter sie getreten. Ihr stummer Beistand hielt sie aufrecht.

Brooklyn griff in die Seitentasche des Mantels und zerrte einen schmalen Brief hervor. Nach einmal strich sie über den Namen ihres Bruders, bevor sie ihn auf den Sarg hinab fallen ließ.

Es war ein trauriger Tag. Am späten Nachmittag fuhren sie wieder nach Hause. Vor der Stadt standen sie alle im Stau und das Radio hatte nur irgendein Bürgerradio, das empfangbar war, und da spielte der Moderator die Split Current 93 und sie fanden das sehr geil. Den weiteren Tag über verschanzte Brooklyn sich in ihrem Zimmer, blockte jegliche Gespräche und Beileitbekundungen ab. Weinte stumm in ihr Kissen. Die letzten Tage waren ein einziger Rausch. Sie braucht sehr viel Ruhe, wünschte sich, dass es endlich enden würde. Es fühlte sich an, als wäre ein Loch in ihre Brust gerissen worden, erneut.

Am nächsten Morgen wachte Brooklyn relativ früh auf. Ihr Kopf pochte und die Augen waren ganz verklebt. Immer wieder war sie in der Nacht aus dem Schlaf hochgeschreckt und hatte bitter zu weinen begonnen. Erschöpft wusch sie sich das Gesicht, band die Haare zu einem unordentlichen Dutt im Nacken zusammen und schlich die Treppenstufen hinunter.

Jetzt ging es ihr etwas besser.

Am liebsten würde sie sich wieder hinlegen, so schlecht ging es ihr. Kein Wunder, dass ihre Mutter nach den ständigen Saufgelagen morgens nie aus dem Bett gekommen war und auf Brooklyns Bitten und Fragen nicht selten mit den Worten »Lass mich einfach sterben!« reagiert hatte. Genauso fühlte sich Brooklyn jetzt. Sie wollte sterben. Beim Gedanken an den Tod ihres Bruders kroch ihr die Übelkeit den Hals hoch. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, rannte zur Toilette und übergab sich. Spülte den Mund aus. Aus dem Spiegel starrte ihr eine blasse Visage entgegen, mit riesigen, dunkel geränderten Augenrändern. Erschöpft wusch sie sich das Gesicht. Jetzt ging es ihr etwas besser.

Im Kopf baute zwar immer noch ein Trupp Bergmänner mit Presslufthämmern Gehirnmasse ab, die ließen sich aber zumindest zum Teil mit Aspirin vertreiben. Sie würde sich umbringen, schlurfte erschöpft in die Küche, holte sich ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Wasser. Dabei fiel ihr Blick auf die Wanduhr. 9.28 Uhr. Brooklyn erstarrte. Panisch lief sie durch die Wohnung. Wutentbrannt warf sie die Schmerztablette ein, zog sich an, putzte sich die Zähne. Jeder einzelne Schritt war ein Schritt zu viel für ihren schlappen Körper. Überrascht blickte sie in die Gesichter der Eltern. Ihre sonst so perfekte Fassade war gebrochen. Auch ihnen stand die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Wütend übermannten Brooklyn der Gedanke, dass sie bis vor wenigen Tagen kaum eine Rolle in ihrem Leben spielten. Sie waren ständig mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen. Und jetzt saßen sie hier und tranken gemeinsam einen Kaffee, die Brötchen standen in einer großen Schüssel zwischen ihnen.

»Guten Morgen, meine Süße«, ihre Mutter versuchte sich an einem Lächeln, doch offenbar scheiterte sie kläglich daran, denn ihre Tochter wirkte alles andere als glücklich. Ihr Blick war schmerzerfüllt.

Nichts in ihrem Gesicht beschrieb ihre Sorgen, und wie sehr sie das Wissen um ihre Tochter belastet hatte.

»Meine Süße geht es dir besser?«, fragte sie schließlich und sah sie aus diesen Augen an, die denen ihres Bruders so ähnlich waren. Ja, vielleicht, dachte Brooklyn. Der Schmerz und die Enttäuschung, die sie dabei empfand, machten sie ganz unruhig und sie stand wieder auf. Langsam durchquerte sie den kleinen Raum und blieb vor der spartanischen Wascheinrichtung am anderen Ende der Küche stehen. Brooklyn versuchte sich an einem Lächeln, doch offenbar genauso scheiterte, wie das ihrer Eltern. »Wie ... wie geht es jetzt weiter Mama«, fragte Brooklyn. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern.

Brooklyn setzte sich wieder neben sie und ihre Mutter nahm ihr Gesicht in ihre Hände, ehe sie antwortete. »Weißt du, Liebes, dein Vater und ich, wir haben schon viel gemeinsam durchgemacht. Wir raufen uns schon zusammen.« Brooklyn war heilfroh über die Sanftheit und Zuversicht, die sie in ihrer Stimme hören konnte. Denn tief in ihrem Inneren war sie nicht einmal ansatzweise so sicher.

»Du schaffst das?« Brooklyn antwortete nicht. Sie wollte es nicht, konnte es nicht. Zudem war es kein guter Morgen. Es würde keinen guten Morgen mehr geben.

»Ich habe auch schon lange keinen guten Morgen mehr gehabt.

Ich sitze ganz allein im Haus. Es ist still. Ich kann es kaum aushalten. Alles erdrückt mich und das geht mir auf den Geist.«, flüsterte sie. Ihre Vater wandte sich zu ihr und klopfte auf den Platz neben sich. Seine Handinnenflächen rieben immer wieder über den Stoff seiner Jeans, als Brooklyn es nicht mehr ertrug mit ihnen zusammen in einem Raum zu sein und sich einen Apfel schnappte. Ihre Familie und Freunde stellten ihre Telefone nicht mehr aus, weil auch jeder von ihnen erreichbar sein wollte. Schnell stand sie auf, verließ die Küche.

Zog sich ihre Jacke an, zog die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und ging los. Nach den ersten Hundert Metern im dichtem Nebel schaltete sie die Taschenlampe aus und steckte sie in die Tasche ihrer Jacke. Dann dimmte sie das Display des Smartphones. Der Himmel war bewölkt, düster und die fühlte sich feucht an. Brooklyn lief die Straßen entlang, schenkte den Menschen die ihr entgegenkamen keine Aufmerksamkeit.

Vorhin sah es noch so gut aus. Wer ahnt denn, dass so ein Unwetter so schnell hochzieht. Aber der Schmerz drückte sich langsam durch den Adrenalin Vorhang. Ihre Wunden waren noch nicht richtig verheilt. Auf dem Weg zum Friedhof kaufte sie eine einzelne weiße Rose, und ließ sie sorgfältig in mehrere Lagen Papier wickeln. Die Blütenblätter strahlten ihr entgegen, während sie die Rose in ihren Händen drehte. Auf dem Grab ihres Bruders lagen viele Rosen. Seine Lieblingsblumen.

»Hi«, setzte sich die Erde und legte die Rose zu den anderen. Es schmerzte, keine Antwort zu erhalten.

»Du fehlst mir!« Sie bohrte mit einem Zeigefinger kleine Löcher in die Erde und verdeckte sie wenig später wieder mit der Handfläche. Etwas bitterlich lachte Brooklyn auf.

Schließlich saß sie eine Zeit lang vor seinem Grab und schwieg. Es begann derweilen zu regnen. Die Erde um sie herum wurde feucht. »Ich werde dich besuchen. So oft, wie es mir möglich ist. Und du wirst genervt von mir sein. Denn du kannst nicht mehr vor mir abhauen.«

Noch einmal lachte sie auf und schluchzte, bevor Brooklyn aufstand und nicht mehr zu ihm zurück sah, während sie die schmalen Gänge entlang, zum Ausgang ging. Zuhause angekommen, wollte sie nur noch duschen und sich in ihr Bett verkriechen. Immer noch barfuß hastete sie die verschmutzten Treppen hinunter zu ihre Zimmer.

Doch plötzlich kam Brooklyn ihr Vater entgegen. Sein Gesicht war ihr ganz nahe. Er war ein sehr attraktiver Mann, aber mit angstverzerrtem Gesichtsausdruck. Innerlich zitterte sie , aber äußerlich bewahrte sie Haltung.

»Du und ich werden jetzt Andres Wagen abholen.«, befahl er seiner Tochter.

»Du willst den Schrott abholen?« Sie grinste. »Ja!« Die Fahrt dauerte keine Stunde.

Sie suchten auf dem Schrottplatz nach dem Wagen. Andres weißer Sportwagen war nirgendwo zu erblicken. Brooklyn wusste nicht , warum ihr Vater dieses Autowrack überhaupt mit nach Hause nehmen wollte. Es dürfte mittlerweile keinen Cent mehr Wert sein. Zwei verrostete Wagen standen nach der Einfahrt zum Schrottplatz nebeneinander, umringt von allerlei Ersatzteilen und Reifen. Dem gegenüber befand sich eine große Garage, nebenan diente ein Wohnwagen vermutlich als Büro. Der Unfallwagen stand abseits der Piste. Dahinter ragte ein höheres Gebäude mit Flachdach und großem Garagentor hervor. Mehr konnte Brooklyn im Licht der Scheinwerfer nicht erkennen. Ihr Vater fuhr den Hänger vor den Boliden. Zog den Sportwagen die gegebene Steigung hinauf, bevor sie den Schrottplatz in Richtung zu Hause verließen. Schnörkellos und ohne Umwege fuhren sie nach Hause. Ihre Mutter putzte gerade ihr Küchenfenster und hatte dabei einen ausgezeichneten Blick auf Zufahrt und Haustür. Brooklyns Vater fuhr den Wagen rückwärts in die Garage hinein.

»Bleib bitte angezogen. Wir haben noch einen Termin. Du musst mitkommen.«

»Was für ein Termin?« Stirnrunzelnd sah sie ihm dabei zu, wie er alle Geräte in der Einfahrt ausschaltete.

»Wir heben einen Termin bei einer Therapeutin ausgemacht, es ist nur ein Erstgespräch.«, kam es von ihrer Mutter.

»Wofür? Mir geht es gut!«, war das Einzige, was Brooklyn fragte. Es gab keinen Grund für eine Therapie. Sie war weder krank, noch gestört. Und sie würde definitiv nicht kooperieren.

Da halfen bei weiten nicht die Erklärungen ihrer Eltern. Ihre Worte rauschten an ihr vorbei. Sie atmete tief durch, schloss kurz die Augen. Würde sich dort hinsetzen, schweigen und die Zeit stoppen, bis es vorbei war. Mehr konnten sie nicht von ihr erwarten. Schließlich kamen sie bei der Therapeutin an.

Freundlich begrüßte Frau Schwarz die Familie. Sie war jung und wirklich wunderschön. Frau Schwarz führte sie ohne ihre Eltern in einen Raum und bot ihr einen Platz auf dem Sofa an.

Sie setzte sich ihr gegenüber und lächelte.

»Als dein Vater heute morgen von dir erzählte , konnte ich es kaum erwarten , dich zu treffen, Brooklyn!« , begrüsste sie Brooklyn überschwänglich . »Der Anlass ist natürlich keineswegs schön, doch lass uns ganz offen mit einander reden.« Wie schön und elegant sie ist, dachte sie.

Brooklyn schaltete ab. Und am liebsten wäre sie aufgesprungen und aus diesem Raum geflüchtet. Einfach weit weg.

Auf einmal stellte sie ihr eine Frage, die sie so nicht erwartet hätte. Sie besaß sehr dunkle kurze Haare und lächelt das Mädchen warmherzig an. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich dich duze, aber ich bin gegen jede Art von Förmlichkeit. Sie macht das Leben nur unnötig kompliziert, und ist das Leben nicht ohnehin eines der schwersten Ereignisse? Dein Vater hat mir viel über dich erzählt.« Ihre Augen zuckten für den Bruchteil einer Sekunde.

»Wie geht es dir?«, fragte ihre Therapeutin Brooklyn sie.

»Gut!« Sie atmete durch. »Na ja, ich weiß nicht, mir geht viel durch den Kopf. Der Tod meines Bruders hat mich schwer getroffen. Er ist nicht mehr da und meine Eltern kenne ich eigentlich nicht. Sie haben und immer allein gelassen. Mein Bruder hat mich sozusagen großgezogen.« Sie saß in einem gemütlichen Sessel, der zu dem Wohlfühlambiente dazugehörte.

»Führst du ein Tagebuch, Brooklyn?« Wieso sprach sie in jedem Satz ihren Name aus?

Sie schüttelte den Kopf und lauschte gespannt ihren nächsten Worten. Ein Tagebuch. Waren diese Bücher nicht für kleine Kinder und pubertierenden Wesen gedacht?

»Dieses Tagebuch hat noch eine ganz andere Funktion. Eines der Grundprobleme eines Erkrankten ist es, dass die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung nicht erkannt werden. Wenn du dir bei einer Reaktion oder einem Ereignis nicht sicher bist, wodurch es bewirkt worden ist, kannst du in deinem Tagebuch Stück für Stück zurück gehen und schauen, wo du Anhaltspunkte findest. Deshalb sollten sich die Inhalte in deinem auch im Nachhinein nicht ändern lassen, was ein digitales Tagebuch ungeeignet macht. Mit nachträglichen Änderungen würdest du dich nämlich selbst betrügen.

Führst du das Tagebuch über einen längeren Zeitraum hinweg, wirst du feststellen, dass die Ursachen für Ereignisse und Entscheidungen oftmals weit in der Vergangenheit liegen.

Dem Tagebuch kommt noch eine weitere Funktion zu. Anhand deiner Eintragungen zu den Emotionen des Tages kannst du kontrollieren, welche Elemente der Therapie dir wirklich geholfen haben.

Mit dem Tagebuch kannst du natürlich auch noch etwas ganz Anderes machen. Ihm kannst du Dinge anvertrauen, über die du nicht einmal mit deinen engsten Freunden und Verwandten sprechen möchtest. Ein Tagebuch plaudert nämlich nichts aus und ist auch nicht eingeschnappt, wenn du einmal harte Kritik an jemandem aus deinem Umfeld üben solltest.« Die Therapeutin begann, ihr Bücherregal zu durchsuchen und reichte ihr ein kleines Buch, welches in schwarzem Leder gebunden war.

»Du möchtest nicht darüber reden. Und ich werde dich auf keinen Fall zwingen. Da können deine Eltern noch so viele Therapeuten aufsuchen. Du entscheidest, wann du zu reden beginnst. Aber...«, sie klickte mit ihrem Kugelschreiber auf ihr Klemmbrett.

»Vielleicht hilft es dir, deine Gedanken zu sortieren. Das ist nun dein Tagebuch. Du kannst darin aufschreiben, was dir auf dem Herzen liegt. Und du musst deine Gedanken mit niemanden teilen, solange du nicht bereit bist.« Brooklyn nickte und strich über das Leder.

»Ich würde mich freuen, dich trotzdem einmal wiederzusehen.

Achte auf deine Gesundheit. Achte auf deine Ernährung, schlafe ausreichend und treibe regelmäßig Sport. Eine gesunde Lebensweise hilft dir, dich ausgeglichener und glücklicher zu fühlen.«

Und wieder nickte Brooklyn, verabschiedete sich schließlich mit einem leisen »Auf Wiedersehen.« Flüsternd verließ sie den Raum.

Ihre Eltern sprachen abschließend mit Frau Schwarz, doch sie hörte nicht weiter zu. Nur ein Wort vernahm Brooklyn doch. Und es ließ ihr Herz stocken.

Umzug.

Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Wenn das der Plan ihrer Eltern war, dann konnten sie sich nun auch von ihrem zweiten Kind verabschieden. Sie würde hier, bei ihrem Bruder, bleiben. Niemals würde sie ihn allein zurücklassen.

Die Gedanken um das Gespräch verwarf Brooklyn, um sich dann am Abend das erste Mal wieder an ihrem Schreibtisch zu setzen und das Buch zu betrachten. Sie kramte aus einer alten Kiste Fotoalben heraus und schaute sich all die Erinnerungen an, bis sie das passende Bild fand. Es sich an die Brust drückte. Es war ein Bild von Andre und ihr, wie sie am Strand, mit einem Eis in der Hand, auf das Meer starrten.

Andre hatte seinen Arm auf ihre Schulter gelegt. Das waren die Zeiten, in denen alles in Ordnung gewesen war. In denen sie zwei liebende Eltern und sich gehabt hatten.

Sie legte das Foto in das Notizbuch.

Ihr neues Tagebuch.

Wie man es auch nennen wollte. Brooklyn beschloss, es morgen einmal zu versuchen. Wer wusste schon, vielleicht würde es ihr helfen. Der nächste Tag kam so schnell, wie der letzte verging. Wie jeden Morgen stand sie auf, wusch ihr Gesicht, zog sich an und vegetierte mit pochendem Kopf vor sich her. Jegliche Eindrücke prallten an ihr ab und die Gespräche mit ihren Eltern schmerzten.

»Wir müssen mit dir reden.« Ihr Vater sah Brooklyn mit einem undefinierbaren Blick an.

Seine Stimme ließ nichts vermuten. Sie stellte vorsichtig das Glas Wasser auf den Tisch und wartete auf seine nächsten Worte, als ihre Mutter dieses übernahm.

»Wir werden nach Kalifornien ziehen.« So schnell die Worte ihren Mund verließen, so langsam sickerten sie zu ihrer Tochter hindurch.

Mit einem Mal weiteten sich die Augen und ihr Herz setzte aus.

Sie dachte an gestern zurück, wie sie sich zum Abschied mit Frau Schwarz unterhalten hatten. Doch das konnte nicht deren Ernst sein. Sie wollten ihr alles nehmen. Ohne Rücksicht auf ihre Gefühle. Sie wollten ihren eigenen Sohn, der hier begraben war, allein zurücklassen. Sie hasste sie. Ihr Bruder hatte immer gesagt, dass ihm der Hass nichts nützte. Er würde ihm die Schönheit der positiven Dinge verwehren. Doch ohne ihn, da gab es keine Schönheit mehr. Nur noch dumpfen Hass.

»Nein. Nein, verdammt nochmal! Seid ihr Bekloppt. Ich werde nicht umziehen.« Sie knallte die Hand auf den Tisch und sah beide aus Tränen verschleierter Sicht an.

»Nein, verdammt! Ich werde nicht weggehen. Und - und meine Freunde und -«, ihre Mutter unterbrach sie. Sie wirkte gefasster, als die letzten Tage. Sie versuchte, ihre Hand auf ihre zu legen, doch Brooklyn zog sie zurück, als hätte sie sich plötzlich an irgendwas verbrannt.

»Ein Ortswechsel wird uns guttun, Brooklyn. Andre hätte gewollt, dass du weiter Rennen fährst. Deshalb hat dein Vater auch seinen Wagen vom Schrottplatz geholt.« Nun stand sie fassungslos und aufgebracht auf. Der Stuhl schrammte über den Boden.

»Ein Ortswechsel? Und ich soll Rennen fahren?« Wiederholte sie.

»Einen Scheiß! Werde ich tun. Nie wieder werde ich ein Rennen fahren. Ihr könnt mich mal.« Ihr Vater versuchte sie zu unterbrechen, doch sie hob die Hände. Sie würde ihre Zunge nicht zügeln.

»Es wird sich nichts in unserem Leben verändern. Euer Sohn ist tot, verdammt. Und ihr wollt ihn im Stich lassen?« Zittrig atmete Brooklyn ein und aus.

»Und ich? Glaubt ihr, ich werde dort strahlend durch die Gegend hüpfen und mich mit Fastfood vollstopfen? Es wird sich nichts ändern. Und ihr werdet es auch nicht. Verschwindet einfach wieder. So, wie ihr es am besten könnt. Verschrottet endlich den Rennwagen.« Mit diesen Worten wischte sie sich die Tränen von den Wangen und wollte aus dem Raum flüchten, als ihre Mutter zu schluchzen begann.

»Wir haben Angst, dich zu verlieren. Das würde ich kein weiteres Mal durchstehen.« Mit der Hand vor ihrem Mund, dämpfte sie die Laute ihrer Schluchzer. Ihr Vater legte seine Arme um seine Frau und sah zu seiner Tochter.

»Wir haben nicht vor, deinen Bruder zu vergessen, geschweige hinter uns zu lassen. Er ist und bleibt unser Sohn. Doch er ist tot und du lebst. Also lebe dein Leben, dass hätte Andre so gewollt. Du weißt genau, er hält große Stücke auf dein Können. Du musst einfach weiter Rennen fahren.« Innerlich zerbrach sie und verwirrt von ihren Gefühlen, ging sie ebenfalls auf ihre Mutter zu und nahm sie in den Arm. Doch sie hatte keine Möglichkeit, gegen die Meinung ihrer Eltern zu halten. Sie waren kompromisslos.

Da half ihr Vorhaben, einmal im Monat ihren zu besuchen, kein Stück. Sie lebten in einem anderen Bundesland. Kalifornien war keine zehn Minuten entfernt. Es war ein ganzer Flug.

Allerdings war Brooklyn zu müde, um an diesem Tag weiter zu diskutieren. Und der Gedanke, ihn nicht gänzlich allein zu lassen, war ein schöner Wunschgedanke. Irgendwie.

Denn irgendwie würde es nichts ändern. In Kalifornien waren mindestens genauso viele Erinnerungen, wie sie sie hier, zuhause hatte.

Wie oft waren sie alle an den Küsten unterwegs gewesen, mit Andres Freund und seinem großen Bruder und einem kleinen Wohnmobil, dass er durch die Straßen am Meer lenkte? Wie oft war Andre dort in das Meer gesprungen oder hatte ihr ein Eis gekauft?

Sie wandte sich ab und machte sich erneut auf den Weg zum Grab. Dieses Mal mit einem großen Strauß weißer Rosen.

Diese legte Brooklyn vorsichtig zu den anderen Blumen und erzählte ihm dann, was die Eltern vorhatten.

»Ich weiß nicht, wie ich es ohne dich überleben soll.

Kalifornien, das Land mit den meistens Deppen. Du fehlst mir so sehr.«

Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. »Hi.« Brooklyn drehte sich um. Doch als sie sich umdrehte, stellte sie erleichtert fest, dass es Stella war.

»Du hast Fieber und siehst gar nicht gut aus.« Dunkle Augenringe zierten ihr so perfektes Gesicht. Brooklyn wurde bewusst, wieso Andre in sie verliebt war. Sie verbarg ihre taub gefrorenen Finger, so gut es ging, im Ärmel ihres Mantels und begann den Schnee des Hügels abzutragen. Ihre blonden Locken, die über ihre Schultern fielen, schimmerten im Licht der Sonne. Trotz der dunklen Augenringe, sah sie umwerfend aus. Sie hatte eine kleine Stupsnase, die gerötet war und so strahlende Augen. »Darf ich meine Rose dazulegen?«

Sie sprach so zaghaft mit ihr, als hätte sie Angst, etwas falsches zu sagen. Brooklyn nickte und sah dabei zu, wie sie die rote Rose zu dem Blumenstrauß legte. Und dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus, die mir all die letzten Tage vergeblich fehlten.

»Meine Eltern wollen wegziehen. Einfach so. Es haben sich sogar schon ein paar Leute unser Haus angesehen. Kapierst du?«

Sie erwartete keine Reaktion, denn was hätte Stella dazu sagen können, außer das »Oh, wirklich?«.

Stella war überrascht: »Was? Wegziehen? Wieso denn?« »Das weißt du doch selbst... Sie finden, dass es sich hier nicht mehr gut leben lässt, so haben sie das ausgedrückt.« Nun wusste Stella natürlich genau, dass hinter dem Umzug mehr steckte.

»Ich - ich weiß, wir kennen uns nicht wirklich. Obwohl ich das Gefühl habe, mehr über dich als über mich selbst zu wissen.« Leise lachte Brooklyn auf und dachte an die vielen Unterhaltungen mit ihrem Bruder über Stella. Seine Blicke und die Träumerei. Dann blickte Brooklyn ihr in die Augen.

»Könntest du mir einen Gefallen tun?« Sie redete nicht drum herum. Das war pure Zeitverschwendung. Überrascht blickte Stella sie an und nickte im selben Moment überschwänglich.

»Natürlich. Natürlich. Wie kann ich dir helfen?« Sie strich über die Blütenblätter der Rosen und lächelte leicht.

»Kannst du, in der Zeit, in der ich weg bin, nach dem Grab sehen?« Eine kurze Pause. »Das ist viel verlangt und ich werde dir auch das Geld geben. Überweisen. Wie auch immer. Und -«, Stella unterbrach sie. Erst jetzt spürte sie die Tränen über ihre Wangen hinab laufen.

»Natürlich.« Abwesend nickte sie. Und biss sich auf die untere Lippe. Eine Stille legte sich über die beiden Trauenden und Stella rutschte auf dem Boden umher. Der Asphalt war kalt unter dem dünnen Stoff der Jeans. Der Schnee lag noch nicht so hoch, dennoch zog sich der Himmel bereits weiter zu. »Es wird wieder anfangen zu schneien, wir sollten bald aufbrechen.«

»Stimmt es? Dass Andre mich fragen wollte?« Sie begann an dem Gras neben dem Grab zu zupfen und blickte Brooklyn schließlich an. Sie wirkte plötzlich so viel jünger und zerbrechlicher.

»Ja.« Sie lächelte. »Er war hin und weg von dir.« Brooklyn begann, über ihren Bruder zu erzählen. Das erste Mal seit dem Tag, an dem ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, lächelte und lachte.

»Mein Bruder war nicht fehlerfrei, aber perfekt. Er hat mich immer in die Arme genommen, wenn ich es am meisten benötigte. Wenn es gewitterte, war ich immer in sein Zimmer geschlichen. Bis ich mir einredete, es nicht mehr zu dürfen - ich wurde Älter. Und plötzlich stand er eines Nachts in meinem Zimmer, als es gewitterte und versprach mir, dass es in Ordnung wahr Angst zu haben. Und das es keinen Grund gab, es zu unterdrücken.«

»Weißt du, Brooklyn ich habe einen Freund. Dein Bruder war in mich verliebt, doch es wäre nie zwischen und gut gegegangen.« Sie weinte stumm, als Stella schließlich fragte, wann der Umzug wäre und schluchzte, als sie ihr antworten wollte.

»Schon nächsten Monat. Ich weiß wirklich nicht wie ich dort zurecht kommen soll. Meine Freunde wohnen doch alle hier.

Ich kenne dort niemanden.« Die beiden verstummten, als es dunkel wurde und standen gemeinsam auf, als es zu regnen begann.

»Ich dachte immer, dass so etwas nur in schlechten Filmen geschieht.« Bitterkeit legte sich in Brooklyn Mund und Stella nahm sie fest in den Arm. Ein Gefühl von Geborgenheit nahm sie ein. Es war das erste Mal, seit ihr Bruder verstorben war, dass sie diese Nähe zu jemanden genoss.

»Danke.« Waren ihre letzten Worte, bevor sie sich verabschiedeten und nach Hause liefen. »Sie ist eine so starke Persönlichkeit«, hatte ihr Bruder immer gesagt, als er nach einem Treffen mit seinen Freunden und Stella, sich auf sein Bett schmiss. Sie hätte alles gegeben, um diese Worte noch einmal aus seinem Mund zu hören.

Einfach, um zu wissen, dass er noch bei ihr war.

Neuer Anfang

»Beeil dich!«

»Jetzt mach dich mal locker, ich hab es gleich. Komme ja schon.«

Mit zusammengebissenen Zähnen hockte Brooklyn im Dunkeln und sprayte das letzte E, während Stelle neben ihr kniete und die Taschenlampe hielt.

Ihre Stimmen hallten durch über den ganzen Friedhof.

Brooklyn musste lachen, und der Lichtkegel der Taschenlampe, der auf ihr Werk fiel, zitterte.

Über dem Friedhof stand in Großbuchstaben ANDRE in einem blauem Farbton.

Eine Stimme ließ sie hochfahren. Hinter ihnen standen zwei Uniformierte Polizisten. Langsam ließ Brooklyn die Spraydose sinken, und weil sie den Finger nicht vom Sprüheinsatz nahm, zog sich die Farbe über ihre Kleidung hinunter bis zum Boden.

»Renne.« Sie hatte das Wort noch nicht ausgerufen, da flitzte sie bereits über den Rasen des Friedhofes, und ihre Schuhe versanken im hohen Schnee. Sie sah sich nicht um, ob Stelle ihr folgte.

Sie wusste nicht, wo die Polizisten waren. Mit Karacho bog sie um die Ecke auf den Seitenausgang des Friedhofs zu und sah ganz hinten die Straßenlaternen gelblich glimmen.

Wie elektrisiert rannte sie der Freiheit entgegen. Sie würde ihnen entwischen. Sie würde ungeschoren davonkommen.

Ungläubig rannte sie vor die Motorhaube eines weiteren Polizeiwagens.

Verdammte Scheiße, dachte sie. Wenn sie hier nicht eben herum geschmiert hätte, würde sie glatt bei der Lokalzeitung anrufen. Fieberhaft scannte sie die Straße. Zwischen ihr und dem Stadtpark befanden sich die Polizisten. Der einzige Weg über die Straße war versperrt.

Es musste einen anderen Ausweg geben.

Sie hielt den Atem an und lauschte in sich hinein. Stimmen und Schritte, die sich näherten. Sie stützte die Hände auf die Front des Polizeiwagens und ließ den Kopf langsam zwischen die Schultern sinken. So durfte es jetzt wirklich nicht mit ihr enden. Ihre Eltern würden sie in Stücke reißen. Andre ist tot und sie macht ihren Eltern jetzt auch noch Ärger. Sie rannte zu einer nahen Tür. Ein, zwei, drei Schritte. Sie drückte die Klinke des Hinterhofs.

Zu.

Auf der anderen Seite der anderen Seite der Straße war noch eine.

Ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs Schritte.

Zu.

Jetzt rannte sie den Polizisten entgegen. Der reine Wahnsinn.

Im Zicke zack rannte sie um die Autos, um den Polizisten zu entkommen. Die dritte Schrägbergartentür ließ sich zum Glück öffnen. Ein kleiner Garten mit Teich kam zum Vorschein. Vorsichtig schlüpfte sie zwischen der Holzhütte und dem dahinterliegenden Zaun und versuchte, ruhiger zu atmen.

Es war stockfinster. Sie hielt sich die Hand vors Gesicht - direkt vor die Augen - und konnte sie nicht sehen. Sie spürte ihre Hand zwar, wusste, dass sie da war, aber sie konnte sie nicht erkennen, und das raubte ihr die Orientierung. Auf der Suche nach dem Zaun des Nachbargrundstücks, zog sie sich am Draht eine Wunde an der Hand zu. Ohne den Zaun sehen zu können, versuchte sie verzweifelt, ihn zu überwinden. Von der Straße aus waren undeutlich Stimmen zu hören; sie klangen nicht mehr sehr fern. Ein paar Sekunden, dann sind sie bei ihr, sagte sie sich. Jetzt ist es soweit.

Es war kalt und frostig.

Jetzt keinen Fehler machen.

Sie zählte ihre keuchenden Atemzüge: »Eins, zwei, drei, vier«

Es passierte trotzdem. Dieses Gefühl eingeschlossen zu sein und keine Luft zu kriegen. Ihr Herz begann wie wild zu klopfen, Panik stieg in ihr auf.

Beruhige dich bitte, Brooklyn, fluchte sie, gleich bist du in Sicherheit. Nur noch den Zaun überspringen, dann nach Hause rennen.

Aber es funktionierte nicht. Ihr wurde schwindelig, und ihr war, als müsste sie ersticken.

Während ihr der Schweiß übers Gesicht lief und der Boden unter ihr ins Wanken geriet, streckte sie die Hand nach dem Boden des Nachbargrundstücks aus.

Nein, nein, nein... Das kann nicht sein!

Der Boden war vollkommen glatt, gefroren.

Eis!

Panisch tastete sie den glatten Boden ab, dann die Fläche neben dem Zaun.

Nichts. Nur Eis und etwas Schnee. Zu glatt um sich wieder aufzurichten. Sie viel immer wieder hin.

Sie stemmte sich gegen den Zaun, kratzte mit den Nägeln an dem zugefrorenen Boden, aber es war einfach zu glatt. Sie bekam jetzt kaum noch Luft.

Es war so dunkel.

Sie griff auf den glatten Boden und versuchte auf allen Vieren davon zu kriechen.

»Hilfe! Ich krieg keine Luft!« Keine Antwort.

»Helft mir! Ist da jemand?«

Sie hasste den ängstlichen Klang ihrer Stimme. Schluchzend legte sie sich auf den Boden, schlug gegen das Eis und schnappte nach Luft.

„Bitte.« Das Licht erfasste ihren Körper. Der Lichtkegel der Taschenlampen erfassten sie. Das Eis gab unter ihrem Gewicht nach, so dass sie hilflos nach vorn stolperte geradewegs in den Teich hinein.

Sie viel eine Armeslänge in den Teich hinein. Stützte sich am Boden ab. Der Polizist leuchtete ihr mit der Taschenlampe in die Augen und musterte ihr wildes Haar und die tränenüberströmten Wangen. Über ihren Kopf hinweg grinste er seinen Kollegen an. In diesem Augenblick bemerkte Brooklyn die zweite Person, die mit gesenktem Kopf und ohne Mütze dastand, den Arm fest im Griff des anderen Polizisten, Und der grinste zurück. Die andere Person war Stella!

Umzug

Trotz der verschiedenen Gespräche, die zwischen so einigen Personen auf der Polizeiwache statt fanden, hörte Brooklyn die Stimme ihrer Eltern so deutlich, als ständen sie direkt vor ihr.

Sie unterbrach das Gezwirbel an ihren Haaren und sah besorgt zur Glastür. Sie unterhielten sich gerade mit einem der Polizisten, die sich mitgenommen hatte.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich das zu schätzen weiß. Es tut mir sehr leid, dass sie mit unserem Mädchen so viel Ärger hatten.« Sie kannte diesen Ton in der Stimme ihrer Mutter nur zu gut. Etwas stimmt nicht mit unserer Brooklyn.

Sie hörte eine zweite diesmal männliche Stimme, die sie aber nicht recht verstand, und dann wieder ihre Eltern: »Ja, wir werden etwas unternehmen, ich weiß Ihren Rat sehr zu schätzen. Wir werden das besprechen und morgen eine Entscheidung treffen.« Entscheidung? Was für eine Entscheidung? Wie werden umziehen, weg von ihrem Bruder und nun soll noch etwas anderes Entschieden werden? Wo kommen sie darauf, dass sie da mit machen würde?

Dann ging die Tür auf, und ihre Augen blickten in die müden Gesichter ihrer Eltern. Ihr Herz zog sich ein kleines bisschen zusammen.

Ihr Vater reichte dem Beamten mehrere Papiere, die er achtlos auf den Papierstapel auf seinem Schreibtisch legte. »Wir übergeben dich hiermit in die Obhut deiner Eltern. Du kannst jetzt gehen.« Sagte der Polizist, bevor er ihren Vater und ihre Mutter nach draußen begleitete. Widerwillig trottete Brooklyn hinter ihnen her.

Als sie draußen in der winterlichen Luft standen, atmete sie tief durch. Der Schnee fiel immer noch vom Himmel und hüllte die Straßen in sein weißes Kleid ein. Die Erleichterung, nicht mehr auf der Polizeiwache zu sein, mischte sich mit Besorgnis über den Gesichtsausdruck ihres Vaters. Schweigend stampften sie durch den mittlerweile hohem Schnee zum Wagen.

Schon von der anderen Straßenseite aus entriegelte ihr Vater mit der Fernbedienung den schwarzen Sportwagen. Als ihr Vater den Motor anließ, wandte Brooklyn sich ihren Eltern mit einem Blick zu, der ernst war und voller Erklärungen.

»Mama, Papa ...« Ihre Eltern ignorierten ihre Tochter und blickten starr nach vorne.

»Brooklyn, nicht ...«

»Nicht was?«

»Nicht reden. Einfach ... nur sitzen.«

Die Fahrt verlief schweigsam. Zu Hause stiegen sie alle ohne ein Wort aus. Brooklyn schlurfte hinter ihnen her, während das ungute Gefühl im Magen wuchs.

Beide wirkten nicht böse, eher enttäuscht, entmutigt, dennoch irgendwie gleichgültig.

Sie ging die Treppe zu ihrem Zimmer hoch und den Flur entlang, vorbei am verwaisten Zimmer ihres Bruders. In der Sicherheit ihres eigenen Zimmers legte sie sich auf ihr Bett. Sie roch nach altem Schweiß und Angst.

»Ach Andre, warum nur?« Als sie am nächsten Morgen aufwachte, ging es schon auf Mittag zu. Sie kroch unter der zerknitterten Decke hervor und streifte eine Jeans und ein weißes Trägertop über. Dann öffnete sie vorsichtig die Tür.

Stille.

Auf Zehenspitzen ging sie in die Küche hinunter, wo die Sonne bereits durch das große Küchenfenster auf eine saubere Arbeitsplatte schien. Jemand hatte ihr Brot hingestellt, die Butter schmolz langsam vor sich hin. Neben dem Wasserkocher stand eine Tasse mit Teebeutel. Sie hatte einen Bärenhunger. Schnitt sich eine Scheibe Brot ab und steckte sie in den Toaster, dann machte sie das Radio an, um die Stille zu übertönen, schaltete es aber gleich wieder aus.

Sie hatte Sorge, dass jemand das Geräusch gehört hatte und nun auf sie aufmerksam wurde. Sie aß hastig und blätterte dabei die Zeitung durch, ohne richtig hinzusehen. Erst als sie fertig war, bemerkte sie den Zettel am Kühlschrank.

NICHT aus dem Haus gehen. Instinktiv wollte sie nach ihrem Handy greifen. Doch es lag nicht wie gewohnt in der Aufladestation. Sie verbrachte eine ganze Stunde mit der Suche nach ihrem Handy, bevor sie es endgültig aufgab. Anschließend schaltete sie in ihrem Zimmer den Laptop ein und musste feststellen, dass er keine Verbindung mit dem Internet aufbaute. Verdammt!

Sie lehnte sich gegen die Wand hinter ihrem Bett und trommelte mit den Fingern darauf herum, während sie auf das stete Ticken der kleinen Uhr auf dem Schreibtisch lauschte.

»Scheiß doch drauf.« Sie rannte nach unten in den Flur und riss die Kommode von der Wand, wo der Router hing.

Die Wand war leer.

Brooklyn stand reglos da und sann darüber nach, was das zu bedeuten hatte. Ihre Schultern sackten nach unten. Ihre Eltern kamen erst bestimmt erst Nachmittags nach Hause. Der Fernseher hatte ebenfalls kein Signal, das Display zeigte: Kein, oder sehr schwaches Signal. Sie setzte sich wieder auf ihr Bett, starrte die gegenüberliegende Wand an. Brooklyn hatte ihre Eltern mehr aus Angst als aus Langeweile erwartet und war jedes Mal, wenn eine Autotür schlug, aufgesprungen, um aus dem Fenster zu schauen. Doch als sie endlich da waren, verkrümelte sie sich in ihr Bett und wartete.

Ihre Mutter ließ wie gewohnt die Handtasche auf den Tisch im Flur fallen und folgte dann ihrem Mann in die Küche, um Tee und Kaffee zu machen, dann schlug die Kühlschranktür zu.

Ihre Mutter hatte wie immer die Milch geholt. Niemand kam in ihr Zimmer. Sieht gar nicht gut aus, dachte Brooklyn. Ein paar Minuten später saßen sie ihr gegenüber auf dem Schreibtischstuhl und dem kleinem blauem Sessel, der in der Ecke ihres Zimmers stand. Das Haar ihres Vaters war jetzt sorgfältig gekämmt, dafür hatte er Ringe unter den Augen. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war ruhig, doch ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengekniffen.

»Brooklyn ...«, begann ihr Vater, doch dann geriet er ins Stocken und rieb sich müde die Augen.

Ihre Mutter übernahm. »Wir haben darüber gesprochen, wie wir dir helfen können.« Oje. Sie brauchte von den beiden doch keine Hilfe. Mit ihr war alles in Ordnung. Wollten die beiden ihr etwas noch mehr aufbürden. Der Umzug, der Therapeut? Und was kam nun?

»Offenbar bist du in einer Depression gefangen und kommst da alleine nicht mehr raus. Das du aber noch weitere Schulkameraden mit in dein Trauerspiel mit einbeziehst geht gar nicht.« Sie sprach deutlich und langsam. Brooklyns Augen huschten von einem Elternteil zum anderen.

»Aber nachdem du auf dem Friedhof eingebrochen bist, Kreuze umgeworfen und zerstört hast und »Ich liebe dich, Andre« an den Eingang zum Hauptfriedhof gesprüht hast, dürfte es dich kaum überraschen, dass man dort auch nicht sehr glücklich mit dir ist.« Brooklyn schaute traurig auf den Zimmerboden, fing wieder an zu weinen. Weinen war in dieser Situation wenig hilfreich.

»Deine Trauer nimmt überhand. Das ist nicht mehr normal. Wir sind es leid, sehr höfliche Briefe von Personen über dich zu bekommen.« Ihr Vater beugte sich vor. Zum ersten Mal, seit er sie von der Polizeiwache abgeholt hatte, sah er seiner Tochter in die Augen.

»Wir verstehen, dass du trauerst, Brooklyn«, sagte er. »Wir verstehen, dass du diese Art gewählt hast, um mit dem, was passiert ist, umzugehen, aber es reicht uns jetzt. Graffiti, Schule schwänzen, Vandalismus ... Es reicht. Wir haben es begriffen.

Brooklyn öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, doch ihre Mutter blitzte sie warnend an. Brooklyn winkelte die Beine an und schlang die Arme um die Knie.

»Der hilfsbereite Polizeibeamte von gestern Abend - der übrigens genau über dich Bescheid wusste - hat vorgeschlagen, dass wir dich auf eine besondere Schule schicken, die mit dieser Erkrankung umgehen kann.«

Das letzte Wort sprach sie mit bitterer Verachtung aus, dann sagte sie: