Coco Chanel. Die Königin von Paris - Maxine Wildner - E-Book

Coco Chanel. Die Königin von Paris E-Book

Maxine Wildner

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Paris 1984: Vier Tage bis zur Präsentation der neuen Kollektion! Die Vorbereitungen im Hause Chanel laufen auf Hochtouren. Unter Anleitung von Madame Martine arbeiten die Schneiderinnen rund um die Uhr. Martine war bereits zu Lebzeiten Coco Chanels hier – und Zeugin von Cocos Inspiration, ihres Genies, auch ihrer Boshaftigkeit.

Als Halbwaise im Kloster aufgewachsen schlug sich Coco als Sängerin und als Bademeisterin durch, führte als Geliebte eines reichen Herrenreiters ein Leben des Müßiggangs, bis sie zu ihrer eigentlichen Berufung fand. Mit ihren Entwürfen revolutionierte sie die Modewelt – sie wird zur gefeierten Designerin und zur erfolgreichen Unternehmerin ...

Sie liebte viele Männer, doch ihr Apartment im Hotel Ritz bewohnte sie allein. Von einem deutschen Offizier ließ sie sich anwerben, für die Nazis zu spionieren, dafür wurde sie nach dem Krieg von den Franzosen geächtet und verurteilt. Mithilfe Winston Churchills wurde sie rehabilitiert – und ihr gelang ein großartiges Comeback in die Fashionwelt.

Und der Mythos lebt über ihren Tod hinaus – bis heute.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 281

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover

Titel

Maxine Wildner

Coco Chanel

Die Königin von Paris

Roman

Insel Verlag

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4983.

Originalausgabe© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Umschlagabbildung: Man Ray, Coco Chanel, 1935, © Man Ray 2015 Trust/VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: Telimage, Paris

eISBN 978-3-458-77656-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

PARIS

, 1984

1 Wo bleibt Karl?

2 Coco im Trocadero

3 Der Brunnen von Vichy

4 Royallieu

5 Zwei Tage noch

6 Die Hose

7 Parforceritt

Der Aufbruch

8 In der Höhle

9 Bal de Paris

10 C'est seulement du Travail

11 Das Glück und das Wagnis

12 Kampfer und Karbol

13 Das Imperium

Über die Liebe

14 Eine solide Entscheidung

15 In der Lagune

16 Die Doppelgängerin

17 N° 5

18 Grosvenor

19 Der Löwe von Hollywood

20 Hintern und Busen

21 Revolution

Die Macht des Ungewohnten

22 Ein Zimmer im Ritz

23 Spatz

24 Eine Strafpredigt für Churchill

25 Geächtet

26 Teerosen

27 Auf der Seine

28 Das Leben

29 Reopening

30 Die Farbe aller Farben

Epilog

Fußnoten

Informationen zum Buch

Coco Chanel

PARIS, 1984

1

Wo bleibt Karl?

Sechs Tage bevor die neue Haute-Couture-Kollektion von Chanel für das Defilee fertig sein musste, herrschte in den Werkstätten verzweifelte Betriebsamkeit. Die Stickerinnen hätten längst an dem Brautkleid weiterarbeiten sollen, aber die Klöppelfirma hatte die Borten nicht geliefert. Zu allem Überdruss hatte Monsieur Karl in letzter Minute eine seiner Visionen gehabt und das Hochzeitskleid noch einmal ändern lassen. Die neue Version sollte zwei ausladende Krinolinen haben. Die Konsequenz war, dass Madame Martine und ihre Damen bis zur Präsentation kaum zum Schlafen kommen würden. Das Brautkleid wurde zu einem Drachen, der die Arbeitszeit von Martine und ihrem Stab zu verschlingen drohte.

»Nimm ihre Maße«, seufzte sie.

»Warum?«, fragte Cécile, die Japanerin mit französischem Vater.

»Weil sie das Brautkleid präsentieren soll.« Als Cécile nicht gleich spurte, griff Martine selbst zum Maßband. »Dann mach ich es eben selbst. Schreib mit.«

Martine legte das Maßband um Oberweite, Taille und Hüfte des Models. »75 – 76 – 85.« Nun kamen die Brust- und die Rückenbreite dran. »Vorne 31, hinten 31. Die Beine 1 Meter 21. Um die Schultern 94, Abstand der Brüste 18.«

So ging das in atemberaubendem Tempo weiter, bis Céciles Liste gefüllt war. Währenddessen stand das Mannequin bewegungslos da. Wackelnde oder quatschende Models konnte Madame Martine nicht leiden. Da gab es schon mal einen Knuff ins Kreuz, damit der Rücken wieder gerade und der Mund geschlossen war.

»Wann machst du Pause?«, fragte Cécile.

»Um Mitternacht«, murmelte Martine zwischen zwei Maßangaben.

»Reichen dir zwei Stunden Schlaf?«

Martine nickte müde.

»Dann gehe ich um zwei Uhr früh in die Pause.«

Es waren die Tage der langen Nächte, Schichtbetrieb wie in einer Fabrik. Chanel war eine Fabrik.

Die Assistentin von Karl brachte den gewünschten Tüll für die Krinolinen. »Er will 2-Millimeter-Ösen, sagt er.«

»Je größer die Öse, desto leichter der Stoff.« Madame Martine begutachtete das Gewebe. »Bei Karl muss immer alles schweben.«

»Er fragt, ob ich ihm schon eins der Modelle bringen kann.«

»Bist du verrückt? Wegen der verdammten Krinolinen muss ich die Dinger noch einmal komplett in ihre Einzelteile zerlegen. Karl soll mich anrufen«, zischte sie. »Dann sage ich ihm mal etwas zu seiner Vision.«

Als hätte Monsieur Karl seine Ohren überall, läutete das Telefon. Cécile ging dran.

»Er ist es«, flüsterte sie. »Die Mädchen warten auf die Modelle, sagt er.«

»Die Mädchen können mich mal«, zischte Madame Martine, während Karls Assistentin sich lautlos aus dem Atelier verdrückte.

»Soll ich ihm das so sagen?«, fragte Cécile verzagt.

»Bist du verrückt?« Martine nahm den Hörer und hielt ihn zu. »Er ist der von Gott Gesandte«, sagte sie mit bösem Humor. »Er ist das Gefäß, in das der Allmächtige seine Inspirationen fallen lässt. Du kannst mit Gottes Gefäß nicht so sprechen.« Sie hob den Hörer ans Ohr.

»Karl? – Ja, ich weiß«, antwortete sie nach einer Pause. »Ich will es Ihnen aber nicht halbfertig raufschicken. – Das habe ich Ihnen um acht Uhr abends gesagt und um neun Uhr noch mal. Vielleicht kann ich Ihnen um Mitternacht etwas schicken. – Danke, Karl, danke für Ihre Geduld.« Madame Martine verdrehte die Augen und legte auf. »Warum kann er uns nicht fünf Minuten in Ruhe lassen?«

Sie legte den Tüllballen auf den Tisch. Mit den Spitzen der Schere markierte sie den ersten Schnitt. Dann rauschte die große Schere in einer kühnen Bewegung durch das feine Gewebe. Ein Streifen Tüll sank zu Boden.

Beim Entrollen des Ballens stieß Martine mit Cécile zusammen, die am Nebentisch arbeitete.

»Entschuldige«, sagte die Japanerin.

»Nicht deine Schuld. Uns fehlt es an Platz, Platz, Platz!«, schnaubte Martine. »Wir sollen riesige Gewänder auf winzigen Tischen schneidern.« Sie richtete sich auf. »Meine Kreuzschmerzen bringen mich um.«

Die Assistentin tauchte zum zweiten Mal auf. »Ich soll ihm ein Stück grünen Stoff bringen«, sagte sie vorsichtiger als vorhin.

»Dort in der Ecke. Da ist alles, was wir in Grün haben.«

Ratlos stand die Assistentin vor dem überwältigenden Angebot grüner Stoffballen. »Ich weiß nicht recht …«

»Kannst du denn gar nichts allein?«, zischte Martine. »Er will einem Mädchen ein Stück grünen Stoff umbaumeln. Also nimm dir irgendeins und lass uns arbeiten.« Ein Blick auf die Uhr. »Ach, du lieber … schon halb elf!«

»Das schaffen wir nie«, bemerkte Cécile.

»Das schaffen wir. Haben wir noch immer geschafft.«

Während die Assistentin, einen grünen Stoffballen unterm Arm, das Atelier verließ, trat Madame Martine, das Herz und die Seele der Firma Chanel, vor das großformatige Gemälde. Seit sie in diesem Atelier arbeitete, hing es dort, und das war eine verdammt lange Zeit. Martine hatte Madame Chanel noch gekannt. Nach ihrem Tod wäre die Firma fast bankrottgegangen. Damals schien es, als ließe sich die Marke Chanel nur mit Coco Canel verkaufen.

Langsam sank die Schere in Martines Hand herab. In Betrachtung des Bildes wurden ihre Züge weicher. Es war kein besonders gutes Gemälde, aber es fing die Frechheit ein, die von dieser Frau ausgegangen war. Das Porträt zeigte Coco mit einer ihrer frühen Hut-Kreationen. Ein ausladender weißer Strohhut mit breiter Krempe, an dessen Vorderseite sich eine geteilte schwarze Straußenfeder erhob. Coco saß in einem gestreiften Fauteuil, weiße Bluse, schwarzer Schal. Auf dem Tisch daneben hatte der Maler die Insignien ihres Berufs arrangiert: Schere, Stecknadel und Fingerhut.

»Ohne Sie gäbe es uns alle nicht«, flüsterte Martine. »Ihretwegen dürfen wir hier sein und diese wunderbare Arbeit tun. Ich danke Ihnen, Madame.«

* ‌* ‌*

»Zwei Tage kannst du noch bleiben«, sagte Étienne Balsan. »Dann ist Schluss, Coco, danach wird es zu voll im Haus.« Étienne trug einen Frack mit weißer Weste, weißer Schleife und den Orden der Fremdenlegion am blauen Band. Unten herum trug Étienne Balsan nichts. »Komm schon, worauf wartest du? Und nimm den dummen Hut ab.«

»Gefällt dir mein Hut nicht?« Coco stolzierte vor Étiennes Bett auf und ab.

»Wozu trägst du im Bett einen Hut?«

»Noch bin ich nicht in deinem Bett.«

»Aber meine Chancen stehen nicht schlecht, würde ich sagen.« Er haschte nach ihrer Hand, wollte sie zu sich ziehen, aber Coco entwischte ihm. »In fünfzehn Minuten kommen die Gäste. Also mach schon.«

»Nur, wenn ich den Hut aufbehalten kann.«

»Von mir aus.«

Im Jahr 1906 glichen die Damenhüte von Paris entweder einem Blumenbouquet oder einer Vogelmenagerie. Komplizierte Aufbauten waren nötig, um einen Pariser Damenhut, der den Namen verdiente, in die gewünschte Form zu bringen. Und dazu brauchte man viel Draht, Tüll, Federn, Seidenblumen und was sonst noch alles!

Auf Cocos Modell fand sich nichts davon. Es war ein weißer Strohhut mit schwarzer Krempe und einer einzelnen Straußenfeder, die sich wie ein Fahnenmast über ihrem Kopf erhob. Sie liebte diesen Hut und war stolz auf ihn, denn er war ihre Schöpfung. Keine Vögel, keine Blumen, sondern eine Kopfbedeckung, die ihrer Trägerin die Möglichkeit gab, darunter zu denken. Schon immer war Coco von denkenden Frauen fasziniert gewesen. Sie nahm sich die Nonnen zum Vorbild, die das Waisenhaus geleitet hatten. Wenn sie in den Klostergärten arbeiteten, schützten ihre Hüte vor der Sonne und weiter nichts. Wenn eine von ihren Blumen aufblickte, sah Coco, dass sie dachte.

Im Hause Étienne Balsans war sie einer Menge Frauen mit Blumen- und Vogelhüten begegnet. Ihre Gesichter brachten zum Ausdruck, dass sie sich auf den Blumengarten auf ihrem Kopf verließen und es nicht für notwendig erachteten, zu denken. Das 20. Jahrhundert hatte Einzug gehalten, und im 20. Jahrhundert sollten Frauen denken.

Coco warf sich zu Étienne ins Bett und kitzelte ihn mit der Straußenfeder.

»Was machst du denn?«, lachte er.

»Weil du dich so über meinen Hut ärgerst, will ich dir Grund dazu geben.« Sie küsste seine Brust.

»Du bist ziemlich verrückt, meine kleine Mesalliance«, kicherte er, angestachelt durch die Feder.

»Verrückt vielleicht.« Sie biss ihn in die Brustwarze. »Aber das mit der Mesalliance ist noch nicht entschieden.«

»Glaubst du etwa, dass ich dich heirate?«, fragte er amüsiert. »Es stehen eine Menge Bewerberinnen vor dir an.«

»Mit dir verheiratet zu sein, stelle ich mir als Strafe vor.« Sie küsste ihn auf den Mund.

»Bestrafe mich, meine süße Coco. Bestrafe mich hart. Aber in fünfzehn Minuten musst du trotzdem gehen.«

Gabrielle Chanel fand die Liebe nur in Büchern schön. Eine verliebte Frau war für sie nichts Erhebendes. Eine Frau, die liebte, war vielmehr verloren.

Die Sache mit Étienne hatte im Grunde schon 1903 begonnen, als sie ihn noch gar nicht kannte. Gabrielle und ihre Tante Adrienne, beide Anfang zwanzig, wurden aus der Obhut der Klosterschule entlassen und kamen gemeinsam zu Leuten in Stellung, die in der Rue de l'Horloge ein Geschäft betrieben. Über dem Portal stand in züchtigen Lettern: Zur Heiligen Maria – Spezialgeschäft für Aussteuer- und Babyartikel. In dem Titel lag die ganze Moral der Zeit. Die zarten Knospen des neuen Jahrhunderts wuchsen aus den verstaubten Werten der Vergangenheit empor.

In der Kleinstadt Moulins im Herzen Frankreichs, 400 Kilometer von Paris entfernt, trugen die Männer rote Hosen. Hier war eine Kavallerie-Garnison beherbergt. Für das Vergnügen der Soldaten und Offiziere wurde in Moulins gut gesorgt, daher kamen dort viele Babys zur Welt. Falls ein Soldat bereit war, die Frau, die ein Kind von ihm erwartete, zu heiraten, senkte sich der Schleier der Sittsamkeit über das Paar, und sie nahmen die Dienste des Spezialgeschäfts für Aussteuer- und Babyartikel in Anspruch, dessen Schutzheilige die Jungfrau Maria war.

Gabrielle und Adrienne bekamen von ihrem Dienstherrn ein Zimmer gestellt, wo sie zusammen in einem Bett schliefen, nicht nebeneinander, sondern pied à pied, jede mit dem Kopf auf der anderen Seite. Sie wärmten einander in der feuchten Kammer die Füße.

Adrienne war die Letztgeborene der kinderreichen Großeltern der Chanel-Familie gewesen und somit Gabrielles Tante. Sie lagen im Alter nur ein Jahr auseinander. Seit der Klosterschule waren Tante und Nichte unzertrennlich.

Wer sie zum ersten Mal sah, hielt die beiden für Schwestern. Adrienne wirkte gelassen, realistisch, lebensbejahend, Gabrielle musste ihr persönliches Ja zum Leben erst finden. Adrienne war die Hoffnungsvolle, Gabrielle die Fantasievolle. Adrienne gab den Dingen ihren wahren Namen, Gabrielle erfand alles frei von der Leber weg.

Wenn das Geschäft mit den Babyausstattungen manchmal schleppend lief, verbesserte die Firma Zur Heiligen Maria ihre Einnahmen, indem sie auch Damenkleider in Auftrag nahm. Das bedeutete eine unverhoffte Chance für Gabrielle und Adrienne. Bald waren die beiden, die das Handwerk im Kloster erlernt hatten, anerkannt für ihr Können in der Damenmode. So etwas sprach sich in Moulins herum. Kutschen und die ersten Automobile hielten in der Rue de l'Horloge. Ihnen entstiegen Frauen reicher Männer, um sich von den Chanel-Mädchen Maß nehmen zu lassen.

Warum gab es so viele reiche Männer in Moulins? Nicht wegen der Garnison: Ein gewöhnlicher französischer Offizier blieb sein Leben lang ein armer Schlucker. Doch die Kleinstadt im Département Auvergne-Rhone-Alpes war umgeben von Schlössern, die von alten französischen Familien bewohnt wurden. Deren Sprösslinge gingen nach alter Tradition in den öffentlichen Dienst und nahmen ihren Platz in der Pariser Nationalversammlung ein, ohne etwas von Politik zu verstehen.

Posten und Ämter, Latifundien und Privilegien wurden in Frankreich stets vom Vater an den Sohn weitergegeben, die Schlossherren rund um Moulins machten da keine Ausnahme. Daher tummelten sich in der Stadt neben den alten reichen Männern auch ihre unternehmungslustigen Söhne. Deren Ehefrauen erschienen wiederum bei Gabrielle und Adrienne, um sich einkleiden zu lassen. Anlässe, eine neue Robe oder einen verführerischen Hut in Moulins vorzuführen, gab es in der spießigen Stadt erstaunlicherweise zur Genüge. Der Grund dafür waren die Pferde.

Die Schlossbesitzer besaßen Pferdezuchten und ließen die besten Tiere trainieren, um sie auf den Rennplatz von Moulins zu schicken, wo einmal im Monat der beliebte Grand Prix stattfand. Die Noblen der Gegend hatten darüber hinaus schon Pferde zum Grand Prix de Paris geschickt. Manche kamen als Sieger zurück. Die Männer von Moulins verstanden viel von Pferden, wenig von Politik und noch weniger von ihren Frauen. Weil der Haussegen in vielen Ehen schief hing, zog es die Männer weg vom häuslichen Herd, an Orte, wo sie von Frauen erwartet wurden, die immer freundlich, immer aufmerksam und willig waren.

Adrienne Chanel faszinierten die klingenden Familiennamen der Damen, die bei ihnen schneidern ließen. »Wir arbeiten für Leute, die genauso heißen wie der Ort, in dem sie wohnen«, sagte sie zu ihrer Nichte im Bett. »Die Bussets leben in Busset, die Familie La Palice hat ihr Schloss in La Palice …«

»Und die Nexons stammen aus Nexon. Na und?« Gabrielle zuckte die Schultern. »Die Damen, die du bewunderst, besitzen selbst keinen Centime. Ihre Männer behängen sie mit Fummeln, damit sie fügsam sind. Und wir dürfen die Fummel schneidern.«

Verständnislos betrachtete Adrienne ihre Nichte am anderen Ende des Bettes. »Fügsam? Ist das alles, was dir dazu einfällt? Diese Frauen leben im Paradies. Sie brauchen nicht zu arbeiten, sich nicht einmal selbst um die Kinder zu kümmern. Jeder Wunsch wird ihnen erfüllt. Wärst du nicht gern mit einem Marquis oder einem Comte verheiratet?«

Gabrielle richtete sich auf. »Wenn ich versuche, mir die Hölle auszumalen, stelle ich mir vor, an so einen blasierten Schnösel gefesselt zu sein.«

Adrienne zog die Decke bis unters Kinn und nahm sie Gabrielle damit weg. »Natürlich habe ich nicht die geringste Chance, jemals so einen Mann zu kriegen, aber es wäre der Himmel für mich.«

»Du hast jede Chance, in diesen zweifelhaften Genuss zu kommen«, widersprach Gabrielle.

»Wie soll das gehen?«

»Du bist jung, außergewöhnlich hübsch, die Nonnen haben uns eine gute Bildung gegeben. Du brauchst nur die Gelegenheit, einen Sprössling der Nexons oder der Bussets kennenzulernen.«

»Die leben auf ihren Schlössern. So einen kriege ich nie zu Gesicht.«

»Aber abends zieht es die adeligen Herren hinunter in die sündige Stadt Moulins. Du triffst sie fast jede Nacht im Rotonde.«

»Im Rotonde sind doch diese … diese Frauen von zweifelhaftem Ruf. Du meinst hoffentlich nicht, ich soll auch so eine werden?«

Gabrielle eroberte die Decke zurück. »Es gibt andere Möglichkeiten, ins Rotonde zu kommen.« Sie drehte sich um und löschte das Licht.

* ‌* ‌*

»Zu Ihrer Zeit müssen Sie einiges erduldet haben, Madame Chanel, um dorthin zu kommen, wo Sie am Ende waren«, sagte Martine zu dem Porträt der Frau mit dem Hut. »Sie haben die Mode revolutioniert wie niemand vor oder nach Ihnen.«

Sie beugte sich näher an das Gemälde. »Ich verstehe nicht, dass es bis heute vor allem die Männer sind, die entscheiden, was wir Frauen anziehen. Sie, Madame, haben den Frauen nach Jahrhunderten das Korsett ausgezogen und sie damit freier atmen lassen. Allein dafür gebührt Ihnen eine Krone.«

Martine warf einen Blick ins Atelier, ob ihr gerade jemand zusah. Dann machte sie einen tiefen Hofknicks. »Sie waren die Königin von Paris, Madame Coco, und sind es bis heute geblieben.«

Als sie sich umdrehte, erstarrte sie. Karl stand in der Tür. Das kleine Genie, das alles daransetzte, drahtig auszusehen, aber von Jahr zu Jahr pummeliger wurde. Karl konnte die Herrenmode, die er entwarf, kaum noch selbst tragen.

»Ich verzeihe Ihnen, Martine«, sagte Karl mit seinem entzückenden Sprachfehler.

»Was verzeihen Sie mir, Karl?«

»Dass Sie nicht an dem Brautkleid arbeiten. Ich verzeihe Ihnen, weil Sie sich Rat holen von der höchsten Instanz, die es in unserer Profession gibt.«

Der Modeschöpfer trat ebenfalls vor das Porträt der Firmengründerin. Seit zwei Jahren leitete er die künstlerischen Geschicke des Imperiums. Sein Vertrag galt auf Lebenszeit. Seine Regentschaft war mit unbeschränkter und unanfechtbarer Autorität ausgestattet. Sein Auftrag lautete, aus einem historischen Haus für Haute Couture wieder eine weltweite Trendmarke zu machen.

»Wenn Sie gestatten, leihe ich mir Martine für eine Weile aus, Madame«, sagte er todernst.

Als hätte die Frau auf dem Gemälde ihm geantwortet, bedankte er sich. »Merci, Madame.«

2

Coco im Trocadero

Der Klavierspieler präludierte. Gabrielle schob den Vorhang ein wenig beiseite und spähte ins Rotonde. Ursprünglich war das Etablissement als Café und Lesesaal erbaut worden, allerdings hatte in dem Rundbau nie jemand gelesen. Geschnitztes Gitterwerk zierte die Wände im Inneren, nach chinesischer Art saß ein Pagodendach obenauf.

Die Umgebung des Rotonde schmückte eine bescheidene Grünanlage, die allgemein der Park genannt wurde. Darin gab es Ulmen, Zypressen und die Büste eines lokalen Pastoralpoeten. Wenn der Platz für gewisse Vergnügungen innerhalb des Rotonde zu eng wurde, wichen die Paare gern mal in den Park aus. Höhergestellte Herren der Gesellschaft mieden das Etablissement, da man beobachtet werden konnte, wenn man sich der Pagode näherte. Irgendwie fanden sie aber doch einen Weg, inkognito hineinzugelangen.

Gabrielle nickte zufrieden: ausverkauft. Das Rotonde war meistens ausverkauft. Das lag nicht an der Qualität der Speisen; die Koteletts wurden lieblos in der Pfanne gewendet und ohne Unterschied mit dunkler Sauce übergossen. Es lag auch nicht an den Weinen. Der Witz machte die Runde, wonach man von dem gepanschten Zeug erblinden könne. Aber vielleicht war es genau das, das Billige, das Halbseidene, die Atmosphäre fernab der bigotten Bürgerlichkeit, was den Charme des Rotonde ausmachte. Und natürlich die jeunes filles. Ob sechzehn oder sechsundfünfzig, die Frauen dort wurden alle einfach nur die Mädchen genannt.

Der Pianist gab Gabrielle ein Zeichen für ihren Auftritt und spielte die Einleitung. Mit der Grazie eines Harlekins sprang sie vor den Vorhang.

»J'ai perdu mon pauvre Coco,

Coco mon chien que j'adore.

Tout près du Trocadero …«

Gabrielle sang über ihr Hündchen Coco, das sie in der Nähe des Trocadero verloren hatte und schmerzlich vermisste. Der Clou des Chansons war, dass die Sängerin die Treue ihres Hundes umso mehr genossen hatte, je häufiger ihr Mann ihr untreu gewesen war.

Das brachte die Herren zum Lachen. Gabrielles Publikum waren vorwiegend Unteroffiziere und Offiziere, die sich die langweiligen Nächte verkürzten, indem sie sich von einem hübschen Mädchen Gassenhauer vorsingen ließen.

Der Höhepunkt des Vortrags lag darin, dass mit Beginn des Refrains eine zweite hübsche Frau auftrat, die der ersten erstaunlich ähnlich sah. Adrienne sprang auf die Bühne und vollführte mit Gabrielle eine alberne Choreografie: Beide beugten sich suchend vor und streckten zugleich ihr Hinterteil raus. Zweistimmig gaben sie den Refrain zum Besten.

»Vous n'auriez pas vu Coco?

Coco dans le Trocadero …«

Und immer so fort. Während Strophe drei und vier verließen sie die Bühne und setzten ihre Albernheiten im Zuschauerraum fort. Sie spazierten zwischen den Tischen hindurch, ließen sich Bemerkungen der Lieutenants und Corporals gefallen, wurden von manchem auf den Schoß gezogen und hatten alle Mühe, wieder loszukommen.

Während Strophe sieben und acht nahm Adrienne ihren Strohhut ab und machte damit im Rotonde die Runde. Gabrielle sang unverzagt weiter.

Ihre Tante ließ den Hut herumgehen. »Für Coco«, sagte Adrienne. »Wir müssen doch unser armes Hündchen wiederfinden.«

Die Soldaten spendeten mal mehr, mal weniger, doch fast an jedem Abend überstiegen die Einnahmen der Chanels ihren Tagesverdienst an der Nähmaschine um ein Mehrfaches.

War das Lied zu Ende, kam der kritische Moment. Die Herren, die gespendet hatten, erwarteten, dass sich die Sängerinnen nun an ihren Tisch setzten. Adrienne wich den Angeboten bestimmt, aber sanftmütig aus.

Ganz anders Gabrielle. Wenn ein Kerl ihrer Tante zu nahe kam, schoss sie auf den Soldaten zu und zischte: »Die Mädchen, die du suchst, sitzen da drüben an der Bar.«

Mancher Offizier warf dann noch ein paar Münzen in den Hut.

»So wenig bin ich dir wert, Soldat?«, fuhr Gabrielle ihn an und ließ den Verblüfften sitzen.

Die Unnahbarkeit der Nichte führte dazu, dass die Tante vor Gabrielle einen Liebhaber hatte, einen Lieutenant, den sie süß fand und mit dem sie ins Bett ging. Wie groß war Adriennes Verblüffung, als sich herausstellte, dass der junge Mann im Privatleben ein Comte war. Gabrielles übermütiger Plan, einen Adeligen für Adrienne zu angeln, war aufgegangen!

Gerade deswegen wurde die Nichte nicht müde, ihre Tante davor zu warnen, sich ernsthaft in Maurice zu verlieben. »Wilde Küsse mit deinem Grafen im Rotonde oder nachmittags bei uns oben im Zimmer werden dich nicht weiterbringen. Das macht dich noch nicht zur Gräfin.«

»Er liebt mich«, konterte Adrienne. »Er hat mich sogar seinen Freunden vorgestellt.«

»Er protzt vor diesen Freunden nur mit dir. Dein Maurice ist nicht gerade ein Adonis. Er ist stolz darauf, den anderen Offizieren zu zeigen, was für ein hübsches Mädchen mit ihm schläft.«

Enttäuscht sah Adrienne ihre Nichte am anderen Ende des Bettes an. »Dir fehlt jegliches Gefühl, Gabrielle. Maurice liebt mich. Er wird mich heiraten.«

Gabrielle seufzte spöttisch. »Ach, wie schön wäre die Liebe, wenn man keinen Mann dazu brauchen würde.«

Eines Abends überredete Adrienne ihre Nichte, sich nach dem Auftritt zu der Offiziersrunde zu setzen.

»Bonsoir, Maurice«, begrüßte sie ihren Grafen und schmiegte sich verliebt in seinen Arm.

»Darf ich vorstellen? Mein Freund Étienne«, sagte der Graf. »Das ist Adriennes Schwester Gabrielle.« Obwohl Maurice die wahren Verwandtschaftsverhältnisse kannte, blieb er bei der Version von den Chanel-Schwestern, die im Rotonde inzwischen bekannt war.

Für einen Offizier war Étienne Balsan ein schmächtiges Exemplar. Mit Brillantine gebändigtes schwarzes Haar, das sich trotzdem in alle möglichen Richtungen verirrte, ein Schnäuzer, der nicht so richtig sprießen wollte, und die Uniform schlotterte um seine Schultern. Wer hätte hinter diesem zarten Menschen den Erben der Industriellendynastie Balsan vermutet? Étiennes Vater hatte die Textilfabrik geleitet, die seit Napoleon die französische Armee mit Uniformen belieferte.

»Wer von Ihnen ist die Jüngere?« Étienne goss den Schwestern Wein ein.

»Raten Sie«, schlug Adrienne vor.

Er nahm das Kinn Gabrielles in die Hand und drehte ihren Kopf hin und her. »Wie alt sind Sie? – Fünfzehn? Siebzehn?«

Sie wischte seine Hand beiseite. »Ich werde mit jeder Sekunde älter, wenn Sie mich weiter so langweilen.«

Erstaunt musterte er die knabenhafte Person mit den pechschwarzen Augen und dem pechschwarzen Haar. Gabrielles Mund war um einiges zu breit, ihre Nase definitiv zu groß. Sie hatte kräftige, geradezu männliche Augenbrauen und einen tiefen Haaransatz.

Von einer Figur konnte man nicht ernsthaft sprechen. Es war die Zeit der drallen Schönheiten, Magerkeit galt als Zeichen von Armut. Nach diesem Schönheitsideal war Gabrielle vorn zu flach und hinten noch flacher. Für Männer allerdings, die sich für junge Männer interessierten, besaß sie einen unverwechselbaren Charme. Étienne Balsan gehörte nicht zu diesen Männern. Ihm zur Seite saß eine Käufliche mit großer Oberweite.

»Sagen Sie immer die Wahrheit, Mademoiselle?«, fragte er. »Selbst wenn sie für andere beleidigend sein sollte?«

»Und Sie?« Ohne anzustoßen, trank Gabrielle ihr Glas in einem Zug leer. »Ich wette, Sie haben sich schon derart ans tägliche Lügen gewöhnt, dass Sie es gar nicht mehr bemerken.«

Er nahm es mit Humor. »Was für ein kräftiger Zug! Machen wir es Mademoiselle Coco nach und trinken wir einen Schluck«, schlug Étienne vor.

»Ich heiße nicht Coco«, erwiderte sie. »Das ist der Hund in meinem Lied.«

»Für mich sind Sie Coco. Der Name Gabrielle langweilt mich genauso, wie Sie meine Konversation langweilt. Also sind wir quitt.« Er hob sein Glas. »Auf Coco!«

»Wie fanden Sie meinen Gesang, Lieutenant?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

»Exquisit«, erwiderte Étienne leichthin. »Erstaunlich, wie Sie sich den vielen Text merken. Ich werde wohl noch oft herkommen müssen, um all die raffinierten Details dieses Meisterwerks anzuhören. Aber vielleicht auch aus anderen Gründen.« Zwinkernd zog er die füllige Kurtisane in seinen Arm.

»Im Ernst, Monsieur«, ließ Gabrielle nicht locker. »Glauben Sie, ich habe das Zeug, eine neue Yvette Guilbert zu werden?«

Überrascht sah er die schmale Coco an. »Yvette Guilbert?«

Sie war der größte Gesangsstar, den Frankreich je hervorgebracht hatte. Auf ihren Tourneen bereiste sie ganz Europa, die USA und selbst Afrika. Sie war berühmt für die Technik, Sprechen und Singen fließend zu vermischen. In ihrer Kunst lag wüste Tragik neben fröhlichem Spott. Da war Liebe, Lachen und der Tod – die Guilbert brachte alles durch ihre Stimme zum Ausdruck. Zu ihren Verehrern zählte Henri de Toulouse-Lautrec, der ihr mit seinen Bildern Unsterblichkeit verliehen hatte.

»Im Vergleich zur Guilbert singen Sie wie eine Heulboje«, antwortete Étienne. »Ihre Stimme hat keine Höhe, und um das Maß voll zu machen, auch keine Tiefe. Ich bin froh, dass Sie und Ihre Schwester den ehrenwerten Beruf von Näherinnen erlernt haben. Dabei sollten Sie bleiben.«

Es wurde still am Tisch. Alle fanden die offensichtliche Beleidigung taktlos. Besorgt beobachtete Adrienne ihre Nichte.

Mit einem Mal überzog ein warmherziges Lächeln Gabrielles Miene. »Danke, Étienne.« Sie beugte sich vor. »Das war das erste ehrliche Wort, das ich von Ihnen gehört habe. Nehmen Sie dafür meinen Dank.« Sie küsste ihn auf den Mund.

Ein erleichtertes Lachen ging durch die Runde.

»Schaffen werde ich es aber trotzdem!«, rief Gabrielle. »Ich sitze bestimmt nicht mein Leben lang hinter der Nähmaschine. Ich werde Sängerin, aber nicht hier, wo das Publikum mit den Künstlerinnen nur ins Bett gehen will. Ich möchte in einem anspruchsvollen Etablissement auftreten. Und wenn Sie etwas für mich übrighaben, Étienne, dann helfen Sie mir dabei.«

Das Rotonde war ein drittklassiges Tingeltangel. Es gab keine Künstlergarderoben und nur einen einzigen Wasserhahn. Die Sängerinnen, die hier auftraten, waren entweder am Ende ihrer Laufbahn oder ganz am Anfang wie Gabrielle.

Sie hatte keine Lust, sich länger vor pöbelnden Soldaten zu produzieren, sie wollte auf eine veritable Bühne. In ihren kühnsten Träumen sah sie sich schon in der Königsklasse, der göttlichen Operette.

* ‌* ‌*

Das Grand Casino war ihr zu spießig, dort würde Gabrielle gar nicht erst anklopfen. Das Éden-Théâtre gefiel ihr besser, am passendsten fand sie aber das Alcazar, Hochburg des Varietés in Vichy. Das Alcazar verfügte über eine moderne Beleuchtungsanlage, das Publikum saß an Tischen rund um die Bühne. Es gab einen Salon für Andenkenfotos und sogar eine tunesische Bauchtanztruppe. Die Kurgäste von Vichy, reiche Handelsvertreter, Ministerialbeamte, die mit ihren Mätressen Urlaub machten, auch so manche alleinstehende Pariser Dame, strömten allabendlich ins Alcazar. Dorthin wollte Gabrielle sich engagieren lassen.

Étienne half ihr. Die Empfehlung, ihr Glück im angesehensten Kurbad der Franzosen zu versuchen, stammte von ihm. Da es nur 50 Kilometer von Moulins entfernt lag, konnte er Gabrielle jederzeit besuchen.

Er schlief mit ihr, sie schlief mit ihm, doch ihre erste Einschätzung voneinander hatte sich nicht geändert. Sie fand ihn schmächtig und oberflächlich, er hielt sie für das Zwischending zwischen einem Jungen und einem Nervenbündel. Worin die gegenseitige Faszination lag, konnten beide nicht sagen.

Es gab Momente, in denen Gabrielle hoffte, Étienne sei ein verzauberter Prinz in Gestalt eines gelangweilten Lieutenants, der sich eines Tages aber durch einen Liebeszauber in den Mann ihres Lebens verwandeln würde. Die meiste Zeit war der Mann fürs Leben in Gabrielles Augen ein Paradoxon. Für so unterschiedliche Gefühle wie Faszination, Leidenschaft, intellektuelle Inspiration, Freundschaft oder Beschützerinstinkt konnte es unmöglich nur eine Person geben. So ein Mann existierte auf der ganzen Welt nicht, dessen war Gabrielle sicher.

Doch die französische Gesellschaft forderte, dass es so sein müsse. Dabei unterschied die Gesellschaft genau, welche Rolle die Frau im Spiel der Männer verkörpern sollte. Zur Ehefrau taugte eine Frau nur dann, wenn sie die gesellschaftliche Position des Mannes stabilisierte und seinen Reichtum vergrößerte. Diese wichtigste aller Verbindungen wurde von einem Personenkonsortium beschlossen und durchgeführt. Ob es ein Familienrat oder eine Aktionärsversammlung war, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Braut oder Bräutigam wurden dabei selten zu Rate gezogen.

Die Geliebte war die zweite Möglichkeit einer Frau. Die Geliebte eines Mannes in gehobener Stellung war öffentlich anerkannt, auch die Ehefrau wusste von ihr. Die Geliebte brauchte nicht zu arbeiten, ihre Ausgaben wurden vom Kavalier beglichen. Sie begleitete ihn zu öffentlichen Anlässen, auf die die Gattin keine Lust hatte, wie Pferderennen oder Theaterbesuche. Der eheliche Wohnsitz war der Geliebten versperrt.

Anders verhielt es sich mit der Mätresse. Sie hatte im Verborgenen zu wirken und stets zur Verfügung zu stehen. Häufig bekleidete sie eine Funktion im Haus, als Zimmermädchen, Köchin oder Vorleserin. Mit ihr zeigte sich der Herr nie öffentlich und hätte seine Beziehung zu ihr stets geleugnet. Es war möglich, dass die Mätresse abends beim Servieren des Diners der Hausfrau Gemüse auftat und nachts das Bett des Hausherrn teilte. Alle wussten von der Verbindung und leugneten sie zugleich. Das Modell dieser Doppelmoral war gesellschaftlich akzeptiert.

Gabrielle Chanel, die Klosterschülerin, die Näherin, die angehende Sängerin passte in keine dieser gesellschaftlichen Schablonen. Im Unterschied zu vielen ihrer Schicksalsgenossinnen empfand sie auch keine Sehnsucht danach. Anders als Adrienne, die auf die Ehe mit ihrem Grafen hoffte, wollte Gabrielle Étienne Balsan keinesfalls heiraten.

Sie wäre dafür auch nicht in Frage gekommen, genauso wenig wie als Geliebte. Dafür hielt er sich seit Jahren die berüchtigte Pariser Kurtisane Émilienne d'Alençon, eine sympathische, humorvolle Frau. Gabrielle gab sich mit dem dritten Platz der Mätresse nicht etwa geschlagen, sondern empfand ihn als angenehme Daseinsform, so lange, bis sie ihren eigentlichen Lebensweg gefunden haben würde.

Étienne unterstützte sie mit Geld. Sie war ihm dankbar, denn zur Umsetzung ihrer Pläne brauchte sie eine Menge davon. Sie rechnete ihm hoch an, dass er seine Unterstützung nie bekannt werden ließ. Das war einer seiner liebenswerten Charakterzüge: Étienne gab ihr nie das Gefühl, sie müsse sich ihm gegenüber verpflichtet zeigen.

Gabrielle Chanel kehrte in die Rue de l'Horloge zurück – diesmal nicht als Näherin, sondern als Kundin. Sie hatte ein paar Ballen Stoff gekauft und ließ sich Kleider anmessen. Adrienne brauchte nicht für ihre Nichte zu schneidern, da sie zu diesem Zeitpunkt bereits zur offiziellen Geliebten von Maurice aufgestiegen war. Die »Schwestern« Chanel hatten sogar das Glück, zusammenbleiben zu können. Der Graf erlaubte Adrienne, mit Gabrielle nach Vichy zu ziehen. Sich dort mit seiner Geliebten zu treffen, war für ihn feudaler und standesgemäßer als im muffigen Moulins.

Gabrielles Garderobe musste im Stil zur herrschenden Pariser Mode passen. In diesen Jahren gab es zwei rivalisierende Schulen, einerseits die Kreationen von Percheron, zum andern die Modelle von Caroline Reboux aus der Rue de la Paix. Étienne riet Gabrielle, sich von beiden Häusern etwas anfertigen zu lassen. Sie stimmte unter der Bedingung zu, wenigstens ihre Hüte selbst zu entwerfen. Wie denn? Eine Frau, die etwas auf sich hielt, wollte ihre eigenen Hüte anfertigen? Étienne entschied, dass so etwas zur unkonventionellen Coco passte, und erlaubte es ihr.

Beschattet von leichten Hüten, trafen die Chanels in Vichy ein. Gabrielle, die Amazone, mit eckigen Schultern, einem hohen Kragen und den Gürtel so eng geschnallt, dass ihre schmale Taille fast etwas Unnatürliches hatte. Ihrem Kostüm fehlte jegliche Verzierung. Ganz anders Adrienne, deren Kleid mit Spitzen und Litzen bestickt war. Der Auftritt der beiden hätte unterschiedlicher kaum sein können. Adrienne glich sich dem Geschmack der Zeit an, eng geschnürt, mit Hohlkreuz und prall ausgestopftem Hinterteil. Gabrielle dagegen wirkte wie eine Priesterin der Eleganz. Als solche wollte sie ihren Aufstieg zu einer umjubelten Sängerin beginnen.

3

Der Brunnen von Vichy

Wochenlang kämpfte Gabrielle darum, überhaupt irgendwo vorsingen zu dürfen. Als sie schließlich kurzfristig einen Termin bekam, sollte sie innerhalb einer Dreiviertelstunde bereit sein.

Das Alcazar suchte eine gommeuse. Hätte man im Publikum gefragt, was das sei, wäre es den meisten schwergefallen, die Kategorie zu definieren. Eine romancière war eine Sängerin, die mit Liebreiz verzauberte. Eine gambilleuse durch ihr gekonntes Spiel, aber was machte eine gommeuse?

Gabrielle hatte sich Bilder von Polaire angesehen, der erfolgreichsten gommeuse von Paris. Sie war so berühmt, dass es bereits ein Ölgemälde von ihr gab, welches ein junger Spanier namens Picasso gemalt hatte. Die Polaire sang in eng taillierten Kleidern, die vorwiegend aus Pailletten bestanden, und trug eine Kopfbedeckung, die an den Hut eines Toreros erinnerte. Eine gommeuse hatte schmal und biegsam zu sein, das kam Gabrielle zugute. Trotzdem musste sie weiblich wirken; hier lag Gabrielles Problem.

Als sie abgehetzt und nervös im Alcazar erschien, wurde sie bereits an der Garderobe aufgehalten.

»Wie sehen Sie denn aus?«, fragte der Pianist, der auch für das Alcazar komponierte.

»Was meinen Sie?« Gabrielle blickte an sich hinunter. Sie hatte ein Kleid gewählt, das ihr möglichst viel Bewegungsfreiheit bot, um ihre Biegsamkeit unter Beweis zu stellen.

»Vorsingen im Kostüm, hat es geheißen.« Der Klavierspieler schlug seine Noten auf.

»Das ist mein Kostüm. Ich habe es mir extra schneidern lassen.«