Chinas roter Amitabha - Mathias Bellmann - E-Book

Chinas roter Amitabha E-Book

Mathias Bellmann

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Beschreibung

Eine buddhistische Story: Im sozialistischen China wird das Individuum zu einem Teil der Masse reduziert und pausenlos überwacht, damit es niemals aus der Reihe tanzt. Im Gegensatz dazu schenkt der rote Amitabha jedem Einzelnen sein Licht der Freiheit, so auch der alten Kloßfrau Hao. Nach vielen disruptiven Ereignissen, die sie zusammen mit dem mysteriösen Bao erlebt, bricht ihr Herz aus dem Käfig des Kommunismus aus und fliegt in die höheren Sphären von Amitabhas reinem Land Sukhavati. Begleite Hao auf ihre persönliche Odyssee und nimm Teil an ihrem inneren und äußeren Befreiungskampf.

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gewidmet meiner Zufluchtssangha

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Zweiter Teil

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Erster Teil

1

Für einen Moment hatte es beinahe so ausgesehen, als würde das Land sich öffnen. Fast waren bessere Zeiten greifbar gewesen. Doch dann kam der neue rote Diktator. Er griff nach mehr Macht und wieder wurden die Buddhas verbannt. Ihren Glauben jedoch hatte das nicht gebrochen. Sie musste jetzt zwar vorsichtiger sein, aber sie würde weiter Amitabhas Namen rufen. Denn sie wollte nach ihrem Tod in sein reines Land Sukhavati.

Ihr Name war Hao. Sie war jetzt fast sechzig und spürte den Tod an jedem ihrer Knochen nagen. Sie hoffte auf die alte chinesische Medizin. Doch seitdem der rote Diktator seine dritte Amtszeit bekommen hatte und Corona und Krieg die Welt überrollten, waren die alten Kräuter zu teuer geworden. Deshalb blieb ihr nur Amitabhas Name und ihre Hoffnung auf sein westliches Paradies.

Sie lebte in einer kleinen Satellitenstadt vor den Toren der alten Hauptstadt Nanjing. Ihre Tage verbrachte sie auf dem alten Markt, wo sie die traditionellen, chinesischen Klöße verkaufte. Innen waren sie gefüllt. Einige Klöße kochte sie mit Schweinefleisch, andere mit Gemüse. Für die Kinder machte sie süße Klöße. Die waren ihre liebsten Kunden. Immer wenn die Schule aus war, kamen sie angerannt und kauften die süßen Leckereien und lachten. Dann fühlte Hao sich wie eine Bodhisattva aus einer alten buddhistischen Geschichte. Denn sie schenkte den Kindern Glück und Lachen, so wie es die Bodhisattvas immer taten.

Sie war alt, doch ihr Geist war lebendig. Weil sie Amitabhas Namen täglich viele Male rief, war ihr Geist fit und wach. Oft kommen ihr Freudentränen, wenn die Kinder die süßen Klöße schmatzten. Denn sie erinnerte sich an ihre eigene Kindheit. Es waren damals gute, wenn auch arme Tage gewesen.

Ihr Vater war Bauer gewesen und ihre Mutter hatte sich um die Kinder gekümmert. Sie hatten weit weg von Nanjing gelebt. Ihr Leben war einfach aber auch hart. Sie hatten nur von dem gelebt, was ihr Vater mit seinen Brüdern auf den Feldern und im Stall produzierte und was er an Überschuss auf dem Markt verkaufen konnte. Alles in ihrer Kindheit war einfach gewesen, bis der Blitz sie erschlug.

Dieser Blitz war ein junger Mann namens Ming Chao gewesen. Er war ein Fabrikarbeiter aus der großen Stadt. Oft war er zu Besuch bei seinen Verwandten auf dem Nachbarhof gekommen. Chao war schon 22 Jahre alt, während sie selbst noch zarte 15 war. Deshalb hatte sie keine Chance und war sofort seinen Reizen erlegen.

Ihr Vater war froh gewesen, einen Esser weniger zu Hause zu haben und so hatte er schon für den kommenden Herbst eine große Hochzeit arrangiert. Alle aus dem Dorf kamen und beglückwünschten sie zu ihrem imposanten Städter. Denn er würde sie mitnehmen in die große Stadt und sie würde mehr sehen, als die meisten im Dorf. Als sie sich nach der Hochzeit auf den Weg machten, weinte ihre Mutter und bat, dass sie sie oft besuchen kommen sollte.

Die Stadt war so viel anders als das Dorf. Alles war laut, schnell und stank fürchterlich. Es kostete sie mehrere Wochen, um sich an ihr neues Zuhause zu gewöhnen. Auch das Leben mit ihrem Mann war weniger schön, als sie sich das erträumt hatte. Er war lieb. Er war nett und schlug sie nie. Doch er war auch kaum zuhause, weil er jeden Tag lange in der Fabrik arbeitete.

Viele Jahre ging das Leben so. Sie hatte sich an die laute Stadt gewöhnt. Nur zum Neujahrsfest und manchmal zu Buddhas Geburtstag fuhren sie heim in ihr Dorf. Es war schön ihre Familie zu sehen, doch sie quälten sie mit Fragen, wann sie endlich ein Kind bekommen würden. Sie schämte sich dafür. Denn mit ihrem Sexleben sah es schlecht aus. Fast nie liebten sie sich. Ein paarmal hatte sie ihren Chao erwischt, wie er sich nackte Männer angesehen hatte. Doch darüber hatte sie nicht weiter nachgedacht, bis der Unfall passierte.

Jemand schlug die Glocke an der Tür lauter als gewöhnlich. Sie wusch sich die Hände an der Schürze ab und eilte zur Tür. Es war der Vorarbeiter in seiner blauen Arbeitshose. Seine Fabrikmütze hielt er vor sich in der Hand. Als sie die Tür öffnete, faltete er die Hände und verneigte sich. Auch sie verneigte sich. Es war komisch, doch sie bat ihn herein und machte ihm einen Tee. Er trank langsam. Dann sah er sie lange traurig an, verneigte sich entschuldigend viele Male und erzählte ihr von dem Vorfall.

Ihr Mann arbeitete an einer Presse. Der Vorarbeiter versicherte ihr, dass er damit einen großen Dienst für das sozialistische Heimatland leistete. Doch heute morgen hatte die Maschine gestreikt. Ihr Mann hatte zusammen mit einem zweiten Kollegen versucht herauszufinden, warum sie nicht mehr ging. Dann fand er ein defektes Hochspannungskabel und versuchte es zu reparieren. Es misslang und ein Stromschlag zerfetzte sein Herz.

Sie weinte. Sie weinte als der Vorarbeiter noch da war und sie weinte als er gegangen war. Sie weinte die ganzen nächsten Wochen. Sie beerdigten ihn auf einem Volksfriedhof. Nur wenige kamen, denn seine Familie lebte wie ihre auf dem Land als Bauern. Am Grab war sie fast allein und dieses Gefühl blieb auch. Denn sie war jetzt allein in der Stadt.

Es gab eine kleine Witwenrente vom Staat und einige Ersparnisse. Das half über die ersten Wochen. Doch dann musste Hao sich eingestehen, dass sie arbeiten musste, wenn sie überleben wollte. Arbeiten hatte sie in ihrer Kindheit auf dem Bauernhof gelernt. Leider konnte sie sonst nicht viel. In der Dorfschule hatte sie einigermaßen lesen gelernt, doch eine Ausbildung hatte sie nie erhalten. So kam es, dass sie begann die traditionellen, chinesischen Klöße auf dem Markt zu verkaufen.

Nach einiger Zeit war sie in einen kleineren Ort vor den Toren der alten Hauptstadt gezogen, weil es dort billiger war. Sie hatte kurz überlegt, wieder zu ihrer Familie zu gehen, doch sich dagegen entschieden. Sie wollte auch keinen neuen Mann haben. Auch wenn die Liebe zwischen ihr und ihrem Mann Chao nur wenig körperlich gewesen war, so hatten sie sich doch geliebt. Er war immer zärtlich und sehr klug gewesen: Wie sehr sie seine Klugheit vermisste!

So wurde sie zur Kloßfrau. Alle im Ort kannten sie. Die anderen Händler schätzten sie für ihre Gespräche und liebten ihre Klöße. Auch weil sie Witwe war, wunderte sich niemand, dass sie keinen neuen Mann nahm. So wirkte es zumindest, denn in Wirklichkeit hatte sie sich im Laufe der Jahre einem neuen Mann hingegeben. Er war in ihr Herz gekommen und hatte es mit Strahlen und Glück erfüllt, wie es kein zweiter vermocht hätte. Sein Name war Amitabha. Er war der Buddha des reinen Landes Sukhavati.

Eine alte Marktfrau hatte sie mit ihm bekannt gemacht. Anfangs war sie nur gekommen, um sich gelegentlich einen Kloß zu holen. Mehr konnte sie sich nicht leisten. Doch der Markt hatte sie über die Jahre immer stärker verbunden. Sie wurden Freundinnen, vielleicht sogar beste Freundinnen und erzählten sich alles. Meng Xin war ihr Name und sie liebte Amitabha.

Vielleicht war es die Einsamkeit; vielleicht war es der schöne Klang seines Namens, aber nach einiger Zeit hatte Xin unsere Hao mit ihrer Begeisterung für Amitabha angesteckt. Immer öfter erzählte sie von all den Wundern, die sie in Sukhavati erleben würden, wenn sie nur fleißig seinen Namen betete. Anfangs war Hao skeptisch gewesen, denn es widersprach dem, was die rote Partei lehrte. Doch schon nach einiger Zeit merkte sie, wie sie immer öfter begann Amitabhas Namen anzurufen.

Aus der zarten Annäherung wurde reges Interesse. Aus den ersten zarten Liebesregungen für ihren neuen Angebeteten wurde ein kräftiger Baumstamm tiefer Verbundenheit. Irgendwann hatte Xin sie zu einem kleinen Amitabha Schrein nahe dem Markt mitgenommen. Dieser Schrein lag etwas verborgen in einer kleinen Seitenstraße. Auch wenn die Roten den Buddha Amitabha nicht direkt verfolgten, so widersprach er doch allem, wofür die Partei stand.

Der buddhistische Schrein wurde sehr schnell zu Haos Lieblingsort. Wang Tang war sein Verwalter. In der alten Zeit wäre er sicher ein buddhistischer Mönch geworden und hätte allem im Ort die Weisheit Buddhas gelehrt. Doch so etwas erlaubten die Roten nicht. Aber Tang war das egal. Er lebte nur für Amitabha und seinen Schrein. Hao war ihm dankbar. Denn dieser Ort heilte ihr krankes Herz. Mehr noch, er gab ihr Hoffnung!

Jeden Morgen klingelte der alte Wecker und sie lächelte, denn als erstes stieg sie aus dem Bett und warf sich vor ihrem kleinen Schrein nieder. Noch erlaubten die Roten diese Schreine zuhause zu haben. Sie wusste nicht wie lange noch, denn in den letzten Jahren hatte die Partei wieder die Religion ins Visier genommen. Aber noch hatte sie ihren Schatz: In der Mitte ihres kleinen, privaten Schreins saß ihr Amitabha und rechts daneben Shakyamuni Buddha und links der blaue Medizinbuddha.

Ihr kleiner Altar war ihr emotionaler Anker. Jeden Morgen begann sie ihren Tag kniend vor ihm und rezitierte Amitabhas Namen. Ebenso saß sie jeden Abend lange vor ihm im Kerzenschein und meditierte seinen Namen, während der Rauch der Räucherstäbchen ihre kleine Wohnung spirituell transzendierte. Das war ihr Leben und es war alles was sie brauchte, um glücklich zu sein.

2

Xin kam hektisch angelaufen. Das war sonst nicht ihre Art und Hao wunderte sich. „Hast du es schon gehört Hao?“, fragte sie eifrig. Worauf Hao verneinte und unwissend die Schultern zuckte. Dann erzählte sie ihr aufgeregt, was schreckliches passiert war. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte Tang zur Befragung mitgenommen und die Polizei hatte den Schrein mit Absperrband zugeklebt. Niemand durfte vorerst mehr in den Schrein hinein.

Hao schluckte.

„Aber warum nur haben sie Tang mitgenommen?“, fragte sie ängstlich, „er ist so ein netter Mensch. Er könnte nie jemandem etwas zu leide tun!“ Sie sah Xin an und merkte, wie eine Träne über ihre Wange lief. Ihre alte Buddhafreundin zögerte nicht lange und nahm sie in den Arm. Für einen Moment hörte die Welt auf und sie hatten nur sich. Dann sagte Xin: „Amitabha wird ihn beschützen. Glaube daran Hao, unser Amitabha wird ihn beschützen!“

Der Tag verging trübe. Zwar kamen die Kinder mit strahlenden Gesichtern nach der Schule angerannt und baten freudig um süße Klöße. Auch die anderen Kunden waren nett wie immer. Selbst die Sonne kitzelte Hao freundlich, als ob sie sie aufheitern wollte. Doch nichts davon war in der Lage ihre Laune zu heben. Sie machte sich Sorgen. Tang war ein netter Mann und sie mochte ihn sehr. Die Agenten der Regierung waren nicht nett. Hao hatte kein Interesse an Politik. Ihr ganzes Leben lang hatte sie versucht, diesem Bereich auszuweichen. Die Horrorgeschichten über die Verfolgung und die Hungersnöte unter Mao hatten ihr Angst gemacht. Deshalb versuchte sie immer eine gute Genossin zu sein, denn mit der Partei war nicht zu spaßen. Wer sich nicht an die Regeln hielt, konnte jederzeit verschwinden und nie wieder auftauchen.

Abends packte sie müde und erschöpft ihren Stand zusammen. Statt direkt nach Hause zu gehen, machte sie einen Umweg zum Schrein. Sie war neugierig und wollte wissen, wie ihr heiliger Lieblingsort jetzt aussah. Alles sah aus wie immer, also fast wie immer. Ein Absperrband der Polizei war vor das Eingangstor gespannt und ein Schild mit der Aufschrift „Betreten verboten!“ hing vom Torbogen herab. Sie atmete schwer ein, als sie beides sah. Dann sah sie sich um. Als sie keinen Polizisten sah, faltete sie die Hände und murmelte 108 mal Amitabhas Namen.

Die Sonne verkroch sich hinter den Horizont und leichte Wolkenschleier hingen am Himmel als Hao nach Hause ging. Sie hatte Angst. Xins Erzählungen hatten sie traurig gemacht. Aber erst das Schild und das Absperrband der Polizei hatten ihr die Ernsthaftigkeit der Sache vor Augen geführt. Mit dem Sicherheitsapparat der Partei war nicht zu spaßen. Die Roten mochten keine Religion und jeder religiöse Akt stand immer in der Gefahr als konterrevolutionär gebrandmarkt zu werden. In der Realität sahen sie meist darüber weg, doch die ständige Angst lag über allem.

Tang hatte ihr erzählt wie unter Maos Zeiten die Mönche verfolgt, die Klöster zerstört und viele Menschen in Lager gesperrt worden waren. Auch er hatte eine Lehrer gehabt, der lange in einem Lager gewesen war. Mit Schrecken in der Augen hatte er ihr von all den Narben erzählt, die dieser Lehrer von den Stock- und Peitschenhieben überall auf seinem Körper gehabt hatte.

Hao fragte sich, was sie Tang antun würden? Mao war zum Glück lange tot. Heute war eine ganz andere Zeit. Zwar waren die Roten immer noch die Herrscher im Land, doch es waren friedlichere Zeiten. Schließlich war Tang nur ein Buddhist, der niemals jemandem etwas angetan hatte.

Zwei Wochen vergingen, bis sie wieder etwas von Tang hörte. Es war ein nebliger Morgen, obwohl die Frühlingssonne bereits Kräfte sammelte. Hao baute ihre kleinen Stand auf und richtete die Klöße mit den Preisschildern her. Dann bemerkte sie wie sich ihre Freundin Xin zu ihrer morgendlichen Begrüßung näherte und bereitete zwei Schalen Tee vor.

„Hao, meine wunderbare Jade“, sagte Xin freudig, „du wirst es nicht glauben, aber sie haben Tang endlich wieder frei gelassen.“ Dann erst verneigte sich Xin, um sie zu begrüßen. Auch Hao verneigte sich, schob Xin den zweiten Klappstuhl zu, gab ihr die Teeschale und setzte sich hin. Auch Xin setzte sich und nahm ihren ersten Schluck.

„In Japan trinken sie Tee zum Meditieren, hat mir Tang erzählt. Aber wir sollten uns vorstellen, dass jeder Tropfen Tee ein magisches Tor ins reine Land von Sukhavati ist.“ Während Xin das sagte, sah sie glücklich aus. Auch Hao freute sich. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie Tang je wiedersehen würde, denn man konnte nie wissen, was die Partei mit einem machen würde. Auch wenn sich niemand traute, laut darüber zu sprechen, so wusste doch ganz China über die Wahrheit Bescheid.

Der Tag verlief ruhig. Nur die Kinder brachten einige Bewegung in diesen jungen Frühlingstag. Sonst passierte nicht viel. Die Stunden zogen sich hin und der Abend kroch langsam näher. Hao war nicht ganz bei der Sache. Sie bediente ihre Kunden und war freundlich wie immer. Aber eigentlich dachte sie über Tang und ihren Schrein nach.

„Komm Freundin beeile dich!“, sagte Xin, „sobald du deinen Stand zusammen gebaut hast, gehen wir zum Schrein und begrüßen Amitabha!“ Hao sah Xin an. Sie war ihr dankbar, dass sie Amitabha in ihr Leben gebracht hatte. Er war das Licht. Allein ohne Chao in dieser roten Diktatur leben zu müssen, hatte sich immer kälter angefühlt. Erst das heilige Licht von Buddha Amitabha hatte das Glück in ihr Leben zurück gezaubert; tatsächlich war es sogar reiner und strahlender als jemals zuvor.

Die Kommunisten waren effizient, daran bestand kein Zweifel. Alles wurde permanent perfektioniert, besonders die Überwachung. Seit Corona war die Anzahl der Kontrollen und Überwachungskameras ins Unermessliche geschossen. Quasi überall wurde man kontrolliert. Doch die eigentlichen Probleme lösten die Machthaber nicht. Alles im Land dümpelte unaufhörlich dem Verfall entgegen. Hao stellte sich oft vor, wie in Sukhavati alles besser war. Statt der Kälte der Roten, würde sie dort das warme Mitgefühl der Buddhas erwarten. Statt dem ewigen Schuften für ein karges Hungerbrot, sorgte dort Amitabha mit seinen heiligen Kräften dafür, dass alle in Sukhavati genug hatten. Statt der Kontrolle und Überwachung gab es dort Freiheit, Weisheit und verständnisvolles Miteinander. Sukhavati war Haos Rettungsanker in dieser kalten sozialistischen Realität.

Als sie bei Amitabhas Schrein ankamen, strahlte die Abendsonne orange. Die Sonnenstrahlen tanzten auf den kleinen Statuen, die überall im Schrein standen. An den Seiten lagen noch die Reste der Absperrung herum. Tang konnte also noch nicht lange wieder da sein, dachte Hao, sonst hätte er schon längst alles aufgeräumt. Sie wusste, wie sehr er den Schrein liebte.

Sie betraten den kleinen Tempel, der mehr eine Überdachung mit drei verzierten Wänden war. Tang saß versteckt in der kleinen Seitenkoje und meditierte. Sein Bild war erschreckend. Obwohl er ruhig dasaß und mit geschlossenen Augen atmete, konnten die beiden Marktfrauen das Leid sehen, das sein Körper ausstrahlte. Hao und Xin verneigten sich vor der Statue des Buddha Amitabha. Er sah so schön aus wie immer, dachte Hao und fühlte sich erleichtert. Sie hatte Angst gehabt, die Polizisten hätten ihn zerstört oder beschädigt. Doch es wirkte, als ob kein Unheil der Welt ihrem Amitabha etwas anhaben könnte.

Nachdem sie sich verneigt hatten, warfen sie sich dreimal nieder, wie es Tradition war und nahmen bei jeder Niederwerfung die heilige Zuflucht zu den drei Kostbarkeiten. Diese waren der Buddha, seine Lehre der Dharma und die Sangha, also die Gemeinschaft aller, die dem Buddha auf dem heiligen Pfad folgten. Tang hatte ihnen erklärt, dass sie die drei Juwelen des Buddhismus genannt wurden, weil sie so kostbar waren. Tatsächlich hatte Hao von Tang fast alles über den Buddhismus gelernt, was sie wusste.

Als sie fertig waren, merkten sie, dass Tang seine Augen geöffnet hatte und sich langsam streckte. „Wir grüßen dich Bruder Tang“, sagte Xin und verbeugte sich vor ihm. Auch Tang faltete seine Hände und verbeugte sich schweigend. „Komm wir helfen dir“, sagte sie zu ihm und winkte dann Hao herbei, damit sie Tang aufhelfen konnten. Als Hao ihn berührte, zuckte er ängstlich zurück. Hao hielt inne, doch Xin meinte: „Keine Sorge Schwester Hao, es ist nur die Angst vor dem, was geschehen ist. Es hat nichts mit dir zu tun.“ Erst als ihr Freund Tang stand, sahen sie wie ausgemergelt er war. Sie mussten ihm wenig zu essen gegeben haben. „Bruder Tang“, sagte Xin ernst, „du siehst so aus, als ob du eine kräftige Suppe brauchst. Komm mit; wir gehen das kurze Stück zu meiner Wohnung und ich koche für uns!“

Tang wollte erst ablehnen, doch er kannte Xin. Sie würde keine Ruhe geben. Also stimmte er zu. Die beiden Frauen nahmen ihn in die Mitte. Die Drei gingen sehr langsam und wechselten wenige Worte. Tang schien sehr geschwächt zu sein und humpelte auf seinem rechten Bein. Für die drei Querstraßen bis zu Xins kleiner Wohnung brauchten sie mehr als eine halbe Stunde.

Als erstes fielen Hao die drei gelben Regenschirme auf, die neben Xins Wohnungstür in einem kleinen, runden Korb standen. Dann bemerkte sie den Geruch. Überall lag der Geruch von Kräutern in der Luft und reinigte ihre Lungen. „Alte, chinesische Medizin“, sagte Xin, als sie bemerkte wie Hao schnupperte. Die Wohnung bestand nur aus zwei Räumen, ähnlich wie Haos. Es gab eine Stube, die zugleich Wohn-, als auch Schlafzimmer war. Dann gab es die Küche, die in einer Nische auch über eine Dusche verfügte. Sie brachten Tang in die Wohnstube und setzten ihn in einen gemütlichen, alten Sessel. An manchen Stellen löste sich dessen Stoff bereits auf und andere waren schon geflickt worden. Doch der Sessel war weich und Tang begann zu lächeln, als er endlich saß.

Xin nahm Hao am Ellenbogen und schleifte sie in die kleine Küche. „Komm Schwester hilf mir!“, war Xins erste Anweisung. Viele weitere folgten. Zuerst setzten sie den Tee auf. Dafür holte Xin einen Mörser und Kräuter, gab sie Hao und wies sie an sie zu zerhacken und nebenbei Wasser aufzukochen. Sie selbst machte die Suppe auf ihrem alten Herd warm.

Es dauerte nicht lange und sie saßen zusammen um den kleinen Tisch im Wohnzimmer. Der Duft des Tees hüllte den Raum magisch ein und die vielen kleinen Amitabhastatuen, die überall auf den Hängeregalen und auf dem großen Schrank standen, schufen eine befreiende Atmosphäre. „Freund Tang“, sagte Xin, nachdem sie die Suppe gegessen hatten, „bitte erzähle uns, was dir passiert ist? Warum haben die Polizisten unseren Schrein abgesperrt?“ Zuerst entstand eine lange Pause, während der Tang betroffen den Kopf hängen ließ. Hao sah die tiefen Augenränder und die Sorgenfalten um seine Augen. So hatten sie ihn noch nie erlebt. Dann begann er zu erzählen, was passiert war.

Das Ministerium für Staatssicherheit war eines Tages einfach in seiner Wohnung aufgetaucht. Zuerst hatten sie ihn zuhause verhört und seine ganze Wohnung verwüstet, auf der Suche nach Beweisen oder belastendem Material. Dann hatten sie ihn mitgenommen. Er war dann tagelang gefangen gehalten und verhört worden. Dass der Schrein abgesperrt worden war, hatte er erst heute morgen entdeckt, als sie ihn wieder frei gelassen hatten.

„Aber warum Freund Tang?“, fragte Xin energisch, „warum haben die Polizisten dich mitgenommen? Hast du etwas ausgefressen?“

Wieder ließ Tang traurig den Kopf hängen, bevor er weitersprach: „Ich kann euch nicht alles sagen. Doch sie werfen mir vor, dass ich Menschen zur Flucht verholfen habe. Mein Bruder ist in Hong Kong ein wichtiger Vertreter der Demokratiebewegung. Sie denken, ich würde ihm und seinen Leuten helfen. Sie glauben sogar, der Schrein ist nur eine Tarnung für die Demokratiebewegung.“

Hao war verwundert, doch nicht überrascht. Sie hatte viele Gespräche mit Tang geführt oder vielmehr sich viel von ihm erzählen lassen. Während sie selbst eher ein ruhiges Wesen hatte, war Tang immer sehr redselig. Oft hatte er ihr von Amitabha erzählt und dem reinen Land Sukhavati. Aber er hatte auch oft gesagt, dass es möglich sein musste, ein reines Land auf Erden zu schaffen, in dem die Menschen frei und ohne Unterdrückung leben konnten. Sie hatte ihm zugestimmt, denn es hörte sich richtig an. Erst jetzt begriff Hao, dass das demokratisch und damit für die Roten konterrevolutionär gewesen war. Hao dachte an Amitabha und stellte sich das reine Land vor. Dann dachte sie an diese Welt und die Kälte zwischen den Menschen, die sie seit vielen Jahren störte. Instinktiv griff sie nach Tangs Hand. Er sah sie überrascht an.

„Freund Tang“, sagte sie, „sag mir, falls du meine Hilfe brauchst. Ich werde für dich da sein!“

Tang lächelte, doch erwiderte nichts. Stattdessen stand Xin auf und ging zu einem ihrer Hängeregale. Aus einem Stapel zog sie ein Buch heraus. Dann klappte sie es auf und legte es umgekehrt auf den Tisch. Der Umschlag wölbte sich jetzt leicht nach außen und aus dieser Wölbung fischte sie ein paar Zettel heraus. Einen davon gab sie Hao.

Hao war verwundert. Amitabha Buddha war dort abgebildet. Doch statt seiner üblichen Handhaltung hielt er einen gelben Regenschirm in die Höhe. Darunter stand in großen Buchstaben: Amitabhas reines Land ist demokratisch! Hao schluckte. Sie verstand nicht warum Amitabha einen Regenschirm hielt, aber ihr war klar, dass die Roten hart gegen Xin durchgreifen würden, falls sie diese Zettel auf der Straße verteilte.

„Die Regenschirm-Bewegung gibt es überall im Land“, erklärte Xin, „viele Menschen wissen es nicht, weil die Regierung die Medien zensiert und verhindert, dass wir Regenschirme unsere Meinung verbreiten dürfen. Wir wollen ein besseres China und wir tun es im Geiste der Buddhas, denn sie sind das Symbol der Freiheit.“ Danach entstand zwischen Tang und Xin ein Gespräch über die Regenschirme. Hao hörte aufmerksam zu. Vieles war für sie neu und manches verstand sie nicht.

Als sie später nach Hause ging, war sie verwirrt. Tang und Xin hatten ihr viel von ihrer kleinen Bewegung erzählt und den anderen Mitgliedern, die in Nanjing und auch überall im restlichen China aktiv waren. Sie hatte Xin immer für ein altes Mütterchen vom Markt gehalten. Niemals hätte sie gedacht, dass ihre Freundin eine politische Aktivistin sein könnte. Es machte ihr Angst und zugleich faszinierte es sie.

Als sie nach Hause kam, atmete sie tief durch. Dieser Tag war überraschend anders gewesen. Seit Jahren verliefen ihre Tage alle gleich. Das war okay, es störte sie nicht. Ihr Leben war einfach, sie hatte alles, was sie brauchte und ihre Praxis mit Amitabha machte sie sehr glücklich. Doch die Ereignisse des heutigen Tages erzeugten ein Kribbeln in ihrer Brust, dass sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Sie ging zu ihrem Schrein und warf sich lächelnd dreimal nieder, um die dreifache Zufluchtsformel zu sprechen. Im Kotau dankte sie Amitabha dafür, dass Tang wieder frei gelassen worden war. Dann nahm sie ihr kleines Kissen, setzte sich im Lotossitz darauf und rezitierte mit ihrer kleinen Mala aus geschnitzten Holzperlen Amitabhas heiligen Namen. Während sie Amitabhas Namen rezitierte, verbreitete sich eine magische Aura im Raum. Hao spürte heute eine Energie, die sie nie zuvor gespürt hatte. Es war anders als sonst. Amitabha wirkte noch immer rein und beruhigend. Doch diese Energie hatte etwas kämpferisches. Dann erschien ein Bild vor ihren geschlossenen Augen und sie wusste, wessen Energie das war: Kshitigarbha.

Sie wusste, wer er war und hatte schon oft seine kleine Statue im Schrein gesehen. Dort stand sie unten links vor Amitabha. Tang hatte ihr erklärt, dass er für die Ahnen stand und den Mut repräsentierte. Kshitigarbha, so hatte Tang ihr erzählt, soll der Bodhisattva sein, der freiwillig in die schlimmsten Höllen geht, um dort den Wesen zu zeigen, wie sie sich von ihrem Leid befreien können. Nun war seine Energie überall im Raum spürbar: Doch was wollte er von ihr?

Hao begann zu grübeln. Sie trank ihren Abendtee, bereitete Klöße vor und putzte sich dann die Zähne. Doch all das tat sie nur körperlich. Ihr Geist war woanders. Immer wieder dachte sie über Tang nach. Was war, wenn er wirklich im Untergrund für die demokratische Bewegung arbeitete? Sie hatte nie viel über diese Leute nachgedacht. Sie verstand zwar ihr Anliegen und wünschte auch die Roten wären nicht so allmächtig; vor allem deshalb weil sie offiziell gegen den Buddhismus waren. Doch bisher hatte sie nie darüber nachgedacht, sich an dieser Bewegung zu beteiligen. Denn sie kannte keinen einzigen der das tat. Aber seitdem ihr Xin die Flugblätter gezeigt hatte, war das anders.

An Schlaf war nicht zu denken. Ihr Gehirn kaute die merkwürdigen Erlebnisse immer wieder durch. Sie dachte angestrengt über jeden bisherigen Tag nach, den sie mit Xin verbracht hatte und warum sie nie auf die Idee gekommen war, dass Xin eine politische