Chroniken des Wahns - Blutwerk - Michael R. Fletcher - E-Book
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Chroniken des Wahns - Blutwerk E-Book

Michael R. Fletcher

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Beschreibung

Wahnsinnig spannend, wahnsinnig hart, wahnsinnig gut!

In einer Welt, in der der Wahnsinn regiert, ist ein Leben nicht viel wert. Nicht einmal das eines Gottes ...

In der Welt der Wahnwirker gibt es nur eine unumstößliche Wahrheit: Glaube ist Macht. Glaubt man nur fest genug an etwas, so wird es zur Realität. Und deshalb sind es die Wahnwirker, die hier die meiste Macht auf sich vereinen: Geisteskranke, deren Wahnvorstellungen so mächtig sind, dass sie wahr werden. Soziopathen, die so überzeugt von der eigenen Überlegenheit sind, dass ihr Umfeld ihnen dienen muss. Schizophrene, die sich in mehrere Körper aufspalten. Pyromanen, die mit nur einem Gedanken Feuer legen können. Männer und Frauen, die jederzeit kurz davorstehen, sich in ihrem Wahnsinn zu verlieren - und ihre Umgebung mit in den Abgrund zu reißen.

In dieser Welt kämpfen drei Fraktionen um das Leben eines Jungen: Ein Tyrann, der sich in ihm einen eigenen Gott erschaffen will, um selbst allmächtig zu werden. Ein Trupp Vagabunden, der diesen jungen Gott entführen will, um ein wahrhaft göttliches Lösegeld zu erpressen. Und ein Versklaver, der ihn benutzen will, um seine unbändige Gier nach Liebe zu stillen.

Es beginnt eine grausame Jagd, die am Ende nur Verlierer kennt - denn die Chroniken des Wahns werden mit Blut geschrieben.

"Höchst empfehlenswert!" Anthony Ryan, Spiegel-Bestseller-Autor

"Ein verstörender und origineller Fantasy-Roman!" Publishers Weekly

"Es gibt nicht viele Fantasy-Romane, die so intelligent, ambitioniert und exzellent geschrieben sind!" BOOKLIST

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Seitenzahl: 710

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Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Anmerkung des Autors

Anmerkung des Lektorats

Karte

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Danksagung

Glossar

Über den Autor

Michael R. Fletcher ist ein kanadischer Science-Fiction- und Fantasy-Autor, der bereits Kurzgeschichten in den unterschiedlichsten Zeitschriften veröffentlicht hat. Sein erster Fantasy-Roman Chroniken des Wahns – Blutwerk entstand aus dem Wunsch, etwas jenseits der normalen Fantasy-Klischees zu schreiben. Der Autor lebt mit seiner Frau und Tochter in einem Vorort nördlich von Toronto und war von 1997 bis 2010 Gitarrist in der Band »Sex without Souls«, die eine Mischung aus Goth, Rock und Metal spielte.

Mehr über den Michael R. Fletcher, seine Bücher und seine Musik finden Sie auf seiner Homepage: www.michaelrfletcher.com

Michael R. Fletcher

CHRONIKENDES WAHNS

BLUTWERK

Aus dem amerikanischen Englischvon André Taggeselle

BASTEI ENTERTAINMENT

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by Michael R. Fletcher

Titel der Originalausgabe: »Beyond Redemption«

Originalverlag: Harper Voyager

Published by arrangement with Michael R. Fletcher.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Mirka Uhrmacher

Textredaktion: Catherine Beck

Titelillustration: © Elm Haßfurth | www.elmstreet.org

Kartenillustration: Judy LaVerde

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2684-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

FÜRMEINE LIEBEN,EMMAUND CHARLOTTE

Anmerkung des Autors

Dies ist ein Roman über wahrgewordene Wahnvorstellungen. Als solches werden Ihnen die Klassifikationen der Wahnwirker vermutlich wenig sagen. Am Ende des Romans finden Sie eine knappe Erläuterung jeder Klasse und auch eine vollständige Liste der Figuren. Eine Menge zusätzlicher Informationen können Sie außerdem im Internet abrufen: http://michaelrfletcher.com/beyondwiki.

Oder Sie schmökern einfach und kommen selbst dahinter. Der schwierigere Weg ist ja manchmal der unterhaltsamste.

Diejenigen, die tatsächlich Deutsch verstehen, bitte ich um Entschuldigung.

Anmerkung des Lektorats

Alle Orte, Figuren und Wahnklassen werden im englischen Original mit deutschen Worten benannt. Der Autor hat zumeist beschreibende Begriffe gewählt und sie von einem Übersetzungsprogramm ins Deutsche übertragen lassen. Um einen ungestörten Lesefluss zu garantieren, haben wir uns, mit Genehmigung des Autors, dazu entschlossen, alle Namen für die deutsche Ausgabe neu zu übersetzen. Es wurde dabei versucht, den subtilen sprechenden Charakter der Begriffe beizubehalten. Im Glossar am Ende des Buchs finden Sie daher neben einer Erklärung zu den Orten, den Figuren und ihren Fähigkeiten sowie der Wahnklassen auch deren ursprüngliche Bezeichnung und Hinweise zur neuen Übersetzung.

Prolog

Die alten Götter wurden durch Kriege und Geistesqualen gebrochen, sie wurden taumelnd zurückgelassen wie blutig geprügelte Veteranen. Im Angesicht der Folgen ihres Handelns von Grauen befallen, zogen sie sich in den Wahnsinn zurück: Geisteskrankheit als Flucht. Sie versuchten sich zu befreien und flohen in eine Welt des Wahns, eine von Eifersüchteleien und Psychosen unberührte Welt, doch am Ende verpesteten sie sogar die. Ihre Not war so groß, ihre Flucht vor der bitteren Vergangenheit so verzweifelt, dass sie die eine Wahrheit missachteten, der sich alle beugen müssen.

Der Glaube bestimmt die Wirklichkeit.

Die wirren Ängste der alten Götter schlängelten sich in ihre Schöpfung und wurden wahr. Ihre finstersten Gedanken erwachten zum Leben. Die Bewohner, einst nur Figuren, die zur Unterhaltung erträumt worden waren, wurden stofflich und hegten eigene Wahnvorstellungen.

Träume wurden zu Albträumen, Albträume wurden Wirklichkeit und suchten die Erde als Nachtmahre heim, Fleischwerdungen der ältesten Ängste der Menschen.

Und der Kreislauf geht weiter.

Die Kreaturen, die den Wahnvorstellungen solch unvollkommener Götter entsprangen, können nicht auf geistige Gesundheit hoffen. Diese Albträume bestimmen eine neue Zeit, und die Götter, sprachlos vor Entsetzen über das, was sie angerichtet haben, schauen zu.

NEBRILE GHAST – HOHEPRIESTERDERBRUDERSCHAFTDES WAHNS

Kapitel 1

Wo der Wahn die Wirklichkeit regiert,ist der Wahnwirker König.

FORS STARKGEIST – UNTERDRÜCKERDER SCHWACHENUND PHILOSOPHDERTÄUSCHER

Die Nachwirkungen ihres letzten Auftrags zwangen sie nach Westen. Dem Gesetz einen immer kürzer werdenden Schritt voraus, erreichten sie eine weitere verfallende Freistadt.

Deckard hatte die Augen gegen den harschen Wind zusammengekniffen und ritt, von Robyn und Argos flankiert, stadteinwärts. Ratte, Deckards monströses schwarzes Schlachtross, ließ erschöpft den Kopf hängen. Sie waren stundenlang ohne Pause geritten – und Deckard war kein leichter Mann.

Er betrachtete die offensichtliche Armut und bezweifelte, dass dieser Ort je bessere Zeiten gesehen hatte. Die wenigen Gebäude, die aus Stein waren und nicht aus verzogenem blassen Holz, sahen aus, als würden sie gleich auseinanderfallen. Aber das war unwichtig, denn er hatte nicht vor, lange hier zu bleiben.

Glänzende Augen starrten sie forschend aus dunklen Gassen an, lauernde Nadelstiche der Verzweiflung. Nichts Neues. Er und seine Begleiter erregten immer Aufmerksamkeit – Deckard durch seine Größe und die Narben, Argos durch sein makelloses Aussehen.

Er warf einen Blick nach links zu Robyn. Die Ohren ihres Pferdes hörten nicht auf, ängstlich zu zucken, als erwartete es, ohne Vorwarnung geschlagen zu werden. Deckard konnte es dem Tier nicht verdenken – er empfand so ziemlich dasselbe, wann immer Robyn auf Armeslänge herankam. Sie ritt vornübergebeugt gegen den wehenden Staub an und bleckte ihre scheußlich gelben Zähne in einer wütenden Grimasse, die nur selten verschwand. Ihre rechte Hand lag auf dem Knauf ihres Schwertes. Falls sie irgendwer zu lange anstarrte, würde sie ihn wahrscheinlich töten. Nicht dass irgendwer sie je beachtete. Ein räudiger Hund, mager bis aufs Skelett, folgte ihnen ein paar Meter, bis Robyn ihre gelbsüchtigen Augen auf den Köter richtete. Winselnd wich der Hund zurück.

Deckard schaute Argos an. Der Kerl sah so verflucht vollkommen aus wie immer. Nichts auf der Welt konnte seiner ordentlichen Frisur oder dem makellosen Lächeln etwas anhaben.

Was für ein selbstverliebter Arsch.

Straßenstaub kratzte in Deckards ohnehin rauer Kehle, und das nächste Niesen schleuderte einen Batzen hellgrünen Rotz aus seiner Nase. Er fühlte sich schon seit einer Woche angeschlagen, und es gab nicht die Spur einer Besserung.

»Du klingst wie Scheiße, alter Mann«, sagte Argos.

»Es geht mir gut.« Er brauchte ein Gasthaus und ein warmes Bett. Bei den Göttern, für ein Bier hätte er jemanden erschlagen, egal, wie schal es war.

Robyn spuckte auf die Straße und brachte Ratte zum Scheuen. Selbst das Schlachtross hatte Angst vor ihr.

»Der Idiot hat recht«, sagte sie. »Wir sollten dich ins Bett bringen.«

»Das willst du doch schon machen, seit …« Als Robyn ihn wütend ansah, klappte Argos den Mund zu.

Wenn Deckard Glück hatte, brachten die beiden sich gegenseitig um und ließen ihn in Frieden. »Mein Pferd ist müde und mein Arsch tut weh.«

»Dein Pferd ist müde und dein Arsch tut weh, weil du alt und fett bist«, sagte Robyn. Die Ohren ihres Pferdes zuckten bei jedem Wort.

»Wie heißt dieser Pisspott von einer Stadt?« Argos lehnte sich lässig im Sattel zurück, während er die verfallenen Befestigungsanlagen und die schlampig uniformierten, gleichgültigen Wachen betrachtete. Vorsichtig schnupperte er in die Luft und rümpfte übertrieben angeekelt die perfekt geformte Nase. »Ich bitte um Entschuldigung: Dieser Ort ist kein Pisspott, er ist ein Scheißhaus. Völlig anderer Duft.« Er zeigte Deckard sein gerades, blitzend weißes Grinsen. Eine Windböe fuhr durch sein rotbraunes Haar, und einen Moment lang sah er aus wie ein Held: zwei schlanke Schwerter, die hinter seinen breiten Schultern hervorragten, muskulöse Arme, die sich bequem auf die Oberschenkel stützten. Teure Kleidung, eindrucksvoll zur Schau gestellt. Nur die Augen entlarvten den Auftritt als Lüge – sie waren grau und leer.

Wie kann so ein selbstverliebter, mordender Bastard nur so heroisch aussehen? Die Götter mussten wirklich wahnsinnig sein.

Deckard sah natürlich genauso aus wie das, was er war: ein alternder Krieger mit kaputtem Rücken, kaputten Knien, zu vielen Kriegsnarben und einer Vorliebe für Bier. Er hatte nie so gut ausgesehen wie Argos, auch nicht in seinen besten Jahren. In dem Fall wäre vielleicht alles anders verlaufen – aber das bezweifelte er.

»Ich hoffe, in diesem Misthaufen gibt es ein Gasthaus«, sagte Argos.

»Hast du je eine Stadt dieser Größe ohne Gasthaus gesehen? Und sie heißt Barrenfort … glaube ich.« Misstrauisch musterte Deckard die Stadtwachen – die sie weiterhin geflissentlich ignorierten – und kratzte sich die platt geschlagene Nase mit den Überresten seiner linken Hand. Die letzten beiden Finger fehlten; in einem sinnlosen Kampf vor vielen Jahren waren sie am ersten Knöchel durchtrennt worden.

Eine schwere Doppelaxt baumelte gut erreichbar an einer Lederschlaufe, die am Sattel seines Pferdes befestigt war, die Klinge war von heftigem Gebrauch schartig. Er blickte Robyn an. »Warst du schon mal hier?«

Robyn fuhr sich mit langen Fingern durch ihr verfilztes, schmutzig-blondes Haar. Es waren die Finger einer Musikerin, obwohl sie noch nie einen Ton gespielt hatte. Fahle, wässrig blaue Augen mit grünen Sprenkeln, deren Weißes kränklich und ungesund gelb aussah, schielten unter einem wirren Haarschopf hervor. Ihr wütender, unnachgiebiger Blick jagte umher, als ob sie nach etwas Ausschau hielt, das sie hassen konnte – und es sah nicht so aus, als würde sie lange suchen müssen. Sie blähte die Flügel ihrer Hakennase, als könnte sie das, was sie suchte, vielleicht am Geruch erkennen.

»Nein«, antwortete sie dann.

»Gut«, murmelte Argos.

Robyn blickte ihn finster an. »Warum gut?«

»Du wirst hier wahrscheinlich niemanden kennen.«

»Und?«

»Weshalb uns möglicherweise niemand töten will«, erklärte er.

Sie ging nicht weiter darauf ein. »Warum hier?«, wollte sie von Deckard wissen.

»Hier ist es besser als da, wo wir waren«, antwortete Deckard, ohne sie anzusehen.

»Wenn Argos sein Ding nicht in diese …«

»Hat er aber.«

»Wenn du deine Axt nicht in diesen …«

»Hab ich aber.« Deckard blickte sie schließlich doch an und runzelte die Stirn, als sie ihm ihre krummen, gelben Zähne in einer enttäuschten Grimasse präsentierte. »Wenn ich mich nicht irre, ist auch ein erheblicher Teil vom Besitz dieses besagten Adelsherrn verschwunden. Das Klauen hatte viel mit dem Töten zu tun.« Argos’ Vorgehen war der Auslöser für Robyns Diebstahl gewesen, aber Deckard verstand die genauen Zusammenhänge noch immer nicht. Der Schwertkämpfer hatte die Gemahlin des Adligen bestiegen, und Robyn hatte kurz darauf den Schmuck der Frau gestohlen. Nur ein Zufall? Bestimmt nicht. Jedenfalls befürchtete er das.

Robyn versuchte, betroffen und unschuldig dreinzuschauen, scheiterte allerdings kläglich. Argos’ Talent zur Täuschung ging ihr vollkommen ab.

»Du hast nicht zufällig etwas von dem Gold übrig, oder?«, fragte Argos sie. »Es wäre schön, ein wenig stilvoll unterzukommen.«

»Nein.«

Sie log ohne Zweifel, doch Deckard ließ es kommentarlos auf sich beruhen. Raffer logen immer, wenn es um Geld ging. Robyn konnte das so wenig lassen, wie Argos es lassen konnte, ein selbstverliebter Arsch zu sein, der andere beeinflusste.

»Wir haben genug übrig für bequeme Betten und was zu essen.« Deckard sah Argos an. »Oder?«

Der zuckte unverbindlich mit den Schultern. »Ich habe in letzter Zeit nicht in meinen Beutel geschaut. Wir haben auf jeden Fall Münzen … es sei denn, dieses hässliche Weib da«, er nickte zu Robyn hinüber, »hat uns bis aufs Hemd ausgenommen. Mal wieder.«

»Ich habe euch noch nie bestohlen!«, knurrte Robyn. »Außerdem gibst du doch der ersten Schlampe Geld, die die Beine breit macht.«

»Mach die Beine breit – mal sehen, ob ich …«

»Niemals!«

»Vielleicht, wenn Deckard …?« Argos ließ den Satz unvollendet und hob die Augenbrauen.

Robyn spuckte erneut aus, kauerte sich tiefer in den Sattel und ging dazu über, beide Männer mit Missachtung zu strafen.

Bei den Höllen, was war das denn? Deckard wollte es nicht mal wissen. Er dachte über seinen eigenen Geldbeutel nach. Als er zuletzt nachgesehen hatte, war er am Rande des Ruins gewesen, hätte aber schwören können, dass mehr darin sein müsste. Hatte Robyn sich bedient? Es spielte keine Rolle, sie lieh ihm immer Geld, wenn er sie fragte. Wahrscheinlich eh mein Geld. Unterwegs mit zwei Wahnwirkern musste man solche Sachen hinnehmen. Raffer stahlen und Täuscher beeinflussten andere. Wenigstens war Argos’ Talent zur Täuschung nur gering ausgeprägt; wonach er letztlich am meisten lechzte, war Aufmerksamkeit. Wenn der Schwertkämpfer stärker würde und Gefahr lief, ein Versklaver zu werden, würde Deckard ihn umbringen.

Als sich Robyn nicht provozieren ließ, schmollte Argos wie ein verwöhntes Kind, dem man die Süßigkeiten weggenommen hatte. »Glaubst du, dass es in dem Scheißhaus hier einen Schwertkämpfer gibt?«, fragte er Deckard.

»In jedem Scheißhaus gibt es einen Schwertkämpfer.«

»Und jedes Scheißhaus braucht einen besseren.«

»Und der bist du?«, fragte Robyn verächtlich.

Argos richtete seine leeren Augen auf sie, das Gesicht ausdruckslos. Er hielt ihrem wütenden Blick stand, bis sie wegschaute. Argos mochte nur ein schwacher Täuscher sein, aber wenige Menschen schafften es, diesem Ansturm an Willenskraft standzuhalten.

»Der Glaube bestimmt die Wirklichkeit«, sagte Argos, als würde er einem Dummkopf etwas erklären. »Ich glaube, dass ich der Größte Schwertkämpfer der Welt sein werde.«

»Ich glaube, dass du vorher stirbst«, entgegnete Robyn eisig, blickte aber immer noch woandershin.

»Mein Glaube ist stärker als deiner.«

»Wahngestörter Idiot.«

»Natürlich. Aber ich ziehe es vor, einfach zu glauben, dass ich so gut bin. Ich habe dreiundvierzig Größte Schwertkämpfer getötet. Mit einundzwanzig war ich Meister der Schwerter in Geldernmark. Eine nie dagewesene Ehre.«

»Ehre«, prustete Robyn.

»Sagt eine kleine Diebin. Eine untalentierte …«

»Talentiert genug, um dir deinen Beutel zu klauen!«

»Dumm genug, es mir zu sagen!«

»Ruhe!« Deckard schüttelte den Kopf und bereute es sofort. Ein dumpfer, pochender Schmerz breitete sich in seinem Schädel aus. Literweise Rotz mussten da drin sein. »Wie verfluchte Kinder. Wenn ich ein warmes Bett und eine weiche Frau gefunden habe, könnt ihr beide eure unsinnige Diskussion weiterführen. Bis dahin haltet verdammt noch mal das Maul.«

»Der alte Mann ist etwas grantig«, bemerkte Argos.

»Wenn du mich in eine deiner Streitereien verwickelst, Argos, bringe ich dich eigenhändig um. Mit einer Axt. Diesen Größter-Schwertkämpfer-Mist kannst du vergessen.«

»Ich könnte helfen, was die Frau angeht«, sagte Robyn.

Deckard tat, als hätte er sie nicht gehört, und suchte die Straße vor ihnen nach einem Gasthaus ab.

»Er hat weich gesagt«, betonte Argos und grinste Robyn an. »Nicht mal ein Schwein wie Deckard würde mit dir ins Bett steigen. Du bist einfach zu verdammt hässlich. Vielleicht, wenn du anbietest, ihm etwas von seinem Geld zurückzugeben, das du in der letzten Woche stibitzt hast …«

»Geld habe ich«, sagte sie laut genug, um sicher zu sein, dass Deckard sie gehört hatte.

Deckard schüttelte den Kopf und ballte die Überreste seiner kaputten Hand. »Ich gehe mit Huren ins Bett. Aber ich bin keine.«

»Wie viele Leute hast du in Unrath bestohlen?«, fragte Robyn.

Deckard winkte ab; eine scharfe, schneidende Geste mit seiner halben Hand. Sein Kopf war so von Rotz verstopft, dass er in kurzen, röchelnden Zügen durch den Mund atmen musste. Irgendetwas Trockenes rasselte tief in seiner Lunge. Herrlich. Noch ein Problem, mit dem ich mich rumärgern darf.

»Wie viele Leute hast du in den letzten sechs Monaten getötet?«, fragte Robyn.

»Ein Mann zeichnet sich durch das aus, was er nicht tut«, murmelte Deckard.

Ihre krumme Nase zitterte vor Abscheu. »Mord und Diebstahl sind also in Ordnung, aber Sex nicht?«

»Sex mit dir nicht«, sagte Argos. »Bestenfalls würde er wach werden und feststellen, dass du ihn bis aufs Hemd ausgeraubt hast. Im schlimmsten Fall hättest du einen deiner brutalen Anfälle, und er würde mit aufgeschlitzter Kehle erwachen.«

Deckard seufzte. Das war nicht die Unterhaltung, die er im Augenblick führen wollte. Oder überhaupt irgendwann. »Lasst es. Ich gehe nicht mit dir ins Bett, denn es ändert alles und macht das Leben schwieriger, als es schon ist.«

»Und weil du eine gottlose, hässliche, diebische Raffer-Hure bist«, fügte Argos hinzu.

Deckard überging Argos’ Einwurf und fuhr fort: »Wir arbeiten zusammen. Wir sind eine Gruppe. Eine Scheißgruppe, aber wir bringen die Dinge zu Ende. Wir sind keine Freunde, und wir sind todsicher keine Liebenden. Vergesst nie: Ich würde euch beide umbringen, wenn dabei Geld für mich rausspringt.«

»Hör auf, ich krieg ganz feuchte Augen.« Argos tat so, als würde er sich Tränen wegwischen. »Robyn, wirf mir ein paar Goldstücke rüber – sind vermutlich sowieso meine –, und ich besorg es dir.«

Robyns Stilett zischte heraus, und Argos lachte. Mit vorgetäuschter Lässigkeit lenkte er sein Pferd zur Seite und hielt sich sorgsam außerhalb ihrer Reichweite.

»Da, ein Gasthaus.« Deckard deutete die Straße hinauf. »Steck dein Messer weg, Weib. Schlitz ihm den Bauch auf, nachdem ich was getrunken habe.«

Kapitel 2

Die, die du erschlägst, werden dir im Todseitsdienen. Stirb in deinen Stiefeln und haltestets ein paar Münzen darin versteckt.Stirb mit einer Waffe in der Hand und zweiweiteren in Griffweite. Denn wenn du diese Weltverlässt, wirst du dich über die Dinge freuen,die du mit dir nimmst.

GLAUBENSBEKENNTNISDERKRIEGER

Ethenor der Geweihte, Theokrat der Geborenen, stand an einem der Fenster seiner Gemächer und überblickte das Zentrum von Egoloth. Die Straßen verliefen schnurgerade und vollkommen, von Nord nach Süd mit Namen versehen, von Ost nach West mit Ziffern. Eine geordnete, gesunde Stadt.

Es spricht nichts dagegen, dass dem Wahnsinn auch Klarheit entspringen kann, dachte Ethenor.

Diese Stadt, die Gesetze, denen sie verpflichtet war, die Landschaft, die sie umgab, die Einwohner, die sie bevölkerten … alles war eine Manifestation seines Wahns.

Nun, vielleicht nicht alles. Die Menschen, nahm er an, waren für sich genommen echt. Aber als er vor fast zwei Dekaden zum ersten Mal hierhergekommen war, ein kleiner Akolyth mit einem großen Traum, waren die Geborenen eine unbedeutende Splittersekte aus religiösen Fanatikern gewesen, die eine verrückt erscheinende Idee mit sich herumtrugen und keine Möglichkeit hatten, sie zu verwirklichen.

Er hatte sie verwirklicht.

Damals war Egoloth kaum mehr als eine weitere verfallende Freistadt gewesen, die das Pech hatte, auf so felsigem Erdboden zu stehen, dass man darauf nichts als unterernährte Ziegen und Büschel von zähem Gras heranziehen konnte. Er erinnerte sich, wie ausgehungerte Menschen zu der verfallenen Ruine der uralten Kirche gekommen waren, um die Messe abzuhalten. Er konnte nur vermuten, für welche Götter diese Kirche ursprünglich errichtet worden war. Sicher nicht für Menschen: Keine zwei Türen hatten dieselbe Größe, keine zwei Säle dieselbe Breite. Durchgänge weiteten und verengten sich scheinbar zufällig. In manchen Bereichen waren die Ausmaße so beeindruckend, dass es die Vorstellungskraft überstieg, anderswo mussten sich die Priester seitwärts drehen, um aneinander vorbeigehen zu können. Wirre Gedanken hatten dieses Gebäude erträumt. Die Geborenen beanspruchten es für sich, doch vorher hatte es generationenlang leer gestanden, beseelt nur von Geistern.

Ethenor veränderte all das. Restlos.

Eine Wahrheit lag jeder Entscheidung und jedem Wort zugrunde: Verändere, was das Volk denkt, und du veränderst die ganze Welt.

Er veränderte die Religion, denn er jagte die Geister aus dem uralten Tempel. Er gab den Menschen Hoffnung und brachte ihnen bei, an sich selbst zu glauben. Und viel wichtiger noch: Sie glaubten an ihn. Egoloth entwickelte sich zu einer wohlhabenden Freistadt, und die Priester waren unermüdlich darin, Kunde darüber zu verbreiten. Je mehr Menschen es gab, die an etwas glaubten, desto wahrer wurde es.

Seine Pläne würden bald Früchte tragen. Die Geborenen würden ihren neuen Gott bekommen, und Ethenor würde sein Schöpfer und Meister sein.

»Vorstellung«, sagte er, »ist Wirklichkeit.«

Einem Täuscher bedeutete diese Gewissheit alles.

Die Gestalten, die hinter ihm standen, schwiegen. Sie kannten ihn nur zu gut. Er hörte, wie sie scharrten, wie sie begierig darauf warteten, sprechen zu dürfen.

Ethenor stand da, die Füße aneinander, die linke Hand gedankenverloren um das schmale Kinn gelegt, die rechte Hand umfasste den linken Ellbogen. Seine privaten Gemächer wurden zusehends dichter bevölkert, und das war eine ernst zu nehmende Angelegenheit. Er blickte über die Schulter zu den drei anderen Männern, die sich im Zimmer befanden. Nein, es waren keine Männer. Es waren Aspekte. Ein bedeutender Unterschied.

Jeder Aspekt stand in deckungsgleicher Körperhaltung da, in dasselbe blühend purpurrote Gewand gehüllt, nur der Grad an Aufmerksamkeit, mit dem sie ihn ansahen, unterschied sie voneinander. Drei gleiche graue Augenpaare. Drei gleiche kahlköpfige Schädel. Auch wenn sie offenkundig Abbilder von Ethenor darstellten, wies jeder kleinere Mängel auf.

Nein, berichtigte er sich wieder. Mängel war ein zu starker Ausdruck. Eigenarten traf es vielleicht besser.

Der, der am nächsten bei ihm stand, zeigte ein hungriges, wildes Grinsen, ein Funkeln weißer Zähne. Der Blick des zweiten jagte umher, als befürchte er, jäh aus dem Dunkeln angegriffen zu werden. Der letzte sah aus, als wollte er auf die Knie sinken und um Vergebung für irgendeine unaussprechliche Sünde flehen, sein Gesichtsausdruck verlangte nach Lob und barg doch das Wissen in sich, dass er dessen nicht würdig war.

Wehleidiger Schwächling. Den letzten hasste Ethenor am meisten. Zu wissen, dass die Aspekte Eigenschaften seiner selbst darstellten, machte es nicht einfacher, sie anzunehmen.

Ethenor tröstete sich mit der Erkenntnis, dass niemand alles an sich mochte – und die meisten sahen sich auch nicht mit körperlichen Manifestationen ihrer eigenen Schwächen konfrontiert.

»Fort mit dir!«, befahl er. »Es verlangt mich nicht nach deinem feigen Rat.«

Der Aspekt blickte sich um, als würde er die dunkle Eichenvertäfelung und die verschwenderische Einrichtung im Raum ein letztes Mal betrachten, ehe er Ethenors festen Blick zaghaft mit einem Schulterzucken erwiderte. »Allem Anschein nach glaubst du das nicht.« Unterwürfig neigte der Aspekt den Kopf und sah zu Boden. Alles daran war gespielt. »Verzeihung.«

»Schweig, Duldsam. In die Ecke mit dir. Kein Wort.«

Der Aspekt nickte ergeben, doch Ethenor entging die leise Andeutung eines wissenden Schmunzelns nicht, als Duldsam schmollend auf die Ecke zuhielt. Zumindest gehorchte er noch, auch wenn es alles andere als ermutigend war, dass Ethenor den Aspekt nicht mehr zwingen konnte, zu verschwinden. Seine Wahnvorstellungen wurden stärker und gewannen die Kontrolle über ihr eigenes Dasein.

In einem von Messing eingerahmten Spiegel, der vom Boden bis zur Decke reichte, versammelten sich mehrere seiner Reflexionen und sahen hindurch, als ob sie an einem Fenster stünden. Lang gezogene, ausgemergelte Gesichter, kahle Köpfe. Ihre Münder bewegten sich, doch zu hören war nichts. Das alles entwickelte sich erst seit Kurzem, die Spiegelsicht war erst in den letzten paar Tagen über ihn gekommen. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis er ihre Stimmen würde hören können. Vorübergehend würden sie ihm wertvollen Rat geben oder schlaglichtartige Blicke in die Zukunft und an weit entfernte Orte gewähren. Doch eines Tages würden sie aus ihrer Welt hinter dem Spiegel steigen. Wenn es so weit war, würden sie ihn entweder töten oder ersetzen. Er wusste nicht, was er mehr fürchtete.

Falls meine anderen Wahnvorstellungen mich nicht zuerst erwischen.

Es war einerlei. Er würde seinen Gott kriegen, und Götter veränderten alles.

Einer der anderen Aspekte – Verlassen war der Name, den Ethenor ihm gegeben hatte – beugte sich vor, um ihm verschwörerisch ins Ohr zu flüstern: »Duldsam schmiedet ein Komplott gegen dich.«

Ethenor drängte den Aspekt zurück. »Und du nicht?« Er lachte, es klang wie ein freudloses Bellen.

Verlassen und Furcht, der dritte Aspekt, wichen vor Ethenors wütendem Groll zurück und senkten die Köpfe. Nur Duldsam blieb gefasst, das Gesicht der Ecke zugewandt.

»Du kannst ihm nicht trauen«, flüsterte Verlassen. »Duldsam trachtet danach, deinen Platz einzunehmen.«

»Und dir kann ich trauen?«

Verlassen hielt den Kopf geneigt, aber Ethenor sah sein angespanntes Lächeln. »Aber nein. Am Ende verlässt uns jeder. Genau wie unsere Eltern.«

»Meine Eltern«, blaffte Ethenor. »Du bist Einbildung.«

»Deine Eltern«, berichtigte Verlassen sanft. »Wenn Mutter dich verlassen kann, wer kann es dann nicht? Aus diesem Grund bin ich hier. Eine Einbildung, mag sein, aber ich bin deine Wirklichkeit.«

Ein vierter Aspekt erwachte zu fadenscheinigem Leben, ein sehr viel jüngerer Ethenor. Sein tränenüberströmtes Gesicht barg all den Verlust eines verlassenen Kindes, das plötzlich begreift, dass sich keine Menschenseele auf der Welt um es kümmern würde, es sei denn, es wäre von praktischem Nutzen. Ethenor richtete seine Aufmerksamkeit in die Gegenwart und verscheuchte den Aspekt. Dies war nicht der Zeitpunkt, alte Wunden aufzureißen, ganz egal, wie sehr sie eiterten.

»Dein Lieblingsgelehrter kommt«, fauchte Verlassen, von leidenschaftlichem Ekel erfüllt.

»Er ist mein Freund.«

»Wir haben keine Freunde«, entgegnete Verlassen. »Nicht wirklich.«

Der Aspekt hatte recht, und doch verkrampften sich Ethenors Kiefer und knirschte vor Wut. Einst waren sie Freunde gewesen, damals, ehe er beschlossen hatte, einen Gott zu erschaffen. »Er ist nützlich«, sagte Ethenor.

»Er hasst uns«, warnte Verlassen. »Ihm kannst du nicht trauen. Er ist bei klarem Verstand.«

»An dem Tag, an dem du mir zu Vertrauen rätst, werde ich wissen, dass ich in Schwierigkeiten bin.«

»In diesem Punkt muss ich Verlassen zustimmen«, schob Duldsam dazwischen, ehe Ethenors warnender Blick sein Gesicht wieder in die Ecke trieb. »Ich glaube, er mag uns nicht«, flüsterte der Aspekt. »Ich glaube, er mag auch dich nicht«, fügte er hinzu und warf einen flüchtigen Blick auf Ethenor. »Er denkt, du hast seine Idee gestohlen.«

»Ob er mich mag, kümmert mich nicht. Er muss nur von Nutzen sein.«

Duldsam schmunzelte, als durchschaue er die Lüge.

Meynall, der oberste Gelehrter der Geborenen, trat in Ethenors Privatgemach, machte eine tiefe Verbeugung und bemühte sich, die Aspekte des Hohepriesters nicht zu beachten. Sie wiederum taten ihr Bestes, Blicke wie Dolche aus Hass und Verachtung in seine Richtung zu starren. An guten Tagen fragte er sich, was dies darüber aussagte, was Ethenor von ihm, seinem obersten Gelehrten, wohl hielt. An schlechten Tagen erwog er, den geisteskranken Theokraten zu töten.

Was für ein Tag wird es wohl heute sein?

Ethenor aber war ein Täuscher von unbestreitbarer Macht. Meynall konnte nicht mehr als ein paar Minuten in der Gegenwart des Hohepriesters verweilen, bevor ihn die verblüffende Begabung, die Vorstellungskraft und die Tiefe seines Verständnisses überwältigten. Allein die Größenordnung seiner Pläne flößte ihm Ehrfurcht ein. Ethenor war kein Mann mit bescheidenen Absichten. Er dachte in Zeitspannen der Ewigkeit.

Die Zweifel kamen erst hinterher. In der Nacht lag Meynall wach und fragte sich, was Ethenor war: ein Genie oder ein verblendeter Wahnsinniger? Es ließ sich so verdammt schwer auseinanderhalten.

Vorstellung bedeutete Wirklichkeit, das verstanden Wahnwirker nur allzu gut. Hieraus zogen sie ihre Kraft, die sie zu etwas Besonderem machte, sie aus den Massen gewöhnlicher Menschen hervorhob. Doch Meynall durchschaute es. Die Ergebnisse seiner Versuchsanordnungen ließen ihn einen Blick auf die Wahrheit werfen.

Sie waren alle einfach nur verrückt.

Ja, Ethenor ganz besonders. Irre. Was für eine schreckliche Kindheit muss jemand gehabt haben, um so zu werden wie er? Eine faszinierende Frage. Vielleicht würde er später ein paar Versuche anstellen.

Meynall betrachtete den Mann, der früher einmal sein engster Freund gewesen war. Sie hatten sich als Akolythen im Dienst der Geborenen kennengelernt. Obwohl sie der fast gänzlich unbekannten Glaubensrichtung aus je verschiedenen Gründen beigetreten waren, hatten sich ihre Schicksale miteinander verwoben. War es wirklich so gewesen, dass sie erst richtige Freunde geworden waren, als Meynall jene Idee an Ethenor herangetragen hatte? Es war meine Idee, oder nicht?

Meynall verbeugte sich noch einmal, woraufhin sich Ethenor endlich dazu herabließ, in seine Richtung zu blicken. Erst jetzt bemerkte er dunkle Blutflecke auf dem Saum seines eigenen, blassblauen Gewands. Er erhob sich und streifte den Blick aus Ethenors grauen Augen. Zumindest war er einigermaßen sicher, Ethenor anzusehen, und nicht einen seiner Aspekte. Seine Augen, die so grau waren, als hätte man ihnen alle Farbe entzogen, bohrten sich in ihn. Er spürte die Schichten seiner Persönlichkeit unter prüfenden Blicken welken. Ethenor hielt seinen Blick fest und wollte ihn nicht mehr loslassen. Meynall war außerstande, sich zu rühren. Wie festgenagelt.

So ein Tag also. All seine Zweifel wurden wie vom Blutschwall einer zerrissenen Oberschenkelschlagader fortgespült. Ethenor war ein Mann, dem man folgen konnte, ein Mann, der die Götter so sah, wie sie wirklich waren. Seine Augen erblickten die Zukunft.

Als Ethenor schließlich den Blick von ihm löste, taumelte Meynall zurück. Er nahm sich einen Moment Zeit, sein pochendes Herz zu beruhigen. Die wütenden Blicke der Aspekte empfand er als giftige Spinnen, die über seine Haut krabbelten.

Einer der Aspekte – Meynall konnte sie unmöglich auseinanderhalten – beugte sich zu ihm herüber und flüsterte: »Ich weiß, was du denkst, krummzahniger, schmieriger Ferkelwemser.«

»Verlassen«, herrschte Ethenor ihn an, »lass ihn in Frieden. Meynall, alter Freund, du hast etwas zu berichten, nehme ich an?«

Meynall stammelte, sich seiner schiefen Zähne und der fettigen Haarbüschel, die rings um seine Ohren wuchsen, plötzlich mehr als bewusst. »J-ja. Ein weiterer der jungen Götter hat Selbstmord begangen, Hohepriester.« Ihm brach der Schweiß aus. Seine linke Hand konnte sich nicht entscheiden, ob sie seine schiefen Zähne vor Blicken schützen oder emporhuschen sollte, um seine Haare glattzustreichen.

Ethenor wandte sich um und starrte auf den Aspekt, der das Gesicht immer noch in die Ecke des Raums gewandt hielt. »Sally?«

Meynall blickte unsicher blinzelnd auf Ethenors Rücken. Welches Gefühl verbirgt er vor mir? »Ja.«

»Sie war sowieso zu verdammt klug. Hat immerzu Fragen gestellt. Sie wollte einfach nicht hinnehmen, was ich ihr gesagt habe. Misstrauisches kleines Ding.« Ethenor wandte sich um und betrachtete Meynall mit leicht angehobener Augenbraue. »Ich frage mich, woher sie das hatte.«

»Dieselben Leute, die Zugang zu Sally hatten, haben auch Zugang zu Morgan«, wandte Meynall ein. »Und er zeigt keine dieser Eigenschaften. Die Wahrscheinlichkeit, dass es an ihrer Persönlichkeit lag, ist also hoch.«

»Morgan ist vollkommen«, sagte Ethenor.

»Seine Unschuld und sein Vertrauen gehen bis zum Äußersten«, betonte Meynall.

»Das habe ich gemeint. Und ich will, dass es so bleibt. Nur du und ich – abgesehen von seiner Leibwächterin – dürfen sich von nun an in seiner Gegenwart aufhalten. Ich will nicht, dass ihn Zweifel befallen.«

Mögen die Götter bewahren, dass der Junge noch lernt, eigenständig zu denken. »Gewiss«, erwiderte Meynall. Wie hatte es mit seinen Plänen so weit kommen können? Als Gelehrter kämpfte er gegen Unwissenheit auf allen Seiten, und dennoch war er derjenige, der Morgan unbequeme Wahrheiten vorenthielt. Vielleicht belog er den Jungen nicht direkt, aber er verschwieg ihm doch Dinge, die er erfahren musste. Ich sollte Morgan alles sagen, ihm ermöglichen, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.

Aber Morgans Entscheidungen waren bereits für ihn getroffen worden. Wie bei allen anderen vermeintlichen Göttern, die die Geborenen zu erschaffen versuchten, hatte man ihm sein ganzes Leben lang eingeschärft, dass er eines Tages zum Gott der Geborenen aufsteigen und den Einwohnern von Egoloth dienen würde. Sklaverei, verkauft als Tugend.

Sie hatten mit zehn Kindern begonnen, die im Verlauf des letzten Jahrzehnts allesamt, eins nach dem anderen, zerbrochen waren. Zügelloser Wahn, gespeist durch die Geborenen und den Glauben, der in Egoloth herrschte, hatte sie zermalmt; einige verbrannten, andere faulten bis zur Zersetzung vor sich hin. Alle erreichten sie den wankenden Höhepunkt ihrer Macht und stürzten, als die Masse ihrer Wahnvorstellungen sie hinabzog, sie in Schwachsinnigkeit ertränkte. Kein einziges war aufgestiegen. Sally war einfach nur diejenige, die dieses Schicksal zuletzt ereilt hatte. Und nun war Morgan, der reinste und unschuldigste Geist, dem Meynall je begegnet war, alles, was noch blieb.

Wenn er gewusst hätte, dass sein Plan den Tod von neun Kindern zur Folge hätte – hätte er ihn trotzdem an Ethenor herangetragen?

Götter vergebt mir, ich glaube schon.

»Wie ist Sally gestorben?«, fragte Ethenor und riss Meynall aus seinen Gedanken.

»Sie hat sich die Handgelenke zerbissen. Verblutet. Sie hat es noch geschafft, die Wände zu beschreiben, ehe sie das Bewusstsein verlor.«

»Mit ihrem eigenen Blut, schätze ich?«

»Aber ja.«

»Irgendwas von Bedeutung?«

»Ich habe eine Wendung gelesen, die sie wieder und wieder hinterließ. ›Wir taugen nur zu erbärmlichen Göttern‹. Ich bin mir nicht sicher, was sie damit meinte. Vielleicht, dass die Geborenen nur minderwertige Götter erschaffen können, oder dass sie selbst nach ihrem Aufstieg eine erbärmliche Göttin gewesen wäre. Ich habe Schwester Loss angewiesen, das nachzuprüfen.«

»Loss kann man nicht trauen«, sagte Verlassen. »Sie könnte dafür sorgen, dass sich Sallys Tod herumspricht.«

»Das können wir im Moment nicht brauchen, richtig?«, fragte Ethenor und nagelte Meynall mit seinen grauen Augen fest. »Töte Loss, sobald sie ihre Aufgabe erledigt hat. Teile mir ihre Ergebnisse mit.«

»Selbstverständlich«, antwortete Meynall mit ausdrucksloser Miene.

Doch Ethenor durchschaute die Fassade seines obersten Gelehrten. »Ich weiß, dass es schwer ist.« Er legte die Hände auf Meynalls schmächtige Schultern und zwang ihn, seinen Blick zu erwidern. »Dieser Fehlschlag könnte die Saat des Zweifels in sich tragen, die wir uns nicht leisten können.« Seine langen Finger gruben sich in das weiche Gewebe. »Zweifel bedeutet Versagen.«

Meynalls Wille bröckelte unter dem starren Blick seines Hohepriesters. Er sah nichts als dessen farblose, graue Augen. Die Finger fühlten sich an wie Aaswürmer, die sich tief in sein Fleisch bohrten. »Aber …« Schweiß strömte ungehindert sein Gesicht hinab. »Haben wir nicht längst versagt? Nur ein einziger Gott ist noch übrig!«

»Natürlich nicht. Dachtest du, ich habe angestrebt, viele Götter zu erschaffen? Nein.« Er sprach mit solcher Überzeugungskraft, dass Meynalls Zweifel in der glühenden Hitze der Offenbarung verglommen. Ethenor lächelte seinen obersten Gelehrten warmherzig an. »Dies ist ein Freudentag. Ein ruhmreicher Tag. Nun wissen wir, welcher unserer Prüflinge aufsteigen wird.« Er nahm die Hände von Meynalls Schultern, und der Gelehrte war mehr als überrascht, dass sie nicht blutverschmiert waren.

»Ich bitte um Entschuldigung für meinen Augenblick der Schwäche, Hohepriester.« Meynalls Herz füllte sich mit neu zum Leben erwachter Überzeugung. »Jetzt ist es offensichtlich. Natürlich kann es nur einen Gott geben. Ich stand der Versuchsanordnung zu nahe, nehme ich an. Ich war geblendet.«

»Keine Sorge, mein Freund.« Ethenor klopfte Meynall auf den Rücken, als wären sie die engsten Gefährten – was, vor langer Zeit, durchaus gestimmt hatte. »Deine Aufgabe sind stets die Kleinigkeiten gewesen. Mir steht es zu, das Ganze zu sehen, aber ohne dich wären wir verloren. Du bist das Herz dieses Unterfangens.« Ethenor wandte sich an seine versammelten Aspekte. »Ohne meine Freunde bin ich nichts. Völlig allein. Du stehst doch hinter mir, oder? Meynall? Ohne dich kann ich es unmöglich schaffen.«

Meynall vollführte eine tiefe Verbeugung. Solange er atmete, würde er Ethenor nicht im Stich lassen. Im Dienste dieses großen Mannes würde Meynall alles geben. Alles.

»Ich werde dich niemals verlassen«, schwor er aufrichtig.

Als die schwere Eichentür hinter Meynall ins Schloss fiel, kicherte Verlassen. »Er wird dich verlassen. Sie werden dich alle verlassen.«

Ethenor warf seinem Aspekt ein trauriges Lächeln zu. »Ja. Aber jetzt noch nicht. Ist dir aufgefallen, dass er kein einziges Mal das Wort ’Vertrauen’ verwendet hat? Der Tag, an dem er mir sagt, dass ich ihm vertrauen kann, ist der Tag, an dem er stirbt.«

Furcht hustete unbehaglich. »Aber du erzählst den Leuten stets, dass sie dir vertrauen können.«

»Richtig.«

Verlassen gestikulierte in Richtung der geschlossenen Tür. »Du hast ihm erzählt, der Plan sähe vor, dass nur einer aufsteigt.«

»Ja.«

»Aber wir wollten …«

»Ich wollte.«

»… du wolltest, dass so viele wie möglich aufsteigen. Wenn nur ein Kind übrig ist, sind unsere … deine Pläne in großer Gefahr. Falls dem Kind etwas zustößt …« Verlassen führte den Gedanken nicht weiter.

»Du hast ihn belogen«, bezichtigte Duldsam ihn, das Gesicht nicht länger der Ecke zugewandt. »Ich dachte, er wäre unser Freund.«

»Jede Verständigung bedeutet Beeinflussung«, erklärte Ethenor. »Jede Beziehung, zwischenmenschlich oder sonst wie, ist ein Mittel, sich zu beschaffen, was man benötigt. Dies ist die Grundlage der Gesellschaft.« Er lief auf und ab, und der Saum seines purpurroten Gewandes strich über den reich mit Teppichen ausgelegten Boden. »Ich brauche Meynall, und er braucht mich. Jede Freundschaft beruht auf einem gewissen Maß gegenseitiger Abhängigkeit. Verlangen und erfülltes Verlangen. Ohne mich wäre Meynall nichts, ein kleiner Mann mit kleinen Träumen. Ohne Meynall hätte ich große Schwierigkeiten, meinen Gott zu erschaffen. Wir brauchen einander. Wir gebrauchen einander.« Ethenor zeigte Duldsam ein breites Grinsen. Das würde den Aspekt erst einmal beschäftigen. »Wenn er mich hintergeht – und das wird er, daran besteht kein Zweifel –, werde ich ihn umbringen.« Ethenor betrachtete seine Aspekte mit verschleiertem Blick. »Was das angeht, könnt ihr mir trauen.«

Duldsam lachte, ein leises Glucksen. »Und ich ging davon aus, dass ich nicht bloß dein Bedürfnis nach Zugehörigkeit verkörpere, sondern auch deinen Sinn für Humor.«

»Das war kein Scherz«, sagte Ethenor.

Enttäuscht blickte Duldsam zu Boden. »Oh.«

Ethenor schickte seine drei Aspekte in ein anderes Zimmer, um mehr Raum zum Nachdenken zu haben. Mit ihren Wünschen nach Aufmerksamkeit und ihren ständigen Kämpfen und Streitereien belagerten sie seinen Verstand. Einen Moment lang dachte er, sie würden sich weigern zu gehen, bis Duldsam mit geneigtem Kopf den Raum verließ und die anderen ihm eilig folgten.

Es war nicht lange her, da hatte er sie mit etwas gezielter Willensanstrengung dazu gebracht, sich zu verflüchtigen und völlig zu verschwinden. Jetzt hatte er schon Probleme, sie in einen anderen Raum zu beordern, und eines Tages würde er überhaupt nicht mehr in der Lage sein, sie zu bannen. Sie waren sein Fluch und ein sicheres Anzeichen seiner enormen Machtfülle. Leider wuchs mit dieser Macht auch der Widerstand seiner Aspekte. Der Tag rückte näher, an dem sie ihm nicht länger gehorchen würden. Sie würden ihn in jedem Augenblick bedrängen, auf ihn einflüstern, wenn er zu schlafen versuchte. Seine Gedanken wären verseucht.

Und dann würden sie ihn stürzen. Seine Wahnvorstellungen würden in stürzen, ihn vom Thron seines Verstandes stoßen und seinen Geist verschlingen. Es gab keine Möglichkeit, vorab zu wissen, wie es geschah. Vielleicht würde er für immer in einen Spiegel gezogen und dort eingeschlossen werden. Er mochte die Verbindung zu seinem Ich verlieren und außerstande sein, zwischen seinen Aspekten und sich selbst zu unterscheiden. Der Stärkste von ihnen würde vortreten und die Führung übernehmen. Und Ethenor würde zu einem winselnden Aspekt des neuen Ethenor verkommen.

Einem Wahnwirker drohten so viele Arten, das Zeitliche zu segnen. Er hatte von den Somasenilen gehört, deren Körperteile aufbegehrten und die Herrschaft über ihren Geist einforderten. Das Schicksal der Aaslinge aber jagte ihm die größte Angst ein. Der Gedanke, dass sein Fleisch verfaulte oder seine inneren Organe vor sich hin rotteten und verschwanden, war albtraumhaft.

Ethenor saß an seinem Schreibtisch, einem schweren, verzierten Ungetüm aus massivem Holz. Er hatte ihn in einem der untersten Kellergeschosse der Kirche aufgespürt und für sich beansprucht. Er nahm an, dass er aus einer Art Kirschholz gefertigt war, so dunkelrot, dass es beinahe schwarz wirkte. Unordentliche Papierstöße bedeckten die Oberfläche. Sämtliche Handelsgeschäfte der Geborenen wurden von ihm selbst abgewickelt. Er war der Mittelpunkt von allem. Egoloth wäre ohne seine dauernde Aufmerksamkeit nicht das, was es war.

Bei den Göttern, es ist still hier drin. Die Reibereien der Aspekte störten seine Konzentration, aber sie waren auch nützlich. Obwohl es sich um kaum mehr als Selbstgespräche handelte, wenn er mit ihnen redete, gab es etwas an diesem lauten Nachdenken, dass sich für ihn auszahlte. Sie mochten zwar bloß Teile seiner Persönlichkeit sein, doch sie waren geballte Teile, verdichtete Bruchstücke seiner Seele. Jeder Aspekt verdeutlichte etwas anderes, und auch wenn sie danach strebten, ihn zu stürzen, brauchten sie ihn so sehr, wie er sie brauchte. Dieses gegenseitige Bedürfnis kettete sie aneinander.

Eines Tages werden sie mich weniger brauchen als ich sie. Die Bedürfnisse anderer waren der entscheidende Punkt, an dem seine Wahnwirkerkräfte die Welt aus den Angeln heben konnten. Bedürfnis ist Schwäche.

Die Stille des Zimmers lastete wie ein schweres Gewicht auf seinen Schultern. Er vermisste fremde Stimmen. Zu viel Zeit allein ließ ihn mit einem Gefühl der Schwäche und der Erschöpfung zurück. Zweifel breiteten sich in ihm aus. In Kürze würde er sich aus seinem Studierzimmer herauswagen, sich mit seinen Priestern umgeben und in ihrer Zuwendung baden.

Er nahm das nächstbeste Blatt Papier zur Hand und schaute darauf: Berichte der Geborenengemeinde in Gottlos, einem dreckigen Kaff südlich von Egoloth. Grim, ein belangloser, schwacher Wahnwirker, verlangte von der ausländischen Kirchengemeinde Steuern in maßloser Höhe. Ärgerlich, aber kaum der Rede wert. Gottlos würde schon bald Ethenor zufallen. Bis dahin würde er bezahlen, was der diebische kleine Scheißkerl verlangte.

Ethenor brummte und hieb auf den Schreibtisch, der Zorn durchschoss ihn wie ein Sturm aus heiterem Himmel. Er zerknüllte den Bericht mit bebender Faust.

»Dieser schmutzige Dieb ist lächerlicher als ein Nichts«, knurrte er und rang um Konzentration, um die Arbeit tun zu können, die getan werden musste. »Er ist nur deshalb in Sicherheit, weil er es nicht wert ist, dass man ihn vernichtet.«

»Er ist in Sicherheit, weil es größere Probleme gibt, um die du dich kümmern musst«, flüsterte Furcht hinter ihm.

Ethenors Schultern sackten zusammen. »Ich habe dir befohlen, zu gehen.«

»Du grämst dich.«

»Ich werde damit fertig.«

»Es ist nur noch ein Gott übrig. Wenn er scheitert, ist es zu spät, um neu anzufangen. Deine Wahnvorstellungen gewinnen an Kraft. Die Zeit läuft dir davon.«

»Meynall wird mich nicht im Stich lassen«, versicherte Ethenor.

Verlassen, der neben dem anderen Aspekt stand, lehnte sich näher heran. »Alle verlassen dich. Der Gelehrte wird scheitern.«

»Nein«, beteuerte Ethenor. »Dieses Kind ist das Eine.«

»Wen versuchst du hier zu überzeugen?«, lachte Furcht.

Schwester Loss trat vor Meynall, der an seinem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch saß, auch wenn der oberste Gelehrte der Geborenen vielleicht keine eindrucksvolle Figur abgab, dick und rund, mit seinen schlechten Zähnen und dem fettigen Haarkranz, die Priesterin wusste es besser.

Die Wissenschaft, das hatte sie gelernt, war ein furchterregendes und blutiges Geschäft. Sie hatte bei genügend von Meynalls Versuchen geholfen, um vor der beharrlichen Wissbegier dieses Mannes mehr als nur ein wenig Respekt zu entwickeln. Auch wenn Meynalls Bereitschaft, für Antworten alles erdenkliche zu tun, schlicht an Wahnsinn grenzte. Sie hatte zugesehen, wie er Familien folterte, um herauszubekommen, ob er Wahnwirker erschaffen konnte, oder ob Wahnvorstellungen etwas waren, das den Menschen in die Wiege gelegt wurde. Sie hätte augenblicklich geschworen, dass Meynall selbst ein Wahnwirker war, wenn sich nur ein einziges Mal eine Wahnvorstellung manifestiert oder er Anzeichen dafür gezeigt hätte, irgendetwas anderes zu sein als bei kaltem, gefährlichem Verstand.

Aber nein, Verstand stimmte nicht. Er mochte nicht unbedingt wahnsinnig sein, aber er war auch nicht zwangsläufig menschlich.

Er starrte sie mit funkelnden Augen an. Seine Stirn glänzte, seine Finger trommelten in einem unrhythmischen Stakkato auf den Schreibtisch. Er wandte den Blick ab, verzog das Gesicht und richtete die Augen erneut auf sie. Weshalb war er so nervös? Seine Unruhe machte ihr Sorgen. Habe ich etwas Falsches getan?

»Sprich«, forderte er.

»Ich habe Sallys Zimmer durchsucht«, begann sie.

»Und?«

»Blut ist nicht das allerbeste Mittel, um lesbare Nachrichten zu hinterlassen.« Meynalls Blick machte unmissverständlich klar, dass er nicht zu Scherzen aufgelegt war. »Verzeihung.«

Er winkte ab. »Die Kurzfassung.«

»Gut.« Loss dachte an das geistesgestörte Gekritzel, das zu entziffern sie Stunden gekostet hatte, an die zerfetzten Wülste der Handgelenke, die das junge Mädchen sich mithilfe ihrer Zähne geöffnet hatte. »Sally schrieb sehr oft ’Wir taugen nur zu erbärmlichen Göttern.’ Ich glaube, sie meinte damit, dass aufgestiegene Menschen ein schwacher Ersatz für echte Götter sind.«

»Unser Gott wird echt sein.«

»Natürlich. Ich meinte nur …«

»Weiter.«

Loss biss sich auf die Unterlippe und sammelte sich. »Sally schrieb darüber, was für eine Last es war zu wissen, dass sie zu einer Gottheit aufsteigen würde. Sie sagte, die Erwartungen eines ganzen Volkes lägen wie Blei auf ihrer Seele. Sie sagte, dass sie sich vor dem Tod fürchte und …« Loss zögerte.

»Und?«, fragte Meynall.

»Sie schrieb von Zwang und Gewalt, und dass sie keine wahre Göttin des Volkes sein könne, außer, wenn sie aus eigener Kraft aufsteigen würde. Sie schrieb von Marionetten und vom Todseits.«

Die Blicke des obersten Gelehrten schnitten Loss in Stücke. »Woher hat sie diese Ideen?«

»Sally war klug, klüger als alle anderen. Sie könnte von allein darauf gekommen sein.«

»Und obwohl sie sich das Leben genommen hat, ist sie dennoch nicht aufgestiegen«, sagte Meynall betrübt und schüttelte enttäuscht den Kopf.

»Glauben die Menschen denn nicht, dass sie ihr Gott sein wird?«

»Nein. Die Menschen glauben, dass wir ihren Gott erschaffen. Sie haben keinen Schimmer von den jeweiligen Einzelpersonen. Ein solcher Gott wird Sally niemals werden – dafür wird Ethenor schon sorgen.«

»Dann ist also bloß ein einziger übrig.«

»Ja. Morgan. Er wird unser Gott. Wie Ethenor es die ganze Zeit über geplant hat. Die anderen – lediglich Versuchsobjekte. Morgan ist die Krönung. Wir werden es den Menschen berichten, das Volk muss seinen Namen erfahren. Ihr Glaube wird seinen Aufstieg gewährleisten.«

»Ist es das, was ich als Nächstes tun soll?«, fragte Loss.

Der oberste Gelehrte schluckte schwer, er sah krank aus. Sein unnachgiebiger Blick jagte durch das Zimmer, seine Finger trommelten.

Er versucht, eine Entscheidung zu treffen, begriff sie. Worüber? Hatte sie etwas getan, das ihn verärgerte?

Endlich sah ihr Meynall in die Augen. »Ja, aber nicht hier. Ich muss dich fortschicken, und zwar nach …« Er leckte sich die Lippen. »… nach Gottlos. Es gibt dort eine kleine Gemeinde. Teile Bischoff Zarlat mit, dass du von mir geschickt wurdest. Du wirst dabei helfen, Morgans bevorstehenden Aufstieg zu verkünden.«

Gottlos? Diese jämmerliche, stinkende, unbedeutende Jauchegrube im Süden? Loss bewahrte ihr ausdrucksloses Gesicht. »Natürlich, wie Ihr befehlt. Ich werde gleich anfangen zu pack-«

»Nein, wirst du nicht! Hol dir ein Pferd und reite sofort los. Sag niemandem, dass du gehst.«

»Sofort?«

»Bevor ich es mir anders überlege.«

Was ist denn los,bei den Höllen? Was will er sich anders überlegen?

Sie wich zurück und deutete eine flüchtige Verbeugung an. An der Tür hielt sie noch einmal inne, die Hand gegen das dicke Holz gepresst. »Werde ich zurückkommen?«, fragte sie zögerlich.

Meynall starrte auf seinen Schreibtisch. »Mag sein. Geh. Jetzt.«

Loss eilte aus der Kammer des obersten Gelehrten.

Kapitel 3

Wenn unsere Welt von Wahnvorstellungenbestimmt wird, kann es keine Wahrheit geben.Wenn es keine Wahrheit gibt, wie kanndann etwas Lüge sein?

RIVA ORDIL – PHILOSOPH

Das Gasthaus umfasste vier runde Tische, die aus zur Seite gekippten Wagenrädern gemacht waren. Obenauf lagen mehrere grob bearbeitete Bretter. Zwei beachtliche Kisten, auf denen durchgebogene Holzlatten lagen, bildeten die Theke. Umgedrehte kleinere Kisten dienten als Stühle.

»Einwandfrei«, verkündete Deckard, der sich schwerfällig an den einzigen freien Tisch setzte. Sein Rücken schmerzte.

Argos blickte sich in der Schankstube um, sog Luft durch die Nase und tönte: »Scheißhaus.« Ein halbes Dutzend Stammgäste drehte sich um und betrachtete die Neuankömmlinge.

Robyn saß wie immer Deckard gegenüber. Sie spähte in die Ecken und hielt ihm den Rücken frei.

Argos blieb stehen und blickte quer durch den Raum. Er begegnete dem Blick eines jeden Stammgastes und wartete, bis sie wegschauten. »Ein Scheißhaus«, betonte er ausdrucksvoll. »Von Ungeziefer befallen. Von Ratten und schwanzlosen Schwanzlurchen.«

Deckard löste die Axt von ihrem angestammten Platz auf seinem Rücken und wuchtete sie auf den Tisch. Die alten Bretter ächzten unter ihrem Gewicht. »Wenn du auf Streit aus bist, geh woanders hin. Ich will hier in Ruhe sitzen und was trinken.«

»Aber wenn ich woanders Streit anfange«, gab Argos zu bedenken, »bist du nicht da, um mir Rückendeckung zu geben.« Als er sah, dass sich Deckard nicht rührte, gab er ein Grunzen von sich und nahm Platz. »Langweilig.«

»Nur langweiligen Leuten ist langweilig«, sagte Deckard und überging Argos’ gekränkten, irritierten Blick. »Hol uns ein paar Bier.«

Argos gab den vorgetäuschten Kummer ohne ein Wort auf, rührte sich aber nicht. Er starrte zum Wirt, bis dieser unter dem Einfluss seiner toten Augen förmlich dahinwelkte. Der junge Schwertkämpfer blinzelte kein einziges Mal. Kaum eine Minute später standen drei Krüge mit warmem Bier auf ihrem Tisch.

Vier Bier pro Kopf später öffnete sich die Tür zum Schankraum, und ein trockener Windstoß blies ihnen Straßenstaub in ihre Krüge und Augen. Deckard vernahm das einhellige Stöhnen der übrigen Gäste, die bis zu diesem Augenblick bedächtig still gewesen waren. Um Argos’ Blick nicht zu begegnen, vermieden sie es tunlichst, zu der dreiköpfigen Gruppe hinüberzusehen. Selbst der Wirt sah sie weder an, noch sagte er ein Wort, wenn er ihnen frische Krüge brachte.

Robyn blinzelte sich den Staub aus den Augen und spähte zur Tür. Sie seufzte. »Götterverdammtes Priesterweib.«

Argos drehte sich zur der Frau in der Tür um und nickte anerkennend. »Was haben wir denn da für ein leckeres kleines Ding?«, rief er laut.

Deckard genoss die Verwunderung des Schwertkämpfers, als die junge Frau, anstatt zurückzuschrecken und kehrtzumachen, gezielt an ihren Tisch kam. Großartig. Noch so eine verrückte Geistliche, die versucht, unsere verlorenen Seelen zu retten. Wenn sie nur die leiseste Ahnung von den Leuten gehabt hätte, denen sie sich gerade näherte, hätte sie sich umgedreht und wäre davongelaufen.

»Seid gegrüßt, Reisende.« Die Priesterin trug lange, staubige Gewänder und konnte keinen Tag älter als zwanzig sein. Sie stand vor ihrem Tisch und sah vollkommen entspannt aus.

Deckard musterte sie und versuchte, sich ein Bild von dem zu machen, was möglicherweise unter diesen Gewändern versteckt war. Es scherte ihn nicht, dass ihr sein Versuch womöglich unangenehm sein könnte. »Reisende?«

»Ich habe euch einreiten sehen«, sagte sie. Falls seine Unverfrorenheit sie störte, verbarg sie es meisterhaft. »Und so viele Leute gibt es in Barrenfort nicht.«

»Scheißhaus«, berichtigte Argos sie.

Die Priesterin nahm es mit sachte geneigtem Kopf hin. »Wo immer du hingehst, da bist du. Wir bestimmen unsere Wirklichkeit.«

Deckard kostete Argos’ ratlosen Blick aus und beschloss, die Fremde bei Laune zu halten. Es würde ihm die Zeit vertreiben und seine beiden Gefährten möglicherweise davon abbringen, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. »Ich kenne diese Lehre.«

»Geborene«, sagte die Priesterin mit einem Nicken. »Du hast schon von uns gehört.«

»Aber als Philosophie, nicht als Glaube«, sagte Deckard. Der Alkohol hatte den Rotz in seinem Schädel gelockert. Mit einem stumpfen, schmutzigen Finger hielt er sich ein Nasenloch zu und blies einen großen Batzen auf den Boden. Die Erleichterung währte nur kurz, seine Nebenhöhlen füllten sich gleich wieder.

Die Priesterin hob eine Braue angesichts der Rotzlache. »Philosophie und Glaube sind größtenteils ein und dasselbe«, sagte sie. »Ich bin Schwester Loss. Darf ich mich zu euch setzen?«

Deckard kam Argos mit einer Antwort zuvor. »Aber ja.« Die Anwesenheit der Priesterin würde den jungen Schwertkämpfer vielleicht eine Weile verscheuchen. Deckard hatte es satt, sich Argos’ selbstverliebte Scherze anzuhören. Wenn Argos erst einmal die Flucht ergriffen hatte, konnte Deckard sie immer noch auffordern, sich fortzuscheren.

Robyn und Argos rutschten ungemütlich auf ihren hölzernen Kisten herum. Mit etwas Glück wird es sie beide vertreiben, dann habe ich ein bisschen Ruhe.

Die Frau schien das Unbehagen, das sie auslöste, nicht zu bemerken. »Die Geborenen waren seit eh und je mehr als eine Philosophie«, sagte sie. »Seit Langem ist es unser Plan, unsere Ideen in die Tat umzusetzen. Wenn man so weitsichtig ist wie Hohepriester Ethenor, brauchen solche Pläne nun mal Zeit. Erst jetzt sind wir endlich bereit, die Botschaft vom Aufstieg des Gottes der Geborenen verkünden zu können.«

Deckards Neugier übermannte ihn. »Gott der Geborenen? Ich dachte, die Geborenen glauben, dass die Menschheit die Götter erfunden hat. Dass sie nur unsere gestaltgewordenen Wahnvorstellungen sind.«

»Richtig!« Sie strahlte vergnügt, offenbar begeistert, jemanden getroffen zu haben, der ihren durchgedrehten Glauben begriff. »Wenn der Glaube der Menschheit die alten Götter erschuf, können wir neue Götter erschaffen.«

Argos grummelte etwas in sein Bier, bemüht, nicht völlig ratlos auszusehen.

Robyn blickte entgeistert zwischen der Priesterin und Deckard hin und her. Ihr verkniffener Gesichtsausdruck schien auszudrücken: Es wird hoffentlich etwas dabei rausspringen. Deckard schenkte ihr die Andeutung eines Achselzuckens, woraufhin sie unverhohlen böse dreinblickte.

»Bei einer verdammten Kirche mitmachen«, sagte sie. »Ich bring dich um.« Sie zupfte an dem zerschlissenen Stoff ihres Tuchs, das sie sich um das knöchrige Handgelenk gewickelt hatte. Es war früher vielleicht hell und farbenfroh gewesen, sah mittlerweile aber nur noch ausgeblichen und fadenscheinig aus. Als sie Deckards Blick bemerkte, stopfte sie das Tuch unter ihren Ärmel, wo er es nicht mehr sehen konnte.

»Ist angekommen«, sagte Deckard und wandte sich wieder der Priesterin zu. »Lautet ein absoluter Grundsatz der Geborenen nicht, dass die Götter – als menschliche Schöpfungen – unserer Gebete nicht würdig sind?«

»Ja, sicher! Aber sie sind ihrer deshalb nicht würdig, weil sie zufällige Schöpfungen sind. Wir haben einen neuen Gott geschaffen. Einen Gott, gelenkt vom Glauben. Einen Gott mit Bestimmung. Die Absicht ist hierbei das Wesentliche. Wir sind die Ersten, die sich ihren Gott selbst entworfen haben.«

»Entworfen?«, fragte Deckard.

»Ja. Wenn ich das kurz anhand eines Gleichnisses …«

»Bitte nicht«, murmelte Argos.

»Eine Höhle gibt vielleicht ein brauchbares Heim ab«, fuhr die Priesterin fort, den Schwertkämpfer übergehend. »Sie hat ein Dach, einen Eingang und vielleicht mehrere Zimmer. Aber man kann sie kaum mit einer von Menschenhand erbauten Festung vergleichen. Eine ordentlich entworfene Burg ist ein viel besseres Zuhause.« Sie schaute Deckard in die Augen. »Versteht ihr?« Als Deckard mit einem ratlosen Blick antwortet, machte sie weiter. »Wir entwerfen unseren Gott. Wir formen ihn. Wir schmieden ihn in den Feuern unseres Glaubens.«

Argos stand auf und ließ den leeren Krug auf den Tisch krachen. »Ich werde mal die Feuer zwischen den Schenkeln irgendeiner Dirne schmieden. Da hast du was, woran du glauben kannst.« Er griff nach seinem leeren Geldbeutel und richtete einen anklagenden Blick auf Robyn, die nicht darauf einging. »Deckard, kannst du das zahlen?«

»Sicher.«

»Die nächste Runde geht auf mich.«

Verlogener Sack Schweinemist. Argos eilte hinaus, und Deckard folgte ihm mit seinem Blick. Der Schwertkämpfer würde Ärger suchen und zweifellos finden.

Deckard wandte sich wieder der Priesterin zu. »Ihr habt gesagt, dass ihr ihn formt.« Auch jetzt, da Argos weg war, ertappte er sich dabei, dass er irgendwie fasziniert war.

Sie nickte eifrig. »Kein anderer Gott wurde absichtlich erschaffen. Die alten Götter wurden aus dem Wahn und den Ängsten des Menschen heraus geboren, sie sind launisch und fehlgeleitet, unbedeutend und verblendet. Durch die Kenntnis darüber, wie unser Gott sein wird, wenn er aufsteigt, legen wir ihn ganz genau fest. Wir sind dabei, den perfekten Gott zu erschaffen.«

Deckard hob eine Augenbraue so weit an, wie seine Narbe es erlaubte. Der Funke einer Idee. Einer verrückten Idee, zweifellos, aber einer Idee. »Ihr seid dabei? Das heißt, er ist noch nicht fertig? Er ist noch nicht … aufgestiegen?«

Die Priesterin neigte sich mit strahlenden Augen näher an ihr Publikum heran. »Uns wurde ein Junge geboren, ein Kind von unbegrenzter Kraft. Hohepriester Ethenor hat ein Kind vorausgesagt, das nicht von einer Frau geboren wird, sondern dem reinen Glauben entspringt. Der Junge wurde im Tempel aufgezogen, um ihn in den Feuern unseres Glaubens zu härten.«

»Schon wieder dieses beschissene Gleichnis«, blaffte Robyn.

Die Frau zuckte die Schultern, unbeeindruckt von Robyns Zorn. »Es ist eben treffend.«

»Der Junge hält sich im Tempel hier in Barrenfort auf?«, fragte Deckard und bemühte sich um einen gleichgültigen Tonfall. Allzu schwer fiel es ihm nicht. Sein Schädel war schwer vom Rotz, und als er noch mal versuchte, seine Nasenlöcher frei zu pusten, kam nichts als ein feuchter Schnurz-Laut dabei heraus. Das verdammte Zeug ist da drin wie versteinert.

»Nein, nein«, antwortete die Priesterin kopfschüttelnd. »Er ist in Egoloth.«

»Leuchtet ein. Wenn ihr ihn mit eurem Glauben formen wollt, dann braucht ihr ihn im Mittelpunkt dieses Glaubens.«

Die Priesterin wirkte, als denke sie darüber nach, ihm auf seine narbige, muskelbepackte Schulter zu klopfen, und entscheide sich in letzter Sekunde aus Vernunft dagegen. »Genau!«, rief sie. »Je weiter man sich vom Glauben oder den Wahnvorstellungen eines Menschen entfernt, desto weniger Wirkung hat beides.«

»Das ist es, was uns vor eurem Ethenor dem Gehörnten schützt«, blaffte Robyn und spuckte auf die Tischplatte zwischen ihnen. »Ein Mann mit so einem Größenwahn würde sonst die Welt beherrschen.«

»Dem Geweihten«, berichtigte die Priesterin. »Würde er allein an Größenwahn leiden, wäre er nur ein weiterer Täuscher. Seine Wahnvorstellungen übersteigen solche Nichtigkeiten. Sein Glaube ruft Götter hervor.«

»Sein Wahn, meint ihr«, sagte Robyn.

»Wo ist der Unterschied?«

Deckard kratzte sich an dem vernarbten Knubbel, der den Überrest seines linken Ohrs darstellte. »Andere werden eurem Beispiel folgen.«

»Natürlich. Aber wir werden die ersten sein, und wir werden es richtig machen. Andere werden darin wetteifern, sich ihre Götter zu erschaffen, doch ihr Ergebnis wird überstürzt und schlecht durchdacht sein. Unseres ist geplant. Morgan wird der Erste unter den neuen Göttern sein.«

Morgan. Deckard nahm sich vor, diesen Namen im Kopf zu behalten. Er warf Robyn einen flüchtigen Blick zu und erhaschte ein fast unmerkliches Nicken. »Ihr habt mir reichlich Stoff zum Nachdenken gegeben. Eurer Glaube wird sich ausbreiten.«

»Jeder neue Anhänger verleiht uns Stärke.« Die Priesterin lächelte warmherzig, und diesmal streckte sie wirklich die Hand aus und berührte ihn am Arm. »Die Menschen schließen sich uns an, weil sie wissen, dass ihr Glaube – ihre Hoffnungen und Träume – unseren Gott formt. Gedanken sind Macht, und es handelt sich hierbei um eine mächtige Idee. Wir werden die einzige und größte Glaubensgemeinschaft der Welt sein. Wir werden die gesamte Menschheit unter einem Gott vereinen – einem Gott, der das Kind von uns allen sein wird. Ethenor hat es vorausgesagt.« Sie stand auf und verneigte sich. »Es war eine Freude, sich mit euch zu unterhalten, und ich stelle fest, dass ihr kluge und gebildete Leute seid.«

Deckard grunzte, sagte jedoch nichts.

»Bitte, besucht uns irgendwann einmal im städtischen Tempel, dann können wir dieses Gespräch weiterführen. Selig seien die, deren Glaube die Zukunft gestaltet.«

»Ich werde kommen. Aber es ist schon spät. Robyn hier wird dafür sorgen, dass Ihr sicher in den Tempel zurückgelangt.«

Robyn erhob sich vom Tisch. »Bitte«, sagte sie geziert und in aufrichtigem Ton, »hier entlang, gnädige Frau. Die Zeiten können ganz schön gefährlich sein, ich werde Euch nach Hause geleiten.«

Was, bei all den arschgewemsten Höllen, hat Deckard vor? Was brachte ihnen eine dumme, hirngewaschene Kanzelhure? Sie würde es früh genug erfahren, ahnte Robyn. Sie war seinen Anweisungen oft genug gefolgt, um zu wissen, dass sie gemeinhin irgendwohin führten – und meist zu etwas Einträglichem. Jedenfalls für sie.

Während Robyn die Priesterin aus dem Gasthaus führte, blickte sie über die Schulter zurück. Deckard sah bleich und elend aus. Er atmete durch den offenen Mund und bohrte weiter in den narbigen Überresten seines Ohrstummels herum, als ob irgendwas drinsteckte. Dummer alter Sack. Wenn er an irgendeiner Greisenseuche einging, würde sie ihn umbringen.

Die Priesterdirne schien selig zu sein, als Robyn ihr die Tür aufhielt. Sie schien auch selig zu sein, als Robyn sie um Schlaglöcher herumführte, die sich im Dunkeln verbargen. Die Priesterin schien sogar selig zu sein, als Robyn sich mit ihrem schlanken Körper an ihr rieb. Robyn wusste, dass sie wahrlich keine große Schönheit war, aber sie verfügte über eine Bestimmtheit, die einem gewissen Schlag Menschen gefiel. Die Priesterin war eindeutig selig, als Robyn sie heiser knurrend in eine dunkle Gasse zog. Sie hörte erst auf, selig zu sein, als eine von Robyns rasiermesserscharfen Klingen ihr die Kehle aufschlitzte und sie auf den Pflastersteinen verblutete.

Robyn sah zu, wie das hirnverbrannte Miststück strampelte und blubberte und schließlich regungslos dalag. Dann durchwühlte sie die Taschen der Frau und ließ die paar Münzen mitgehen, die sie dabeihatte. Sie nahm auch das kurze, handgewebte Tuch, das sie fand, und schnüffelte daran. Der Stoff roch leicht nach Jasmin, ohne Zweifel das Geschenk eines ebenso hirnverbrannten Geliebten. Sie band es sich ums Handgelenk, zufrieden damit, wie gut es ihr stand.

Als Robyn zurückkehrte, war Deckard bei seinem siebten Bier angelangt. Auf dem Tisch türmten sich die leeren Krüge, der Wirt hatte anscheinend zu viel Angst, sie abzuräumen. Die letzten Biere hatten an der bleichen Gesichtsfarbe des Alten nichts geändert, und er stützte sich schwerfällig auf den Tisch. Schlaff und schweißfeucht hing die Haut von seinen fahlen Wangen.

Sie ließ sich auf die umgedrehte Kiste plumpsen, die Deckard gegenüberstand, und musterte ihn, während er weitertrank und nicht groß auf sie achtete. Vergiss es, ich geb’s auf. »Warum habe ich eben diese Frau getötet?«

Deckard stierte finster in seinen Krug. »Geld. Wenn ich mich nicht irre.«

»Ich habe ihre Taschen durchwühlt. Sie hatte nichts Wertvolles bei sich.«

Deckard warf einen Blick auf das neue Tuch, das sie um ihr Handgelenk gebunden hatte, und Robyn versteckte die Hand unter dem Tisch. »Das habe ich gefunden.«

»Was immer du hast mitgehen lassen, Klimpergeld meinte ich nicht.«

»Ich habe dir ja gesagt, sie hatte kein Geld«, schnauzte sie.

Deckard fuhr fort, als hätte er nichts gehört. »Ich habe einen Plan. Es muss noch ein bisschen daran herumgefeilt werden, aber ich glaube, er ist gut.«

»Gut heißt, einer, der uns Geld bringt? Gut heißt, einer, der anders ist als die letzten Dutzend? Gut heißt, einer, der nicht blöde und gefährlich ist?«