Castor Pollux 8 - Michael Schauer - E-Book

Castor Pollux 8 E-Book

Michael Schauer

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Beschreibung

Hier unten war das Meer schwarz und für menschliche Augen undurchdringlich. Borania dagegen konnte alles sehen, was sie umgab, doch sie war auch kein Mensch.
Die Meerjungfrau warf einen Seitenblick auf Andria, die neben ihr schwamm. Da sie nach so vielen Jahrhunderten Gesellschaft gefunden hatte, hätte sie glücklich sein müssen. Wäre da nicht der Schmerz über den Verlust des Schatzes. Mit jedem Tag wuchs ihr Verlangen nach Rache an dem Mann, der ihn ihr für immer genommen hatte.
Sie erinnerte sich gut an seinen Namen. Er lautete Castor Pollux.

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Inhalt

Cover

Titel

WIE WAR´S WIRKLICH?

Das Unheil aus der Tiefe

… UND IM NÄCHSTEN ROMAN LESEN SIE:

Fußnoten

Impressum

Das Unheil aus der Tiefe

von Michael Schauer

Hier unten war das Meer schwarz und für menschliche Augen undurchdringlich. Borania dagegen konnte alles sehen, was sie umgab, doch sie war auch kein Mensch.

Die Meerjungfrau warf einen Seitenblick auf Andria, die neben ihr schwamm. Da sie nach so vielen Jahrhunderten Gesellschaft gefunden hatte, hätte sie glücklich sein müssen. Wäre da nicht der Schmerz über den Verlust des Schatzes. Mit jedem Tag wuchs ihr Verlangen nach Rache an dem Mann, der ihn ihr für immer genommen hatte.

Sie erinnerte sich gut an seinen Namen. Er lautete Castor Pollux.

WIE WAR´S WIRKLICH?

In dem vorliegenden Band lädt Nero das zerstrittene Paar Castor und Florentina für einige Tage auf seine Sommerresidenz in Antium ein, weil er hofft, dass sie abseits der Metropole Rom wieder zueinanderfinden. Urbanus vermutet deshalb, dass der Tod seiner Frau Poppaea Sabina den Kaiser sentimental gemacht hat. Neros zweite Gattin starb tatsächlich 65 n. Chr., allerdings nicht, wie im Roman beschrieben, im Sommer, sondern erst im Herbst.

Poppea Sabina wurde in Pompeji geboren und war zum Zeitpunkt ihres Todes etwa fünfunddreißig Jahre alt. Die Ehe mit Nero war bereits ihre dritte, und sie schien eine gewisse Vorliebe für hochgestellte Persönlichkeiten zu haben. Ihr erster Mann war der Prätorianerpräfekt Rufrius Crispinus, ihr zweiter Marcus Salvius Otho, der während des Vierkaiserjahrs 69 n. Chr. für etwa drei Monate den Thron erklimmen konnte. Bereits 59 n. Chr. entflammte Nero zu Poppea, die um der Bewahrung ihrer Schönheit willen angeblich täglich in Eselsmilch badete. Dumm nur, dass er zu dem Zeitpunkt mit Claudia Octavia verheiratet war und nicht auf die Zustimmung seiner Mutter Agrippina zu einer Scheidung hoffen konnte.

Es ist, wie im Roman angedeutet, nicht auszuschließen, dass Poppea bei Neros Entscheidung zum Muttermord im Frühjahr 59 eine gewisse Rolle spielte. Dennoch ließ er sich erst im April 62 von Octavia scheiden und heiratete kurz darauf Poppea. Ob ihr Tod tatsächlich auf einen kaiserlichen Fußtritt im Verlauf eines Streits zurückzuführen ist, oder ob sie aufgrund von Komplikationen bei ihrer Schwangerschaft oder an etwas ganz anderem starb, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Die bekannteste Vermutung ist aber tatsächlich, dass Nero im Affekt und mit fatalen Folgen gewalttätig wurde. Belegt ist, dass er aufrichtig um Poppaea trauerte und sie nach ihrer Beisetzung auf Beschluss des Senats vergöttlicht wurde.

Auch die im Roman erwähnte Pisonische Verschwörung hat es tatsächlich gegeben. Einige Senatoren hatten Neros in ihren Augen ungebührliches Verhalten endgültig satt und taten sich mit Angehörigen der Prätorianer zusammen, um den Kaiser aus dem Weg zu räumen und stattdessen Gaius Calpurnius Piso auf den Thron zu setzen. Die Verschwörung scheiterte, es kam zu zahlreichen Verhaftungen. Auch Neros alter Lehrer Seneca wurde der Mittäterschaft beschuldigt und zum Selbstmord gezwungen, was erst nach diversen Versuchen gelang. Zu den Beteiligten, die das Glück hatten, nur ins Exil geschickt zu werden, gehörte auch ein gewisser Rufrius Crispinus. Ob es diesbezüglich einen Zusammenhang zu seiner früheren Ehe mit Poppea Sabina gab, wird wohl ebenfalls für immer zu den Rätseln der Geschichte gehören.

Michael Schauer

Das Unheil aus der Tiefe

Remus Apolaus erwachte und sah sich verwirrt um.

Wieso war es so dunkel? Seine Frau Despina pflegte in der Nacht stets eine Öllampe brennen zu lassen, da sie sich in der Finsternis fürchtete. Von der kleinen Flamme, die ihr Schlafgemach für gewöhnlich in flackerndes Licht tauchte, war jedoch nichts zu sehen.

Er lag auch nicht in seinem Bett, wie er gleich darauf feststellte. Und über ihm befand sich nicht die Zimmerdecke, sondern die Sterne, die sich wie eine Armee funkelnder Soldaten um die bleiche Scheibe des Vollmonds am schwarzen Firmament scharten.

Jetzt bemerkte er auch das sanfte Schaukeln.

Bei den Göttern, er lag in seinem Fischerboot!

Remus griff nach der Reling, zog sich hoch und versuchte, mit seinen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Wenigstens schien der Mond, sonst hätte er nicht einmal die Hand vor seiner Nase erkennen können.

Weit und breit war kein Land zu sehen.

Verzweiflung ergriff ihn. Wie hatte das nur passieren können?

Wie gewohnt war er morgens zum Fischen aufs Meer rausgefahren. Im Gegensatz zu den meisten anderen Tagen war ihm das Glück diesmal ärgerlicherweise nicht hold gewesen. Die Fische schienen ihn foppen zu wollen und immer dort zu sein, wo er gerade nicht war. Gegen Mittag waren seine Körbe nicht einmal zur Hälfte gefüllt gewesen, und das hatte ihn maßlos geärgert. Weswegen er nicht wie sonst um diese Zeit zurückgefahren, sondern draußen geblieben war. Wieder und wieder hatte er sein Netz ausgebracht. Vergebens, die Ergebnisse blieben mager, und seine Laune war mit jeder Minute schlechter geworden.

Er erinnerte sich, wie ihm plötzlich schwindelig geworden war und er sich in den Bug seines Boots gekauert hatte. Hätte er das Bewusstsein verloren und wäre über Bord gefallen, hätte das seinen sicheren Tod bedeutet. Vielleicht hatte er sich zu viel zugemutet. Mit seinen siebenundfünfzig Jahren besaß er nicht mehr die Kraft und Ausdauer eines jungen Mannes. Was er sehr wohl wusste, aber aus Stolz gerne verdrängte.

Tief hatte er die salzige Luft in seine Lunge gesaugt, trotzdem war der Schwindel stärker geworden. Sterne waren vor seinen Augen erschienen und hatten einen wilden Tanz begonnen.

Hier endete seine Erinnerung.

Ob er einen Schwächeanfall erlitten hatte? Oder gar etwas Schlimmeres? Nein, wenn sein Herz versagt hätte, wie es vor drei Monaten seinem Nachbarn Philippos passiert war, wäre er kaum wieder aufgewacht. Das hatte auch Philippos nicht getan, und seine Familie war nach wie vor untröstlich.

Er musste an seine Frau denken. Despina verging bestimmt vor Sorge. Wenn er wieder nach Hause kam, würde sie sich fürchterlich aufregen und ihn vollkommen zu Recht einen Narren schelten, weil er wegen ein paar Fischen mehr oder weniger seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt hatte.

Wenn er wieder nach Hause kam.

Wie weit war er von der Küste entfernt gewesen, als er das Bewusstsein verloren hatte? Daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern, was eine weitere beunruhigende Feststellung war. Gut möglich, dass ihn die Strömung aufs offene Meer hinausgetrieben hatte.

Sein Mund wurde trocken. Im schlimmsten Fall schwebte er in höchster Lebensgefahr. Die Vorräte an Bord waren kaum der Rede wert. Ein Beutel mit etwas Trockenfleisch und einem Kanten Brot sowie ein zur Hälfte gefüllter Wasserschlauch waren alles, was er mitgenommen hatte. Mehr brauchte er normalerweise auch nicht.

Damit würde er nicht lange überleben können.

Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Nur mit Mühe drängte er die aufsteigende Panik zurück. Solange er atmete, gab es eine Chance. Mit etwas Glück würde die Küste am Horizont auftauchen, sobald es hell wurde.

Aber was, falls nicht?

Einen tiefen Seufzer ausstoßend, hockte er sich auf die schmale Bank am Heck und verschränkte die Arme vor der Brust. Es brachte nichts, sich verrückt zu machen. Wenn er nur gewusst hätte, wie lange es noch dauerte, bis die Sonne aufging.

Nachdem er eine Weile so dagesessen hatte, erregte ein Gluckern ganz in der Nähe seine Aufmerksamkeit. Neugierig beugte er sich vor und lugte über die Reling. Bis auf den Mond, der sich in der tiefschwarzen Wasseroberfläche spiegelte, war nichts zu sehen.

Unwillkürlich musste er an die alten Geschichten über die Seeungeheuer denken, die hier draußen ihr Unwesen treiben sollten. Unwillig schüttelte er den Kopf. Auf diesen abergläubischen Unsinn hatte er nie etwas gegeben. Seit über vierzig Jahren fuhr er nun aufs Meer hinaus. Würden solche Kreaturen existieren, wäre er ihnen längst begegnet. Die Leute, die sich so was ausdachten, hatten eine blühende Fantasie oder litten an Langeweile. Oder beides.

Das Gluckern wiederholte sich.

Seine Stirn legte sich in Falten. Abermals beugte er sich vor. Spielten ihm zu allem Überfluss seine Ohren einen Streich?

Da, eine Bewegung. Im Mondlicht hatte er es deutlich gesehen. Er stand auf und spähte angestrengt auf die Stelle. Irgendetwas war da unten.

Zwei bleiche Hände schossen aus dem Wasser. Eiskalte Finger packten seinen Hals. Remus stieß einen Schrei aus und wollte zurückweichen. Genauso gut hätte er versuchen können, einen Felsen zur Seite zu schieben. Ein heftiger Ruck. Wie eine Puppe wurde er über Bord gerissen, stürzte mit einem Klatschen ins Meer und ging sofort unter.

Wild mit den Armen rudernd, versuchte er wieder nach oben zu kommen. Etwas Spitzes bohrte sich in seinen Hals, sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Wasser strömte in seine Kehle und seine Lunge.

Sein letzter Gedanke galt Despina.

»Fühlst du dich besser?«, fragte Borania.

Andria nickte. »Viel besser. Mein Durst ist gestillt.«

Wie schwerelos schwebten die beiden Frauen in der Schwärze des Meeres, während der Tote unter ihnen langsam Richtung Grund sank. Sein lebloser Körper war vollkommen blutleer. Andria hatte ihn bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt.

Die Gier ihrer Gefährtin nach dem Lebenssaft der Menschen war ein Phänomen, das sich Borania nicht erklären konnte. Sie selbst benötigte kein Blut, Andria dagegen war auf regelmäßigen Nachschub angewiesen. Stillte sie ihren Durst nicht, wurde sie Tag für Tag schwächer. Vielleicht würde sie irgendwann sogar sterben. Sicher war das nicht, aber sie hatten beide nicht vor, es darauf ankommen zu lassen.

Zu Boranias Missfallen waren sie deshalb von Zeit zu Zeit zu Abstechern an die Küste gezwungen. Das Land war nicht ihr natürliches Element. Sie hatte oft darüber nachgedacht, was die Ursache für Andrias seltsames Verlangen sein mochte, war jedoch zu keinem Ergebnis gekommen.

Andria stammte aus der Familie von Loi aus dem Dorf Kalabrus. Einst hatte Borania dem jungen Mann als Zeichen ihrer Liebe in einem Moment närrischer Schwäche ihren Schatz überlassen. Loi jedoch hatte sie zurückgewiesen und darüber hinaus das Gold behalten. Voller Zorn hatte sie deshalb einen Fluch ausgesprochen und geschworen, hundert Jahre später wiederzukehren. Wollten sie nicht alle vernichtet werden, mussten die Bewohner von Kalabrus ihr den Schatz oder Lois jüngsten Nachkommen ausliefern.*

Vom ersten Augenblick an war Borania von Andrias Schönheit fasziniert gewesen. Sie war ein mehr als würdiger Ersatz für Loi. Als Andrias Bruder und der Bezwinger den Schatz auf ihre schwarze Galeere gebracht hatten, dachte sie deshalb gar nicht daran, die junge Frau wieder einzutauschen.

Beinahe wäre es ihr sogar gelungen, Castor Pollux zu töten, was ihr Ruhm und Ansehen unter den Finsteren eingebracht hätte. Hätte sich nicht im letzten Moment diese Fremde eingemischt und ihm geholfen. Bis heute wusste Borania nicht, um wen es sich bei ihr gehandelt hatte. Wie aus dem Nichts war sie plötzlich dagewesen.

Castor Pollux und Andrias Bruder hatten entkommen können, die Galeere und der Schatz waren vernichtet worden. Letzteres stellte einen schmerzlichen Verlust dar, den selbst ihre neue Gefährtin nicht wettmachen konnte. Sie hatte das Gefühl geliebt, in den in einer fernen Welt geschmiedeten Münzen mit ihrem Konterfei zu wühlen und das kühle Metall auf ihrer Haut zu spüren. Für einen Menschen war der Kontakt damit tödlich, ihr dagegen bereitete es Wohlbefinden, ja ein Gefühl sinnlicher Lust. Der Schatz hatte ihr Kraft gegeben und ihr viel bedeutet.

Ihn in der Obhut der Menschen zu wissen, war hundert Jahre lang ein stetes Ärgernis für sie gewesen. Doch sie hatte sich damit getröstet, dass er noch existierte. Nun jedoch war nichts davon übrig als grauer Staub auf dem Meeresgrund. Eine einzige Münze nur hatte sie retten können. Sie musste aus der Truhe gerollt sein und war ins Meer gefallen, bevor die verhängnisvolle Magie der Fremden den Schatz ergriffen hatte. Seitdem trug Borania sie an einem dünnen Riemen um den Hals.

Eines Tages würde Castor Pollux dafür bezahlen. Hätte er sich nicht eingemischt, wäre die Fremde nie aufgetaucht, also war es seine Schuld. Boranias Verlangen nach Rache wuchs mit jedem Tag. Oft schon hatte sie sich ausgemalt, was sie mit ihm anstellen würde, wenn sie ihn in die Hände bekam.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. Ein Schatten schoss auf sie zu. Etwas Hartes prallte gegen ihre Schulter und war im nächsten Moment an ihr vorbei.

Ein riesiger, grauweißer Körper mit einer Flosse auf dem Rücken.

Ein Hai!

Die Meerjungfrau runzelte ihre blassblaue Stirn. Normalerweise wagte es keiner der Meeresbewohner, ihr zu nahe zu kommen. Dieser hier musste wahnsinnig sein. So etwas hatte sie hin und wieder schon erlebt.

»Er kommt zurück!«, rief Andria. Obwohl sie sich unter Wasser befanden, konnten sie miteinander sprechen, was eine der vielen Eigenschaften war, die sie von den Sterblichen unterschied.

Mit einer Handbewegung gab ihr Borania zu verstehen, dass sie sich nicht vom Fleck rühren sollte. Der Hai gehörte zu den tödlichsten Räubern der Meere. Was nichts daran änderte, dass er aus Fleisch und Blut und nicht in der Lage war, ihr ernsthaft gefährlich zu werden.

Erneut schoss er auf sie zu. Sein Maul war weit geöffnet und gab den Blick auf zwei Reihen dreieckiger, scharfer Zähne frei. Gelassen erwartete sie seinen Angriff. Im letzten Moment drehte sie sich zur Seite. Dicht neben ihr schnappten die mörderischen Kiefer ins Leere. Ihre Finger schossen vor, krallten sich in die raue Haut des Hais. Spitze Nägel bohrten sich in sein von Muskeln durchzogenes Fleisch. Dunkles Blut strömte aus den Wunden.

Das Tier wand sich und versuchte zu entkommen, doch gegen ihren Griff hatte es keine Chance. Aus einem seiner starren Augen glotzte der Hai sie an, während immer mehr Blut aus seinem mächtigen Leib floss. Bald schon wurden seine Bewegungen schwächer und verebbten schließlich ganz.

Borania ließ ihn los und sah zu, wie er dem Sterblichen in die Tiefe folgte, eine dunkle Wolke hinter sich herziehend. Andria wirkte ungerührt. Das Blut von Tieren interessierte sie nicht.

»Lass uns weiterziehen«, sagte sie.

Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Seite an Seite glitten sie durch die unendlichen Weiten ihres Reichs. Beinahe hatte Borania den Hai wieder vergessen, als sie bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Ihre Hand fuhr zu ihrem Hals.

Die Münze war weg. Bei seiner Attacke musste der Raubfisch den Riemen durchtrennt haben. Eine Mischung aus blanker Wut und nackter Verzweiflung ergriff sie.

Sie kehrten um und suchten für den Rest der Nacht vergeblich den Meeresgrund ab. Borania aktivierte ihre geschärften Sinne und versuchte, das Kleinod zu erspüren, doch selbst das brachte keinen Erfolg.

Die Münze blieb verschwunden.

Der kräftige Wind zerrte an Lucius Kimbus’ Tunika und ließ ihn trotz der hoch am Himmel stehenden Sonne frösteln. Das Meer war aufgewühlt an diesem Nachmittag. Welle um Welle brach sich an den Felsen, die dem Strand vorgelagert waren. Hin und wieder spritzte die schäumende Gischt so weit, dass er den einen oder anderen Tropfen abbekam. Trotzdem wich er nicht zurück und beobachtete den Horizont, wobei er seine Augen mit einer Hand vor der Sonne schützte. Die Luft roch und schmeckte intensiv nach Salz.

Außer ihm war kein Mensch hier, obwohl das Dorf nicht weit entfernt lag. Nur das Rauschen der Wellen war zu hören.

Er wusste nicht, wie lange er hier schon bewegungslos verharrte, denn in Momenten wie diesen ging ihm jegliches Zeitgefühl verloren. Einmal glaubte er, eine Bewegung auf dem Meer bemerkt zu haben, doch sie wiederholte sich nicht. Entweder war er einer Täuschung erlegen oder es war einer dieser großen Fische gewesen, die er bei seiner Reise zum Festland durchs Wasser hatte pflügen sehen.

Die Sonne stand tief, als er es für heute aufgab, sich mit einem Seufzen abwandte und über den schmalen Pfad Richtung Dorf zurückstapfte. Wieder einmal schien ein Hinweis ins Leere zu führen. Wieder einmal war jemand einem Trugbild aufgesessen oder hatte ihm einen Bären aufgebunden, was nicht selten vorkam. Anscheinend fühlten sich manche Menschen herausgefordert, ihn in die Irre zu führen, sobald er ihnen erzählt hatte, wonach er suchte. Vielleicht dachten sie, dass sie einen Verrückten vor sich hatten, mit dem man ungestraft seine Späße treiben konnte.

Zugegeben, seine Geschichte klang verrückt. Seine Schwester war von einer Meerjungfrau entführt worden. Wer sollte das schon glauben? Die Reaktionen der Leute schwankten meist zwischen einem belustigten Grinsen und skeptischer Vorsicht. Als fürchteten sie, dieser Irre könne sich im nächsten Moment auf sie stürzen.

Deshalb erwähnte er auch nicht, dass Andria freiwillig mit ihr gegangen war, weil Borania sie irgendwie verzaubert hatte. Das hätte für nur noch mehr Verwirrung und Unglauben gesorgt.

Nachdem die schwarze Galeere untergegangen war und Castor Pollux und er nach Kalabrus zurückgekehrt waren, hatte er in derselben Nacht beschlossen, sie nicht tatenlos aufzugeben. Stattdessen wollte er sie finden und retten – wie auch immer das dann anzustellen sein mochte. Castor hatte ihn gewarnt, dass sie nicht mehr die Andria wäre, die er so innig geliebt hatte. Trotzdem, er konnte nicht einfach weiterleben, als sei nichts geschehen, während seine Schwester irgendwo da draußen war.

Zunächst hatte er das Problem lösen müssen, dass man ihn im Legionslager Fordangianus zurückerwartete. Lucius war ein Angehöriger der auf Sardinien stationierten Auxiliartruppe, und ebenso wenig wie ein Legionär konnte ein Hilfssoldat mal eben die Armee verlassen, weil ihm gerade danach war. Seine reguläre Dienstzeit dauerte noch einige Jahre. So lange wollte und konnte er nicht warten.

Also hatte er den Leuten in seinem Dorf eingeschärft, sie sollten behaupten, er wäre ertrunken, falls man nach ihm suchte. Castor war da schon fort gewesen. Jedoch konnte sich Lucius nicht vorstellen, dass irgendjemand einen Mann wie ihn mit Fragen nach einem verschwundenen Auxiliar behelligen würde.

Die Sache war riskant. Die Strafe für Deserteure fiel ebenso schrecklich wie endgültig aus, und aus Sicht der Armee war er nichts anderes. Das war auch der Grund, weshalb er seinen Namen geändert hatte und sich Nelio nannte. Obwohl inzwischen einige Zeit vergangen war, musste er weiterhin vorsichtig sein. Bekanntlich hatte die Legion ein langes Gedächtnis.